Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Weit davon entfernt, auf ihre Eroberung stolz zu scheinen, ist Sophie vielmehr noch freundlicher und weit anspruchsloser gegen Jedermann geworden, den Einzigen vielleicht ausgenommen, der gerade die Ursache dieses Wechsels ist. Das Gefühl der Unabhängigkeit schwellt nicht mehr ihr edles Herz. In bescheidenster Weise rühmt sie sich eines Sieges, welcher ihr die eigene Freiheit kostet. Sie hat ein weniger ungezwungenes Benehmen, und ihre Sprache ist schüchterner geworden, seitdem sie das Wort »Geliebter« nicht mehr ohne zu erröthen anzuhören vermag. Aber durch diese Verlegenheit blickt doch eine gewisse Befriedigung hindurch und selbst in ihrer Scham liegt kein unangenehmes Gefühl. Namentlich tritt ein auffallender Unterschied in ihrem Benehmen hervor, wenn unvermuthet jugendliche Gäste erscheinen. Seitdem sie dieselben nicht mehr fürchtet, hat die übertriebene Zurückhaltung, die sie ihnen gegenüber beobachtete, bedeutend nachgelassen. Jetzt, wo ihre Wahl entschieden ist, zeigt sie sich im Umgange mit ihr gleichgültigen Herren artig und höflich. Da sie weniger hohe Anforderungen an sie stellt, seitdem sie kein Interesse mehr für sie fühlt, findet sie dieselben als Leute, die ihr nie etwas sein werden, liebenswürdig genug.
Wenn mit wahrer Liebe Coquetterie vereinbar wäre, so würde ich sogar einige schwache Spuren derselben in der Art und Weise zu bemerken glauben, wie sich Sophie in Gegenwart ihres Geliebten ihnen gegenüber benimmt. Man sollte fast meinen, daß sie, nicht zufrieden mit der glühenden Leidenschaft, die sie durch eine köstliche Mischung von Zurückhaltung und Zärtlichkeit in ihm entzündet hat, auch eine ganz besondere Lust dann findet, diese Leidenschaft durch ein wenig Unruhe noch immer mehr anzustacheln. Man sollte meinen, sie gehe absichtlich darauf aus, ihre jungen Gäste zu erheitern, nur um Emil durch den Anblick einer Fröhlichkeit, die ihr so gut steht und die sie doch nie ihm gegenüber zu zeigen wagt, Qualen zu bereiten. Indest ist Sophie zu aufmerksam, zu gut und zu verständig, um ihn wirklich zu quälen. Um dieses gefährliche Reizmittel zu mildern, vertreten bei ihr Liebe und Sittsamkeit die Stelle der Klugheit. Sie versteht ihn in Unruhe zu versetzen, aber im rechten Augenblicke auch wieder zu besänftigen, und wenn sie ihn auch bisweilen beunruhigt, so betrübt sie ihn doch niemals. Um der Besorgniß willen, die sie hegt, sie könne ihren Geliebten nie fest genug an sich fesseln, wollen wir ihr die Sorge verzeihen, die sie ihm bisweilen bereitet.
Welche Wirkung werden nun aber diese kleinen Künste auf Emil ausüben? Wird er eifersüchtig werden, oder wird er es nicht werden? Das wäre jetzt zu untersuchen, denn dergleichen Abschweifungen gehören ebenfalls zu dem Gegenstande dieser Abhandlung und entfernen mich nur wenig von der Sache selbst.
Ich habe schon vorher den Nachweis geführt, daß diese Leidenschaft bei den Dingen, die lediglich auf der Meinung beruhen, in den Herzen der Menschen erwacht. Bei der Liebe verhält es sich jedoch anders. Hier scheint die Eifersucht so nahe an Natur zu streifen, daß sich kaum annehmen läßt, sie habe ihre Quelle nicht in derselben. Selbst das Beispiel der Thiere, unter denen sich bei verschiedenen die Eifersucht bis zur Wuth steigert, scheint dies unwiderleglich zu beweisen. Bringt etwa die Meinung der Menschen die Hähne dazu, sich zu zerfleischen, und die Stiere, sich bis auf den Tod zu bekämpfen?
Der Widerwille gegen Alles, was unsere Freuden stört und trübt, ist, wie sich nicht bestreiten läßt, eine natürliche Regung. Bis zu einem gewissen Punkte verhält es sich mit dem Verlangen, den Gegenstand, der unser Gefallen erregt, ausschließlich zu besitzen, freilich eben so. Wenn sich jedoch dieses zur Leidenschaft gewordene Verlangen in Wuth oder in eine mißtrauische und verletzende Laune, unter dem Namen Eifersucht, verwandelt, dann ist es etwas Anderes. Diese Leidenschaft kann allerdings ihre Quelle in der Natur haben, aber es ist nicht immer der Fall; es ist nothwendig, hierbei einen Unterschied zu machen.
Das der Thierwelt entnommene Beispiel habe ich bereits früher in meiner Abhandlung über die Ungleichheit ( discours sur l'inégalité) weitläufig erörtert, und jetzt, wo ich von Neuem darüber nachdenke, scheint mir die damals angestellte Untersuchung erschöpfend und überzeugend genug, um es wagen zu dürfen, meine Leser auf sie zu verweisen. Zu den Unterscheidungen, die ich in jener Schrift gemacht habe, will ich nur die Bemerkung hinzufügen, daß die Eifersucht, welche aus der Natur stammt, hauptsächlich von der geschlechtlichen Fähigkeit bedingt wird, so daß sie da, wo diese Fähigkeit unbegrenzt ist oder zu sein scheint, ihren Gipfelpunkt erreicht, denn dann betrachtet das Männchen, welches seine Rechte nach seinen Bedürfnissen abmißt, jedes andere Männchen nur als einen nicht zu duldenden Nebenbuhler. Da sich in diesen Thiergattungen die Weibchen den zuerst Kommenden ergeben, so gehören sie den Männchen auch nur nach dem Rechte der Eroberung und verursachen deswegen ewige Kämpfe unter ihnen.
In den Gattungen dagegen, wo sich das Männchen nur ein Weibchen zugesellt, wo die Paarung folglich eine Art moralisches Band, eine Art Ehe hervorruft, setzt das Weibchen, da es dem Männchen seiner Wahl, dem es sich ergeben hat, angehört, gewöhnlich jedem anderen Widerstand entgegen. Da nun dem Männchen für die Treue des Weibchens der Umstand bürgt, daß es ihm ja nur aus Liebe den Vorzug geschenkt hat, so beunruhigt es sich auch weniger bei dem Anblicke anderer Männchen und lebt mit ihnen friedlicher. In diesen Gattungen theilt das Männchen die Sorge für die Jungen, und nach einem jener Naturgesetze, welche man nicht ohne Rührung wahrnehmen kann, scheint das Weibchen dem Vater die Zuneigung, die er für seine Kinder hegt, vergelten zu wollen.
Lenken wir nun unsere Blicke auf das Menschengeschlecht in seiner ursprünglichen Einfachheit, so läßt sich an dem beschränkten Vermögen des Mannes so wie an der Mäßigkeit seines geschlechtlichen Verlangens leicht erkennen, daß ihn die Natur dazu bestimmt hat, sich mit einer einzigen Frau zu begnügen. Eine Bestätigung findet diese Annahme in der numerischen Gleichheit der Individuen beider Geschlechter, wenigstens in unserem Klima, eine Gleichheit, die bei den Thiergattungen nicht vorhanden ist, in denen die größere Fähigkeit der Männchen mehrere Weibchen um ein einziges schaart. Obgleich der Mann nicht wie der Tauber brütet und eben so wenig Brüste hat, um zu säugen, weswegen er eigentlich in die Classe der Vierfüßler gehört, so ist die Frau doch auch auf seine Hilfe angewiesen, denn die Kinder sind so lange schwach und ungeschickt, daß sie wie die Mutter nicht leicht der Liebe des Vaters und seiner um ihretwillen gern gebrachten Opfer entbehren könnten.
Alle diese übereinstimmenden Beobachtungen liefern demnach den Beweis, daß sich aus der leidenschaftlichen Eifersucht der Männchen in manchen Thierclassen noch kein Schluß auf den Menschen ziehen läßt. Sogar in der Ausnahme der wärmeren Himmelsstriche, in denen fast überall die Vielweiberei zur Herrschaft gelangt ist, findet dies Princip nur eine noch größere Bestätigung, weil die größere Anzahl der Frauen die Männer zu tyrannischen Vorsichtsmaßregeln geführt und das Gefühl der eigenen Schwäche sie zur Anwendung eines Zwanges getrieben hat, um die Naturgesetze zu umgehen.
Unter uns, wo die gleichen Gesetze in diesem Punkte zwar weniger, dafür aber in einem entgegengesetzten und noch weit verabscheuungswertheren Sinne um so häufiger umgangen werden, hat die Eifersucht ihre Veranlassung mehr in den in der Gesellschaft herrschenden Leidenschaften als in dem ursprünglichen Naturtriebe. Bei den meisten galanten Verhältnissen übersteigt der Haß, den der Liebende gegen seine Nebenbuhler hegt, um Vieles seine Liebe zur Geliebten. Wenn er befürchtet, nicht der Einzige zu sein, der Erhörung gefunden hat, so ist dies die Wirkung jener Eigenliebe, deren Ursprung ich bereits nachgewiesen habe, und es leidet darunter mehr die Eitelkeit als die Liebe. Außerdem haben unsere ungeschickten Einrichtungen die Frauen zu einer solchen Verstellung Die Art der Verstellung, welche ich hier im Auge habe, ist derjenigen, welche den Frauen ziemt und zu der die Natur sie anleitet, gerade entgegengesetzt. Letztere besteht darin, die Gefühle, welche sie hegen, zu verhehlen, erstere dagegen darin, Gefühle zu erheucheln, welche sie nicht haben. Alle Weltdamen brüsten sich ihr Lebelang mit ihrem sogenannten liebevollen Herzen und lieben trotzdem nur sich selbst. getrieben und ihre Gelüste in so hohem Grade entflammt, daß man sich kaum auf ihre erprobteste Zuneigung verlassen kann, und daß sie außer Stande sind, einen Vorzug zu erkennen zu geben, welcher über die Furcht vor Nebenbuhlern zu beruhigen vermöchte.
Mit der wahren Liebe verhält es sich anders. In der schon erwähnten Schrift habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß dies Gefühl nicht so natürlich ist, als man wol denkt. Es ist ein bedeutender Unterschied zwischen der süßen Gewohnheit, welche den Mann mit Zuneigung zu seiner Gefährtin erfüllt, und jener zügellosen Leidenschaft, welche sich an den eingebildeten Reizen eines Gegenstandes berauscht, der sich ihr ganz anders darstellt, als er in Wirklichkeit ist. Diese Leidenschaft, die den ausschließlichen Vorzug für sich in Anspruch nimmt, unterscheidet sich nur in so fern von der Eitelkeit, als diese Alles verlangt und nichts gewährt, weshalb sie stets unbillig auftreten wird, während die Liebe, die eben so viel gewährt als sie verlangt, schon an sich ein von Billigkeit erfülltes Gefühl ist. Je mehr sie übrigens verlangt, desto mehr ist sie zur Leichtgläubigkeit geneigt. Dieselbe Illusion, welche sie hervorruft, bewirkt, daß sie sich leicht überreden läßt. Ist die Liebe voller Unruhe, so ist die Achtung dagegen voller Vertrauen, und nie bestand Liebe ohne Achtung in einem ehrbaren Herzen, weil Jeder in dem Gegenstaude seiner Liebe nur Eigenschaften liebt, auf die er den höchsten Werth legt.
Befindet man sich darüber im Klaren, so kann man mit Sicherheit voraussagen, welcherlei Art von Eifersucht Emil fähig sein wird; denn da diese Leidenschaft kaum einen Keim in dem menschlichen Herzen hat, so wird die Gestalt, in der sie auftritt, einzig und allein von der Erziehung bestimmt. Liebt Emil und bemächtigt sich seiner die Eifersucht, so wird er nicht etwa zornig, aufgebracht und mißtrauisch, sondern zart, gefühlvoll und schüchtern sein. Er wird sich mehr beunruhigt als gereizt zeigen. Er wird es sich mehr angelegen sein lassen, seine Geliebte zu gewinnen, als seinen Nebenbuhler zu bedrohen. Er wird ihn als ein Hinderniß auf die Seite zu schieben suchen, wenn es ihm möglich ist, ihn aber nicht als einen Feind hassen. Sollte er ihn indeß doch hassen, so liegt die Ursache nicht in der Kühnheit, ihm ein Herz, auf welches er Anspruch erhebt, streitig machen zu wollen, sondern in der wirklichen Gefahr, der er sich ausgesetzt sieht, es zu verlieren. Kein ungerechter Stolz wird sich in ihm thörichterweise um deswillen gekränkt fühlen, daß man sich unterfängt, zu demselben Wesen wie er seine Blicke zu erheben. In der richtigen Einsicht, daß sich das Recht auf Bevorzugung einzig und allein auf das Verdienst gründet, und daß die Ehre in dem glücklichen Erfolge liegt, wird er sich doppelte Mühe geben, sich liebenswürdig zu machen, und wahrscheinlich wird er zum Ziele gelangen. Wenn die edle Sophie ihn in Unruhe versetzt und dadurch seine Liebe reizt, so wird sie auch dafür Sorge tragen, daß dieselbe nicht einen zu hohen Grad erreicht, und ihn zu entschädigen wissen. Die Nebenbuhler, welche nur geduldet wurden, ihn auf die Probe zu stellen, werden bald verabschiedet sein.
Aber wohin bin ich unmerklich gerathen? O Emil, was ist aus dir geworden? Kann ich in dir meinen Zögling wieder erkennen? Wie tief gesunken zeigst du dich mir! Wo ist dieser so streng erzogene Jüngling, welcher den Einflüssen der Jahreszeiten trotzte, seinen Körper durch die beschwerlichsten Arbeiten stählte und seine Seele allein unter die Gesetze der Weisheit stellte? Wo ist er, der, den Vorurtheilen wie den Leidenschaften unzugänglich, nur die Wahrheit liebte, nur der Vernunft folgte und sich nur um sich selbst kümmerte? Jetzt, wo ihn ein müßiges Leben verweichlicht hat, läßt er sich von Frauen leiten! Ihre Belustigungen bilden seine Beschäftigung, ihr Wille gilt ihm als Gesetz! Ein junges Mädchen gebietet über sein Schicksal. Vor ihm liegt er im Staube und demüthigt er sich! Der ernste Emil ist der Spielball eines Kindes!
So wechseln im Leben die Scenen. Jedes Alter wird von seinen besonderen Triebfedern in Bewegung gesetzt. Der Mensch aber bleibt stets derselbe. Im zehnten Jahre läßt er sich durch Kuchen lenken, im zwanzigsten durch eine Geliebte, im dreißigsten durch Vergnügungen, im vierzigsten durch Ehrgeiz, im fünfzigsten durch Habsucht. Wann aber jagt er nur der Weisheit nach? Glücklich, wer wider seinen Willen ihr entgegengeführt wird! Was liegt an dem Führer, dessen man sich dabei bedient, wenn er uns nur zum Ziele bringt? Helden, ja sogar Weise haben der menschlichen Schwäche diesen Tribut bezahlt, und Mancher, dessen Finger erst haben die Spindel drehen müssen, ist nichts desto weniger ein großer Mann geworden.
Wollt ihr die Wirkung einer vorteilhaften Erziehung auf das ganze Leben ausdehnen, so sorget dafür, daß die guten Gewöhnungen der Kindheit bis ins Jünglingsalter beibehalten werden, und ist euer Zögling, was er sein soll, so bemüht euch, daß er zu allen Zeiten derselbe ist. Das ist die letzte Vollendung, die euch eurem Werke noch zu geben übrig bleibt. Namentlich aus diesem Grunde ist es von Wichtigkeit, den jungen Leuten noch einen Führer zu lassen, denn sonst braucht man wol kaum zu befürchten, daß sie ohne seine Anleitung keinen Gegenstand für ihre Liebe finden würden. Die Erzieher, und besonders auch die Väter, huldigen oft der irrtümlichen Anschauung, daß die eine Lebensweise die andere ausschließe, und daß man, sobald man erwachsen ist, sich von Allem lossagen müsse, was man als Kind gethan habe. Verhielte es sich in der That so, wozu würde dann wol die der Kindheit gewidmete Sorgfalt nützen, da die gute oder schlechte Anwendung, welche man von ihr machen könnte, mit ihr aufhören würde, und da man mit einer völlig verschiedenen Lebensweise auch nothwendig eine andere Denkart annehmen müßte?
Wie nur schwere Krankheiten im Stande sind, die Gedächtnißkraft zu schwächen, so vermögen auch nur große Leidenschaften eine Lockerung der Sitten zu bewirken. Obgleich unser Geschmack und unsere Neigungen einem Wechsel unterworfen sind, so wird uns derselbe, der mitunter sehr schnell eintritt, doch durch die Art des Uebergangs weniger fühlbar gemacht. Die Aufeinanderfolge unserer Neigungen muß in derselben Weise stattfinden, in welcher ein geschickter Maler bei der Abstufung der Farben verfährt, indem er unmerkliche Uebergänge hervorzubringen weiß, die Tinten mischt und vertheilt, und damit keine derselben zu grell absticht, mehrere über sein ganzes Gemälde verbreitet. Diese Regel findet in der Erfahrung ihre Bestätigung. Unmäßige Leute ändern täglich ihre Neigungen, ihren Geschmack, ihre Gesinnung und zeigen nur in der Gewohnheit des Wechselns Beständigkeit. Der maßvolle Mann dagegen kommt regelmäßig auf seine alten Gewohnheiten zurück und verliert selbst im Alter nicht den Geschmack an Freuden, die er als Kind liebte.
Könnt ihr es dahin bringen, daß die jungen Leute beim Uebergange in ein neues Lebensalter auf das zurückgelegte nicht mit Verachtung blicken, daß sie trotz der Annahme neuer Gewohnheiten den alten nicht entsagen und ihre Freude darin finden, stets das zu thun, was gut ist, ohne Rücksicht auf die Zeit, in welcher sie es begonnen haben: dann allein werdet ihr euer Werk als gesichert betrachten und bis ans Ende ihrer Tage derselben versichert sein können, denn der am meisten zu fürchtende Umschwung vollzieht sich gerade in dem Alter, über welches ihr jetzt zu wachen habt. Wie man sich fortwährend nach ihm zurücksehnt, so verliert man in der Folge auch nur schwer die Neigungen, welche man in ihm gewonnen hat, während man sich ihnen, wenn eine Unterbrechung in ihnen eintrat, zeitlebens nicht wieder hingibt.
Die meisten Gewohnheiten, zu deren Annahme ihr eurer Ansicht nach die Kinder und jungen Leute bestimmt habt, sind gar keine wirkliche Gewohnheiten, weil sie dieselben nur gezwungenerweise angenommen haben und sie unlustig beobachten und weil sie deshalb nur auf die Gelegenheit warten, sie wieder ablegen zu können. Aus dem Umstande, daß man sich gezwungen sieht, sich im Gefängnisse aufzuhalten, gewinnt man den Aufenthalt in demselben noch nicht lieb. Statt den Widerwillen zu vermindern, erhöht ihn dann eine solche Gewohnheit nur noch. Ganz anders verhält es sich mit Emil. Da er schon in seiner Kindheit Alles, was er that, nur aus freiem Antriebe und mit Freuden that, so wird er, wenn er jetzt als Mann die frühere Thätigkeit beibehält, mit der Herrschaft der Gewohnheit die Süßigkeit der Freiheit verbinden. Das thätige Leben, die Arbeit der Arme, Leibesübung und Bewegung sind ihm in so hohem Grade zur Notwendigkeit geworden, daß er ihnen, ohne darunter zu leiden, nicht würde entsagen können. Ihn mit einem Male zu einer weichlichen und sitzenden Lebensweise zu zwingen, hieße ihn einschließen, in Fesseln schlagen, in einem gewaltsamen und unnatürlichen Zustande halten. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß seine Laune wie seine Gesundheit in gleicher Weise darunter leiden würden. Kaum vermag er in einem wohlverschlossenen Zimmer frei zu athmen. Ihm ist freie Luft, Bewegung und Anstrengung ein Bedürfniß. Selbst wenn er vor Sophie auf den Knieen liegt, kann er sich nicht enthalten, hin und wieder einen verstohlenen Blick in das Freie zu werfen und zu wünschen, die Fluren mit ihr durchstreifen zu können. Trotzdem bleibt er, weil er einmal bleiben muß. Aber er ist unruhig, erregt und scheint mit sich selbst im Kampfe zu liegen; er bleibt, weil er gefesselt ist. Ihr werdet freilich den Einwand erheben, daß das doch gewiß Bedürfnisse seien, die durch meine Schuld eine Herrschaft über ihn ausübten, Beschränkungen, die ich ihm auferlegt hätte. Das ist allerdings wahr: ich habe ihn angehalten, sich dem Zustande des Menschen zu unterwerfen.
Emil liebt Sophie. Aber welche Reize haben ihn hauptsächlich angezogen? Ihre natürliche Güte, ihre Tugend, ihre Liebe zum Sittlichen. Sollte es wol für ihn als ein Verlust gelten können, wenn er diese Liebe an seiner Geliebten schätzt? Und um welchen Preis hat Sophie ihrerseits seine Liebe angenommen? Um den Preis aller Gefühle, welche dem Herzen ihres Geliebten natürlich sind: die Wertschätzung aller wahren Güter, Mäßigkeit, Einfachheit, edle Uneigennützigkeit, Verachtung alles Prunks und der Reichthümer. Emil besaß diese Tugenden bereits, noch ehe ihn die Liebe zu ihrer Uebung hätte bestimmen können. Worin hätte er sich also wirklich geändert? Es sind für ihn nur neue Gründe hinzugetreten, so zu sein, wie er ist. Das ist aber auch der einzige Punkt, in welchem er von dem, was er war, jetzt verschieden sein mag.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend Jemand, welcher mein Buch mit einiger Aufmerksamkeit gelesen hat, wähnen könnte, alle Verhältnisse in der Lage Emils seien ein bloßes Ergebniß des Zufalls. Ist es wol ein Spiel des Zufalls, daß bei der großen Schaar liebenswürdiger Mädchen in den Städten gerade die, welche ihm gefällt, fern in tiefster Zurückgezogenheit weilt? Ist es Zufall, daß er sie trifft, Zufall, daß sie für einander passen, Zufall, daß sie nicht am nämlichen Orte wohnen können? Treibt auch dabei der Zufall sein Spiel, daß er erst in weiterer Entfernung von ihr eine Wohnung findet? Kann es Zufall sein, daß er sie so selten sieht und das Vergnügen, hin und wieder ihren Anblick genießen zu können, mit so vielen Mühseligkeiten erkaufen muß? Nach eurer Behauptung verweichlicht er sich, aber er härtet sich im Gegentheile ab. Er muß so kräftig sein, wie er es meiner Erziehung zu verdanken hat, um all den Beschwerden, welche er um Sophie willen ertragen muß, gewachsen zu sein.
Er wohnt zwei starke Stunden von ihr. Diese Entfernung dient ihm in ähnlicher Weise wie der Blasebalg der Schmiede. Durch sie härte ich die Pfeile der Liebe. Wohnten sie Thüre an Thüre, oder brauchte er sich zu ihrem Besuche nur auf die weichen Polster eines herrschaftlichen Wagens zu setzen, so würde ihm seine Liebe freilich keine Unbequemlichkeit verursachen, so würde er nach Pariser Art lieben. Hätte Leander aber wol für Hero sterben wollen, wenn ihn das Meer nicht von ihr geschieden hätte? Leser, erspart mir alle weitere Worte! Fehlt es euch nicht an Verständniß für meine Lehren, so werdet ihr meine Regeln bis ins Einzelne zur Genüge befolgen.
Bei den ersten Besuchen, die wir Sophie abstatteten, mietheten wir uns Pferde, um unser Ziel schneller zu erreichen. Wir finden diese Art zu reisen bequem und bedienen uns deshalb der Pferde öfter. Beim fünften Male hatte man uns erwartet. Ueber eine halbe Stunde vom Hause gewahren wir Leute vor uns auf dem Wege. Emil schaut aufmerksam nach ihnen hin, und das Herz beginnt ihm zu klopfen. Er reitet näher, erkennt Sophie, springt eilig vom Pferde, läuft, fliegt und liegt in wenigen Augenblicken der liebenswürdigen Familie zu Füßen. Emil liebt schöne Pferde; das seinige ist etwas wild; es fühlt sich frei und sprengt quer über das Feld fort. Ich reite hinterher, hole es mit Mühe ein und bringe es zurück. Da sich Sophie unglücklicherweise vor den Pferden fürchtet, wage ich nicht, mich ihr zu nähern. Emil sieht nichts, allein Sophie flüstert ihm ins Ohr, welche Mühe sich sein Freund um seinetwillen habe geben müssen. Ganz beschämt eilt Emil herbei, ergreift die Pferde und bleibt zurück. Es ist ganz in der Ordnung, daß die Reihe einen Jeden trifft. Er reitet voraus, um unsere Thiere den Dienstleuten zu übergeben. Da er sich gezwungen sieht, Sophie zurückzulassen, so kommt ihm das Reiten nicht mehr so angenehm vor. Außer Athem kehrt er zurück und begegnet uns auf halbem Wege.
Bei unserem nächsten Besuche will Emil von Pferden nichts mehr wissen. »Weshalb denn?« frage ich ihn; »wir brauchen ja nur einen Diener mitzunehmen, dem wir ihre Wartung übertragen können.« – »Ach,« versetzte er, »warum sollen wir der achtbaren Familie solche Ueberlast bereiten? Sie wissen ja, daß sie für unser Aller, der Pferde wie Männer, Unterhalt sorgen will.« – »Es ist wahr,« erwidere ich, »sie besitzen die edle Gastfreundschaft der Dürftigkeit. Während die Reichen, die bei all ihrem äußeren Prunke doch habsüchtig sind, nur ihre Freunde bei sich aufnehmen, gewähren die Armen sogar den Pferden ihrer Freunde Unterkunft.« – »So lassen Sie uns denn zu Fuß gehen,« entgegnete er. »Sollten Sie sich das nicht zutrauen, Sie, die Sie stets so bereitwillig die ermüdenden Vergnügungen Ihres Kindes theilen?« – »Herzlich gern,« erwidere ich sofort, »auch muß man nach meinem Bedünken bei seinen Liebesgängen nicht mit so großem Geräusch auftreten!«
Als wir näher kommen, bemerken wir, daß uns Mutter und Tochter noch weiter als das erste Mal entgegengekommen sind. Wie im Fluge sind wir bei ihnen. Emil ist wie aus dem Wasser gezogen. Eine theure Hand trocknet ihm mit dem Taschentuche freundlich die Wangen. Und wäre die ganze Welt voller Pferde, so würden wir uns von nun an nie wieder versucht fühlen, uns derselben zu bedienen.
Indeß empfinden wir es ziemlich hart, daß wir nie den Abend mit einander verleben können. Der Sommer neigt sich seinem Ende entgegen und die Tage beginnen abzunehmen. Was wir auch immer sagen mögen, so gestattet man uns doch nie, erst bei Nacht unsern Heimweg anzutreten, und wenn wir uns nicht gleich des Morgens einstellen wollen, so müssen wir fast gleich nach unserer Ankunft wieder scheiden. Da man uns allseitig bedauert und sich unsertwegen beunruhigt fühlt, geräth die Mutter endlich auf den Gedanken, daß vielleicht, da ihnen die Schicklichkeit einmal verbiete, uns in ihrem eigenen Hause Unterkunft zu geben, im Dorfe eine passende Nachtherberge ermittelt werden könnte, wo wir uns nicht zu scheuen brauchten, bisweilen zu übernachten. Bei diesen Worten klatscht Emil in die Hände und hüpft vor Freuden, während Sophie, ohne daran zu denken, ihre Mutter an dem Tage, wo ihr dies Auskunftsmittel eingefallen ist, häufiger als sonst küßt.
Nach und nach beginnt die Süßigkeit der Freundschaft und die Vertraulichkeit der Unschuld sich unter uns zu bilden und zu befestigen. An den von Sophie und ihrer Mutter festgesetzten Tagen komme ich meistens mit meinem Freunde, doch lasse ich ihn bisweilen auch allein gehen. Vertrauen erhebt das Bewußtsein, und man darf einen Mann nicht mehr wie ein Kind behandeln. Was würde ich auch erzielt haben, wenn mein Zögling meine Achtung nicht verdiente? Es kommt auch wol vor, daß ich ohne ihn hingehe. So traurig er dann auch ist, so murrt er gleichwol nicht. Was würde sein Murren ihm auch helfen? Und außerdem weiß er ja sehr wohl, daß ich nicht darauf ausgehe, seinen Interessen zu schaden. Ob wir übrigens zusammen oder Jeder für sich allein hingehen, so versteht es sich von selbst, daß wir uns nie von der Witterung zurückhalten lassen, und wir sind sogar ganz stolz darauf, wenn wir uns bei unserer Ankunft in einem Zustande befinden, der Bedauern erweckt. Leider will Sophie von diesem falschen Ehrgefühl nichts wissen und verbietet uns, bei schlechtem Wetter zu kommen. Dies ist das einzige Mal, daß ich sie gegen die Vorschriften widerspenstig finde, die ich ihr, ohne daß sie es selber merkt, eingebe.
Eines Tages sehe ich Emil, der allein gegangen ist und dessen Rückkehr ich erst am nächsten Morgen erwarte, schon den nämlichen Abend zurückkommen und sage deshalb, während ich ihn umarme, zu ihm: »Wie, lieber Emil, du kommst zu deinem Freunde zurück?« Statt jedoch meine Liebkosung zu erwidern, sagt er ein wenig übellaunig: »Denken Sie nicht, daß ich aus eigenem Antriebe so bald zurückkehre; es geschieht ganz gegen meinen Willen. Sie hat es gewollt, und deshalb komme ich auf Sophiens Wunsch, nicht aber Ihretwillen.« Von dieser Offenheit angenehm berührt, umarme ich ihn von Neuem und sage: »Offene Seele, aufrichtiger Freund, suche mir nicht zu entziehen, was mir doch gehört. Kommst du ihretwegen, so sagst du es doch meinetwegen. Deine Rückkehr ist ihr Werk, aber deine Offenheit ist das meinige. Bewahre dir für immer diese edle Aufrichtigkeit schöner Seelen. Man kann Leute, die uns gleichgiltig sind, denken lassen, was sie wollen; duldet man aber, daß uns ein Freund etwas als Verdienst anrechnet, was wir doch nicht um seinetwillen gethan haben, so ist dies ein Verbrechen.«
Ich hüte mich wohl, diesem Geständniß in seinen Augen dadurch etwas von seinem Werthe zu nehmen, daß ich ihn darauf aufmerksam mache, es liege in demselben mehr Liebe als Edelmuth, und es komme ihm weniger darauf an, sich das Verdienst dieser Rückkehr abzusprechen, als es vielmehr Sophie beizulegen. Die Art seiner Rückkunft entschleiert mir aber, ohne daß er es ahnt, sein ganzes Herz. Kommt er nämlich gemächlich und langsamen Schrittes, das Herz voller Liebesträume, so ist er in dem Augenblicke nur der Geliebte Sophiens; langt er dagegen mit stürmischen Schritten und erhitzt, wenn auch etwas verdrießlich, an, so erscheint er als der Freund seines Mentors.
Diese Einrichtungen lassen erkennen, daß mein junger Mann weit davon entfernt ist, sein Leben stets an Sophiens Seite zuzubringen und sie so oft zu besuchen, als er gern möchte. Die Erlaubniß, welche er erhalten hat, beschränkt sich auf einen oder zwei Besuche wöchentlich. Gewöhnlich nehmen sie nur einen halben Tag in Anspruch und selten dehnen sie sich bis zum nächsten Morgen aus. Die Hoffnung auf den nächsten Besuch, oder die Erinnerung an die glücklichen Stunden des letzten, nimmt einen ungleich größeren Zeitraum ein als der wirkliche Besuch. Und kommt nun endlich der Besuchstag, so verbringt er den größten Theil der Zeit mit dem Hin- und Rückwege und nur wenige Stunden sind ihm an ihrer Seite zu verleben vergönnt. So wahr, rein und köstlich diese Freuden sind, so genießt er sie doch mehr in der Phantasie als in der Wirklichkeit. Sie steigern seine Liebe, ohne sein Herz zu verweichlichen.
An den Tagen, an welchen er sie nicht sieht, lebt er nicht etwa müßig und eingezogen. An solchen Tagen ist er noch immer der alte Emil. Er hat sich in keiner Beziehung geändert. Am häufigsten durchstreift er die Felder der Umgegend und nimmt seine naturgeschichtlichen Studien wieder auf. Er stellt Beobachtungen an, untersucht den Boden, seine Erzeugnisse, die Art seines Anbaues. Er vergleicht die Feldarbeiten, welche er sieht, mit den ihm bekannten Methoden. Er sucht sich die Gründe der Abweichungen klar zu machen. Hält er sich überzeugt, daß andere Methoden vor den ortsüblichen den Vorzug verdienen, so macht er die Landwirthe mit denselben bekannt. Schlägt er ihnen eine bessere Form des Pfluges vor, so läßt er einen solchen nach seinen Zeichnungen anfertigen. Zufällig trifft er einen Mergelbruch und nimmt davon Veranlassung, sie auf die hier zu Lande noch unbekannte Anwendung des Mergels aufmerksam zu machen. Oft legt er selbst Hand ans Werk. Sie gerathen in Erstaunen, wenn sie sehen, wie er mit ihren Werkzeugen geschickter umzugehen weiß wie sie selbst, wie er tiefere und geradere Furchen zieht, gleichmäßiger säet und die Frühbeete mit größerem Geschick anzulegen weiß als sie. Es fällt ihnen nicht ein, sich über ihn lustig zu machen, wie sie es über die zu thun pflegen, die über den Ackerbau nur schön zu schwatzen verstehen; sie sehen, daß er ihn wirklich kennt. Daß ich es kurz sage, er dehnt seinen Eifer und seine Fürsorge auf Alles aus, was einen wesentlichen und allgemeinen Nutzen gewährt. Doch nicht einmal hiermit setzt er seiner Thätigkeit Grenzen. Er besucht die Landleute in ihren Häusern, erkundigt sich nach ihren Verhältnissen, nach ihren Familien, nach der Zahl ihrer Kinder, nach dem Umfange ihrer Ländereien, nach der Beschaffenheit des Ertrages derselben und nach den besten Absatzwegen, fragt nach ihrem Vermögen, nach den auf den Grundstücken ruhenden Lasten, nach ihren Schulden u. s. w. Geldhilfe gewährt er selten, da ihm nur zu wohl bekannt ist, daß sie gewöhnlich schlecht angewandt wird. Dafür zeigt er ihnen, wie sie selbst den besten Gebrauch von ihrem Gelde machen können, und wird so die Ursache, daß es ihnen trotz ihrer geringen Einsicht in Geldangelegenheiten dennoch Nutzen bringt. Er verschafft ihnen Arbeiter und bezahlt ihnen oft für die Arbeiten, deren sie bedürfen, ihren eigenen Tagelohn. Dem Einen läßt er seine halbverfallene Hütte wieder herstellen oder decken; dem Andern läßt er sein Feld bestellen, das aus Mangel an den nöthigen Mitteln hatte brach liegen müssen; wieder einem Andern schenkt er eine Kuh, ein Pferd, kurz irgend ein Stück Vieh zum Ersatze dessen, welches ihm gefallen ist. Zwei Nachbarn stehen im Begriff, einen Proceß gegen einander anzustrengen; er spricht ihnen gütlich zu und versöhnt sie. Ein Bauer erkrankt; er läßt ihn ärztlich behandeln oder behandelt ihn vielmehr selbst. Zur Heilung eines kranken Bauern braucht man ihm nicht Purganzen und Arzneien zu geben, noch ihn den Händen eines Wundarztes zu überliefern. Von alledem haben diese armen Leute, wenn sie krank sind, nichts nöthig; sie bedürfen einer besseren und reichlicheren Kost. Möget ihr Andern fasten, wenn euch das Fieber plaget, leidet aber ein Bauer daran, so gebt ihm Fleisch und Wein. Fast alle ihre Krankheiten sind die Folge ihres Elends und ihrer Entkräftung. Ihr bester Arzneitrank ist in euerm Keller, ihr einziger Apotheker muß euer Schlächter sein. Ein Anderer sieht sich den Bedrückungen eines mächtigen Nachbars ausgesetzt; er nimmt ihn in Schutz und tritt als Fürsprecher für ihn auf. Armen Verlobten macht er es möglich, sich zu verheirathen. Eine gute Frau, die ihr geliebtes Kind verloren hat, besucht er. Lange weilt er bei ihr, während er sich bemüht, sie zu trösten. Er verachtet die Armen nicht, noch verräth er Eile, sich von den Unglücklichen wieder loszumachen. Oft theilt er das Mahl der Landleute, die er unterstützt, setzt sich aber auch mit denen zu Tische, die seiner nicht bedürfen. Während er der Wohlthäter der Einen und der Freund der Andern wird, hört er nicht auf, sich als ihres Gleichen zu betrachten. Kurz, er stiftet durch seine Persönlichkeit stets eben so viel Gutes wie durch sein Geld.
Hin und wieder lenkt er seine Ausflüge nach der Seite jenes glücklichen Landhauses. Es ist ja Hoffnung vorhanden, daß er Sophie heimlich entdecken, daß er sie, ohne selbst bemerkt zu werden, auf einem Spaziergange erblicken könnte. Aber Emil ist in seinem ganzen Auftreten stets offen und ehrlich, er kann und will nicht zu Umwegen seine Zuflucht nehmen. Er besitzt jenes liebenswürdige Zartgefühl, welches der Eigenliebe in Folge des guten Selbstzeugnisses so wohl thut und sie erhöht. Streng richtet er sich nach dem ihm ertheilten Verbote und kommt nie so nahe, daß er dem Zufall das verdanken könnte, was er Sophie allein verdanken will. Dafür irrt er voller Freuden in der Umgebung umher, um die Spuren der Schritte seiner Geliebten aufzusuchen. Mit tiefer Bewegung sieht er die Mühe, welche sie sich gegeben, und die Gänge, die sie ihm zu Liebe unternommen hat. Am Abend vor dem Tage, an welchem er sie besuchen darf, begibt er sich nach irgend einer benachbarten Meierei, um für den nächsten Morgen ein Frühstück zu bestellen. Der Spaziergang wird, scheinbar ohne Absicht, nach jener Richtung hin eingeschlagen. Wie zufällig tritt man ein und findet Obst, Kuchen und Sahne. Die etwas leckerhafte Sophie ist für diese Aufmerksamkeit durchaus nicht unempfindlich und erweist unserer Fürsorge alle Ehre, denn so oft sie etwas Verbindliches äußert, bekomme ich stets meinen Antheil davon ab, und hätte ich auch zu dem Dienste, welchem sie ihr Lob spendet, nicht das Geringste beigetragen. Die Kleine nimmt zu dieser Kriegslist ihre Zuflucht, um bei der Abstattung ihres Dankes weniger in Verlegenheit zu gerathen. Der Vater und ich essen Kuchen und trinken Wein, Emil aber theilt den Geschmack der Frauen und ist beständig auf der Lauer, ob er sich nicht einen Teller mit Sahne aneignen kann, in welchen Sophie ihren Kuchen getaucht hat.
Als der Kuchen herumgereicht wird, erinnere ich Emil an seine früheren Wettläufe. Man will wissen, auf was ich anspiele. Ich gebe den begehrten Aufschluß und man lacht darüber. Man fragt ihn, ob er noch laufen könne. »Besser als je,« erwidert er, »es würde mir nicht lieb sein, wenn ich es verlernt hätte.« Jemand aus der Gesellschaft hätte große Lust, ihn laufen zu sehen, wagt es jedoch nichts den Wunsch auszusprechen, weshalb es ein Anderer übernimmt, einen darauf hinzielenden Vorschlag zu machen. Er geht darauf ein. Man treibt einige junge Männer aus der Umgegend auf, setzt einen Preis fest, und um die alten Spiele möglichst getreu nachzuahmen, wird ein Kuchen als Preis ausgesetzt. Jeder stellt sich in Bereitschaft; der Vater gibt das Zeichen, indem er in die Hände klatscht. Der leichtfüßige Emil fliegt förmlich dahin und hat die Rennbahn durchmessen, noch ehe die drei plumpen Gesellen recht in Gang gekommen sind. Emil empfängt den Preis aus Sophiens Händen und nicht weniger großmüthig als Aeneas theilt er unter den Besiegten Geschenke aus.
Inmitten der allgemeinen Bewunderung und des Triumphes unterfängt sich Sophie den Besieger herauszufordern und rühmt sich, es mit ihm im Laufen aufnehmen zu können. Er lehnt es nicht ab, mit ihr in die Schranken zu treten. Während sie sich am Anfange der Rennbahn in Bereitschaft setzt, ihr Kleid auf beiden Seiten aufschürzt und, mehr in der Absicht Emils Blicken ihren kleinen Fuß zu zeigen als wirklich im Wettlaufe zu siegen, nachsieht, ob ihre Röcke kurz genug sind, flüstert er der Mutter etwas ins Ohr. Sie lächelt und gibt durch ein Zeichen ihre Zustimmung zu erkennen. Nun nimmt er den Platz an der Seite seiner Mitbewerberin ein, und kaum ist das Zeichen gegeben, als man sie vom Male ablaufen und wie einen Vogel dahinfliegen sieht.
Die Frauen sind nicht zum Laufen geschaffen. Ergreifen sie die Flucht, so geschieht es, um sich einholen zu lassen. Freilich ist das Laufen nicht das Einzige, bei dem sie sich ungeschickt anstellen, aber es ist das Einzige, bei dem sie keine Anmuth entfalten. Ihre nach rückwärts gestreckten und eng an den Leib gepreßten Ellenbogen verleihen ihnen ein lächerliches Ansehen, und die hohen Absätze, auf welchen sie einherschreiten, machen sie Heuschrecken ähnlich, welche sich von ihrem Flecke bewegen möchten, ohne zu hüpfen.
Da Emil sich nicht denken kann, daß Sophie schneller als andere Mädchen zu laufen im Stande sei, so bleibt er ruhig auf seinem Platze stehen und blickt ihr mit spöttischem Lächeln nach. Sophie indeß ist leichtfüßig und trägt, da sie keines Kunstgriffes bedarf, um ihren Fuß klein und zierlich erscheinen zu lassen, niedrige Absätze. In größter Geschwindigkeit gewinnt sie einen so bedeutenden Vorsprung, daß Emil keine Zeit versäumen darf, wenn er diese neue Atalante, die er schon so weit vor sich erblickt, einholen will. Wie ein Adler, der sich auf seine Beute stürzt, fliegt er deshalb hinter ihr her. Er verfolgt sie, ist ihr bald hart auf den Fersen, holt endlich die völlig Athemlose ein, schlingt sanft den linken Arm um sie, hebt sie federleicht in die Höhe und beendet, die süße Last fest an sein Herz gedrückt, den Lauf, läßt sie aber das Ziel zuerst berühren, während er zugleich ruft: »Sophie hat gesiegt!« Darauf beugt er ein Knie vor ihr und erkennt sich als besiegt.
An diese mannigfaltigen Beschäftigungen schließt sich auch die Ausübung des Handwerks, welches wir erlernt haben. Wenigstens an einem Tage wöchentlich so wie außerdem an allen denen, an welchen uns die Witterung von Ausflügen ins Freie zurückhält, gehen wir, Emil und ich, zu einem Meister ans Arbeit. Wir arbeiten bei ihm durchaus nicht blos zum Scheine, mit der Miene von Leuten, die sich über den Handwerkerstand weit erhaben fühlen, sondern in vollem Ernste und als wirkliche Handwerker. Bei einem Besuche, den uns Sophiens Vater abstatten will, überrascht er uns einmal bei der Arbeit und unterläßt nicht, seiner Frau und seiner Tochter mit Verwunderung zu berichten, was er gesehen hat. »Ueberzeugt euch selbst,« fügt er hinzu, »und sucht diesen jungen Mann in seiner Werkstatt auf, dann werdet ihr sehen, ob er auf den Stand des Armen mit Verachtung blickt.« Man kann sich einen Begriff von der Freude machen, mit welcher Sophie diese Worte hört. Wiederholentlich wird der Wunsch zu erkennen gegeben, ihn bei der Arbeit zu überraschen. Man fragt mich unter dem Scheine der größten Unbefangenheit aus, und nachdem man einen unserer Arbeitstage in Erfahrung gebracht hat, nehmen Mutter und Tochter einen Wagen und kommen an diesem Tage nach der Stadt.
Als sie in die Werkstatt eintreten, bemerkt Sophie am entgegengesetzten Ende einen jungen Mann in Hemdsärmeln, mit nachlässig aufgebundenem Haar, und so von seiner Arbeit in Anspruch genommen, daß er keinen Blick von derselben abwendet. Sie bleibt stehen und gibt ihrer Mutter einen Wink. Emil, den Meißel in der einen und den Schlägel in der andern Hand, hat so eben ein Zapfenloch vollendet; nun zersägt er eine Bohle und schraubt ein Stück derselben in den bei den Tischlern üblichen Klemmhaken, um es zu glätten. Weit davon entfernt, daß dieser Anblick Sophie lächerlich erscheinen sollte, rührt er sie vielmehr, erregt er ihre ganze Achtung. Weib, ehre dein Oberhaupt. Für dich arbeitet der Mann, dir verdient er das Brod, dich ernährt er: ehre den Mann!
Während sie ihm aufmerksam zuschauen, werde ich ihrer plötzlich gewahr und zupfe Emil am Aermel. Er wendet sich um, erblickt sie, wirft sein Werkzeug bei Seite und eilt mit einem Freudenschrei auf sie zu. Nachdem er sich dem ersten Freudenrausche überlassen hat, bittet er sie Platz zu nehmen und macht sich von Neuem an die Arbeit. Allein Sophie vermag nicht sitzen zu bleiben. Sie erhebt sich lebhaft, geht in der Werkstätte umher, besichtigt die Werkzeuge, streicht mit der Hand über die Politur der Breter, hebt einige Hobelspäne vom Boden auf, sieht uns auf die Hände und meint dann, dies Handwerk könne ihr wegen seiner Reinlichkeit gefallen. Mit schelmischer Miene versucht sie sogar ihrem jungen Freunde seine Künste nachzumachen. Mit ihrer weißen und schwachen Hand stößt sie einen Hobel über das Bret hin. Ohne in das Holz zu greifen, gleitet er aber leicht über dasselbe fort. Mir ist's, als sähe ich Amor in der Luft lachen und mit den Flügeln schlagen, als hörte ich ihn den Jubelruf ausstoßen: »Herkules ist gerächt!«
Mittlerweile fragt die Mutter den Meister: »Mein Herr, wie viel zahlen sie jenen Gesellen?« – »Gnädige Frau,« erwidert er, »Jeder von ihnen erhält täglich zwanzig Sous nebst freier Kost. Wenn dieser junge Mann dort indeß Lust hätte, so könnte er noch einen größeren Verdienst haben, denn er ist der geschickteste Arbeiter in der ganzen Gegend.« – »Zwanzig Sous täglich und freie Kost!« versetzt die Mutter, während sie uns zärtlich anblickt. »So ist es, gnädige Frau,« entgegnet der Meister. Bei diesen Worten eilt sie auf Emil zu, umarmt ihn und drückt ihn unter Thränen an das Herz, ohne andere Worte zu finden als den mehrmals wiederholten Ausruf: »Mein Sohn, o mein Sohn!«
Nachdem sie noch einige Zeit, ohne uns jedoch von unserer Arbeit abzuhalten, mit uns geplaudert haben, sagt die Mutter zur Tochter: »Laß uns jetzt aufbrechen, denn es wird spät und wir dürfen nicht auf uns warten lassen.« Hierauf tritt sie an Emil heran, klopft ihm sanft auf die Wange und sagt: »Wie ist es, lieber Geselle, wollen Sie uns nicht nach Hause begleiten?« Mit betrübtem Tone erwidert er jedoch: »Ich habe einen festen Vertrag abgeschlossen, fragen Sie deshalb den Meister.« Man fragt den Meister, ob er unserer Hilfe entbehren könne. Er entgegnet, daß es ihm unmöglich sei. »Ich bin,« sagt er, »mit dringender Arbeit überhäuft, die ich bis übermorgen unter allen Umständen abliefern muß. Da ich mich auf diese Herren verlassen habe, so habe ich andere Arbeiter, die sich mir selbst angeboten, abgewiesen. Wenn mir nun diese Herren ihre Hilfe verweigern, so wäre ich in der That in Verlegenheit, wo ich in der Geschwindigkeit andere Arbeiter hernehmen sollte, und wäre außer Stande, den verabredeten Termin innezuhalten.« Die Mutter entgegnet nichts in der Erwartung, daß Emil das Wort ergreifen werde. Emil aber läßt den Kopf hängen und bleibt stumm. »Mein Herr,« sagt sie endlich, über dieses Schweigen ein wenig aus der Fassung gebracht, »haben Sie darauf nichts zu erwidern?« Emil blickt die Tochter zärtlich an und sagt kleinlaut: »Sie sehen wol, daß ich bleiben muß.« Hierauf brechen die Damen auf und verlassen uns. Emil gibt ihnen bis an die Thür das Geleite, folgt ihnen, so weit er kann, mit den Augen, seufzt und geht, ohne weiter ein Wort zu verlieren, wieder an die Arbeit.