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Es dauerte aber nicht lange, so beklagte sich die Herzogin von Maine bei Herrn von Malesieu über meine unfrohe Miene, und dieser beauftragte den Anatomen Duverney, der manchmal nach Sceaux kam, mich von den Klagen der Herzogin zu unterrichten.
Herr von Duverney hatte meine anatomischen Kenntnisse, die er überschätzte, auf eine seltsame Weise in Sceaux erwähnt. In seiner Ueberzeugung nämlich, daß die Wissenschaft der Anatomie die verdienstvollste von allen sei, sagte er von mir: ich wäre das Mädchen, das den Bau des menschlichen Körpers so gut kenne wie er selber.
Die Herzogin von La Ferté, die jetzt ebenso lebhaft alles aufgriff, was mich lächerlich machen konnte, wie sie früher darauf bedacht war, mich zur Geltung zu bringen, ließ sich dieses Lob nicht entgehen, das sie dahin ausnützte, um mich damit in ihrer zynischen Art vor aller Welt dem Gespötte preiszugeben.
Duverney erfüllte seine Mission, indem er mich ermahnte, die gegenwärtigen Leiden zu ertragen, in der Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft. Er prophezeite mir, daß ich eines Tages angesehen und geachtet, ja berühmt sein werde, daß ich das Vertrauen meiner Herrin gewinnen und ihre Güte unfehlbar noch empfinden werde. Aber ich glaubte ihm nicht mehr als einem Kalenderbuch.
Es war mir nicht möglich, der Herzogin auch nur eine Silbe zu sagen, denn Ihre Königliche Hoheit richtete nie das Wort an mich und schien gar nicht daran zu denken, daß ich fähig sei, zuzuhören oder zu antworten.
Während dieses traurigen und mühevollen Lebens beschäftigte ich mich im Geiste fortwährend damit, wie ich die Mittel finden könne, mich diesem Dasein zu entziehen. Tag und Nacht brachte ich mit diesen Gedanken zu. Auch fehlte es nicht an Leuten, die mir helfen wollten, leider konnte ich gerade von ihren Angeboten keinen Gebrauch machen.
Eines Tages kam eine liebenswürdige Frau, die ich schon länger kannte, zu mir nach Sceaux, um mir folgende Eröffnung zu machen.
»Ich weiß,« sagte sie, »daß Ihr in Eurer Stellung keineswegs gefunden habt, was Ihr hofftet, daß es Euch darin aufs äußerste mißfällt und daß Ihr nur daran denkt, Euch derselben zu entziehen. Nun hätte ich ein anderes Anerbieten für Euch. Jemand, der sich für Euch interessiert, wäre bereit eine Summe zu Eurer Sicherstellung anzulegen, so daß es Euch niemals fehlen sollte. Ihr könnt Euch davon eine hübsche und bequeme Wohnung in Paris mieten und da behaglich mit einiger Dienerschaft wohnen. Man wird nichts weiter von Euch verlangen, als daß Ihr eine Tür in ein Nebenhaus offen laßt und den Besuch einer Dame empfangt, die Eure Freundin sein wird und Euch öfter zu sehen wünscht.«
Diesmal hatte ich nicht nötig, meinen Freund, den Abbé Vertot, zu Rate zu ziehen, wie ich seither immer in schwierigen Lagen gepflegt hatte; ich gab meine Antwort sofort und verneinte, wie man sich denken kann, mit aller Bestimmtheit. Die Dame bestand auf ihrem Ansinnen, aber ich stellte gar keine weiteren Fragen, ich fand es nicht geraten, tiefer in das Geheimnis einzudringen.
So viele Widerwärtigkeiten, unzählige Unbequemlichkeiten, der Abscheu vor meiner demütigenden Stellung, für Körper und Geist gleichermaßen unerträglich, dazu eine chimärische Leidenschaft, die mir nur schmerzliche Gefühle bereiten konnte, alles zusammen erfüllte mich allmählich mit einem Haß gegen das Leben, und der Wunsch, mich davon zu befreien, wurde mächtiger in mir als alle Gegengründe. Der Verstand beugt sich fast immer vor den Forderungen des Gefühls, und man sieht nur noch das, was man sehen will. Ich faßte also den Entschluß, das Leben zu verlassen, das ich nicht mehr ertragen konnte. Aber da gebrauchte nun der blinde Selbsterhaltungstrieb, der in jedem Geschöpf lebendig ist, einen Trick und erreichte damit seinen Zweck. Er gab mir den Gedanken ein, demjenigen Menschen (nämlich dem Marquis von Sillery), der zum Teil meinen Entschluß, vom Leben zu scheiden, verursachte, einen Abschiedsgruß zu hinterlassen.
Als ich aber meiner Torheit so weit nachgegeben und den Brief geschrieben hatte, kam mir die Vernunft wieder zurück, und ich entschloß mich, am Leben zu bleiben.
Den Brief habe ich aufbewahrt als Zeugen gegen mich selbst, zum Beweis dafür, wie weit sich der Verstand verirren und in welche Uebertreibungen er verfallen kann, wenn der Mensch sich seinen Leidenschaften allzusehr überläßt.
Es waren aber einige Jahre vergangen, und ich hatte Herrn von Sillery nicht wiedergesehen, noch von ihm sprechen hören. Da nannte zufällig jemand seinen Namen, und ich wurde davon so betroffen, daß mir die Kräfte versagten und ich fast zur Erde gefallen wäre. Oft habe ich mich darüber gewundert, daß ein Gefühl, das doch so ganz jeder Nahrung entbehrte, trotzdem solche Kraft behielt.
Aber nun trat wenigstens in meinen äußeren Verhältnissen eine Wendung zum Besseren ein.
Ein Ereignis, an dem ich nicht den geringsten Anteil nahm, wurde die Veranlassung, daß ich ganz unerwartet aus der Dunkelheit, in der ich lebte, hervortrat. Und zwar bildete die Veranlassung dazu der berühmte Fontenelle, der also doch noch, wenn auch ohne seine Absicht, aber dafür auf seine Kosten, mich aus meiner Erniedrigung herausreißen sollte; ich hatte längst nicht mehr auf ihn gerechnet.
Ein junges Mädchen, namens Tétar, erregte die allgemeine Neugierde durch ein angebliches Wunder, das sich bei ihr zutrug.
Dieses Mädchen, die Tochter eines Zahlmeisters bei der Rechnungskammer, war hübsch, kokett, ja elegant und wußte unter einem Schein von Naivität ihre Geriebenheit glücklich zu verbergen.
Sie behauptete plötzlich, des Nachts von einem Geist beunruhigt zu werden, der sich ein Vergnügen daraus machte, sie sichtbar zu schütteln und zu rütteln, ohne daß er doch selber gesehen werden konnte.
Nun gibt es immer Menschen, für die solche Dinge eine große Anziehungskraft besitzen, nicht zum wenigsten zu Paris, wo man neben den größten Skeptikern immer auch die abergläubigsten Menschen finden kann, die es auf der Welt geben mag. Und bald gehörte es zum guten Ton, die Tétar zu besuchen, deren Tribulationen für die Frommen ein Wunder, für die Gelehrten ein Phänomen und für die einfach Gleichgültigen einen willkommenen Kitzel bedeutete, ein jungfräuliches Schlafzimmer in ein Theater verwandelt zu sehen, wo sich Gläubige, Genarrte, Spötter und vor allem die ganze gute Gesellschaft ein Stelldichein gaben.
Alles ging mit der Zeit hin, um sie zu sehen oder vielleicht ihren Geist, obwohl man wußte, daß dieser durchaus unsichtbar sei. Auch Herr von Fontenelle wurde durch den Herzog von Orléans bewogen, sich das Mirakel anzuschauen, und man behauptete, der weltberühmte Autor der »Unterhaltungen über die Mehrheit der Welten« habe keine allzu philosophischen Augen dorthin mitgenommen. Ja, es entstand ein immer lebhafteres Gemurmel zu ungunsten des berühmten Gelehrten und Schriftstellers.
Da sagte mir plötzlich die Frau Herzogin von Maine, die gar nicht einmal darauf zu achten schien, an wen sie das Wort richtete: »Ihr kennt den Herrn von Fontenelle, Ihr solltet ihm davon Mitteilung machen, was alles über ihn und Fräulein Tétar gesprochen wird.« Diesem Befehl leistete ich Folge und schrieb an den großen Fontenelle, und zwar mit keinem andern Gedanken, als eine Antwort von ihm zu erhalten, die ihm zur Entschuldigung dienen könne.
Ich schrieb ihm wie folgt:
»Das Abenteuer des Fräulein Tétar, mein Herr, macht weniger Aufsehen als das Zeugnis, das Ihr davon abgelegt habt. Die mannigfache Art, wie sich die Meinungen hierüber äußern, gibt mir Veranlassung, Euch deshalb ein Wort zu sagen. Man ist erstaunt, und vielleicht mit einigem Recht, daß der Vernichter der Orakel (Fontenelle hatte auch eine kritische Geschichte der Orakel geschrieben), daß der Mann, der den Dreifuß der Sibyllen umgestoßen hat, vor dem Bett des Fräulein Tétar anbetend niederkniete. Man hat gut behaupten, der Zauber und nicht die Zauberei des Fräulein Tétar hätten ihn dazu veranlaßt, aber weder das eine noch das andere taugt etwas für einen Philosophen. Auch spricht jedermann darüber. Wie! rufen die Kritiker aus, dieser Mann, der die Betrügereien einer tausend Meilen weit entfernten Gegend, einer zweitausend Jahre verflossenen Zeit aufgedeckt hat, ist einem unter seinen Augen gesponnenen Lügengewebe ins Netz gegangen? Die Vertreter des Altertums, von einem langjährigen Rachegefühl erfüllt (sollte keine Anspielung an die Bibelgläubigen sein, sondern sich nur auf die pythischen Weissagungen und Verwandtes beziehen), kommen mit ihrer Beschuldigung und rufen: Seht ihr, er wird, wie in der Literatur, so auch in der Religion, die Wunder der Neuzeit höher stellen wollen als die des Altertums. Und endlich die Allerspitzfindigsten, was bringen sie vor? Als guter Pyrrhonianer, sagen sie, der alles ungewiß findet, wird er auch alles für möglich halten.«
An dem Tage, an dem Herr von Fontenelle meinen Brief erhielt, speiste er bei dem Marquis von Lassay, wo er von der anwesenden Gesellschaft allerlei Neckereien über die Sache zu hören bekam. Er fand sie nicht sehr witzig und zog zuletzt meinen Brief aus der Tasche. »Hier«, sagte er, »stehen geistreichere Dinge.«
Mein Brief fand Beifall. Er wurde das Tagesgespräch, man machte Abschriften davon, er wurde in ganz Paris verbreitet und viele behaupteten, Herr von Voltaire habe nie etwas Besseres geschrieben Wunderbare Zeit, wird hier mancher ausrufen, wo ein glücklicher Brief hinreichte, eine literarische Berühmtheit zu gründen..
Ich selbst hatte keine Ahnung davon und war sehr erstaunt, als einige Tage später aus Anlaß einer Theateraufführung (man spielte immer Theater in Sceaux) eine große Gesellschaft sich versammelte und jedermann der Herzogin von Maine von diesem Briefe sprach.
Sie erinnerte sich gar nicht mehr daran, daß sie mir den Auftrag erteilt hatte und verstand lange nicht, wovon die Rede sei. Dann fragte sie mich, ob ich den Brief geschrieben, und als ich bejahte, kam die ganze Gesellschaft auf mich zu, und, um der Herzogin von Maine den Hof zu machen, überhäufte man mich förmlich mit Lobsprüchen.
Bis dahin hatte sie nicht daran gedacht, nun wollte sie den Brief sehen. Ich besaß aber keine Abschrift davon. Alle übrigen Anwesenden jedoch hatten Abschriften in der Tasche. Die Herzogin las und drückte ihren lebhaften Beifall aus.
So erntete ich von einer unbedeutenden Arbeit, die ich ohne Plan gemacht, die mich keinerlei Anstrengung gekostet hatte, eine so süße Befriedigung, wie ich sie vielleicht durch eine wirklich ernstliche Leistung nie erreicht haben würde. Woraus man denn ersehen mag, daß es weniger der Wert und die Bedeutung einer Sache selbst ist, als vielmehr die glücklichen Nebenumstände, die ein Verdienst zur Geltung bringen, denn ich genoß nicht nur den ersten Beifall, sondern aus der Neugierde, mich kennenzulernen, entstanden mir wertvolle Verbindungen und auserlesene Freundschaften. Nichts aber machte mir ein solch lebhaftes Vergnügen als der folgende Brief, den ich von Herrn von Sillery erhielt.
»Freiburg i. Br., am 20. Dezember 1713.
Euer Brief an Herrn von Fontenelle macht ebensoviel Aufsehen als das Abenteuer des Fräulein Tétar. Er wird als Denkmal dieses Ereignisses unter den barbarischsten Völkern wie ein Wunder herumgezeigt. Alle Deutschen hier wollen eine Abschrift davon. Daß ich aber erst durch die Oeffentlichkeit von einer Angelegenheit erfahren muß, die Euch angeht und die Euch die allgemeine Anerkennung zugezogen hat, usw.«
Auch der Chevalier von Le Mesnil, der sich damals bei seinen Verwandten in der Provinz aufhielt, sagte mir in einem Brieflein sein Kompliment; ich könnte aber nicht sagen, daß ich mir viel daraus gemacht hätte. Er vermochte eben einmal gegen das Uebergewicht des Marquis von Sillery nicht aufzukommen.
Wenn aber die Schroffheit meiner Empfindungen gegen den Chevalier ein Unrecht waren, so hat er sich später in der grausamsten Weise dafür gerächt.
Da nun mein Erfolg in der Oeffentlichkeit die Aufmerksamkeit des Marquis von Sillery wieder auf mich gezogen hatte, knüpfte er einen Briefwechsel mit mir an, der ihm schon deshalb wertvoll sein mußte, als er dadurch auf verschiedenen Wegen Nachricht von den Vorgängen in Frankreich zu erhalten wünschte. Er selbst wurde drei Jahre lang in einer kleinen Stadt Deutschlands (Freiburg i. Br.), wo er ein Kommando innehatte, festgehalten und er versicherte mir, wie sehr es ihn freuen würde, alle wichtigen Neuigkeiten, deren ich habhaft werden konnte, durch mich zu erfahren. So achtete ich also darauf, ihm mit ebensoviel Eifer als Umsicht meine Mitteilungen zu machen und zu gleicher Zeit möglichst angenehme Briefe zu schreiben. Die seinigen aber wurden nach und nach immer geschäftsmäßiger.
»Ich habe Eure Briefe am soundsovielten erhalten. Teilet mir mit, was sich inzwischen ereignet hat.« »Ihr habt verfehlt, mich über die und die Sache zu unterrichten.« Dieser Geschäftsstil, dieser egoistische Lakonismus seinerseits wurde wohl bitter von mir empfunden; trotzdem versetzte mich der Anblick seiner Schrift und seines Siegels jedesmal in eine Art von Entzücken, und eines Tages geriet ich in einen lebhaften Wortwechsel mit dem Briefboten, der mir einen seiner Briefe überbrachte, ihn mir aber nicht aushändigen wollte, weil es sowohl ihm wie mir an kleiner Münze zum Wechseln fehlte. Ich hatte gut beteuern, daß er mir nichts herauszugeben brauchte, der schnurrbärtige knurrige Geselle ließ sich darauf nicht ein, sondern sagte kalt: Ich komme ein anderes Mal wieder. Es war ziemlich früh am Morgen. Meine Kollegin erwachte von dem Lärm. »Als ob ein Brief nicht geradesogut wäre,« sagte sie, »ob man ihn zu der oder der Stunde erhält.« Gähnend gab sie mir einige Sous aus ihrer Tasche und schlief wieder ein.