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Ein Besuch bei Atheisten, Trappisten und Jean Jacques Rousseau

Der Schnellzug brauste durch ein enges Felsenthal, wo zwischen dunklen Abhängen senkrechte weiße Wände im Mondlicht schimmerten. Die Luft des Thales war von erdrückender Schwüle. In einer hohen, mächtigen Bahnhofshalle hielt der Zug. Es war um 11 Uhr des Nachts. Ich überließ meinen Koffer dem Hotelwagen und machte mich zu Fuß auf den Weg. Die Stadt lag in der Tiefe. Drunten, wie in einem Riesenkessel, schimmerten Millionen von Lichtern; in der Ferne erhoben kahle Felsberge ihre weißschimmernden zackigen Gipfel.

Ich ging auf einer häuserfreien Anhöhe hin. Zu meiner linken Seite lagen Festungswerke, Gräben und Wälle; rechts breitete sich eine Hochfläche aus, und hier trat mir plötzlich ein seltsames Leben entgegen. Guitarrenspiel und Gesang, Kinderjubel und verworrenes Getöse erscholl durch die Nacht. Beim Näherkommen gewahrte man etwas wie ein weites Kriegslager. In die Länge und in die Breite reihten sich Zelte und einfache Matratzenlager aneinander. Auch an Marketenderbuden fehlte es nicht. Doch das alles war durchaus kein kriegerisches Unternehmen, es war nur eine Art Auszug, eine Art Hedschra. Armes Volk, drunten in luftlosen Gäßchen, in erdrückender Enge beisammenwohnend, war seinen unerträglichen Wohnungen entronnen, um unter freiem Himmel zu ruhen und zu atmen. Dennoch war nirgends Zügellosigkeit zu beobachten. Nur eine leichte freudige Erregung durchzog die Menge, der es verstattet war, ihre erstickenden Stadthöhlen mit dem weiten Raum des Himmels zu vertauschen. Mit besonderem Entzücken genossen die Kinder die ungewohnte Freiheit. Halb nackt, im flatternden Hemdchen, sprangen sie umher, und konnten des Jubelns kein Ende finden. Oben am Himmel standen in stiller Schönheit die Sterne.

Und das war, trotz der tropischen Zustände, ganz nahe bei Deutschland. Es war sogar eine alte deutsche Reichsstadt: Besançon.

Ich besuchte die Stadt nicht zum ersten Mal; ich hatte sogar einmal vier Monate hier gewohnt, studienhalber. Wie andere nach Lausanne und Genf gehen, war ich nach Besançon gegangen. Ich hatte hier mit Recht etwas Fremderes, Unbekannteres, Eigenartigeres erwartet, ein reicheres und ursprünglicheres Volksleben. Der novellistische Instinkt in mir war stärker gewesen als der linguistische.

Ich hatte damals bei einem seltsamen Kauz von Hauswirt gewohnt, einem ehemaligen Notar, der sein Notariat verkauft hatte und Häuserspekulant geworden war. Er war sehr eitel auf seine klassische Bildung und citirte mit Vorliebe griechische Verse von Sophokles. Außer für Sophokles schwärmte er für Charles Fourier, diesen Schüler Saint-Simon's und Vorläufer Bellamy's, der in Deutschland auffallend wenig genannt wird. Auch mich veranlaßte der begeisterte Exnotar zum Studium des sozialistischen Philosophen. Er erlebte leider dabei keine Freude. Ich konnte dem Phalansterium und der ganzen geometrisch abgezirkelten Gesellschaftsordnung des sonderbaren Heiligen keinen Geschmack abgewinnen. Auch sein »Omniarch«, den der Philosoph an die Stelle des lieben Gottes setzte, wollte mir nicht gefallen. Es hätte natürlich ein Franzose sein müssen, und so gern ich die Franzosen mag, zum lieben Gott möcht' ich uns doch keinen wünschen. Seine Einteilung der Frauen in »Geliebte«, »Erzeugerinnen« und »Gattinnen« leuchtete mir nicht ein; seine Menschen, die zwei Meter hoch, 144 Jahre alt und 222 Kilogramm schwer würden, schienen mir aus alten Ammenmärchen oder verdächtigen Jahrmarktsbuden weggelaufen zu sein, und zu seiner festen Ueberzeugung, daß dann, auf dem Gipfel seiner prophezeiten Entwicklung, die Erde gleichzeitig siebenunddreißig Millionen Dichter wie Homer, siebenunddreißig Millionen Philosophen wie Aristoteles, siebenunddreißig Millionen Mathematiker wie Newton und so weiter hervorbringen würde, konnte ich nur lächeln. Dieses Lächeln betrübte den Exnotar sehr. Er mußte all seine französische Höflichkeit zusammennehmen, um mir nicht bös zu werden. Denn Charles Fourier war nicht nur sein Heiliger, er war zugleich sein engster Landsmann; beide waren zu Besançon in derselben Straße geboren.

Ich habe aber, jung wie ich war, das Fourier'sche Gesellschaftsideal vielleicht zu äußerlich und zu sehr nur mit der Phantasie angesehen. Wissenschaftliche Autoritäten, wie Theodor Mundt, haben den Mann ernst zu nehmen gewußt. »Als die eigentliche Bestimmung dieses Gesellschaftslebens«, schreibt Mundt, »erscheint der Reichtum, in welchem Fourier die erste Quelle alles menschlichen Glückes erkennt, und Fourier hat hierin das innerste Grundwesen aller heutigen Lebensentwicklung kühn und bewußtvoll ausgesprochen.«

Auf den großen Viktor Hugo, der zwar auch aus Besançon, aber aus einer anderen Straße stammte, war der Exnotar und Häuserspekulant nicht so gut zu sprechen; er nannte ihn sogar einen Phrasenmacher und hohlen Phantasten.

Er war auch in anderer Beziehung ein seltsamer Mensch, mein Wirt. Begeisterter Republikaner und überzeugter Atheist, hatte er seine zwei Töchter zu Klosterfrauen und seine zwei Söhne zu Geistlichen erziehen lassen. Solche Widersprüche bringt das Leben hervor. Als ich damals bei ihm wohnte, war eine Verwandte bei ihm zu Besuch, eine junge Pariser Witwe. Sie klagte mir, daß ihr Onkel für gewisse männliche Schwächen allzu viel Geld brauche. Auch sie habe ihm Kapitalien geliehen und es sei ihr unmöglich, sie zurückzuerhalten. Andern ginge es nicht besser. Seine vier Häuser in der Rue Saint-Paul seien auf seine älteste Tochter, die Aebtissin eines lothringischen Klosters, eingeschrieben.

Mich jungen Studenten hatte der alte Herr mit außerordentlicher Liebenswürdigkeit behandelt und ich wollte ihn gern besuchen, wenn er noch lebte. Ich traf ihn wirklich in seiner alten Wohnung in der Rue Saint-Paul, in der Nähe des Clos St. Amour. Der Siebenziger sah noch immer frisch und rüstig aus. Er behielt mich zum Frühstück zurück, an dem auch die Köchin teilnahm. Es war unnötig, daß er sich deswegen entschuldigte, ich kannte diese Sitte schon von früher. Und Fräulein Therese war eine allerliebste kleine Brünette, mit der man ganz gern zu Mittag aß. Sogar zum Spaziergang wurde sie mit eingeladen. Wir gingen durch die Porta Nigra, unter Konstantin dem Großen als Triumphbogen erbaut, über den Doubs nach den Anlagen des Chamars. Zur Zeit Cäsars und des Ariovist lautete dieses Wort noch Campus Martius. Damals mögen die römischen Legionen hier exerzirt haben; ihr festes Lager, die heutige Citadelle, liegt unmittelbar darüber, hoch oben auf lotrecht abfallenden Kalkfelsen. Heute kommen die Marssöhne nur hierher, um nach hübschen Kindermädchen auszuschauen, die zu vielen Hunderten ihre kleinen Französchen da draußen spazieren führen. Es sind viele deutsche Töchter darunter.

Wir folgten dem Doubs, der die Altstadt in einem fast geschlossenen Kreis umfließt, wie der Inn die Stadt Wasserburg. Auf dem ganzen Spaziergang war Fräulein Therese sehr lustig und der alte Herr schmunzelte vor Vergnügen. Aber einmal verdarb sie ihm den Humor. Sie hatte sich an meine Seite gedrängt, sie meinte, es sei sehr schade, daß ich nicht wieder wie ehemals bei ihnen wohnen wolle. Dabei lächelte sie den Alten verschmitzt an, der aber finster dazu blickte und gleich darauf zum Rückzug blies.

Den andern Tag galt mein Besuch einem frömmeren Zweck und Ort, dem Trappistenkloster Grace Dieu. Nach einer kurzen Eisenbahnfahrt mit dem Frühzug wandelte ich durch ein einsames Thal zu dem einsamen Kloster. Die Thalsohle bildete eine einzige unendliche Wiese. Es war ein Thal, wie sie dem östlichen Jura eigentümlich sind. Zu beiden Seiten senkrechte, weiße, aber mäßig hohe Felsen. Keine Spur einer menschlichen Wohnung. Denn nicht hier unten bei den Wiesen wohnen in diesen Gegenden die Menschen, sondern droben, wo die Felder liegen, auf den Hochflächen, die sich von einem Thal zum andern erstrecken. Einen stilleren Ort konnten die Trappisten nicht finden.

Während ich mich dem Kloster näherte, hörten die Wiesen auf und mancherlei Gartenbau begann. Hier arbeiteten die Mönche, barfuß, in braunen Kutten, das kahlgeschorene Haupt von der Kapuze bedeckt. Sie arbeiteten paarweise in ununterbrochener Schweigsamkeit vor sich hin. Am Eingangsthor des Klosters, das in seinen Hauptgebäuden wie eine mächtig große Fabrik aussah, traf ich den Bruder Pförtner in seiner Loge. Ich fragte ihn nach dem Bruder Bernhard, dem, der aus Deutschland gekommen war. Der Bruder Bernhard ist tot, lautete seine Antwort. Es sei aber noch ein Deutscher hier, ein Bayer; er wolle ihn rufen lassen.

Der Gerufene war ein graubärtiges, abgezehrtes Männlein. Er mochte sehr alt sein. Er versuchte deutsch mit mir zu reden, aber es wollte nicht gehen. Sein französisch reichte nicht viel weiter. Er hatte die Muttersprache vergessen und die fremde kaum gelernt; er war offenbar ein vollkommener Trappist.

Aber er führte mich auf den Kirchhof und zu dem Grabe des Bruders Bernhard. Es war wie alle Gräber nur durch ein niedriges schwarzes Holzkreuzchen bezeichnet. Darauf stand in weißer Schrift der Klostername des Hingeschiedenen und die Formel R. J. P. Sonst nichts.

Der Verstorbene war ein Schulkamerad von mir gewesen. Er hatte Theologie studirt, war aber dann ausgetreten, um Juristerei zu treiben. Er wurde nun Mitglied einer flotten Studentenverbindung und war ein großer Trinker und Schläger vor dem Herrn. Dies Leben führte er lange, an ein Staatsexamen schien er nicht zu denken. Auf einmal war er verschwunden. Er hatte sich auf sein Dorf zurückgezogen zu seinem Bruder. Später erfuhr ich, er sei Trappist geworden im Kloster Grace Dieu bei Besançon. Nun kam ich mit meinem Besuch zu spät, der ehemalige flotte Bursche war bei den Trappisten magenkrank geworden und hingesiecht. Vor zwei Monaten, im höchsten Blühen des Frühlings, hatten sie ihn begraben. Er kann es kaum bedauert haben, er hatte sich ja selber begraben wollen.

Vom Kirchhof führte mich mein Führer, der seine Muttersprache vergessen hatte, in die Fabrik des Klosters. Es war eine Kunstmühle von ganz ungeheurer Größe und Ausdehnung, ein Werk neuesten Stils. Draußen bei der Feldarbeit, in dem weltverlassenen einsamen Thal, hatten mir die Mönche nicht übel gefallen. Sie hatten, malerisch oder poetisch betrachtet, mit der Landschaft vollkommen zusammengestimmt. In dem modernen Industriepalast dünkten sie mir nicht so sehr an ihrem Platz. Das klappernde Mühlenwerk und die stummen Trappisten schienen mir schlecht zusammenzupassen.

In der Nähe des Klosters besuchte ich noch eine merkwürdige Höhle mit ewigen Eisstalaktiten, wo das Eis, das oben abschmilzt und herniedertropft, unten wieder gefriert, eine Erscheinung, die im östlichen und westlichen Jura noch öfter zu beobachten ist. Gleich in der Nähe von Besançon, bei dem Dorfe Osselles, liegt eine Tropfsteinhöhle, die für die größte von Europa gilt. Sie ist von unglaublicher Länge und ganz bequem zu begehen. Man gelangt zu ihr durch ein gleiches Thal wie das von Grace Dieu, einen gänzlich unbewohnten stundenlangen Wiesengrund, an dessen Rand die Welt nicht zugebrettert, aber zugemauert scheint, wo kein anderer Laut an das Ohr schlägt, als der Schrei des Bussards, der hoch darüber im blauen Aether schwebt.

* * *

An die Eisgrotte von Grace Dieu dachte ich am anderen Tag mit großer Sehnsucht. Die Hitze war noch einige Grad höher gestiegen. Ich hatte mich so sehr nach dem Süden gesehnt, nun graute mir davor. Und ich faßte einen raschen Entschluß. Ich fuhr zunächst nicht südwärts, sondern eine kleine Strecke ostwärts, in die luftigen Regionen des hohen Jura. Schon am anderen Abend saß ich zu Verrières vor einem reizenden Chalet in der tannenwürzigen Luft des Gebirges. Ueber Pontarlier war ich gefahren, und genau auf der Landes- und Wasserscheide war ich sitzen geblieben.

Dieser mittlere und südliche Jura wird kaum von deutschen Touristen besucht. Er liegt den Alpen zu nahe. Und doch ist er außerordentlich reich an eigentümlichen Schönheiten, gar nicht zu reden von dem geognostischen, botanischen und selbst ethnologischen Interesse, das er überall reichlich darbietet. Schon um des starken Kontrastes willen, in dem er zu den Alpen steht, verdiente er mehr bekannt zu sein. Die Alpen sind überall zugegipfelt, der Jura oben überall abgerundet. Auf dem Jura kann man sich überall leicht auf den höchsten Punkten bewegen, ein eigentümlicher Genuß, der einem in den Alpen nur sehr selten gewährt ist. Ohne sich zu ermüden und bei zauberhafter Aussicht in weite ferne Länder, wandert der Fuß über unendliche grüne Weiden. Mit den Weiden und blumigen Matten wechseln düstere tote Moorgelände, wo tiefschwarze Seen den blauen Himmel und die weißen Wolken spiegeln; aus den Thalsenkungen aber erheben groteske Felsen und alte moosige Schwarztannen ihre krausen Häupter. Einzelne Fichten stehen auch droben auf den Haiden, seltsame Einsiedler, windgepeitschte, sturmfeste, trotzige Säkulargestalten, so mannigfaltig vom herrschenden Element zugerichtet, so gedreht, geknickt, gezwirbt, gezaust, daß dem Maler bei ihrem Anblick das Herz aufgehen muß. Es sind die wunderbarsten Baumindividuen der Welt. Und die Alpen gehören einem hier erst recht; sie scheinen einzig und allein für den Jura da zu sein, als ewig leuchtende Hintergrundskulissen.

In der Nähe meines Verrières liegt der Mont Chasseron. Von ihm aus ist das Alpenpanorama am schönsten. Und es wirkt vielleicht am großartigsten und gewaltigsten, wenn an einem Spätherbsttag, bei klarer oberer Region, unten weiße wogende Nebelmassen ein ungeheures Meer zu bilden scheinen zwischen Alpen und Jura und einen Begriff geben von verflossenen diluvialen Zuständen.

Wenn aber die Hochrücken des Jura sich stellenweise fast zu Ebenen ausbreiten, so sind dafür die Thäler oft um so felsiger und schründiger. Gorges, Cluses, Perduis, heißen sie mit ortsüblichen Namen. Sie sind reich an phantastischen Felsbildungen, Höhlungen und Wasserfällen. Mit ihren merkwürdigen Auswaschungen in dem weichen Kalkfelsen, in den gebrochenen, geborstenen, gebogenen, gedrehten Ablagerungsschichten, gewähren sie manchmal einen Anblick von unheimlicher, spukhafter Romantik, wie ein Märchen von Hoffmann. Alles ist hier Erstarrung und doch zugleich Bewegtheit. Wenn tote Ruhe, stille erschauernde Größe, ewig feste Gestaltung die Felsthäler und Abgründe der Alpen charakterisirt, so scheint hier im Gegenteil nichts fest. Selbst im Stein liegt hier Bewegung, Unruhe, Grimasse. Die Felsen scheinen Meereswogen, die im Augenblick der wütendsten Empörung erstarrt sind; sie scheinen im Aufruhr begriffene, sich aufbäumende Grundfesten der Erde.

Die gewaltigste Schlucht dieser Art ist die » Gorges de la Reuse«. Die Reuse verliert sich hier in unermeßliche Abgründe, deren oberer Rand bald zur engen Spalte verengt, bald kesselartig erweitert ist. Am Rande dieser Abgründe führt oben ein Pfad hin, und der Wanderer, der, an einen Baum sich haltend, übergebeugten Körpers, in den schwarzen Schlund hinuntersieht, wird unwillkürlich vom Schauder ergriffen. Drunten, unsichtbar geworden, murren, tosen und donnern die Wasser. Ja plötzlich entsteht ein Sausen und Donnern auch in der Höhe, hoch über dem Haupt des erschrockenen Menschen. Es ist ein Bahnzug, der, vielleicht 300 Meter senkrecht über ihm, an weißer Felswand aus schwarzem Thore tritt und längs dieser Wand dem Auge vorübersaust, unsichtbar auf welchem Grund und Gegenhalt.

Am Ausgang der ärgsten Wildniß, am Rand eines Tannenwaldes, liegt eine elende Köhlerhütte. Sie ist unbewohnt und nur zur Not erhalten. Ob sie es war, die ich suchte?

Wenige Schriftsteller treten uns mit ihrer ganzen Menschlichkeit so nahe, wie Jean Jacques Rousseau. Wenn wir ihn lesen, werden wir ihn entweder lieben oder verabscheuen. Ich habe schmerzlich selige Stunden meiner Jugend mit ihm verlebt. Von den heutigen Männern der französischen Litteratur wird er auffallend hart behandelt. Er ist eben kein rechter, kein ganzer Franzose; er ist seinem ganzen geistigen Wesen nach eher ein Deutscher. Dennoch ist er der Verjünger der französischen Sprache, die kalt und farblos geworden war, und die in seinem feurigen Geist und Herzen eine wahre Wiedergeburt erfahren hat.

Ich näherte mich der Hütte. In einem Spalt zwischen Wand und Pfosten gewahrte ich etwas Weißes. Es war eine Visitenkarte. Der lithographirte Name war unleserlich gemacht, auf der Rückseite stand: The self torturing sophist, Wild Rousseau. Die harten Worte Byron's. Ich konnte nicht mehr zweifeln, ich stand vor der Fruitière d'Auvergnier. Wahrlich, das war mehr der Schlupfwinkel eines wilden Tieres als eine menschliche Wohnung, als die Wohnung eines verhätschelten Freundes Pariser Aristokraten und Aristokratinnen aus der Zeit des Louis quinze und der Madame Pompadour.

Auch Môtiers besuchte ich und das Haus, wo der menschenscheue Philosoph fast gesteinigt worden wäre. So erzählt er es bekanntlich in seinen Konfessionen. Der protestantische Pfarrer des Ortes aber suchte mir zu beweisen, daß Rousseau's Erzählung unwahr sein müsse. Er zeigte mir ein Fenster, welches zu Rousseau's Schlafzimmer geführt habe, und welches von der Straße mit Steinwürfen gar nicht zu erreichen war. Das mußte ich zugeben. Nur die Gründe, warum Rousseau gerade in diesem Zimmer geschlafen haben mußte, leuchteten mir nicht ein. Jedenfalls gehörte der Herr Pastor zu den Leuten, die Rousseau nicht lieben. Er war dennoch nichts weniger als ein orthodoxer Zelot; er war sogar Freimaurer.

Denn eine Viertelstunde von Môtiers, in dem Dorfe Fleurier, besteht in der That eine Freimaurerloge. Auch ein umfangreiches naturhistorisches Museum und andere gelehrte Anstalten findet man in dem abgelegenen Gebirgsnest, einem Dorf von vielleicht 400 Einwohnern. Ueberhaupt ist diese Gegend der Boden einer einzigen und höchst merkwürdigen Kultur.

Die hohe Entwicklung der Uhrenindustrie im ganzen Juragebiet ist bekannt. Sie ist nicht nur aus den einfachsten Zuständen herausgewachsen; sie hat auch, zum Teil wenigstens, diese Urzustände bis heute noch nicht verdrängt, dergestalt, daß die Leute hier vielfach Hirten, Bauern und kunstreiche Industriearbeiter in einer Person sind. Die Schulen sind überdies vorzüglich und der Bildungstrieb der Bewohner ein ganz außerordentlicher. Mein Hauswirt, ein kleiner Werkzeugsfabrikant, war ein gründlicher Kenner der ganzen französischen Litteratur. Deutsch konnte er nicht. Man liebt hier das Deutsche und die Deutschen wenig. Die französische Sprache macht stetige Fortschritte nach Osten, das Deutsche weicht zurück. Man wird als Deutscher um so schmerzlicher davon berührt, als man deutlich erkennt, daß das Empfindungsleben des ganzen Volkes dem deutschen unendlich verwandter ist als dem französischen, ja, daß die ganze örtliche Kultur ein deutsches Produkt ist.

Val de Travers heißt das langgestreckte Hochthal, in dem die genannten Orte liegen, und es besitzt außer seiner Uhrenindustrie und seiner Absinthfabrikation auch ein höchst wichtiges Bergbauprodukt.

Man sieht oft, wenn in den Städten Asphaltwege gelegt werden, regelmäßige fünfeckige Asphaltklötze längs der Straßen aufgeschichtet. Auf den Klötzen liest man die Worte: Val de Travers. Die Asphaltwerke des Val de Travers liegen aber bei dem Dorfe Couvet und werden von einer englischen Gesellschaft betrieben. Die Vorgeschichte dieser Industrie ist vielleicht interessant. Sie verhält sich zu ihrer jetzigen Entwicklung wie eine Idylle oder ein Märchen zu einem modernen sozialen Roman. Sie verhält sich dazu aber auch wie der Anfang aller Weltgeschichte zu ihrem späteren Verlauf; sie ist eine Weltgeschichte im Kleinen, ein wahres Paradigma der Weltgeschichte.

Die industrielle Ausbeutung des Asphalt ist neu, in seiner idyllischen Verwendungsart war er aber lange bekannt, seit Anfang des vorigen Jahrhunderts oder noch länger. Ein Hirtenknabe hat ihn entdeckt – natürlich. Dieser Hüter des Viehes bemerkte eines Tages, während er an den Abhängen von Couvet seine Rinder weiden ließ, daß eine dunklere Ader des Gesteins in der Sonne zu schmelzen anfing und schmierig, fast flüssig wurde. Auch ein eigentümlicher Geruch ging davon aus. Offenbar war es etwas wie Fett. Und der kluge Hirtenknabe, der schon groß war, faßte den gescheiten Gedanken, daß es schad sei, wenn sich das fette Ding unbenutzt in der Erde verliere. Zu Butterbrot mochte es sich nicht eignen, dazu roch es zu verdächtig. Aber vielleicht zu Wagenschmiere. Er verschaffte sich ein altes Bierfaß, füllte es, stellte es auf einen Schubkarren, und Heerde und Berge hinter sich lassend, zog er hinaus in die Ebene. Im blauen Ueberhemd, in ledernen Kniehosen und groben blauen Strümpfen karrte er von Dorf zu Dorf. Wenn das Faß leer war, füllte er es von Neuem an seiner Wunderquelle, und Andere machten es ihm bald nach, bis dann vor Kurzem die langbeinigen und langgesichtigen Insulaner kamen und, wie schon an vielen Orten, der Idylle ein Ende machten.


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