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Man unterwirft die Mädchen einem scheinbaren Zwange, um solcher Thoren habhaft zu werden, welche sie ihres äußeren Anstandes wegen heirathen. Allein studirt nur einen Augenblick diese jungen Damen. Unter dem Scheine äußerlicher Ruhe verhüllen sie nur schlecht die Lüsternheit, welche sie verzehrt. Schon leuchtet aus ihren Augen das glühende Verlangen hervor, das Beispiel ihrer Mütter zu befolgen. Der Gegenstand ihrer Begehrlichkeit ist nicht ein Gatte, sondern die Ungebundenheit, der sie sich in der Ehe meinen hingeben zu können. Bedarf man etwa eines Gatten, wenn Einem so viele Hilfsmittel zu Gebote stehen, die denselben völlig entbehrlich machen? Man bedarf desselben nur, um eben diese Hilfsmittel verdecken zu können. Der Weg des Mannes in seiner Jugend gehörte zu den vier Stücken, welche der weise Salomo nicht begreifen konnte; das fünfte war die Schamlosigkeit der Ehebrecherin. »Also ist auch der Weg der Ehebrecherin; die verschlinget und wischet ihr Maul und sagt: Ich habe kein Uebels gethan«. Spr. XXX, 20. Sittsamkeit steht auf ihrem Antlitze geschrieben, aber Zügellosigkeit wohnt in der Tiefe ihres Herzens. Ein Anzeichen der Letzteren tritt schon in diesem angenommenen Scheine der Sittsamkeit hervor; sie nehmen ihn nur an, um sich desto eher von ihr frei machen zu können. Verzeiht mir, ihr Frauen von Paris und London, ich bitte dringend darum, kein Ort schließt Wunder aus, nur habe ich meinerseits noch keines kennen gelernt; und wenn auch nur eine Einzige unter euch ein wahrhaft sittsames Herz besitzt, dann verstehe ich mich auf unsere Einrichtungen nicht.
Alle diese verschiedenen Erziehungsarten tragen in gleicher Weise daran Schuld, daß die jungen Mädchen an den Vergnügungen der großen Welt Gefallen finden und sich den Leidenschaften überlassen, welche sich in Folge dessen bei ihnen einstellen. In den großen Städten beginnt die Verdorbenheit mit dem Eintritt in das Leben, in den kleinen mit dem Eintritt in das Alter der Vernunft. Die jungen Mädchen aus der Provinz, die man mit Geringschätzung gegen die glückliche Einfachheit ihrer Sitten erfüllt hat, eilen nach Paris, um an der Verderbtheit der unsrigen Theil zu nehmen. Die Aneignung des Lasters, welches man mit dem schönen Namen Talent schmückt, bildet den einzigen Zweck ihrer Reise. Voller Scham, bei ihrer Ankunft noch so wenig von den lockeren Sitten der eleganten Frauenwelt an sich zu haben, säumen sie nicht, sich so bald wie möglich in vollendete Großstädterinnen zu verwandeln. Wo beginnt nun eurer Ansicht nach das Uebel, dort, wo man den Plan dazu faßt, oder wo es zur Ausführung gelangt?
Ich halte es nicht für gut, daß eine vernünftige Mutter aus der Provinz ihre Tochter nach Paris führt, um ihr diese für Andere so verderblichen Bilder zu zeigen. Sollte es indeß doch vorkommen, so behaupte ich, daß die Tochter dann entweder eine schlechte Erziehung erhalten hat, oder daß ihr diese Bilder wenig Gefahr bereiten werden. Besitzt man Geschmack, Verstand und Liebe für das Sittsame, so findet man dieselben nicht so verlockend, wie sie es für diejenigen sind, welche sich von ihnen bestricken lassen. Man kann ja in Paris freilich genug dergleichen unverständiger Mädchen antreffen, welche so schnell wie möglich den größstädtischen Ton anzunehmen suchen und auch wirklich sechs Monate lang als Modedamen Bewunderung erregen, um dann für ihre ganze übrige Lebenszeit der Welt als Zielscheibe zu dienen; wer aber bemerkt diejenigen, welche, angewidert von all diesem lärmenden Treiben, in ihre Provinz zurückkehren und sich mit ihrem Loose zufrieden fühlen, nachdem sie Gelegenheit gehabt hatten, es mit dem so vielfach beneideten der großen Welt zu vergleichen? Wie viele junge Frauen habe ich kennen gelernt, die von ihren Männern in der Absicht, ihnen eine Freude zu bereiten, nach der Hauptstadt geführt waren, da ihnen ihre Mittel den Aufenthalt daselbst gestatteten, und wie oft bin ich Zeuge gewesen, daß sie ihre Männer selbst davon zurückbrachten, mit größerer Freude abreisten, als sie gekommen waren, und den Tag vor ihrer Abreise gerührt sagten: »Ach, laß uns in unsere Strohhütte zurückkehren, man lebt glücklicher in ihr, als hier in Palästen!« Wer will wissen, wie viel edle Frauen es noch sonst gibt, die ihre Kniee nicht vor dem Götzenbilde gebeugt haben und seinen unsinnigen Cultus mit Verachtung strafen! Nur die Närrinnen machen viel Aufhebens von sich, verständige Frauen erregen kein Aufsehen.
Wenn sich trotz der allgemeinen Verderbniß, trotz der Vorurtheile, die sich überall eingeschlichen haben, trotz der schlechten Erziehung gleichwol nicht wenige Mädchen ein bewährtes Urtheil bewahren, bis zu einem wie hohen Grade würde sich dieses Urtheil erst entwickelt haben, wenn es durch geeignete Belehrungen genährt oder, um mich richtiger auszudrücken, nicht durch fehlerhafte Belehrungen getrübt worden wäre? Denn schließlich kommt doch Alles darauf an, das natürliche Gefühl zu bewahren oder wiederherzustellen. Dazu ist es aber durchaus nicht nöthig, daß ihr junge Mädchen mit langen Predigten langweilt und mit trocknen Sermonen überschüttet. Das Moralisiren ist bei beiden Geschlechtern der Tod aller guten Erziehung. Dergleichen trübselige Lehren führen nur dazu, sowol den, welcher sie ertheilt, als auch das, was sie enthalten, verhaßt zu machen. Wenn man es mit jungen Mädchen zu thun hat, darf man sie nicht mit Angst vor ihren Pflichten erfüllen, noch dadurch das Joch erschweren, welches ihnen die Natur auferlegt hat. Bei Darlegung dieser Pflichten befleißigt euch der Kürze und Deutlichkeit. Bringt ihnen nicht den Wahn bei, daß die Erfüllung derselben etwas Verdrießliches sei. Weg mit allem grämlichen Wesen, weg mit aller schulmeisterlichen Würde! Was zu Herzen gehen soll, muß von Herzen kommen. Ihr Katechismus der Moral muß sich durch gleiche Kürze und gleiche Deutlichkeit wie ihr Katechismus der Religion auszeichnen, darf aber nicht eben so ernst sein. Erläutert ihnen, wie in ihren Pflichten sowol die Quelle ihrer Freuden als auch der Grund ihrer Rechte liege. Ist es denn etwas so Lästiges, Liebe zu empfinden, um Liebe einzuflößen, sich liebenswürdig zu machen, um glücklich zu sein, sich Ansehen zu verschaffen, um Gehorsam zu finden, Anderen Ehre zu erweisen, um sich selbst geehrt zu sehen? Wie schön sind diese Rechte! Wie achtungswerth sind sie! Wie theuer werden sie dem Herzen des Mannes sein, wenn sich die Frau derselben zu bedienen versteht! Sie braucht nicht erst die Jahre und das Alter abzuwarten, um in ihren Genuß zu treten. Die Herrschaft der Frau beginnt mit ihren Tugenden. Kaum entfalten sich ihre Reize, so herrscht sie schon durch die Sanftmuth ihres Charakters und nöthigt uns durch ihre Sittsamkeit Achtung ab. Welcher sonst, gefühllose und rohe Mann sänftigt nicht sein ungestümes Wesen und zeigt sich entgegenkommender und nachgibiger im Verkehre mit einem liebenswürdigen und verständigen Mädchen von sechszehn Jahren, welches wenig spricht, aufmerksam zuhört, sich durch Sittsamkeit im Benehmen, durch Züchtigkeit in den Worten auszeichnet, das auch im Bewußtsein seiner Schönheit nicht einen Augenblick sein Geschlecht oder seine Jugend vergißt, ja das sogar durch seine Schüchternheit zu fesseln und sich die Achtung zu erwerben weiß, die es selbst Jedermann erweist? Obgleich diese Merkmale rein äußerlich sind, so fehlt es ihnen doch gleichwol nicht an Werth. Sie beruhen keineswegs auf bloßem Sinnesreize. Sie ergeben sich aus der inneren Ueberzeugung des Mannes, daß alle Frauen die natürlichen Richterinnen des Verdienstes der Männer sind. Wer wünschte wol, sich von den Frauen mißachtet zu sehen? Niemand in der ganzen Welt, nicht einmal derjenige, der sich vorgenommen hat, sie nicht mehr zu lieben! Und meint ihr etwa, daß mir, der ich ihnen doch so herbe Wahrheiten sage, ihr Urtheil in der That gleichgiltig ist? Im Gegentheile! Ihre Zustimmung ist mir werthvoller als die eurige, meine Leser, die ihr oft weit mehr Weiber seid als sie. Obgleich ich vor ihren Sitten keine Achtung hege, will ich ihre Gerechtigkeit doch in Ehren halten. An ihrem Hasse ist mir wenig gelegen, wenn ich sie nur zwinge mich zu achten.
Wie viel Großes ließe sich mit diesen Mitteln erzielen, wenn man sich ihrer richtig zu bedienen verstände. Wehe dem Zeitalter, in welchem die Frauen ihren Einfluß verlieren und die Männer ihre Urtheile unbeachtet lassen! Es ist die tiefste Stufe der Versunkenheit. Alle gesittete Völker haben die Frauen geachtet. Seht Sparta, seht Deutschland, seht Rom an, Rom, diese Stätte des Ruhms und der Tugend, wenn sie überhaupt je auf Erden eine Heimat gehabt haben! In Rom war es, wo die Frauen die Thaten der großen Feldherren ehrten, wo sie die Väter des Vaterlandes öffentlich beweinten, wo ihre Huldigungen oder ihre Klagen in dem heiligen Ansehen des feierlichsten Urtheils der Republik standen. Alle große Staatsumwälzungen gingen hier von den Frauen aus: durch eine Frau errang Rom seine Freiheit, durch eine Frau erlangten die Plebejer das Consulat, durch eine Frau wurde der Gewaltherrschaft der Decemviren ein Ende gemacht, durch Frauen wurde Rom aus den Händen eines Verbannten gerettet. Ihr feinen Franzosen, was würdet ihr wol beim Anblicke dieses in euern Spötteraugen so lächerlichen Aufzuges gesagt haben? Mit Hohngelächter hättet ihr ihn begleitet. Mit wie verschiedenen Augen betrachten wir doch die nämlichen Dinge! Und vielleicht haben wir Alle Recht. Bildet ihr diesen Aufzug aus hübschen Französinnen, so kann ich mir keinen abstoßenderen Anblick vorstellen; laßt ihn aber aus Römerinnen bestehen, und ihr werdet Alle die Augen des Volsker und das Herz des Coriolan haben.
Ich bleibe hierbei noch nicht einmal stehen, sondern behaupte sogar, daß die Tugend der Liebe eben so günstig ist wie all den übrigen Rechten der Natur, und daß die Geliebte dadurch in gleich hohem Grade an Ansehen gewinnt, als die Gattin und Mutter. Es gibt keine wahre Liebe ohne Begeisterung und keine Begeisterung ohne einen Gegenstand von wirklicher oder eingebildeter Vollkommenheit, die aber in der Phantasie stets vorhanden sein wird. Für was sollen die Liebenden glühen, welche an diese Vollkommenheit nicht mehr glauben und in ihren Geliebten nur Gegenstände ihrer Sinnenlust erblicken? Nein, nicht auf diese Weise erwärmt sich das Herz und gibt es sich dem Wonnerausche hin, welcher die beseligende Raserei der Liebenden und den Reiz ihrer Leidenschaft ausmacht. In der Liebe beruht freilich Alles, wie ich nicht läugnen kann, nur auf Illusion; aber in Wirklichkeit sind doch die Gefühle vorhanden, mit denen sie uns für das wahrhaft Schöne beseelt und dadurch bewirkt, daß wir dasselbe lieb gewinnen. Dies Schöne liegt nun allerdings gar nicht in dem Gegenstande, welchen man liebt, es ist vielmehr ein Ausfluß unserer Irrthümer. Mag es sein! Allein was hat das zu sagen? Bringt man deshalb weniger alle seine niederen Gefühle diesem geträumten Vorbilde zum Opfer? Wird unser Herz deshalb weniger von den Vorzügen erfüllt, mit welchen wir den Gegenstand unserer Liebe ausschmücken? Legen wir deshalb weniger alle Gemeinheit des menschlichen Ichs ab? Wo ist ein wahrer Liebender, der nicht bereit wäre, sein Leben für seine Geliebte zu opfern? Und wie kann von sinnlicher und grober Leidenschaft bei einem Menschen die Rede sein, welcher sterben will? Wir machen uns über die fahrenden Ritter lustig. Die Ursache liegt darin, daß sie die Liebe kannten, während wir nur die Ausschweifung kennen. Als ihre ritterlichen Grundsätze zu einem Gegenstande des Gespöttes wurden, war dieser Wechsel nicht sowol das Werk der Vernunft als vielmehr das Ergebniß der schlechten Sitten.
Welches Jahrhundert wir auch betrachten mögen, die natürlichen Verhältnisse unterliegen niemals einem Wechsel, das Angemessene oder Unangemessene, was sich aus denselben ergibt, bleibt sich stets gleich, die Vorurtheile vermögen unter dem angemaßten Namen der Vernunft nur den äußeren Schein zu ändern. Selbstbeherrschung wird immer groß und schön sein, übte man sich in ihr auch nur, um eingebildeten Ansichten zu gehorchen; und die wahren Beweggründe der Ehre werden stets einer jeden urtheilsvollen Frau, welche das Glück ihres Lebens in ihrer Stellung zu suchen weiß, zu Herzen sprechen. Keuschheit muß vor Allem die köstlichste Tugend einer schönen Frau sein, welche nur einige Seelengröße besitzt. Während sie die ganze Welt zu ihren Füßen erblickt, feiert sie über Alle und über sich selbst Triumphe. In ihrem eigenen Herzen errichtet sie sich einen Thron, dem Alle huldigend nahen. Die zärtlichen und eifersüchtigen, indeß stets ehrfurchtsvollen Gefühle beider Geschlechter, die allgemeine wie die eigene Achtung vergelten ihr die Kämpfe weniger Augenblicke mit stets neuem Ruhme. Ihre Entbehrungen sind nur vorübergehend, allein ihr Lohn ist ein bleibender. Welch eine Freude für eine edle Seele, wenn sich der Stolz der Tugend mit der Schönheit paart! Allen Romanheldinnen zum Trotze wird eine solche Frau köstlichere Freuden genießen als alle Lais und Kleopatra; und selbst wenn ihre Schönheit einst verschwunden sein wird, so werden doch ihre Freuden und ihr Ruhm noch bleiben. Nur einer solchen Frau kann die Vergangenheit Freude bereiten. Variante: ... Freude bereiten. Wenn der von mir vorgezeichnete Weg angenehm ist, desto besser, er führt dann um so sicherer zum Ziele, denn er beruht auf der Ordnung der Natur; und nur auf ihm werdet ihr das Ziel erreichen können.
Je größer und lästiger die Pflichten sind, desto klarer und stärker müssen die Motive sein, die ihnen zu Grunde liegen. Es gibt eine gewisse fromme Sprache, deren man sich unaufhörlich, selbst bei den ernstesten Angelegenheiten, jungen Mädchen gegenüber bedient, ohne sie darum überzeugen zu können. Diese Sprache, welche mit ihren Anschauungen so wenig im Einklange steht, und der geringe Werth, den sie im Geheimen auf dieselbe legen, tragen wesentlich dazu bei, sich in ihnen jene Leichtigkeit entwickeln zu lassen, mit der sie sich ihren Neigungen hingeben, da es ihnen an Gründen zur Bekämpfung derselben fehlt, die sie aus der Sache selbst geschöpft hätten. Ein verständig und fromm erzogenes Mädchen besitzt unzweifelhaft starke Waffen gegen die Versuchungen; allein dasjenige, dessen Herz oder vielmehr dessen Ohren man ausschließlich mit solchem frommen Kauderwelsch erfüllt, wird unfehlbar die Beute des ersten geschickten Verführers, der es darauf anlegt. Nie wird ein junges und schönes Mädchen mit Geringschätzung auf seinen Körper blicken, nie wird es sich aufrichtig über die großen Sünden betrüben, zu welchen seine Schönheit verleitet hat, nie wird es aufrichtig vor Gott beweinen, daß es ein Opfer der Lüsternheit wurde, nie wird es sich davon überzeugen können, daß das süßeste Gefühl des Herzens eine Erfindung des Satans ist. Gebt ihm andere innere Gründe, für die es ein Verständniß hat, denn diese werden bei ihm keinen Eingang finden. Noch schlimmer wird es aber, wenn man, wie es nicht selten vorkommt, seine Ideen mit einander in Widerspruch setzt, und nachdem man es dadurch gedemüthigt hat, daß man ihm seinen Körper und seine Reize wie vom Sündenschmutz befleckt schildert, von ihm gleich darauf verlangt, diesen nämlichen Körper als einen Tempel Jesu Christi heilig zu halten. Allzu hohe und allzu niedrige Ideen sind gleich unzulänglich und sind nicht im Stande, sich zu vereinigen. Es bedarf eines Grundes, der dem Geschlechte wie dem Alter angemessen ist. Die Achtung, die man der Pflicht schuldet, hat nur in so weit Kraft, als man ihr Beweggründe zugesellt, die uns zu ihrer Erfüllung antreiben.
Quae quia non liceat non facit, illa facit. Ovid. Amor. III, 4.
(Die nur des Verbotes wegen etwas unterläßt, thut es endlich doch.)
Man kann es sich kaum vorstellen, daß es gerade Ovid ist, welcher ein so strenges Urtheil fällt.
Wollt ihr deshalb junge Mädchen mit Liebe zur Sittlichkeit erfüllen, so flößet ihnen, ohne ihnen beständig zuzurufen: »Seid sittsam«, das Verlangen ein, es zu werden. Macht ihnen den Werth der Sittsamkeit bewußt, und sie werden sie lieb gewinnen. Es ist nicht ausreichend, dies Verlangen erst für eine ferne Zukunft zu erwecken. Ueberzeugt sie im Hinblick auf die Gegenwart, auf die Verhältnisse ihres Alters, auf den Charakter ihrer Liebhaber, von wie großem Interesse es für sie ist, sittsam zu sein. Schildert ihnen den rechtschaffenen Mann, den Mann von Verdienst. Lehrt sie denselben kennen lernen und lieben und zwar um ihretwillen lieben. Beweist es ihnen, daß ein solcher Mann allein im Stande ist, sie glücklich zu machen, sei es nun in der Eigenschaft seiner Freundin,
Gattin oder Geliebten. Rücket ihnen die Tugend auf dem Wege der Vernunft näher. Macht sie besonders darauf aufmerksam, daß die Herrschaft ihres Geschlechts und alle Vortheile desselben nicht allein von ihrer eigenen guten Aufführung, von ihrer eigenen Sittlichkeit, sondern ebenfalls von der der Männer abhängen; daß die Frauenwelt auf feile und niedrige Seelen nur einen geringen Einfluß auszuüben vermag, und daß der Mann nur dann seiner Geliebten wahrhaft huldigen kann, wenn er der Tugend huldigt. Wenn ihr ihnen dann eine getreue Schilderung der heutigen Sitten gebt, so könnt ihr euch versichert halten, daß ihr sie mit einem aufrichtigen Widerwillen gegen dieselben erfüllen werdet. Das einfache Bild unserer Modemenschen wird ihnen dieselben verächtlich machen. Sobald ihr ihnen nur Abneigung gegen ihre Grundsätze, Abscheu vor ihren Gefühlen und Verachtung gegen ihre leeren Galanterien einflößt, so werdet ihr dadurch in ihnen einen edleren Ehrgeiz wachrufen, den, über große und starke Herzen zu herrschen, jenen Ehrgeiz der spartanischen Frauen, die nur Männer beherrschen wollten. Eine herausfordernde, sittenlose, intriguante Frau, die ihre Liebhaber nur durch Künste der Coquetterie anzulocken und durch Gunstbeweise zu erhalten weiß, legt ihnen wie Dienern allein niedrige und gemeine Dienste auf, bei allen wichtigen und ernsten Dingen fehlt es ihr dagegen an Autorität über dieselben. Allein eine eben so ehrbare wie liebenswürdige und verständige Frau, die den Ihrigen Achtung abnöthigt, sich durch ein zurückhaltendes und sittsames Wesen auszeichnet, mit einem Worte eine Frau, welche sich die Liebe durch die Achtung bewahrt, schickt ihre Liebhaber durch einen bloßen Wink bis ans Ende der Welt, in den Kampf, in den Ruhm, in den Tod, wohin es ihr gefällt.
Brantome berichtet, daß zur Zeit Franz I. ein junges Mädchen ihrem Geliebten, der sehr geschwätzig war, ein unbedingtes und unbegrenztes Stillschweigen auferlegte, welches er auch zwei volle Jahre so gewissenhaft beobachtete, daß man allgemein annahm, er wäre in Folge einer Krankheit stumm geworden. Eines Tages rühmte sich seine Geliebte, die jedoch zu jener Zeit, in welcher sie ihre Liebe noch geheim hielten, als solche nicht bekannt war, in zahlreicher Gesellschaft, daß sie ihn sofort wieder herzustellen vermöchte, und that es mit dem einzigen Worte: »Sprich!« Liegt in dieser Liebe nicht etwas Großes und Heroisches? Was hätte wol die Philosophie des Pythagoras mit all ihrem großartigen Aufwande Größeres vollbringen können? Welche Frau würde in der Gegenwart auf eine ähnliche Schweigsamkeit auch nur einen Tag lang rechnen dürfen, und wollte sie dieselbe auch mit dem höchsten Preise erkaufen, den sie darauf setzen könnte?
Variante: Anstatt des letzten Satzes: »Welche Frau würde ...« heißt es im Manuscripte: Sollte man nicht meinen, man hätte es mit einer Gottheit zu thun, welche einem Sterblichen mit einem einzigen Worte das Organ der Sprache verleiht? Man wird mich nie zu dem Glauben bringen, daß Schönheit ohne Tugend je ein ähnliches Wunder verrichten könnte. Alle Pariser Schönheiten würden mit all ihren Künsten heutigen Tages nicht im Stande sein, ein solches zu wirken. Eine
solche Herrschaft ist, wie mir scheint, doch schön, und es verlohnt sich der Mühe, sie zu erkaufen.
Darin spricht sich der Geist aus, in welchem Sophie erzogen ist, mit größerer Sorgfalt als mit Mühe und mehr dadurch, daß man ihrer Neigung nachgab, als daß man sie bekämpfte. Fügen wir jetzt noch ein Wort über ihre Person nach dem Bilde hinzu, welches ich Emil von ihr entworfen habe. Es stimmt mit der Vorstellung überein, die er sich selbst von der Frau gebildet hat, welche ihn glücklich zu machen im Stande ist.
Ich muß immer von Neuem daran erinnern, daß ich alle Wunder bei Seite lasse. Emil ist keines, und Sophie ist es eben so wenig. Emil ist Mann und Sophie Weib: darin besteht ihr ganzer Ruhm. Bei der Vermischung der Geschlechter, die unter uns herrscht, gilt es freilich beinahe für ein Wunder, dem seinigen vollkommen anzugehören.
Sophie besitzt gute Anlagen und einen guten Charakter. Sie hat ein leicht erregbares Herz, und diese ungemeine Erregbarkeit verleiht ihr zuweilen eine Lebendigkeit der Phantasie, die sich nur schwer mäßigen läßt. Ihr Verstand ist weniger scharf als durchdringend, sie ist heiterer, aber sich nicht immer gleich bleibender Laune, von gewöhnlicher, aber einnehmender Figur, und von einer Gesichtsbildung, die Seele verheißt und hierin nicht täuscht. Man kann sich ihr mit Gleichgültigkeit nahen, aber nicht von ihr scheiden, ohne einen tiefen Eindruck von ihr erhalten zu haben. Andere zeichnen sich durch gute Eigenschaften aus, die ihr fehlen; wieder Andere besitzen die ihrigen in weit höherem Maße, aber bei Keiner sind alle Eigenschaften besser zusammengestellt, um einen glücklichen Charakter zu bilden. Sie versteht sogar aus ihren Fehlern Vortheil zu ziehen, und wenn sie vollkommner wäre, würde sie weit weniger gefallen.
Sophie ist nicht schön; aber neben ihr vergessen die Männer die schönen Frauen, und die schönen Frauen sind mit sich selbst unzufrieden. Auf den ersten Blick kann man sie kaum hübsch nennen, aber je länger man sie betrachtet, desto schöner erscheint sie. Sie gewinnt, wo so viele Andere verlieren, und was sie gewinnt, verliert sie nicht wieder. Man kann wol schönere Augen, einen schöneren Mund, eine imponirendere Figur finden, aber einen anmuthigeren Wuchs, eine schönere Hautfarbe, eine weißere Hand, einen niedlicheren Fuß, einen sanfteren Blick, freundlichere Züge sucht man vergeblich. Ohne zu blenden, fesselt sie. Sie ist reizend, ohne daß man sagen könnte, worin ihre Anziehungskraft besteht.
Sophie putzt sich gern und versteht sich darauf; ihre Mutter hat keine andere Zofe als sie. Sie hat viel Geschmack und weiß sich deshalb vorteilhaft zu kleiden. Allein sie haßt alle reiche Putzsachen. In ihrem Anzuge vereinigt sich Einfachheit mit Eleganz. Sie liebt nicht das Glänzende, sondern das Kleidsame. Wenn sie auch die Modefarben nicht kennt, so weiß sie doch vortrefflich, welche Farben ihr gut stehen. Es gibt kein junges Mädchen, welches weniger Sorgfalt auf seinen Anzug verwendet zu haben scheint, und doch kleidet sich keines gewählter als Sophie. Obgleich sie kein Stück ihres Anzugs ohne volle Ueberlegung angelegt hat, so verräth sich doch bei keinem die aufgebotene Kunst. Ihr Putz ist dem Ansehen nach sehr bescheiden, in Wirklichkeit aber sehr gefällig und geschmackvoll. Sie stellt ihre Reize nicht zur Schau, sondern verhüllt sie, verbirgt sie aber so, daß man sie unter der Hülle zu ahnen vermag. Bei ihrem ersten Anblicke sagt man: »Was für ein sittsames und verständiges Mädchen!« Weilt man aber erst länger in ihrer Nähe, dann schweifen die Augen, welche nur zu deutlich verkündigen, was im Herzen vorgeht, fortwährend über ihre ganze Person und sind nicht im Stande, sich wieder von ihr loszureißen. Man hätte zu behaupten Lust, dieser ganze so einfache Anzug sei nur angelegt, um in der Phantasie Stück für Stück wieder weggenommen zu werden.
Sophie besitzt natürliche Talente. Sie ist sich derselben bewußt und hat sie nicht vernachlässigt. Da sie sich indeß nicht in der Lage befand, viel Kunst auf die Ausbildung derselben zu verwenden, so hat sie sich damit begnügt, ihr hübsches Stimmchen in richtigem und geschmackvollem Gesange, ihre kleinen Füßchen in leichtem, schwebendem und anmuthigem Gange zu üben und alle Begrüßungsformen zwanglos und sicher auszuführen. Uebrigens hat sie zum Gesanglehrer nur ihren Vater, zur Tanzlehrerin nur ihre Mutter gehabt, und ein Organist aus der Nachbarschaft hat ihr einige Lectionen ertheilt, um sich zu ihrem Gesange auf dem Claviere selbst begleiten zu können, worin sie sich seitdem allein weiter fortgebildet hat. Anfangs hatte sie nur im Sinne, ihre weiße Hand auf den schwarzen Tasten mit Vortheil zu zeigen, Es ist deshalb sehr zu bedauern, daß die Instrumentenmacher gerade von dem Augenblicke an, wo das Pianoforte in unseren Salons das Clavier verdrängte, mit den Farben gewechselt haben, indem sie zu den Untertasten Elfenbein und zu den Obertasten Ebenholz verwenden. Anmerk. des Herrn Petitain. dann entdeckte sie, daß der scharfe und schrille Ton des Claviers den Ton ihrer Stimme sanfter klingen ließ, allmählich wurde sie für die Harmonie empfänglich, und als sie heranwuchs, fing sie endlich an, die Reize des Ausdrucks herauszufühlen und die Musik um ihrer selbst willen zu lieben. Aber dies ist eigentlich mehr eine Neigung als ein Talent, denn die Noten sind ihr völlig unbekannt.
Was Sophie indeß am allerbesten versteht und worin man sie am sorgfältigsten unterrichtet hat, das sind die weiblichen Handarbeiten, selbst diejenigen, welchen man gewöhnlich weniger Aufmerksamkeit zuwendet, wie die Kunst, sich ihre Kleider selbst zuzuschneiden und zu nähen. Es gibt keine Nadelarbeit, die ihr unbekannt wäre und deren Anfertigung ihr nicht Vergnügen machte. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist jedoch das Spitzenklöppeln, weil andere Arbeit zu einer so anmuthigen Körperhaltung nöthigt und die Finger in so zierlicher und leichter Bewegung erhält. In gleicher Weise hat sie sich alle Einzelheiten der Hauswirthschaft angelegen sein lassen. Küche und Speisekammer stehen unter ihrer Leitung. Sie kennt die Preise der Lebensmittel und versteht sich auf ihre Güte, ist mit der Buchführung vertraut und dient ihrer Mutter als Haushofmeister. Bestimmt, selbst einst Hausfrau zu werden, lernt sie in der Leitung des väterlichen Hauswesens ihrem eigenen wohl vorstehen. Sie kann den Dienern bei ihren Geschäften helfend zur Seite stehen und thut es stets gern. Nur zu dem, was man selbst auszuführen versteht, kann man die richtigen Anordnungen treffen. Aus diesem Grunde erhält ihre Mutter sie in ununterbrochener Geschäftigkeit. Sophiens Gedanken sind allerdings noch nicht so weit in die Ferne gerichtet. Ihr einziges Sinnen geht darauf aus, ihrer Mutter zu dienen und ihr einen Theil ihrer Sorgen abzunehmen. Freilich läßt sich nicht läugnen, daß sie nicht alle mit dem gleichen Vergnügen verrichtet. So hat sie z.B., eine so große Feinschmeckerin sie auch ist, an dem Küchenwesen wenig Gefallen. Die dabei vorkommenden groben Arbeiten haben für sie etwas Widriges. Es geht ihr in der Küche nie sauber genug zu. Sie ist in diesem Punkte von einer übertriebenen Zartheit, und diese bis zum Aeußersten getriebene Zartheit hat förmlich den Charakter eines Fehlers angenommen. Eher ließe sie das ganze Mittagsessen in das Feuer laufen, als daß sie ihre Manschette beschmutzte. Aus demselben Grunde hat sie sich stets gegen die Oberaufsicht über den Garten gesträubt. Die Erde erscheint ihr unreinlich; sobald sie nur einen Düngerhaufen sieht, bildet sie sich schon ein, seinen unangenehmen Geruch wahrzunehmen.
An diesem Fehler trägt der Unterricht der Mutter die Schuld. Nach der Ansicht der Letzteren gehört die Reinlichkeit zu den ersten Pflichten des Weibes, ist sie eine besondere, unabweisbare und von der Natur ihm selbst auferlegte Pflicht. Es gibt nichts Widerwärtigeres in der Welt als ein unreinliches Weib, und der Mann, der sich mit Ekel von ihm abwendet, hat nie Unrecht. Sie hat ihrer Tochter diese Pflicht von Kindheit auf so unermüdlich vorgepredigt, hat von ihr so streng Reinlichkeit in Bezug auf ihre eigene Person, wie auf ihre Kleider, ihr Zimmer, ihre Arbeit, ihre Toilette gefordert, daß die zur Beobachtung dieser Pflicht ununterbrochen nöthige Aufmerksamkeit, welche bereits zur Gewohnheit geworden ist, einen ziemlich großen Theil ihrer Zeit allein für sich in Anspruch nimmt und auch in dem übrigen stets die erste Rolle spielt. Daher läßt sie die gute Ausführung dessen, was sie unternimmt, erst ihre zweite Sorge sein; ihre erste Sorge geht stets darauf aus, es reinlich zu machen.
Indeß trägt dies Alles nicht den Charakter der Ziererei an sich und ist nicht in Schwäche ausgeartet. Die übertriebene Verfeinerung des Luxus hat in ihren Augen keinen Werth. Nie kommt anderes als einfaches Wasser in ihr Zimmer. Sie kennt keinen anderen Wohlgeruch als den der Blumen, und nie wird ihr Gatte etwas Süßeres athmen als ihren Odem. Endlich läßt die Aufmerksamkeit, welche sie auf das Aeußere verwendet, sie nicht vergessen, daß sie ihr Leben und ihre Zeit in den Dienst edlerer Sorgen zu stellen hat. Jene alles Maß übersteigende körperliche Reinlichkeit, welche die Seele besudelt, kennt sie nicht oder verachtet sie. Sophie ist mehr als nur reinlich, sie ist rein.
Wie ich bereits erwähnt habe, war Sophie Feinschmeckerin. Sie war es von Natur; aber in Folge der Gewöhnung ist sie frugal geworden, und jetzt ist sie es aus Sittsamkeit. Es verhält sich in dieser Hinsicht mit den Mädchen nicht wie mit den Knaben, daß man sie durch Feinschmeckerei bis zu einem gewissen Grade leiten könnte. Diese Neigung bleibt für das weibliche Geschlecht nicht ohne Folgen; es ist mit großer Gefahr verbunden, sie ihm zu lassen. Wenn in ihrer Kindheit die kleine Sophie allein in das Cabinet ihrer Mutter kam, so kehrte sie aus demselben nie mit leeren Händen zurück, und in Betreff auf Confect und Bonbons ließ ihre Gewissenhaftigkeit Manches zu wünschen übrig. Ihre Mutter ertappte sie, schalt sie aus, bestrafte sie, ließ sie fasten. Endlich gelangte sie dadurch zum Ziele, daß sie ihrem Töchterchen einredete, die Bonbons verdürben die Zähne und das viele Essen triebe den Leib auf. Dies fruchtete und Sophie besserte sich. Als sie heranwuchs, traten bei ihr andere Neigungen hervor und brachten sie von dieser niedrigen Sinnlichkeit zurück. Mit einem Schlage verliert das Laster der Feinschmeckerei seine Herrschaft über Männer wie Frauen, sobald das Herz sich zu regen beginnt. Sophie hat sich den ihrem Geschlechte eigenen Geschmack bewahrt. Sie liebt Milchspeisen und Süßigkeiten, Gebackenes und Zwischenspeisen, findet aber am Fleische wenig Behagen. Nie hat sie Wein oder geistige Getränke über die Lippen gebracht. Uebrigens ißt sie von Allem nur sehr mäßig. Da ihr Geschlecht weniger mühselige Arbeiten zu verrichten hat als das unserige, so braucht es für die verlorenen Kräfte auch einen geringeren Ersatz. In Allem liebt sie das Gute und weiß es zu würdigen; doch weiß sie auch, ohne daß ihr eine solche Entbehrung schwer fällt, mit dem vorlieb zu nehmen, was nicht so gut ist.
Sophie hat einen fesselnden Geist, ohne daß er blendend wäre; er ist gediegen, ohne tief zu sein; kurz, sie hat einen Geist, von dem sich nichts sagen läßt, weil Jeder an ihm nur dieselben Eigenschaften entdeckt, die er auch an seinem eigenen Geiste wahrnimmt. So gefällt denn ihr Geist stets denen, mit welchen sie sich unterredet, obgleich er nicht die reiche Bildung verräth, welche nach unserer Vorstellung die richtige Geistespflege den Frauen verleihen muß. Denn ihr Geist verdankt seine Bildung nicht der Lectüre, sondern einzig und allein den Gesprächen mit Vater und Mutter, den eigenen Betrachtungen und Beobachtungen, die sie in dem kleinen Kreise der Welt angestellt hat, welchen zu sehen ihr bisher Gelegenheit geboten war. Sophie ist von Natur heiter, ja in ihrer Kindheit war sie sogar ausgelassen. Aber ihre Mutter hat sich bemüht, ihr leichtsinniges Wesen nach und nach zu dämpfen, damit nicht bald ein vielleicht zu plötzlich eintretender Wechsel sie über den Augenblick belehren möchte, welcher es zu gebieterischer Nothwendigkeit gemacht hätte. Sie ist seitdem sehr sittsam und sogar noch vor der Zeit zurückhaltend geworden; und jetzt, wo dieser Zeitpunkt gekommen ist, fällt es ihr nun weit leichter, den bereits angenommenen Ton beizubehalten, als es ihr geworden wäre, ihn erst anzunehmen, ohne die Ursache dieses Wechsels durchblicken zu lassen. Es bietet einen anmuthigen Anblick dar, wenn mitunter die alten Gewohnheiten in ihr wieder wach werden und sie sich der vollen Lebhaftigkeit ihrer Kindheit überläßt, dann sich plötzlich wieder besinnt, verstummt, die Augen niederschlägt und erröthet. Es ist doch wol in der Ordnung, daß die Grenzscheide zwischen beiden Lebensaltern ein wenig Antheil an jedem von beiden hat.
Sophie ist zu empfänglich für alle Eindrücke, nm eine stets gleichmäßige Laune bewahren zu können, aber sie besitzt zu viel Herzensgüte, um Andere darunter leiden zu lassen; ihr allein bereitet es manch trübe Stunde. Ein einziges verletzendes Wort reicht hin, ihr das Herz schwer zu machen, wenn sie ihre gedrückte Stimmung auch nicht zu erkennen gibt; sie wird suchen, sich der Gesellschaft zu entziehen, nur sich ausweinen zu können. Der Vater oder die Mutter braucht sie aber unter ihrem Thränenstrome nur zu rufen und ein einziges Wort zu sagen, so wird sie augenblicklich wieder erscheinen, um zu spielen und zu lachen, während sie geschickt die Augen trocknet und ihr Schluchzen zu unterdrücken sucht.
Nicht einmal von Eigensinn ist sie völlig frei. Wenn sie ihre Laune ein wenig auf die Spitze treibt, so artet dieselbe leicht in Trotz aus, und sie pflegt sich in solchen Augenblicken zu vergessen. Laßt ihr indeß nur Zeit, sich zu besinnen, und ihr werdet euch überzeugen, daß die Art und Weise, ihr Unrecht wieder gut zu machen, ihr fast als ein Vorzug angerechnet werden muß. Erhält sie Strafe, so ist sie fügsam und unterwürfig, und man erkennt, daß sie sich weniger über die Strafe als über ihren Fehler schämt. Sagt man ihr nichts, so wird sie trotzdem niemals verabsäumen, ihr Versehen selbst zu verbessern, und noch dazu mit solcher Offenheit und so großer Anmuth, daß es nicht möglich ist, ihr noch länger böse zu sein. In Gegenwart des niedrigsten Dieners würde sie den Boden küssen, ohne daß ihr diese Erniedrigung schwer würde. und sobald sie Verzeihung erhalten hat, legen ihre Freude und ihre Liebkosungen an den Tag, von welcher Last sich ihr gutes Herz befreit fühlt. Mit einem Worte, sie erträgt mit Geduld das ihr zugefügte Unrecht und macht ihre eigenen Versehen mit Freuden wieder gut. In solcher Weise äußert sich der liebenswürdige Charakter ihres Geschlechts, bevor wir ihn verdorben haben. Das Weib hat die Bestimmung, gegen den Mann nachgiebig zu sein und sogar seine Ungerechtigkeit zu ertragen. Dahin werdet ihr nie einen Knaben bringen; sein inneres Gefühl erhebt und empört sich gegen die Ungerechtigkeit. Die Natur hat ihn nicht dazu bestimmt, es zu ertragen:
Gravem Pelidae stomachum cedere nescii. Hor. lib. I, Od. 6.
Sophie besitzt Religion, aber eine vernünftige und einfache Religion, die sich in wenige Glaubenssätze zusammenfassen läßt und noch weniger Andachtsübungen verlangt; oder sie widmet vielmehr, da ihr die Pflege der Moral als die hauptsächlichste Uebung erscheint, ihr ganzes Leben dem Dienste Gottes, indem sie sich nur Gutes zu thun bemüht. Aller Unterricht, den ihr ihre Eltern über diesen Punkt ertheilten, zielte darauf hin, sie an eine achtungsvolle Unterwerfung zu gewöhnen, indem sie ihr beständig wiederholten: »Meine Tochter, diese Kenntnisse eignen sich nicht für dein Alter; dein Mann wird dich darüber belehren, sobald es an der Zeit sein wird.« Anstatt ihr übrigens lange Reden über die Frömmigkeit zu halten, lassen sie es dabei bewenden, sie ihr durch ihr eigenes Beispiel zu predigen, und dieses Beispiel ist ihr tief ins Herz gegraben.
Sophie liebt die Tugend; diese Liebe ist förmlich zur herrschenden Leidenschaft geworden. Sie liebt sie, weil es für sie nichts Schöneres als die Tugend gibt. Sie liebt sie, weil in der Tugend der Ruhm des Weibes besteht, und weil ihr eine tugendhafte Frau fast den Engeln gleich erscheint. Sie liebt sie als den einzigen Weg zum wahren Glücke, und weil ihr das Leben eines sittenlosen Weibes nur wie eine ununterbrochene Kette von Elend, Hilflosigkeit, Unglück, Schmach und Schande vorkommt. Sie liebt sie endlich noch um deswillen, weil dieselbe ihrem von ihr so hochgeachteten Vater und ihrer so zärtlichen und würdigen Mutter theuer ist. Nicht zufrieden damit, durch ihre eigene Tugend glücklich zu sein, wünschen die Eltern, es auch durch die ihrer Tochter zu werden, und das Hauptglück Letzterer wurzelt wieder in der Hoffnung, zu dem Glücke der Eltern beitragen zu können. Alle diese Gefühle erfüllen sie mit einer Begeisterung, die ihre Seele erhebt, und alle ihre kleinen Neigungen einer so edelen Leidenschaft unterordnet. Bis zu ihrem letzten Athemzuge wird Sophie keusch und züchtig sein; sie hat es sich im Grunde ihres Herzens zugeschworen, und hat es in einer Zeit geschworen, wo sie schon ein Bewußtsein davon hatte, wie schwierig es ist, einen solchen Schwur zu halten; sie hat es sich zugeschworen, als sie sich gerade von einer solchen Verbindlichkeit hätte lossagen müssen, wäre ihre Sinnlichkeit danach angethan gewesen, die Herrschaft über sie zu gewinnen.
Sophie hat nicht das Glück, eine liebenswürdige Französin zu sein, die, kalt von Temperament und coquett aus Eitelkeit, mehr darauf ausgeht zu glänzen als zu gefallen, und mehr nach Zeitvertreib hascht als wahre Freude sucht. Nur das Bedürfniß zu lieben verzehrt sie; es drängt sich ihr auf und beunruhigt ihr Herz inmitten der Festlichkeiten. Ihr früherer Frohsinn ist von ihr gewichen; sie findet kein Vergnügen mehr an den ausgelassenen Spielen; statt von der Einsamkeit Langeweile zu befürchten, sucht sie dieselbe auf. Ihre Gedanken weilen hier bei dem, der sie ihr dereinst versüßen soll. Alle, die ihr gleichgiltig sind, belästigen sie. Sie sehnt sich nicht nach Anbetern, wol aber nach einem Geliebten. Sie möchte lieber einem einzigen braven Manne gefallen und ihm immer gefallen, als in den Ruf einer Modedame kommen, die doch nur einen Tag glänzt, um schon am nächsten Tage dem Hohngelächter Preis gegeben zu werden.
Das Urtheil der Frauen entwickelt sich weit früher als das der Männer. Da sie sich fast von Kindesbeinen an beständig im Vertheidigungszustande verhalten müssen, und ihnen ein so schwer zu bewahrendes Gut anvertraut ist, so muß ihnen das Gute und Böse notwendigerweise früher bekannt sein. Da sich Sophie in Folge ihrer glücklichen Anlagen in jeder Beziehung zeitiger entwickelt hat, so hat sich auch ihr Urtheil früher als bei anderen Mädchen ihres Alters ausgebildet. Hierin liegt durchaus nichts Außerordentliches; die Reife tritt nicht überall in derselben Zeit ein.
Sophie ist über die Pflichten und Rechte ihres wie unseres Geschlechtes belehrt. Sie kennt die Fehler der Männer und die Laster der Frauen; aber sie kennt auch eben so gut die entgegengesetzten Eigenschaften und Tugenden und hat sie ihrem Herzen tief eingeprägt. Man kann unmöglich eine höhere Idee von einer sittsamen Frau haben, als die ist, welche sie sich gebildet hat, allein diese Idee vermag ihr keine Furcht einzujagen. Natürlich weilen ihre Gedanken mit größerem Wohlgefallen bei einem Ehrenmanne, einem Manne von Verdienst. Sie ist es sich bewußt, daß sie für einen solchen Mann geschaffen und seiner würdig ist, ist es sich bewußt, daß sie ihm dasselbe Glück zu bereiten im Stande ist, welches sie ihm verdanken wird. Sie fühlt es, daß sie ihn recht gut herausfinden wird, und daß es jetzt nur darauf ankommt, daß er sich zeige.
Die Frauen sind die natürlichen Richter über das Verdienst der Männer, wie Letztere es wieder umgekehrt über das der Frauen sind. Das beruht auf einem gegenseitigen Rechte, und beide Theile kennen es sehr wohl. Sophie ist mit diesem Rechte bekannt und macht von demselben Gebrauch, allein mit einer Bescheidenheit, wie sie ihrer Jugend, ihrer Unerfahrenheit und ihrer Stellung zukommt. Sie urtheilt nur über solche Dinge, die ihre Fassungskraft nicht übersteigen, und auch dann nur, wenn es zur Entwickelung irgend eines nützlichen Grundsatzes dienen kann. Von Abwesenden, namentlich wenn es Frauen sind, spricht sie nur mit äußerster Behutsamkeit. Sie hält sich überzeugt, daß es Frauen zur Schmäh- und Spottsucht führt, wenn sie über ihr eigenes Geschlecht sprechen. So lange sie sich darauf beschränken, das unserige zu ihrem Gesprächsthema zu wählen, werden sie stets billig denkend sein. Sophie bleibt deshalb in diesen Schranken. Spricht sie jedoch einmal über Frauen, so geschieht es nur, um alles Gute zu sagen, was sie von ihnen weiß. Sie glaubt ihrem Geschlechte diese Ehre schuldig zu sein. Weiß sie jedoch nichts Gutes zu sagen, so beobachtet sie über solche Frauen ein vollkommenes Stillschweigen, und das ist verständlich genug.
Sophie besitzt wenig Weltkenntniß; allein sie ist höflich und aufmerksam und entfaltet bei Allem, was sie thut, eine große Anmuth. Ihr glückliches Naturell kommt ihr besser zu Statten als alle Kunst. Sie hat eine gewisse Feinheit an sich, die sich nicht aus Regeln herleiten läßt, noch der Mode unterworfen ist, die mit der letzteren keinen Wechsel erleidet, noch Alles dem leidigen Herkommen zu Liebe thut, sondern ihre Quelle in dem wahren Verlangen zu gefallen hat, und deshalb auch wirklich gefällt. Alle triviale Höflichkeitsbezeigungen sind ihr fremd, und sie hat eben so wenig das Bestreben, gewähltere zu erfinden. Sie führt nie Redensarten im Munde, wie: »Ich bin Ihnen sehr verbunden«, »Sie erzeigen mir viel Ehre«, »Bemühen Sie sich nicht« u. s. w. Eine Aufmerksamkeit, eine ihr erwiesene Höflichkeit erwidert sie mit einer Verneigung oder mit einem einfachen: »Ich danke Ihnen«. Allein dies Wort, von einem solchen Munde gesprochen, wiegt wol ein anderes auf. Für einen wirklichen Dienst läßt sie ihr Herz sprechen, und dieses ergeht sich nicht in Complimenten. Nie hat sie sich durch das französische Herkommen verleiten lassen, das gezierte Wesen nachzuahmen, wie beim Gehen aus einem Zimmer in das andere ihre Hand auf den Arm eines Sechzigjährigen zu legen, dem sie am liebsten selbst als Stütze dienen möchte. Wenn ein süßlicher Geck so ungezogen ist, ihr diesen Dienst anzubieten, so läßt sie den dienstfertigen Herrn auf der Treppe, und schwingt sich mit zwei Sätzen ins Zimmer, indem sie ihm zuruft, daß sie gottlob nicht hinke. Obgleich sie nicht groß ist, hat sie ihre Schuhe nie mit hohen Absätzen versehen lassen; ihre Füßchen sind in der That auch niedlich genug, daß sie sich ohne dieselben behelfen kann.
Nicht nur Frauen, sondern auch verheirateten oder älteren Männern gegenüber beobachtet sie Schweigen und Ehrerbietung. Nur aus Gehorsam wird sie einen Platz über denselben einnehmen und sich, sobald es thunlich ist, wieder unter sie setzen, denn sie weiß, daß die Rechte des Alters vor denen ihres Geschlechts den Vortritt behaupten, daß das Alter die Weisheit, welche vor Allem Ehre verdient, für sich geltend machen kann.