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XII.
Die Toten schweigen

So schmerzlich Sanders auch den Tod des alten Familienfreundes empfand, so dachte er dennoch, ob es nicht im Grunde ganz gut so war.

Das Ganze war schon so toll, daß man vielleicht auf den Gedanken kommen konnte, mit Wahnsinnigen zu tun zu haben, mit Verrückten, die offenbar zwecklos einen fast genial ausgerechneten Plan durchgeführt hatten. Aber was war das nun alles – wozu hätte es dienen sollen?

Die unerklärlichen Worte des Sterbenden fielen ihm ein: »Tagebuch – Opale!« Was bedeutete das? War hier etwa die Lösung zu suchen? Ihm kam ins Bewußtsein, daß ihm schon zum dritten Male das Vorhandensein der beiden großen Opale auffiel. Jedesmal hatte er ein unerklärliches, unheimliches Gefühl bei ihrer Erwähnung verspürt. Aber was sollte das bedeuten?

»Tagebuch – Opale!« –

Konnten da die Notizen eines alten Tagebuchs irgend etwas verraten, zu irgendeiner Erklärung beitragen? Kaum. Sah es nicht vielmehr aus, als habe der Sterbende willkürlich Worte gesprochen, die ihm gerade in den Sinn kamen, als habe er Bilder aus vergangenen Tagen, Bilder der Erinnerung, die im Tode plötzlich wieder lebendig wurden, in Worte gefaßt über seine Lippen dringen lassen?

Ruhelos begann nun Sanders seine Arbeiten im Trauerhause. Er rüttelte den alten Lehnert aus seiner stumpfbrütenden Angst, in die das Unbegreifliche ihn und seine Frau versetzt hatte. Er traf Anordnungen zur Säuberung des ganzen Hauses, deutete der alten Martha an, ein wachsames und liebevolles Auge auf Cecily zu haben, und übernahm den ganzen Verkehr mit den Behörden. Er erstattete dem Kriminalkommissar v. Redberg Meldung des Sachverhalts, benachrichtigte den Notar, der Brandorffs Testamentsvollstrecker war, und bestellte den Sachverständigen zur Inventuraufnahme.

Oh, er, der Rechtsanwalt, wußte das alles! Und doch – es war nicht zu glauben, daß sich an einem jener lichtscheuen Orte Brandorffs Schicksal entschieden haben sollte, dieses ruhigen, reinlichen alten Mannes!

Dennoch wiederholte sich Sanders immer: Niemand kann es wissen – niemand kann es wissen! Was war das? War er plötzlich gegen seinen alten, väterlichen Freund noch nach dessen Tode mißtrauisch? Sollte jener Skeptizismus des Kriminalkommissars auch ihn angesteckt haben – jenes Mißtrauen gegen alles und alle? Unsinn, sagte er sich, und doch wollte der leise Zweifel, den Redberg über Brandorffs Charakter geäußert, nicht ganz verstummen.

Er begann die Blätter des Tagebuches noch einmal dicht vor seinen Augen durchzusehen. Aber nichts war zu entdecken, was ihm noch entgangen wäre. Wieder und wieder versuchte er den geheimen Sinn jenes Wortes zu enträtseln, das wie ein verlorener Posten auf der Seite allein stand. Aber er konnte keine Zusammenhänge finden.

Das Automobil hielt plötzlich an. Resigniert klappte Sanders das Tagebuch zu und steckte es in seine Aktenmappe, um von den schweren, dunklen Schleiern ungelöster Geheimnisse hinaus in die Forderungen des hellen Tages zu treten.

*

In dem Zimmer, das Cecily bewohnte, saßen, tiefbewegt, zwei Menschen. Erich Soltau hatte alles vergessen, was im Garten zwischen Cecily und ihm vorgefallen war, und nur noch das eine Gefühl beherrschte ihn, das Gefühl der tiefen Liebe und des tiefen Mitleids, und der Gedanke, dem unglücklichen Mädchen beizustehen. Und auch Cecily war erhaben über alle jene bösen Gedanken und harten Vorwürfe, die sie Erich Soltau gemacht hatte.

Soltau ging in das Dunkel zu Cecily. Er blieb vor ihr stehen, und leise und zaghaft legte er ihr seine Hände aufs Haar. Er fühlte, wie ein krampfhaftes Schluchzen ihren zarten Körper erschütterte.

»Mein süßes Lieb!« sprach er in dem sanft beruhigenden Ton der Zärtlichkeit.

Cecily hob den Kopf. »O, Erich«, sagte sie, »du bist so gut! Ich fühle es – du bist jetzt meine einzige Stütze, meine einzige Hoffnung. Du allein kannst mich aus diesen Wirrnissen retten!« Und mit feuchtem Schimmer suchte ihr Auge in der Dämmerung das seine.

»Cecily«, erwiderte Soltau, »es gibt Momente im Leben, in denen die Leidenschaft zurücktreten muß vor einer reinen und zärtlichen Liebe, die nur daran denkt, ob es dem Geliebten wohlgehe. Sieh' – so eine Stunde ist jetzt gekommen. Im Angesicht des Todes müssen alle anderen Gedanken schweigen, und nur der eine bleibt mir, dein Schutz und dein Schirm zu sein!«

Cecilys Hand suchte die seine, und Soltau fühlte voller Rührung den warmen, dankbaren Händedruck der Geliebten.

»Cecily, o meine Cecily«, sprach er sanft, »ich fühle, wie nach all den Tagen voller Unruhe und Aufregung der Tod deines Vaters uns nur noch fester und fester mit dem Bande einer klaren und zarten Liebe umschlingt. Mir ist, als hätte dein Vater mit seinem letzten, milden Blick uns dies sagen wollen.«

»O mein Vater!« stöhnte Cecily. »Der Tod!« – Und plötzlich kamen ihr alle grausamen Seelenqualen der letzten Tage wieder ins Gedächtnis zurück. Sie zuckte zusammen, und eine tiefe Falte bildete sich auf ihrer Stirn, während sie vor sich hin murmelte: »Wer – wer? Oh, wer kann es nur gewesen sein!«

Doch plötzlich raffte sie sich auf. Sie ergriff Soltaus Hand und sprach mit energischer Stimme: »Komm', ich muß zu ihm, ich muß meinen geliebten Vater sehen!«

Widerspruchslos folgte ihr Soltau in das Sterbezimmer.

War es nicht, als ob sie jetzt schon in eine Gruft hinabstiegen?

Finster starrten die mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Wände sie an. Die Vorhänge der Fenster waren herabgelassen, und das Zimmer hatte sein Licht nur von den vier mächtigen Kandelabern, die am Bett des Toten zu Kopf und Füßen standen. Leise schwelend stiegen dünne Rauchwolken von den riesigen Kerzen auf und verwoben sich oben an der Decke zu seltsam phantastischen Gebilden von merkwürdiger Beweglichkeit!

Hier lag der Tote.

Cecily und Soltau traten näher. Soltau stand vor dem Totenbett in stumme Gedanken versunken, Cecily kniete vor dem Toten hin. Sie starrte auf das Gesicht ihres Vaters, als wollte sie jeden dieser geliebten Züge in sich einsaugen, als wollte sie in den wechselnden Schatten, die das auf und ab zuckende Kerzenlicht über das bleiche Antlitz des Toten warf, noch einmal die Illusion des Lebens genießen. – Vielleicht schlief er nur? Er mußte im nächsten Moment erwachen! – Vielleicht war alles nur ein wüster, häßlicher Traum, den man abschütteln konnte? Aus jedem Traum wacht man ja auf – warum nicht auch schnell aus diesem?

Ein leichtes Geräusch hinter ihr ließ sie zusammenfahren. Sie blickte sich hastig um. Soltau stand immer noch unbeweglich da. An der Tür bewegte sich der Schatten einer eben eintretenden Gestalt. Cecily konnte sie, geblendet vom Kerzenlicht, nicht genau erkennen. »Es wird die alte Martha sein«, dachte sie und schenkte der Gestalt weiter keine Beachtung, sondern versank aufs neue in ihre düsteren Träume.

Auch Soltau, durch Cecilys Bewegung aufmerksam geworden, sah sich um. In diesem Augenblick wollte sich die Gestalt zurückziehen. Von einem dunklen Gefühl getrieben, trat Soltau vor und rief: »Wer sind Sie?«

Cecily schrak zusammen, ihr Kopf fuhr herum, blitzschnell legte sie die Hand über die Augen, um das Licht abzudämpfen. Plötzlich sprang sie auf und lief auf die Tür zu. Mit ungewohnt lautem, herben Klang durchtönte ihre Stimme das Totenzimmer, als sie rief: »Halt – bleiben Sie!«

Der Angerufene trat, sekundenlang zögernd, dann aber mit raschem Entschluß aus der Dunkelheit ins Licht.

»John!« stieß Cecily in einem Ton hervor, in dem sich Überraschung, Zorn und Grauen mischten.

Ein minutenlanges Schweigen entstand. Soltau, dem es nur zu gut bekannt war, wie belastend John gegen ihn ausgesagt hatte, stand stumm da, mit gerunzelten Brauen und zusammengepreßten Lippen.

»Was wollen Sie hier?« brach endlich Cecily das Schweigen in strengem Ton.

John näherte sich mit einer kriechenden Demut in seinen Bewegungen.

»Gnädiges Fräulein haben mich zwar fortgeschickt«, erwiderte er unterwürfig, »ich habe mir aber erlaubt, noch einmal das Haus zu betreten, um den gnädigen Herrn, bei dem ich im Dienst war, noch einmal vor seiner Bestattung zu sehen. Gnädiges Fräulein können sich nicht denken, wie tief mich der Tod meines gnädigen Herrn erschüttert. Und nun, wenn gnädiges Fräulein gestatten, will ich wieder gehen!« Und mit einer tiefen Verbeugung glitt er in dem ungewissen Schein des Kerzenlichts schlangengleich, schattenhaft zur Tür hinaus.

Einen Moment war das Gefühl des tiefen Widerwillens, das Cecily gegen diesen Menschen hatte, verdrängt worden von einer Empfindung der Rührung. Vielleicht hatte sie ihm unrecht getan. Vielleicht war er wirklich der treue Diener, der herkam, um im Tode seinen Herrn noch einmal zu sehen.

Aber plötzlich flog ihr der Gedanke durch den Kopf: Woher wußte er vom Tode Brandorffs? Ja, woher wußte er überhaupt von der Rückkunft ihres Vaters? Sie hatte doch der alten Martha und den Portierleuten aufs strengste verboten, über das, was im Hause geschah, auch nur das geringste laut werden zu lassen, und sie wußte, auf diese alten Diener konnte sie sich verlassen. Unwillig über die Erscheinung dieses Menschen, der sie in ihren tiefsten Empfindungen am Sterbelager ihres Vaters gestört hatte, raffte sie sich auf und befahl durch das Sprachrohr dem alten Lehnert, ins Vorzimmer zu kommen.

»Haben Sie jetzt mit dem entlassenen Diener John gesprochen?« fuhr sie den alten Mann mit einer ihr selbst ungewohnten Heftigkeit an. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Warum haben Sie ihn überhaupt ins Haus hereingelassen? Sie wissen doch, daß er hier nichts zu suchen hat!«

»John?« erwiderte der alte Lehnert verwundert und erschreckt. »Ich habe ihn gar nicht gesehen, gnädiges Fräulein! Ich würde ihm selbstverständlich den Eintritt verwehrt haben!«

»Aber er war eben hier!« sagte Cecily.

»Er war hier?« fragte Lehnert mit aufgerissenen Augen.

»Wo waren Sie bis jetzt?« fragte Cecily streng.

»In meiner Loge«, erwiderte der Pförtner.

»Und John ist nicht an Ihnen vorbeigekommen?« fragte sie.

»Nein, sonst würde ich ihn gesehen haben«, war die Antwort.

»Haben Sie zu irgendeinem Menschen von den traurigen Vorgängen in diesem Hause gesprochen, Lehnert?« fragte Cecily weiter. »Ich nehme es Ihnen nicht übel, ich will es nur wissen!«

»Nicht ein Sterbenswörtchen, gnädiges Fräulein, so wahr ich hier stehe!«

»Es ist gut«, sagte Cecily, »Sie können gehen, aber Sie geben nicht genug aufs Haus acht!«

Erschreckt und zerknirscht verließ der Alte das Vorzimmer. Offenbar war er sich keiner Schuld bewußt.

Cecily aber war aufs höchste erregt. Der entlassene Diener hatte sich also unbemerkt auf eine unheimliche Weise ins Haus geschlichen. Was sollte das? Und so leise, wie er gekommen war, so leise war er wieder davongeglitten. Sie war weniger als je geneigt, ihrem sicheren Gefühl zu mißtrauen, mit dem sie stets Abscheu und heimlichen Widerwillen vor dem schweigsamen, geräuschlosen Gesellen empfunden hatte.

Hier lag vielleicht die Lösung des furchtbaren Rätsels. Aber wie konnte sie an das alles herankommen? – Wie die Knoten dieser düsteren Wirrnisse zerhauen – was konnte sie überhaupt machen ohne Beweise, allein mit ihren Frauenahnungen und Überzeugungen, auf die kein Gerichtshof der Welt etwas geben würde!

Und voll schwermütigen Trotzes gegen die Welt kehrte sie zurück an das Lager des teuren Toten und bedeckte die geliebten bleichen Hände mit Küssen und mit Tränen.


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