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Wollt ihr in die erwachenden Leidenschaften Ordnung und Regel bringen, so verlängert den Zeitraum ihrer Entwickelung, damit sie die nöthige Zeit gewinnen, nach Maßgabe ihrer Entstehung in das richtige gegenseitige Verhältniß zu treten. Dann geht die Ordnung nicht von dem Menschen, sondern von der Natur selbst aus; eure einzige Aufgabe besteht darin, die Natur ungestört walten zu lassen. Wäre euer Zögling völlig für sich allein, so würdet ihr gar Nichts zu thun haben, so aber entflammt Alles, was ihn umgibt, seine Einbildungskraft. Der Strom der Vorurtheile reißt ihn fort. Um ihn zurückzuhalten, müßt ihr ihn in entgegengesetzter Richtung fortdrängen. Das Gefühl muß der Einbildungskraft Fesseln anlegen, und die Vernunft muß die Meinung der Menschen zum Schweigen bringen. In der überaus großen Empfänglichkeit für alle Eindrücke liegt die Quelle aller Leidenschaften, während die Einbildungskraft ihre Richtung bestimmt. Jedes Wesen, welches sich seiner Beziehungen bewußt ist, muß durch eine Verschlechterung derselben und durch die wirkliche oder auch nur eingebildete Auffindung solcher Beziehungen, die seiner Natur angemessener sind, unbedingt afficirt werden. Durch diese Fehler der Einbildungskraft werden die Leidenschaften aller endlichen Wesen, selbst der Engel, wenn es solche gibt,
Wenn es solche gibt. So lautet in der That die Lesart in dem Manuscripte. Es läßt sich annehmen, daß sich der Verfasser durch äußere Einflüsse bestimmen ließ, dafür in den ersten Ausgaben die Worte »wenn sie solche haben« zu substituiren. Da sich letztere Lesart jedoch auch in der Genfer Ausgabe vorfindet, so hat er sich wahrscheinlich für Beibehaltung derselben im Texte entschieden.
Anmerk. des Herrn Petitain. in Laster verwandelt, denn sie müßten die Natur aller Wesen kennen, um sich eine Ueberzeugung
davon zu verschaffen, welche Beziehungen sich für ihre Natur am besten eignen.
Die Summe aller menschlichen Weisheit hinsichtlich der Behandlung der Leidenschaften läßt sich demnach in Folgendem kurz zusammenfassen: 1) Man muß die wahren Verhältnisse des Menschen kennen, sowol was die Gattung im Allgemeinen als auch das einzelne Individuum betrifft, 2) muß man nach diesen Verhältnissen alle Gemüthsbewegungen regeln.
Hat es der Mensch denn aber in seiner Gewalt, seine Gemüthsbewegungen nach diesen oder jenen Verhältnissen zu regeln? Unzweifelhaft, sobald er nur im Stande ist, seiner Einbildungskraft die Richtung auf diesen oder jenen Gegenstand zu geben oder ihr diese oder jene Gewohnheit beizubringen. Uebrigens handelt es sich hier ja weniger um das, was ein Mensch über sich selbst vermag, als vielmehr um das, was wir durch die Wahl der Verhältnisse, in die wir unsern Zögling versetzen, über denselben vermögen. In der Darlegung der Mittel, welche dazu geeignet sind, ihn in der Ordnung der Natur zu erhalten, liegt gleichzeitig eine genügende Auseinandersetzung der Wege, auf welchen er aus derselben herauszutreten vermag.
So lange sein Empfindungsvermögen nur auf seine eigene Person beschränkt bleibt, fehlt seinen Handlungen der sittliche Charakter; erst wenn sich dasselbe über ihn selbst hinaus zu erstrecken beginnt, gewinnt er zunächst unbestimmte Vorstellungen und späterhin die klaren Begriffe des Guten und Bösen, die ihn in Wahrheit zum Menschen und zu einem integrirenden Theile seiner Gattung machen. Auf diesen ersten Punkt müssen wir deshalb zunächst unsere Aufmerksamkeit lenken.
Dies ist freilich mit mancherlei Schwierigkeiten verbunden, weil wir, wenn wir zum Ziele gelangen wollen, die Beispiele, welche wir unmittelbar vor Augen haben, zurückweisen und uns nach solchen umsehen müssen, bei welchen die stufenweise Entwickelung der Ordnung der Natur gemäß stattfindet.
Ein nach der herkömmlichen Schablone zugestutztes, dressirtes und äußerlich wohl abgerichtetes Kind, welches nur auf die Fähigkeit wartet, die vorzeitigen Lehren, die es empfangen hat, in Ausübung bringen zu können, täuscht sich nie über den Augenblick, in dem sich diese Fähigkeit einstellt. Weit davon entfernt, ihn in Ruhe abzuwarten, beschleunigt es ihn vielmehr. Es versetzt sein Blut schon vorzeitig in Gährung; schon lange bevor sich die Lüste in ihm regen, kennt es den Gegenstand, auf welchen sich dieselben richten müssen. Nicht die Natur reizt es an, sondern es thut selbst der Natur Gewalt an. Wenn sie es zum Manne macht, bleibt ihr keine Lehre mehr ihm zu ertheilen übrig. In Gedanken war es lange vorher Mann, ehe es in Wirklichkeit dazu herangereift war.
Bei dem wirklichen Gange der Natur geht diese Entwickelung viel stufenweiser und langsamer vor sich. Ganz allmählich erhitzt sich das Blut, erwachen die Lebensgeister und zeigt sich die Sinnlichkeit. Der weise Meister, welcher das Werk leitet, hat seine Sorge darauf gerichtet, erst allen seinen Werkzeugen, bevor er sie in Thätigkeit setzt, die höchste Vollkommenheit zu verleihen; eine lange Unruhe geht den ersten Begierden voraus, eine lange Unwissenheit erhält sie in beständiger Täuschung; man ist lüstern, ohne zu wissen worauf. Das Blut beginnt zu gähren und zu wallen; eine überschäumende Lebenskraft sucht eine Ableitung nach Außen. Das Auge belebt sich und mustert die übrigen Wesen; man fängt an Interesse für die Personen seiner Umgebung zu gewinnen, fängt an zu empfinden, daß der Mensch nicht die Bestimmung erhalten hat, für sich allein zu leben, und auf diese Weise öffnet sich das Herz endlich menschlichen Gemütsbewegungen und wird der Zuneigung fähig.
Das erste Gefühl, für welches ein sorgfältig erzogener junger Mensch empfänglich wird, ist nicht die Liebe, sondern die Freundschaft. Der ersten Regung seiner erwachenden Einbildungskraft verdankt er die Erkenntniß, daß es noch Andere seines Gleichen gibt. Seine Neigung wendet sich früher der Gattung als dem Geschlechte zu. Darin beruht noch ein weiterer Vortheil der verlängerten Unschuld; vermittelst der sich bildenden Gefühle ist man im Stande, die ersten Keime der Menschlichkeit in das Herz des Jünglings zu pflanzen, ein Vortheil, der um so höher angeschlagen werden muß, als dies die einzige Zeit im Leben ist, wo dergleichen Bemühungen einen wirklichen Erfolg herbeizuführen vermögen.
Ich habe stets die Erfahrung gemacht, daß junge, frühzeitig verdorbene Leute, die den Frauen und Ausschweifungen ergeben waren, auch einen unmenschlichen und grausamen Charakter hatten. Das Feuer des Temperaments machte sie ungeduldig, rachgierig, wüthend. Ihre nur von einem einzigen Gegenstande erfüllte Einbildungskraft war unfähig, sich noch mit irgend etwas Anderem zu beschäftigen. Sie kannten weder Mitleid noch Erbarmen. Dem geringsten Vergnügen zu Liebe hätten sie Vater und Mutter, ja die ganze Welt geopfert. Ein in glücklicher Einfachheit erzogener Jüngling wird dagegen schon durch die ersten Regungen der Natur zu zarten und liebevollen Gefühlen angetrieben. Rührung bemächtigt sich seines Herzens bei den Leiden seiner Mitmenschen. Er zittert vor Freude, wenn er seinen Spielgefährten wiedersieht; unwillkürlich öffnen sich seine Arme zu innigen Umarmungen, treten in seine Augen Thränen der Rührung. Das Mißfallen, welches er bei Anderen erregt, ruft bei ihm aufrichtiges Bedauern hervor und von ernstlicher Reue wird er ergriffen, wenn er Jemanden gekränkt hat. Läßt er sich durch die Hitze seines sich entzündenden Blutes zum Ungestüm, zum Aufbrausen und zum Zorne fortreißen, so zeigt sich schon im nächsten Augenblicke seine ganze Herzensgüte in dem Ergüsse seiner Reue. Er weint, er seufzt über die Wunde, die er geschlagen hat. Mit seinem eigenen Blute möchte er jeden Blutstropfen, den er vergossen hat, wieder erkaufen. Vor der Erkenntniß seines Fehlers erlischt all sein Zorn, demüthigt sich all sein Stolz. Fühlt er sich selbst beleidigt, so vermag eine einzige Entschuldigung, ein einziges Wort auch seinen heftigsten Grimm zu entwaffnen. Er verzeiht das ihm zugefügte Unrecht mit demselben Edelmuth, mit welchem er das von ihm ausgegangene wieder gut zu machen sucht. Das Jünglingsalter nährt weder Rache noch Haß, sondern nur Mitleid, Theilnahme und Edelmuth. Ohne befürchten zu brauchen, durch die Erfahrung widerlegt zu werden, wage ich die Behauptung aufzustellen, daß ein Kind, welches nicht schon böse Anlagen mit auf die Welt gebracht und welches seine Unschuld bis zum zwanzigsten Jahre bewahrt hat, in diesem Alter der edelmüthigste, beste, liebevollste und liebenswürdigste Mensch sein wird. Dergleichen habt ihr freilich, wie ich mir leicht vorstellen kann, noch nie zu hören bekommen; euere in der ganzen Verderbniß der Collegienwirthschaft erzogenen Philosophen sind auch gar nicht im Stande, es zu wissen.
Die Schwäche des Menschen macht ihn gesellig; die Leiden, die uns allen gemeinsam sind, ziehen uns zum Menschengeschlechte hin. Wir würden demselben nichts schulden, wenn wir nicht Menschen wären. Jede Anhänglichkeit ist ein Zeichen der eigenen Unzulänglichkeit. Bedürfte Niemand der Anderen, so würde auch Niemand daran denken, sich ihnen anzuschließen. Omnis in imbecillitate est gratia et caritas. Cic., de nat. Decr., I. 44. Deshalb haben wir nur unserer Schwachheit unser zerbrechliches Glück zu verdanken. Ein wahrhaft glückliches Wesen kann man sich nur als ein einsames vorstellen; Gott allein genießt eines absoluten Glückes; aber wer von uns vermöchte sich von Letzterem einen klaren Begriff zu machen? Wenn irgend ein unvollkommenes Wesen sich selbst genügen könnte, woran könnte es dann wol nach unseren Begriffen einen Genuß finden? Es wäre allein und müßte deshalb elend sein. Ich vermag nicht zu fassen, wie Jemand, dem jedes Bedürfniß nach irgend einem Gute fehlt, etwas lieben kann; ich vermag aber auch nicht zu fassen, wie Jemand, der nichts liebt, glücklich sein kann.
Hieraus folgt, daß wir uns an unsere Mitmenschen weniger um deswillen anschließen, daß wir an ihren Freuden Antheil nehmen, als vielmehr um deswillen, daß ihre Leiden unser Mitgefühl erregen, denn in letzteren tritt uns die Identität unserer Natur und die Bürgschaft für ihre Anhänglichkeit an uns weit sichtlicher entgegen. Bildet bei unseren gemeinsamen Bedürfnissen das gleiche Interesse das Band der Vereinigung, so wird bei unserem gemeinsamen Elend wieder die Liebe das Bindemittel. Der Anblick eines glücklichen Menschen flößt den Anderen weniger Liebe als Neid ein; man hätte Lust ihm den Vorwurf zu machen, daß er dadurch, daß er sich ein ausschließliches Glück bereitet, sich ein Recht anmaße, welches ihm nicht gebühre, und selbst die Eigenliebe leidet darunter, indem sie es uns recht fühlbar macht, daß dieser Mensch unser nicht bedürfe. Wer aber bedauert nicht den Unglücklichen, den er leiden sieht? Wer würde ihn, wenn es ihm nicht mehr als einen Wunsch kostete, nicht gern von seinen Uebeln befreien wollen? Unsere Einbildungskraft versetzt uns weit eher an die Stelle eines Unglücklichen, als an die eines Elenden. Unser Gefühl sagt uns, daß uns der eine dieser Zustände weit näher berühre als der andere. Das Mitleid ist süß, weil man, während man sich an die Stelle des Leidenden versetzt, trotzdem gleichzeitig das Vergnügen empfindet, nicht einem gleichen Leiden unterworfen zu sein. Der Neid dagegen ist bitter, denn anstatt den Neidischen beim Anblicke eines Glücklichen an die Stelle desselben zu versetzen, erfüllt er ihn nur mit Bedauern, daß er dieselbe nicht einnimmt. Der Leidende scheint uns von den Uebeln, welche er duldet, zu befreien, der Glückliche uns hinwieder der Güter zu berauben, deren er genießt.
Wollt ihr deshalb in dem Herzen eines jungen Menschen die ersten Regungen der erwachenden Empfindungen anfachen und nähren und seinem Charakter die Richtung zur Wohlthätigkeit und Güte geben, so laßt nie in ihm durch das trügerische Bild des menschlichen Glückes Stolz, Eitelkeit oder Neid aufkeimen; stellet ihm nicht gleich zuerst den Prunk der Höfe, die Pracht der Paläste, den fesselnden Reiz der Theater vor Augen; führt ihn nicht in gesellschaftliche Kreise und glänzende Versammlungen ein; zeigt ihm die Außenseite der großen Gesellschaft nicht eher, als bis ihr ihn befähigt habt, sie nach ihrem wahren Werthe zu schätzen. Ihm die Welt zeigen, bevor er die Menschen kennt, heißt nicht ihn bilden, sondern ihn verderben; heißt nicht ihn unterrichten, sondern ihn täuschen.
Von Natur sind die Menschen weder Könige, noch Große, noch Hofschranzen, noch Reiche. Alle werden nackend und arm geboren, Alle sind den kleinlichen Sorgen des Lebens, den Verdrießlichkeiten, den Uebeln, den Bedürfnissen und Schmerzen aller Art unterworfen, und Alle werden schließlich eine Beute des Todes. Das ist das wahre Spiegelbild des Menschen; kein Sterblicher ist von diesem Loose ausgenommen. Macht bei eurem Studium der menschlichen Natur deshalb mit dem den Anfang, was von derselben unzertrennlich ist, kurz mit Allem, worin sich das Wesen der Menschheit am deutlichsten darstellt.
Mit sechszehn Jahren weiß der Jüngling, was leiden heißt, denn er hat schon selbst gelitten; aber er weiß kaum, daß andere Wesen ebenfalls mit Leiden zu kämpfen haben. Mit dem Anblick von Leiden vertraut sein, ohne sie zu empfinden, heißt noch nicht, sie kennen, und da, wie ich bereits hundertmal erklärt habe, sich das Kind nicht die Empfindungen Anderer vorzustellen vermag, so kennt es keine anderen Uebel als seine eigenen. Sobald jedoch die erste Entwickelung, der Sinnlichkeit das Feuer der Einbildungskraft in ihm anfacht, so beginnt es die Empfindungen seiner Mitmenschen zu theilen, von ihren Klagen gerührt zu werden und ihnen ihre Schmerzen nachzufühlen. In diesem Momente muß das dunkle Gemälde der leidenden Menschheit in seinem Herzen die erste Rührung hervorrufen, die es je empfunden hat.
Wen wollt ihr nun dafür verantwortlich machen, wenn bei euren Kindern dieser Augenblick nicht deutlich in die Augen fällt? Ihr lehret sie so frühzeitig mit dem Gefühl spielen, macht sie mit der Sprache desselben so zeitig vertraut, daß sie dadurch, daß sie beständig in demselben Tone reden, eure Lehren gegen euch selbst kehren, und euch kein Mittel übrig lassen, zu unterscheiden, wann sie zu lügen aufhören und das wirklich zu fühlen beginnen, was sie sagen. Betrachtet dagegen meinen Emil! Bis zu dem Alter, zu welchem ich ihn jetzt geführt habe, hat er weder die in Rede stehenden Gefühle gehabt, noch eine Lüge über seine Zunge gebracht. Bevor er wußte, was lieben heißt, hat er zu Niemandem gesagt: »Ich liebe dich von Herzen.« Man hat ihm nicht vorgeschrieben, welches Benehmen er in dem Zimmer seines Vaters, seiner Mutter oder seines kranken Hofmeisters beobachten solle; man hat ihn nie in der Kunst unterwiesen, sich traurig zu stellen, wenn er nicht wirklich betrübt war. Er hat nie den Schein angenommen, als weine er über Jemandes Tod, da er noch gar nicht weiß, was sterben ist. Dieselbe Empfindungslosigkeit, die er in seinem Herzen hat, spricht sich auch in seinem ganzen Wesen aus. Gleichgültig gegen Alles, mit Ausnahme seiner eigenen Person, faßt er, wie alle andere Kinder, für Niemanden Interesse. Der einzige Unterschied zwischen ihm und diesen beruht lediglich darin, daß er auch nicht einmal den Schein erregen will, als hege er ein Interesse, und daß er nicht falsch ist wie sie.
Da Emil noch wenig über fühlende Wesen nachgedacht hat, so wird er auch erst spät kennen lernen, was leiden und sterben heißt. Von nun an werden Klagen und Schmerzensschreie beginnen sein Mitgefühl zu erregen; von dem Anblick strömenden Blutes wird er seine Augen abwenden; die Zuckungen eines sterbenden Thieres werden ihn mit wahrer Herzensangst erfüllen, noch ehe er sich über die Entstehung dieser Bewegungen in ihm Rechenschaft ablegen kann. Wäre er stumpfsinnig und roh geblieben, so würden sie sich in ihm gar nicht bilden; wäre er unterrichteter, so würde er ihre Quelle kennen. Er hat schon zu viele Vergleichungen zwischen einzelnen Vorstellungen angestellt, um gar nichts zu empfinden, aber trotzdem noch nicht genug, um sich bewußt zu werden, was er empfindet.
Auf die Weise entsteht das Mitleid, das erste sich auf Andere beziehende Gefühl, welches nach der Ordnung der Natur das menschliche Herz bewegt. Um fühlend und mitleidig zu werden, muß das Kind wissen, daß es Wesen seines Gleichen gibt, welche leiden, was es selbst gelitten, und Schmerzen empfinden, die es selbst empfunden hat, ja die sogar noch von anderen Schmerzen gepeinigt werden, von denen es sich wenigstens den Begriff machen muß, daß es dieselben möglicherweise gleichfalls wird aushalten müssen. Und fürwahr, wodurch sollten wir uns sonst wol zum Mitleid bewegen lassen, wenn nicht dadurch, daß wir gleichsam aus uns heraustreten, uns mit dem leidenden Geschöpfe identificiren und unser eigenes Sein mit dem seinigen vertauschen? Wir leiden nur so viel, als es nach unserem Dafürhalten leidet, und leiden nicht in uns, sondern in ihm. Vor dem Erwachen der Einbildungskraft, die den Menschen aus sich heraus zu versetzen beginnt, wird sich also auch bei Niemandem das Mitgefühl regen.
Was haben wir nun, um dieses erwachende Mitgefühl anzufachen und zu nähren, um es zu leiten und ihm in der ihm von der Natur gegebenen Richtung zu folgen, anders zu thun, als dem jungen Menschen einerseits solche Gegenstände darzubieten, auf welche die zunehmende Kraft seines Herzens zu wirken vermag, die es erweitern, es auch mit anderen Wesen zu theilen bereit sind, und es dahin bringen, daß er sich auch außer sich selbst überall wiederfinde, und andererseits sorgfältig alle solche von ihm fern zu halten, welche das Herz verengern, in sich selbst verschließen und den Egoismus groß zu ziehen geeignet sind? Mit anderen Worten, was haben wir anders zu thun, als Güte, Menschlichkeit, Mitgefühl, Wohlthätigkeit, kurz alle einnehmenden und sanften Gefühle, die den Menschen von Natur so wohlgefallen, in ihm zu erwecken, und dagegen das Hervortreten des Neides, der Habsucht, des Hasses so wie aller übrigen abstoßenden und grausamen Leidenschaften zu verhüten, die gleichsam das Gefühl nicht nur auf Null herabdrücken, sondern es sogar noch in eine negative Größe verwandeln, und demjenigen, welcher von ihnen beseelt ist, nichts als Qual bereiten.
Alle meine bisherigen Betrachtungen glaube ich in zwei oder drei bestimmte, klare und leicht faßliche Grundsätze kurz zusammenfassen zu können.
Es gehört nicht zu den Eigenschaften des menschlichen Herzens, sich an die Stelle derer zu versetzen, welche glücklicher sind als wir, sondern es versetzt sich lediglich an die Stelle derer, welche mehr zu beklagen sind als wir.
Etwaige Ausnahmen von dieser Regel sind es mehr dem Scheine nach als in Wirklichkeit. So versetzt man sich z. B. nicht an die Stelle des Reichen oder des Großen, zu dem man Zuneigung gefaßt hat. Selbst wenn man ihm aufrichtig zugethan ist, eignet man sich immer nur einen Theil seines Wohlseins an. Bisweilen liebt man ihn auch noch im Unglücke; so lange es ihm aber gut geht, hat er keinen wahren Freund als denjenigen, der sich vom Scheine nicht täuschen läßt und ihn bei all seinem Glücke mehr beklagt als beneidet.
Man wird von dem Glücke gewisser Stände, z. B. dem der Landleute und der Hirten, gerührt. Die Freude, diese guten Leute glücklich zu sehen, wird durch keinen neidischen Gedanken vergiftet; man nimmt in Wahrheit einen aufrichtigen Antheil an ihnen. Weshalb dies? Deshalb, weil wir uns bewußt sind, daß es jeden Augenblick in unserer Macht liegt, zu diesem Stande des Friedens und der Unschuld herabzusteigen und desselben Glückes theilhaftig zu werden. Das bleibt immer noch unsere letzte Zuflucht, eine Zuflucht, die uns nur mit angenehmen Ideen erfüllt, da unser bloßer Wille genügt, uns in den Besitz dieses Genusses zu setzen. Es bereitet stets Vergnügen, seine Hilfsmittel zu überschauen und sein eigenes Gut zu betrachten, selbst für den Fall, daß man keinen Gebrauch davon machen will.
Um einen jungen Mann mit Menschenliebe zu erfüllen, muß man ihn also, wie sich aus obiger Betrachtung ergibt, nicht das glänzende Loos Anderer bewundern lassen, sondern man muß ihm dasselbe vielmehr von seiner Kehrseite zeigen, ja ihm sogar eine förmliche Furcht vor einem solchen Loose einjagen. Dann wird er sich consequenterweise einen neuen, noch von Niemandem betretenen Weg zum Glücke bahnen müssen.
Nur diejenigen Uebel Anderer erregen unser Bedauern, vor denen man sich selbst nicht sicher hält.
Non ignara mali, miseris succurrere disco. Aen. I. 630.
Ich kenne nichts so Schönes, so Tiefes, so Ergreifendes und Wahres wie die Worte dieses Verses.
Weshalb fühlen die Könige kein Mitleid mit ihren Unterthanen? Deshalb, weil sie sich in ihren eigenen Augen nicht wie gewöhnliche Menschen vorkommen. Weshalb sind die Reichen so hart gegen die Armen? Weil sie nicht befürchten, ebenfalls in Armuth zu gerathen. Weshalb blickt der Adel mit so großer Verachtung auf das Volk? Weil er niemals in den bürgerlichen Stand hinabsinken kann. Weshalb sind die Türken im Allgemeinen menschlicher und gastfreundlicher als wir? Weil bei ihrer mit völliger Willkür verfahrenden Regierung die Größe und das Glück der Einzelnen beständig unsicher und schwankend ist, und sie deshalb Niedrigkeit und Elend nicht als Uebel betrachten, die nie an sie herantreten könnten. Hierin scheint gegenwärtig eine geringe Aenderung einzutreten. Die Stände scheinen sich mehr zu befestigen, und die Menschen werden weniger teilnahmsvoll. Jeder kann morgen in derselben Lage sein, in welcher sich der heute von ihm Unterstützte befindet. Diese Wahrnehmung, die in den morgenländischen Romanen überall zu Tage tritt, ist die Ursache, daß sie für uns etwas ungemein Rührendes haben, wie es das ganze Aufgebot unserer trockenen Moral nicht hervorzubringen vermag.
Gewöhnt deshalb euren Zögling nicht, von der Höhe seiner hervorragenden Stellung auf die Kümmernisse der Unglücklichen und die Mühen der Elenden herabzublicken, und hofft nicht, daß ihr ihn mit Theilnahme erfüllen könnt, so lange er sie als Uebel betrachtet, die ihm völlig unnahbar seien. Macht ihm vielmehr recht begreiflich, daß das Schicksal dieser Unglücklichen auch ihm vorbehalten sein kann, daß alle ihre Uebel binnen Kurzem auch über ihn hereinbrechen können, daß tausend unvorhergesehene und unvermeidliche Ereignisse ihn jeden Augenblick in ihren Leidensgenossen zu verwandeln vermögen. Haltet ihn an, sich weder auf Geburt, noch auf Gesundheit, noch auf Reichthum zu verlassen; haltet ihm eindringlich die häufigen Wechselfälle des Schicksals vor. Macht ihn mit den nur allzu oft vorkommenden Beispielen bekannt, wo Menschen, die noch eine weit höhere Stellung als er einnahmen, noch tief unter jene Unglücklichen hinabgesunken sind, ob durch eigene oder fremde Schuld, kommt hierbei nicht in Frage; hat er denn überhaupt schon eine richtige Vorstellung davon, was Schuld ist? Erlaubt euch nie einen Eingriff in die Ordnung seiner Kenntnisse und gebt ihm nur über Dinge, die seiner Fassungskraft entsprechen, die nöthige Aufklärung. Er bedarf keines hohen Grades von Gelehrsamkeit, um zu begreifen, daß ihm alle menschliche Weisheit nicht dafür einzustehen vermag, ob er in der nächsten Stunde noch leben oder todt sein werde; ob er sich nicht, noch ehe die Nacht einbricht, zähneknirschend unter den heftigsten Nierenschmerzen werde winden müssen, ob er in einem Monate reich oder arm sein werde, oder ob ihm nicht das Loos bestimmt sei, im nächsten Jahre unter Knutenhieben auf den Galeeren in Algier zu rudern. Vor Allem aber sagt es ihm nicht so kalt, als handele es sich um einen Paragraphen seines Katechismus; er muß das menschliche Elend vor Augen haben und es mit empfinden. Erschüttert, erschreckt seine Einbildungskraft mit den Gefahren, von denen jeder Mensch unaufhörlich umringt ist; er muß es förmlich mit Augen sehen, wie ihm diese Abgründe auf allen Seiten entgegengähnen, und sich bei der Schilderung ihrer Schrecken ängstlich an euch drängen, aus Furcht, in sie hinabzustürzen. »Dadurch werden wir ihn ja furchtsam und feige machen,« werdet ihr mir einwenden. Das wird sich in der Folge herausstellen; für jetzt liegt es uns am nächsten, ihn menschlich zu machen.
Das Mitleid, welches uns bei dem Leiden Anderer erfüllt, bemessen wir nicht nach der Größe dieses Leidens, sondern nach der Empfindung, welche wir denjenigen, die es erdulden, zuschreiben.
Man bedauert einen Unglücklichen nur in so weit, als man glaubt, daß er sich selbst für bedauernswerth halte. Die physische Empfindung unserer Leiden ist beschränkter, als es den Anschein hat. Die Erinnerung allein, die sie uns als fortbestehend empfinden läßt, und die Einbildungskraft, die uns durch den Gedanken an die Fortdauer dieser Qualen selbst die Zukunft verbittert, tragen die Schuld, daß wir uns wahrhaft bedauernswerth vorkommen. Hierin liegt meines Bedünkens auch eine der Ursachen, weshalb wir bei den Leiden der Thiere weniger Theilnahme verrathen als bei denen der Menschen, obgleich das bei Beiden gleich starke Empfindungsvermögen uns mit ihnen genau in derselben Weise identificiren sollte. Steht der Karrengaul in seinem Stalle, so bedauern wir ihn nicht leicht, weil wir annehmen, daß er, wenn er sein Heu verzehrt, weder der empfangenen Peitschenhiebe noch der Anstrengungen gedenke, die seiner warten. Eben so wenig fühlen wir mit einem Hammel, den wir auf der Weide erblicken, Mitleid, obwol wir uns dessen bewußt sind, daß er binnen Kurzem geschlachtet werden wird, weil wir uns zu der Annahme berechtigt halten, daß er sein Loos nicht voraussehe. In Folge einer unwillkürlichen Ausdehnung dieser Voraussetzung nehmen wir dann auch bald an dem Loose der Menschen weniger Antheil. So beruhigen sich die Reichen über das Unrecht, welches sie den Armen zufügen, dadurch, daß sie sich vorreden, diese seien zu stumpf, um etwas davon zu empfinden. Im Allgemeinen hängt nach meinem Dafürhalten der Werth, den Jeder auf das Glück seiner Nebenmenschen setzt, von dem Grade der Achtung ab, die er denselben zu zollen scheint. Es liegt in der Natur, daß man das Glück derer, die man verachtet, für ziemlich werthlos hält. Man braucht sich deshalb nicht mehr zu wundern, wenn die Staatsmänner mit so großer Geringschätzung vom Volke reden, noch wenn die meisten Philosophen sich so geflissentlich bestreben, die Menschen nur von ihrer schlechten Seite zu zeigen.
Das Volk bildet das menschliche Geschlecht. Der Bruchtheil, welcher nicht zum eigentlichen Volke gehört, ist so geringfügig, daß es nicht der Mühe verlohnt, ihn mit in Anschlag zu bringen. Der Mensch bleibt sich in allen Ständen gleich. Verhält es sich aber so, dann verdienen gerade die an Seelenzahl hervorragendsten Stände die meiste Achtung. Alle Standesunterschiede verschwinden in den Augen des Denkenden, denn er bemerkt bei der dienenden Classe die nämlichen Leidenschaften und Gefühle wie bei den Trägern der erlauchtesten Namen; nur in der Sprache, in der mehr oder weniger übertünchten Außenseite nimmt er einen Unterschied wahr; und tritt sonst ein wesentlicher Unterschied zwischen ihnen hervor, so fällt er stets zum Nachtheil dessen aus, der die größte Verstellungsgabe besitzt. Das Volk zeigt sich, wie es ist, und es ist nicht liebenswürdig; aber du Weltleute haben alle Ursache, sich zu verstellen; zeigten sie sich, wie sie sind, so würden sie wahrlich Grauen und Abscheu erregen.
Wie unsere Weisen weiter behaupten, gibt es in jedem Stande das nämliche Maß von Glück und Leid. Das ist eine eben so unheilvolle wie durchaus unerwiesene Behauptung. Denn sind wir einmal Alle gleich glücklich, weshalb soll mir dann wol das Loos irgend Jemandes nahe gehen? Bleibe Jeder in den Verhältnissen, in denen er sich befindet: der Sklave lasse sich mißhandeln, der Schwache dulde, der Bettler gehe zu Grunde, eine Aenderung ihrer Lage vermag ihnen ja keinen Gewinn zu bringen. Man zählt die Sorgen der Reichen auf und weist die Nichtigkeit ihrer eitlen Freuden nach. Welche plumpen Trugschlüsse! Die Sorgen des Reichen sind nicht die notwendigen Folgen seiner Lebensstellung, sondern fallen einem Mißbrauche derselben zur Last. Wäre er sogar noch unglücklicher als der Arme, so wäre er trotzdem nicht zu bedauern, weil er allein die Schuld an seinen Leiden trägt, und weil es nur auf ihn ankommt, glücklich zu sein. Die Sorgen des Armen sind dagegen die Folgen seiner Verhältnisse, der Härte seines Schicksals, welches schwer auf ihm lastet. Auch die längste Gewohnheit ist nicht im Stande, das physische Gefühl der Ermüdung, der Erschöpfung und des Hungers von ihm zu nehmen. Weder hohe Geistesgaben noch Weisheit vermögen ihn von den Leiden seines Standes zu befreien. Welcher Gewinn erwächst dem Epictet daraus, daß er voraussieht, sein Herr werde ihm noch das Bein zerschmettern? Läuft er etwa deshalb weniger Gefahr, daß es ihm derselbe zerschlagen werde? Die Voraussicht tritt nur als ein neues Uebel zu der Zahl seiner alten Uebel hinzu. Besäße das Volk eben so viel überlegende Klugheit, als wir ihm geistige Unfähigkeit beimessen, was würde es anders sein können, als was es jetzt ist? Was würde es anders thun können, als was es jetzt thut? Lernet nur die Leute dieser Classe besser kennen und ihr werdet euch überzeugen, daß sie, wenn sie auch eine andere Sprache führen, dem ungeachtet eben so viel Geist und sogar ein weit richtigeres Urtheil besitzen als ihr. Achtet deshalb euer Geschlecht; bedenkt, daß es wesentlich aus der Volksmasse gebildet wird, daß die Lücke, welche durch die Beseitigung aller Könige und Philosophen entstände, kaum bemerkbar sein würde und der Weltlauf sicherlich nicht darunter zu leiden hätte. Mit einem Worte, lehrt euren Zögling alle Menschen lieben, selbst diejenigen, welche mit Verachtung auf ihre Mitmenschen herabblicken. Erzieht ihn so, daß er sich nicht als Glied einer besonderen Classe betrachte, sondern sich in allen wiederfinde. Sprecht von dem menschlichen Geschlechte in seiner Gegenwart mit aufrichtiger Theilnahme, selbst mit Mitleid, aber niemals mit Verachtung. Mensch, entehre den Menschen nicht!
Dieser und ähnlicher Wege, die den bisher eingeschlagenen allerdings ganz entgegengesetzt sind, muß man sich bedienen, um in das Herz des Jünglings einzudringen, damit in demselben die ersten Regungen der Natur wach werden, es sich mehr und mehr entfalte und für die Mitmenschen zu schlagen beginne. Ich kann jedoch nicht unterlassen, dem noch die Bemerkung hinzuzufügen, daß es dabei von äußerster Wichtigkeit ist, diese Regungen so viel als möglich von allem persönlichen Interesse frei zu erhalten. Fern bleibe vor Allem jede Eitelkeit, jeder Wetteifer, jede Ruhmsucht, jedes Gefühl, welches uns antreibt, uns mit Anderen zu vergleichen. Denn solche Vergleichungen lassen sich nicht anstellen, ohne daß sich in uns ein gewisses Gefühl des Hasses gegen diejenigen festsetzt, welche uns den Vorrang streitig machen, und wäre es auch nur nach unserer eigenen einseitigen Schätzung. Dann bleibt Einem nur die Wahl, sich blind zu stellen oder sich zu erzürnen, schlecht zu sein oder albern. Geben wir uns Mühe, dieser Alternative aus dem Wege zu gehen. Freilich kann man mir den Einwurf machen, daß diese so gefährlichen Leidenschaften aller unserer Gegenbemühungen ungeachtet doch früher oder später zum Vorschein kommen werden. Ich läugne es nicht. Jedes Ding hat seine Zeit und seinen Ort; ich stelle nur den Satz auf, daß man zu ihrer Entstehung nicht hilfreiche Hand leisten dürfe.
Darin spricht sich der Geist der Methode aus, deren Beobachtung man sich zur Pflicht machen sollte. Beispiele und Einzelheiten sind hierbei überflüssig, weil hier die Charaktere nach den verschiedensten Richtungen auseinander zu gehen beginnen, und weil jedes Beispiel, welches ich anführen könnte, vielleicht nicht auf Einen unter Hunderttausenden passen würde. In diesem Alter ist es deshalb auch, wo für den geschickten Lehrer die eigentliche Aufgabe des Beobachters und Philosophen anfängt, der die Kunst versteht, die Herzen zu erforschen, indem er an ihrer Bildung arbeitet. So lange der junge Mann noch nicht daran denkt, sich zu verstellen, und es noch nicht gelernt hat, kann man bei jedem Gegenstande, den man ihm zeigt, an seinen Mienen, seinen Blicken, seinen Geberden sofort den Eindruck erkennen, welchen derselbe auf ihn ausübt. Man vermag auf seinem Antlitze alle Regungen seiner Seele zu lesen. Durch aufmerksame Beobachtung derselben bringt man es dahin, sie vorauszusehen, und endlich, sie zu leiten.
Man wird fast überall wahrnehmen, daß Blut, Wunden, Klagegeschrei, Seufzer, Vorbereitungen zu schmerzhaften Operationen, und überhaupt Alles, was uns unsere Sinne als Gegenstände des Leidens erkennen lassen, alle Menschen am schnellsten und am allgemeinsten ergreift. Die Idee der Vernichtung erschüttert uns, da sie zusammengesetzter ist, nicht in gleich hohem Grade. Das Bild des Todes macht erst später Eindruck auf uns und berührt uns schwächer, weil noch Niemand die Schrecken des Todes an sich selbst erfahren hat. Man muß Leichname gesehen haben, um die Angst mit dem Tode Ringender nachempfinden zu können. Hat sich dies Bild jedoch erst einmal in unserem Geiste festgesetzt, dann gibt es auch für unsere Augen kein gräßlicheres Schauspiel, sei es nun wegen der Idee völliger Vernichtung, die sich uns durch die Vermittelung unserer Sinne überwältigend aufdrängt, oder weil wir uns bewußt sind, daß dieser Augenblick für alle Menschen unvermeidlich ist, und wir uns von einem Zustande, von dem es feststeht, daß wir ihm nicht entgehen können, lebhafter ergriffen fühlen.
Diese verschiedenen Grade haben ihre Modificationen und Abstufungen, welche von dem besonderen Charakter und den früheren Gewohnheiten jedes Einzelnen abhängen. Aber sie finden sich allgemein und Niemand ist von ihnen völlig frei. Es kommen freilich auch erst später auftretende und weniger allgemein verbreitete vor, welche mehr den gefühlvollen Seelen eigen sind. Sie haben ihre Quelle in moralischen Leiden, in innerem Schmerze, in Kummer, Gram und Trauer. Es gibt Menschen, auf die nur lautes Klagegeschrei und Thränen Eindruck hervorbringen. Niemals hat ihnen ein fortwährendes geheimes Seufzen eines von Kummer überwältigten Herzens ebenfalls einen Seufzer zu entlocken vermocht, niemals hat der Anblick einer gebeugten Haltung, eines abgehärmten und bleichen Gesichts, eines erloschenen Auges, in welchem die Thränen längst versiecht sind, ihre Augen mit Thränen gefüllt. Für sie bedeuten Seelenleiden nichts. Ueber diese haben sie sich ein für allemal ein Urtheil gebildet, wie es sich von Solchen erwarten läßt, deren Seele völlig gefühllos ist. Rechnet bei ihnen nur auf unbeugsame Strenge, Härte und Grausamkeit. Sie können wol unbescholten und gerecht sein, nie aber gütig, edelmüthig und mitleidig. Ich sage, sie können möglicherweise gerecht sein, wenn ein erbarmungsloser Mensch es überhaupt zu sein vermag.
Hütet euch jedoch, euch durch diese Regel zu einem übereilten Urtheile über junge Leute, namentlich über solche hinreißen zu lassen, die in Folge einer richtigen Erziehung, bei welcher man alle moralische Leiden von ihnen fern gehalten hat, keinen Begriff von denselben haben; denn, noch einmal, sie können nur über die Leiden, welche sie kennen, Bedauern empfinden, und diese scheinbare Gefühllosigkeit, welche ihren Grund nur in ihrer Unwissenheit hat, verwandelt sich bald in Rührung, sobald sie zu fühlen anfangen, daß es im menschlichen Leben tausenderlei Schmerzen gibt, die sie nicht kennen. Was meinen Emil anlangt, so halte ich mich für überzeugt, daß es ihm, wenn er als Kind Einfalt und ein richtiges Urtheil besaß, als Jüngling nicht an Seele und Gefühl fehlen wird, denn die Wahrheit der Gefühle beruht im hohen Grade auf der Richtigkeit der Begriffe.
Aber weshalb hier erst noch daran erinnern? Ohne Zweifel wird mir mehr als ein Leser den Vorwurf machen, ich wäre meiner früheren Absichten und des beständigen Glückes, welches ich meinem Zöglinge verheißen hatte, nicht eingedenk geblieben. Unglückliche, im Sterben Liegende, Bilder des Schmerzes und des Elends, welch ein Glück, welch ein Genuß für ein junges Herz, das eben erst zum Leben erwacht! Sein Alles nur von der trüben Seite anschauender Erzieher läßt ihn, obgleich er ihm eine so angenehme Erziehung in Aussicht stellte, nur zum Leiden aufwachsen. Dergleichen Urtheile wird man sicherlich fällen. Das soll mich jedoch wenig kümmern. Ich habe verheißen, ihn glücklich zu machen, nicht aber es mir zur Aufgabe gestellt, ihn nur zu einem scheinbaren Glücke zu bringen. Liegt die Schuld etwa an mir, wenn ihr euch stets vom Scheine betrügen laßt und denselben für Wirklichkeit haltet?
Denken wir uns zwei Jünglinge, die nach Beendigung ihrer ersten Erziehung durch zwei gerade entgegengesetzte Thore in die Welt eintreten. Der Eine steigt plötzlich zum Olymp empor und bewegt sich in der glänzendsten Gesellschaft. Man führt ihn bei Hofe, bei den Großen, bei den Reichen, bei schönen Frauen ein. Ich setze voraus, daß er überall eine gute Aufnahme findet, und untersuche zunächst nicht die Wirkung derselben auf seine Vernunft; ich nehme an, daß sie ihr Widerstand leistet. Von einem Vergnügen stiegt er zu dem andern, jeder Tag bietet ihm neue Freuden dar. Jeder Lust gibt er sich mit einem Interesse hin, das euch irre leitet. Ihr nehmt wahr, wie aufmerksam, eifrig und lüstern nach immer neuen Lustbarkeiten er ist. Seine anfängliche Verwunderung fällt euch auf; ihr haltet ihn für zufrieden. Aber werfet nur einen Blick in seinen Seelenzustand! Ihr glaubt, daß er Genuß hat, ich dagegen bin der Ansicht, daß er leidet.
Was nimmt er zunächst wahr, sobald ihm die Augen aufgehen? Eine Menge vermeintlicher Güter, die er zuvor nicht kannte, und von denen die meisten, da sie sich seinen Blicken nur auf einen Augenblick darbieten, sich ihm nur zu zeigen scheinen, um ihm nachher den Schmerz über ihren Verlust desto fühlbarer zu machen. Durchwandelt er einen Palast, so verräth euch seine unruhige Neugier, daß er sich im Stillen die Frage vorlegt, weshalb sein väterliches Haus nicht die gleiche Pracht aufzuweisen habe. Alle seine Fragen lassen durchblicken, daß er sich unablässig mit dem Herrn dieses Hauses vergleicht, und Alles, was er Demüthigendes für sich bei dieser Parallele entdeckt, erhöht seine Eitelkeit durch die ihr zugefügte Kränkung. Begegnet er einem jungen Manne, der besser gekleidet ist als er, so kann ich sehen, wie er im Geheimen über den Geiz seiner Eltern murrt. Ist er dagegen kostbarer gekleidet als ein Anderer, so erfüllt es ihn mit Schmerz, zu sehen, wie dieser ihn entweder durch Geburt oder Geist verdunkelt, und wie all seine Vergoldung von einem einfachen Tuchgewande in Schatten gestellt wird. Glänzt er allein in einer Gesellschaft, erhebt er sich auf der Fußspitze, um besser gesehen zu werden, wer fühlte sich da wol nicht von einer geheimen Lust beseelt, dem jungen Laffen für sein stolzes und selbstgefälliges Wesen die gebührende Züchtigung angedeihen zu lassen? Wie auf Verabredung vereinigt sich alsbald Alles gegen ihn. Unablässig verfolgen ihn die beunruhigenden Blicke eines ernsten Mannes, rings um sich her vernimmt er die beißenden Bemerkungen eines Spötters, und ruht auch nur die Verachtung eines Einzigen auf ihm, so vergiftet ihm die verächtliche Behandlung dieses Einzigen die Beifallsbezeugungen aller Uebrigen.
Wir wollen ihn mit allen Vorzügen ausstatten, mit verschwenderischer Hand soll ihm die Natur alle Reize der Anmuth, alle Schätze des Geistes verliehen haben; er soll wohlgebildet, geistreich und liebenswürdig sein. Dann wird es nicht ausbleiben, daß sich die Frauen um ihn bemühen. Buhlen sie jedoch um seine Gunst, ehe er sie liebt, so werden sie weit eher einen Narren als einen Liebhaber aus ihm machen. Er wird bei ihnen Glück haben, aber die zum Genusse unentbehrliche stürmische Leidenschaft wird ihm fehlen. Da man seinen Wünschen beständig zuvorkommt und ihnen niemals Zeit läßt, inmitten von all den Vergnügungen sich von selbst zu bilden, so wird er über den ihm auferlegten Zwang nur Verdruß empfinden. Das Geschlecht, welches zur Beglückung des seinigen bestimmt ist, erfüllt ihn mit Ekel und Uebersättigung, noch bevor er es kennt. Wenn er trotzdem den Umgang mit demselben nicht aufgibt, so geschieht es nur aus Eitelkeit; und wenn er auch eine wirkliche Neigung zu ihm faßte, so wird er doch nicht ausschließlich Anspruch auf Jugend, Glanz und Liebenswürdigkeit machen können, und deshalb in seinen Geliebten nicht immer Wunder der Treue finden.
Ich will gar nicht von den Neckereien, Verräthereien, Abscheulichkeiten, von der immer von Neuem erwachenden Reue reden, die von einem solchen Leben unzertrennlich sind. Die Erfahrungen, die wir im Verkehre mit der Welt machen, verleiden sie uns; das ist eine anerkannte Thatsache. Ich rede hier nur von dem Kummer, der mit der ersten Täuschung verbunden ist.
Welch ein Contrast erwartet denjenigen, welcher bisher auf den Kreis seiner Familie und seiner Freunde eingeschränkt gewesen ist und sich als den einzigen Gegenstand aller ihrer Zuvorkommenheit erblickt hat, wenn er nun plötzlich in eine Ordnung der Dinge eintritt, in der er eine so geringe Beachtung findet, wenn er sich in einer ihm fremden Sphäre wie verloren vorkommt, der so lange den Mittelpunkt der seinigen bildete! Welche Kränkungen, welche Demüthigungen wird er nicht erdulden müssen, bevor sich in der ihm fremden Welt das Vorurtheil von seiner Wichtigkeit wieder verliert, welches im Kreise der Seinigen in ihm erweckt und genährt wurde. So lange er Kind war, fügte sich Alles seinem Willen, bemühte sich Alles um ihn. Jetzt, wo er ein Jüngling ist, muß er sich in eines Jeden Willen schicken. Vergißt er sich jedoch und behält er sein altes Wesen bei, welche harte Lehren werden ihn dann zwingen, in sich zu gehen! Daran gewöhnt, alle Gegenstände seiner Wünsche leicht zu erhalten, hat er seinen Wünschen einen stets größeren Umfang gegeben und bleibt in Folge dessen fortwährend das Gefühl in ihm wach, wie viel er noch entbehren muß; Alles, was ihm Freude macht, lockt ihn an; Alles, was Andere haben, möchte er auch haben: er trägt nach Allem Gelüste, beneidet Alle und möchte überall den Herrn spielen. Die Eitelkeit verzehrt ihn, die Glut zügelloser Begierden entflammt sein junges Herz. Mit ihnen erwachen Eifersucht und Haß; alle verzehrenden Leidenschaften lodern auf einmal in ihm empor. Mitten im Geräusch der Welt verläßt ihn ihre Aufregung nicht, und jeden Abend bringt er sie wieder heim. Mit sich und aller Welt unzufrieden, tritt er wieder über seine Schwelle. Voll von tausend eitlen Plänen, beunruhigt von tausend sorgenvollen Gedanken, schläft er endlich ein, und noch in seinen Träumen malt ihm sein Stolz die eingebildeten Güter aus, deren Erlangung er so schmerzlich ersehnt und die er doch nie in seinem Leben besitzen wird. Erkennet in diesen Zügen eueren Zögling. Jetzt laßt uns den meinigen betrachten.