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Länger wurden die Tage. Die Morgen enthielten schon so viel Helligkeit, daß sie sogar durch den geschlossenen Rolladen in das fensterlose Hinterzimmer Mendels einbrechen konnten. Im April erwachte die Gasse eine gute Stunde früher. Mendel zündete den Spirituskocher an, stellte den Tee auf, füllte das kleine, blaue Waschbecken, tauchte sein Gesicht in die Schüssel, trocknete sich mit einem Zipfel des Handtuchs, das an der Türklinke hing, öffnete den Rolladen, nahm einen Mund voll Wasser, bespuckte sorgfältig die Diele und betrachtete die verschlungenen Ornamente, die der helle, aus seinen Lippen gespritzte Strahl auf den Staub zeichnete. Schon zischte der Spirituskocher; noch hatte es nicht einmal sechs geschlagen. Mendel trat vor die Tür. Da öffneten sich die Fenster in der Gasse wie von selbst. Es war Frühling. Es war Frühling. Ostern bereitete man vor, in allen Häusern half Mendel. Den Hobel legte er an die hölzernen Tischplatten, um sie zu säubern von den profanen Nahrungsresten des ganzen Jahres. Die runden, zylinderförmigen Pakete, in denen das Osterbrot geschichtet lag in karminrotem Papier, stellte er auf die weißen Fächer der Schaufenster, und die Weine aus Palästina befreite er von dem Spinngewebe, unter dem sie in den kühlen Kellern geruht hatten. Die Betten der Nachbarn nahm er auseinander und trug Stück um Stück in die Höfe, wo die linde Aprilsonne das Ungeziefer hervorlockte und der Vernichtung durch Benzin, Terpentin und Petroleum anheimgab. In rosa und himmelblaues Zierpapier schnitt er mit der Schere runde und winklige Löcher und Fransen und befestigte es mit Reißnägeln an den Küchengestellen, als kunstvollen Belag für das Geschirr. Die Fässer und Bottiche füllte er mit heißem Wasser, große, eiserne Kugeln hielt er an hölzernen Stangen ins Herdfeuer, bis sie glühten. Dann tauchte er die Kugeln in die Bottiche und Fässer, das Wasser zischte, gereinigt waren die Gefäße, wie die Vorschrift es befahl. In riesengroßen Mörsern zerstampfte er die Osterbrote zu Mehl, schüttete es in saubere Säcke und umschnürte sie mit blauen Bändchen. All das hatte er einmal im eigenen Hause gemacht. Langsamer als in Amerika war dort Frühling gekommen. Mendel erinnerte sich an den alternden, grauen Schnee, der das hölzerne Pflaster des Bürgersteigs in Zuchnow um diese Jahreszeit säumte, an die kristallenen Eiszapfen am Rande der Spundlöcher, an die plötzlichen, sanften Regen, die in den Dachrinnen sangen, die ganze Nacht, an die fernen Donner, die hinter dem Föhrenwald dahinrollten, an den weißen Reif, der jeden hellblauen Morgen zärtlich bedeckte, an Menuchim, den Mirjam in eine geräumige Tonne gesteckt hatte, um ihn aus dem Wege zu räumen, und an die Hoffnung, daß endlich, endlich in diesem Jahre der Messias kommen werde. Er kam nicht. Er kommt nicht, dachte Mendel, er wird nicht kommen. Andere mochten ihn erwarten. Mendel wartete nicht.
Dennoch erschien Mendel seinen Freunden wie den Nachbarn in diesem Frühling verändert. Sie beobachteten manchmal, daß er ein Lied summte, und sie erhaschten ein sanftes Lächeln unter seinem weißen Bart.
»Er wird kindisch, er ist schon alt«, sagte Groschel.
»Er hat alles vergessen«, sagte Rottenberg.
»Es ist eine Freude vor dem Tod«, meinte Menkes.
Skowronnek, der ihn am besten kannte, schwieg. Nur einmal, an einem Abend, vor dem Schlafengehen, sagte er zu seiner Frau: »Seitdem die neuen Platten gekommen sind, ist unser Mendel ein anderer Mensch. Ich ertappe ihn manchmal, wie er selbst ein Grammophon aufzieht. Was meinst du dazu?«
»Ich meine dazu«, erwiderte ungeduldig die Frau Skowronnek, »daß Mendel alt und kindisch wird und bald gar nicht zu gebrauchen.« Sie war schon seit geraumer Zeit mit Mendel unzufrieden. Je älter er wurde, desto geringer wurde ihr Mitleid für ihn. Allmählich vergaß sie auch, daß Mendel ein wohlhabender Mann gewesen war, und ihr Mitgefühl, das sich von ihrem Respekt genährt hatte (denn ihr Herz war klein), starb dahin. Sie nannte ihn auch nicht mehr wie am Anfang Mister Singer, sondern einfach Mendel wie bald alle Welt. Und hatte sie ihm früher Aufträge mit jener gewissen Zurückhaltung erteilt, die beweisen sollte, daß seine Folgsamkeit sie ehrte und beschämte zugleich, so fing sie jetzt an, ihn dermaßen ungeduldig zu befehligen, daß ihre Unzufriedenheit mit seinem Gehorsam schon von vornherein sichtbar wurde. Obwohl Mendel nicht schwerhörig war, erhob Frau Skowronnek die Stimme, um mit ihm zu sprechen, als fürchtete sie, mißverstanden zu werden, und als wollte sie durch ihr Schreien beweisen, daß Mendel ihre Befehle falsch ausführte, weil sie in ihrer gewohnten Stimmlage zu ihm gesprochen hatte. Ihr Schreien war eine Vorsichtsmaßregel; das einzige, was Mendel kränkte. Denn er, der vom Himmel so erniedrigt war, machte sich wenig aus dem gutmütigen und leichtfertigen Spott der Menschen, und nur wenn man seine Fähigkeit zu verstehen anzweifelte, war er beleidigt. »Mendel, sputet Euch«, so begann jeder Auftrag der Frau Skowronnek. Er machte sie ungeduldig, er schien ihr zu langsam. »Schreien Sie nicht so«, erwiderte Mendel gelegentlich, »ich höre Sie schon.« »Aber Sie eilen sich nicht, Sie haben Zeit!« »Ich habe weniger Zeit als Sie, Frau Skowronnek, so wahr ich älter bin als Sie!« Frau Skowronnek, die den Nebensinn der Antwort und die Zurechtweisung nicht sofort begriff und sich verspottet wähnte, wandte sich sofort an den nächststehenden Menschen im Laden: »Nun, was sagen Sie dazu? Er wird alt! Unser Mendel wird alt!« Sie hätte ihm gerne noch ganz andere Eigenschaften nachgesagt, aber sie begnügte sich mit der Erwähnung des Alters, das sie für ein Laster hielt. Wenn Skowronnek derlei Reden hörte, sagte er zu seiner Frau: »Alt werden wir alle! Ich bin genauso alt wie Mendel und du wirst auch nicht jünger!« »Du kannst ja eine Junge heiraten«, sagte Frau Skowronnek. Sie war glücklich, daß sie endlich einen gebrauchsfertigen Anlaß zu einem ehelichen Zwist hatte. Und Mendel, der die Entwicklung dieser Streitigkeiten kannte und von vornherein begriff, daß sich der Zorn der Frau Skowronnek schließlich gegen ihren Mann und seinen Freund entladen würde, zitterte um seine Freundschaft.
Heute war Frau Skowronnek aus einem besondern Grund gegen Mendel Singer eingenommen. »Stell dir vor«, sagte sie zu ihrem Mann, »seit einigen Tagen ist mein Hackmesser verschwunden. Ich kann schwören, daß Mendel es genommen hat. Frage ich ihn aber, so weiß er nichts davon. Er wird alt und älter, er ist wie ein Kind!«
In der Tat hatte Mendel Singer das Hackmesser der Frau Skowronnek an sich genommen und versteckt. Er bereitete schon seit langem im geheimen einen großen Plan vor, den letzten seines Lebens. Eines Abends glaubte er, ihn ausführen zu können. Er tat, als nickte er auf dem Sofa ein, während die Nachbarn sich bei Skowronnek unterhielten. In Wirklichkeit aber schlief Mendel keineswegs. Er lauerte und lauschte mit geschlossenen Lidern, bis sich der letzte entfernt hatte. Dann zog er unter dem Kopfpolster des Sofas das Hackmesser hervor, steckte es unter den Kaftan und huschte in die abendliche Gasse. Die Laternen waren noch nicht entzündet, aus manchen Fenstern drang schon gelbes Lampenlicht. Gegenüber dem Hause, in dem er mit Deborah gewohnt hatte, stellte sich Mendel Singer auf und spähte nach den Fenstern seiner früheren Wohnung. Dort lebte jetzt das junge Ehepaar Frisch, unten hatte es einen modernen Eiscreme-Salon eröffnet. Jetzt traten die jungen Leute aus dem Haus. Sie schlossen den Salon. Sie gingen ins Konzert. Sparsam waren sie, geizig konnte man sagen, fleißig, und Musik liebten sie. Der Vater des jungen Frisch hatte in Kowno eine Hochzeitskapelle dirigiert. Heute konzertierte ein philharmonisches Orchester, eben aus Europa gekommen. Frisch sprach schon seit Tagen davon. Nun gingen sie. Sie sahen Mendel nicht. Er schlich sich hinüber, trat ins Haus, tastete sich das altgewohnte Geländer empor und zog alle Schlüssel aus der Tasche. Er bekam sie von den Nachbarn, die ihm die Bewachung ihrer Wohnungen übertrugen, wenn sie ins Kino gingen. Ohne Mühe öffnete er die Tür. Er schob den Riegel vor, legte sich platt auf den Boden und begann, ein Dielenbrett nach dem andern zu beklopfen. Es dauerte sehr lange. Er wurde müde, gönnte sich ein kleine Pause und arbeitete dann weiter. Endlich tönte es hohl, just an der Stelle, an der einmal das Bett Deborahs gestanden war. Mendel entfernte den Schmutz aus den Fugen, lockerte das Brett mit dem Hackmesser an allen vier Rändern und stemmte es hoch. Er hatte sich nicht getäuscht, er fand, was er suchte. Er ergriff das stark verknotete Taschentuch, barg es im Kaftan, legte das Brett wieder hin und entfernte sich lautlos. Niemand war im Treppenflur, kein Mensch hatte ihn gesehn. Früher als gewöhnlich sperrte er heute den Laden, ließ er die Rollbalken nieder. Er entzündete die große Hängelampe, den Rundbrenner, und setzte sich in ihren Lichtkegel. Er entknotete das Taschentuch und zählte seinen Inhalt. Siebenundsechzig Dollar in Münzen und Papier hatte Deborah gespart. Es war viel, aber es genügte nicht und enttäuschte Mendel. Legte er seine eigenen Ersparnisse hinzu, die Almosen und kleinen Vergütungen für seine Arbeiten in den Häusern, so waren es genau sechsundneunzig Dollar. Sie reichten nicht. Also noch ein paar Monate! flüsterte Mendel. Ich habe Zeit. Ja, er hatte Zeit, ziemlich lange noch mußte er leben! Vor ihm lag der große Ozean. Noch einmal mußte er ihn überqueren. Das ganze große Meer wartete auf Mendel. Ganz Zuchnow und Umgebung warten auf ihn: die Kaserne, der Föhrenwald, die Frösche in den Sümpfen und die Grillen auf den Feldern. Ist Menuchim tot, so liegt er auf dem kleinen Friedhof und wartet. Auch Mendel wird sich hinlegen. In Sameschkins Gehöft wird er vorher eintreten, keine Angst mehr wird er vor den Hunden haben, gebt ihm einen Wolf aus Zuchnow, und er fürchtet sich nicht. Ungeachtet der Käfer und der Würmer, der Laubfrösche und der Heuschrecken wird Mendel imstande sein, sich auf die nackte Erde zu legen. Dröhnen werden die Kirchenglocken und ihn an das lauschende Licht in Menuchims törichten Augen erinnern. Mendel wird antworten: »Heimgekehrt bin ich, lieber Sameschkin, mögen andere durch die Welt wandern, meine Welten sind gestorben, zurückgekommen bin ich, um hier für ewig einzuschlafen!« Die blaue Nacht ist über das Land gespannt, die Sterne glänzen, die Frösche quaken, die Grillen zirpen, und drüben, im finstern Wald, singt jemand das Lied Menuchims.
So schläft Mendel heute ein, in der Hand hält er das verknotete Taschentuch.
Am andern Morgen ging er in Skowronneks Wohnung, legte auf die kalte Herdplatte der Küche das Hackmesser und sagte: »Hier, Frau Skowronnek, das Hackmesser hat sich gefunden!«
Er wollte sich schnell wieder entfernen, aber die Frau Skowronnek begann: »Gefunden hat es sich! Es war nicht schwer, Ihr habt es doch versteckt! Übrigens habt Ihr gestern fest geschlafen. Wir waren noch einmal vor dem Laden und haben geklopft. Habt Ihr schon gehört? Der Frisch vom Eiscreme-Salon hat Euch etwas sehr Wichtiges zu sagen. Ihr sollt sofort zu ihm hinübergehn.«
Mendel erschrak. Irgend jemand hatte ihn also gestern gesehen, vielleicht hatte ein anderer die Wohnung ausgeplündert, und man verdächtigte Mendel. Vielleicht auch waren es gar nicht Deborahs Ersparnisse, sondern die der Frau Frisch, und er hatte sie geraubt. Seine Knie zitterten. »Erlaubt mir, daß ich mich setze«, sagte er zu Frau Skowronnek. »Zwei Minuten könnt Ihr sitzen«, sagte sie, »dann muß ich kochen.« »Was für eine wichtige Sache ist es?« forschte er. Aber er wußte schon im voraus, daß ihm die Frau nichts verraten würde. Sie weidete sich an seiner Neugier und schwieg. Dann hielt sie die Zeit für gekommen, ihn wegzuschicken: »Ich mische mich nicht in fremde Angelegenheiten! Geht nur zu Frisch!« sagte sie.
Und Mendel ging und beschloß, nicht bei Frisch einzutreten. Es konnte nur etwas Böses sein. Es würde von selbst früh genug kommen. Er wartete. Am Nachmittag aber kamen die Enkel Skowronneks zu Besuch. Frau Skowronnek schickte ihn um drei Portionen Erdbeercreme. Zage betrat Mendel den Laden. Mister Frisch war zum Glück nicht da. Seine Frau sagte: »Mein Mann hat Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen, kommen Sie bestimmt am Nachmittag!«
Mendel tat, als ob er nicht gehört hätte. Sein Herz lief stürmisch, es wollte ihm entfliehen, mit beiden Händen hielt er es fest. Etwas Böses drohte ihm auf jeden Fall. Er wollte die Wahrheit sagen, Frisch würde ihm glauben. Glaubte man ihm nicht, so kam er ins Zuchthaus. Nun, es war auch nichts dabei. Im Zuchthaus wird er sterben. Nicht in Zuchnow.
Er konnte die Gegend des Eiscreme-Salons nicht verlassen. Er ging auf und ab vor dem Laden. Er sah den jungen Frisch heimkehren. Er wollte noch warten, aber seine Füße hasteten von selbst in den Laden. Er öffnete die Tür, die eine schrille Glocke in Bewegung setzte, und fand nicht mehr die Kraft, die Tür zu schließen, so daß die Alarmklingel unaufhörlich lärmte und Mendel betäubt in ihrem gewaltsamen Lärm gefangen blieb, gefesselt im Klingeln und unfähig, sich zu rühren. Mister Frisch selbst schloß die Tür. Und in der Stille, die jetzt einbrach, hörte Mendel den Mister Frisch seiner Frau sagen: »Schnell ein Soda mit Himbeer für Mister Singer!«
Wie lange hatte man nicht mehr »Mister Singer« zu Mendel gesagt? Erst in diesem Augenblick empfand er, daß man ihm lange Zeit nur »Mendel« gesagt hatte, um ihn zu kränken. Es ist ein böser Witz von Frisch, dachte er. Das ganze Viertel weiß, daß dieser junge Mann geizig ist, er selbst weiß, daß ich das Himbeerwasser nicht bezahlen werde. Ich werde es nicht trinken.
»Danke, danke«, sagte Mendel, »ich trinke nichts!«
»Sie werden uns keinen Korb geben«, sagte lächelnd die Frau.
»Mir werden Sie keinen Korb geben«, sagte der junge Frisch.
Er zog Mendel an eines der dünnbeinigen Tischchen aus Gußeisen und drückte den Alten in einen breiten Korbsessel. Er selbst setzte sich auf einen gewöhnlichen hölzernen Stuhl, rückte nahe an Mendel heran und begann:
»Gestern, Mister Singer, war ich, wie Sie wissen, beim Konzert.« Mendel setzte der Herzschlag aus. Er lehnte sich zurück und tat einen Schluck, um sich am Leben zu erhalten. »Nun«, fuhr Frisch fort, »ich habe ja viel Musik gehört, aber so etwas ist noch nicht dagewesen! Zweiunddreißig Musikanten, verstehn Sie, und fast alle aus unserer Gegend. Und sie spielten jüdische Melodien, verstehen Sie? Das Herz wird warm, ich habe geweint, das ganze Publikum hat geweint. Sie spielten am Schluß ›Menuchims Lied‹, Mister Singer, Sie kennen es vom Grammophon her. Ein schönes Lied, nicht wahr?«
Was will er nur? dachte Mendel. »Ja, ja, ein schönes Lied.«
»In der Pause gehe ich zu den Musikanten. Es ist voll. Alle drängen sich zu den Musikanten. Der und jener findet einen Freund, und ich auch, Mister Singer, ich auch.«
Frisch machte eine Pause. Leute traten in den Laden, die Glocke schrillte.
»Ich finde«, sagte Mister Frisch, »aber trinken Sie nur, Mister Singer! – Ich finde meinen leiblichen Vetter, den Berkovitsch aus Kowno. Den Sohn meines Onkels. Und wir küssen uns. Und wir reden. Und plötzlich sagt Berkovitsch: ›Kennst du hier einen alten Mann namens Mendel Singer?‹«
Frisch wartete wieder. Aber Mendel Singer rührte sich nicht. Er nahm zur Kenntnis, daß ein gewisser Berkovitsch nach einem alten Mendel Singer gefragt hatte.
»Ja«, sagte Frisch, »ich erwiderte ihm, daß ich einen Mendel Singer aus Zuchnow kenne. ›Das ist er‹, sagte Berkovitsch. ›Unser Kapellmeister ist ein großer Komponist, noch jung und ein Genie, von ihm kommen die meisten Musikstücke, die wir spielen. Er heißt Alexej Kossak und ist auch aus Zuchnow.‹«
»Kossak?« wiederholte Mendel. »Meine Frau ist eine geborene Kossak. Es ist ein Verwandter!«
»Ja«, sagte Frisch, »und es scheint, daß dieser Kossak Sie sucht. Er will Ihnen wahrscheinlich etwas mitteilen. Und ich soll Sie fragen, ob Sie es hören wollen. Entweder Sie gehn zu ihm ins Hotel, oder ich schreibe Berkovitsch Ihre Adresse.«
Es wurde Mendel leicht und gleichzeitig schwer zumute. Er trank das Himbeerwasser, lehnte sich zurück und sagte: »Ich danke Ihnen, Mister Frisch. Aber es ist nicht so wichtig. Dieser Kossak wird mir alle traurigen Sachen erzählen, die ich schon weiß. Und außerdem – ich will Ihnen die Wahrheit sagen: Ich habe schon daran gedacht, mich mit Ihnen zu beraten. Ihr Bruder hat doch eine Schiffskartenagentur? Ich will nach Haus, nach Zuchnow. Es ist nicht mehr Rußland, die Welt hat sich verändert. Was kostet eine Schiffskarte heute? Und was für Papiere muß ich haben? Reden Sie mit Ihrem Bruder, aber sagen Sie niemandem etwas.«
»Ich werde mich erkundigen«, erwiderte Frisch. »Aber Sie haben bestimmt nicht soviel Geld. Und in Ihrem Alter! Vielleicht sagt Ihnen dieser Kossak etwas! Vielleicht nimmt er Sie mit! Er bleibt nur kurze Zeit in New York! Soll ich dem Berkovitsch Ihre Adresse geben? Denn, wie ich Sie kenne, Sie gehen nicht ins Hotel!«
»Nein«, sagte Mendel, »ich werde nicht hingehn. Schreiben Sie ihm, wenn Sie wollen.«
Er erhob sich.
Frisch drückte ihn wieder in den Sessel. »Einen Moment«, sagte er, »Mister Singer, ich habe das Programm mitgenommen. Da ist ein Bild dieses Kossak.« Und er zog aus der Brusttasche ein großes Programm, entfaltete es und hielt es Mendel vor die Augen.
»Ein schöner, junger Mann«, sagte Mendel. Er betrachtete die Photographie. Obwohl das Bild abgenutzt war, das Papier schmutzig und das Porträt sich in hunderttausend winzige Moleküle aufzulösen schien, trat es lebendig aus dem Programm vor Mendels Augen. Er wollte es sofort zurückgeben, aber er behielt es und starrte darauf. Breit und weiß war die Stirn unter der Schwärze der Haare, wie ein glatter, besonnter Stein. Die Augen waren groß und hell. Sie blickten Mendel Singer geradeaus an, er konnte sich nicht mehr von ihnen befreien. Sie machten ihn fröhlich und leicht, so glaubte Mendel. Ihre Klugheit sah er leuchten. Alt waren sie und jung zugleich. Alles wußten sie, die Welt spiegelte sich in ihnen. Es war Mendel Singer, als ob er beim Anblick dieser Augen selbst jünger würde, ein Jüngling wurde er, gar nichts wußte er. Alles mußte er von diesen Augen erfahren. Er hat sie schon gesehn, geträumt, als kleiner Junge. Vor Jahren, als er anfing, die Bibel zu lernen, waren es die Augen der Propheten. Männer, zu denen Gott selbst gesprochen hat, haben diese Augen. Alles wissen sie, nichts verraten sie, das Licht ist in ihnen.
Lange sah Mendel das Bild an. Dann sagte er: »Ich werde es nach Hause mitnehmen, wenn Sie erlauben, Mister Frisch.« Und er faltete das Papier zusammen und ging.
Er ging um die Ecke, entfaltete das Programm, sah es an und steckte es wieder ein. Eine lange Zeit schien ihm seit der Stunde vergangen zu sein, in der er den Eiscreme-Salon betreten hatte. Die paar tausend Jahre, die in den Augen Kossaks leuchteten, lagen dazwischen und die Jahre, vor denen Mendel noch so jung gewesen war, daß er sich das Angesicht von Propheten hatte vorstellen können. Er wollte umkehren, nach dem Konzertsaal fragen, in dem die Kapelle spielte, und hineingehen. Aber er schämte sich. Er ging in den Laden der Skowronneks und erzählte, daß ihn ein Verwandter seiner Frau in Amerika suche. Er habe Frisch die Erlaubnis gegeben, die Adresse mitzuteilen. »Morgen abend wirst du bei uns essen wie alle Jahre«, sagte Skowronnek. Es war der erste Osterabend. Mendel nickte. Er wollte lieber in seinem Hinterzimmer bleiben, er kannte die schiefen Blicke der Frau Skowronnek und die berechnenden Hände, mit denen sie Mendel die Suppe und den Fisch zuteilte. Es ist das letztemal, dachte er. Von heute in einem Jahr werde ich in Zuchnow sein: lebendig oder tot; lieber tot.
Als erster der Gäste kam er am nächsten Abend, aber als letzter setzte er sich an den Tisch. Frühzeitig kam er, um die Frau Skowronnek nicht zu kränken, spät nahm er seinen Platz ein, um zu zeigen, daß er sich für den Geringsten unter den Anwesenden hielt. Ringsum saßen sie schon: die Hausfrau, beide Töchter Skowronneks mit ihren Männern und Kindern, ein fremder Reisender in Musikalien und Mendel. Er saß am Ende des Tisches, auf den man ein gehobeltes Brett gelegt hatte, um ihn zu verlängern. Mendels Sorge galt nun nicht allein der Erhaltung des Friedens, sondern auch dem Gleichgewicht zwischen der Tischplatte und ihrer künstlichen Verlängerung. Mendel hielt mit einer Hand das Brettende fest, weil man einen Teller oder eine Terrine daraufstellen mußte. Sechs schneeweiße, dicke Kerzen brannten in sechs silbernen Leuchtern auf dem schneeweißen Tischtuch, dessen gestärkter Glanz die sechs Flammen zurückstrahlte. Wie weiße und silberne Wächter von gleichem Wuchs standen die Kerzen vor Skowronnek, dem Hausherrn, der im weißen Kittel auf einem weißen Kissen saß, angelehnt an ein anderes Kissen, ein sündenreiner König auf einem sündenreinen Thron. Wie lange war es her, daß Mendel in der gleichen Tracht, in gleicher Art den Tisch und das Fest regiert hatte? Heute saß er gebeugt und geschlagen, in seinem grün schillernden Rock am letzten Ende, der Geringste unter den Anwesenden, besorgt um die eigene Bescheidenheit und eine armselige Stütze der Feier. Die Osterbrote lagen verhüllt unter einer weißen Serviette, ein schneeiger Hügel neben dem saftigen Grün der Kräuter, dem dunklen Rot der Rüben und dem herben Gelb der Meerrettichwurzel. Die Bücher mit den Berichten von dem Auszug der Juden aus Ägypten lagen aufgeschlagen vor jedem Gast. Skowronnek begann, die Legende vorzusingen, und alle wiederholten seine Worte, erreichten ihn und sangen einträchtig im Chor diese behagliche, schmunzelnde Melodie, eine gesungene Aufzählung der einzelnen Wunder, die immer wieder zusammengerechnet wurden und immer wieder die gleichen Eigenschaften Gottes ergaben: die Größe, die Güte, die Barmherzigkeit, die Gnade für Israel und den Zorn gegen Pharao. Sogar der Reisende in Musikalien, der die Schrift nicht lesen konnte und die Gebräuche nicht verstand, konnte sich der Melodie nicht entziehen, die ihn mit jedem neuen Satz umwarb, einspann und umkoste, so daß er sie mitzusummen begann, ohne es zu wissen. Und selbst Mendel stimmte sie milde gegen den Himmel, der vor viertausend Jahren freigebig heitere Wunder gespendet hatte, und es war, als würde durch die Liebe Gottes zum ganzen Volk Mendel mit seinem eigenen kleinen Schicksal beinahe ausgesöhnt. Noch sang er nicht mit, Mendel Singer, aber sein Oberkörper schaukelte vor und zurück, gewiegt vom Gesang der andern. Er hörte die Enkelkinder Skowronneks mit hellen Stimmen singen und erinnerte sich der Stimmen seiner eigenen Kinder. Er sah noch den hilflosen Menuchim auf dem ungewohnten, erhöhten Stuhl am feierlichen Tisch. Der Vater allein hatte während des Singens von Zeit zu Zeit einen hurtigen Blick auf seinen jüngsten und ärmsten Sohn geworfen, das lauschende Licht in seinen törichten Augen gesehn und gefühlt, wie sich der Kleine vergeblich mühte, mitzuteilen, was in ihm klang, und zu singen, was er hörte. Es war der einzige Abend im Jahr, an dem Menuchim einen neuen Rock trug wie seine Brüder und den weißen Kragen des Hemdes mit den ziegelroten Ornamenten als festlichen Rand um sein welkes Doppelkinn. Wenn Mendel ihm den Wein vorhielt, trank er mit gierigem Zug den halben Becher, keuchte und prustete und verzog sein Gesicht zu einem mißlungenen Versuch zu lachen oder zu weinen: Wer konnte es wissen?
Daran dachte Mendel, während er sich im Gesang der andern wiegte. Er sah, daß sie schon weit voraus waren, überschlug ein paar Seiten und bereitete sich vor, aufzustehn, die Ecke von den Tellern zu entlasten, damit sich kein Unfall ereignete, wenn er loslassen sollte. Denn der Zeitpunkt näherte sich, an dem man den roten Becher mit Wein füllte und die Tür öffnete, um den Propheten Eliahu einzulassen. Schon wartete das dunkelrote Glas, die sechs Lichter spiegelten sich in seiner Wölbung. Frau Skowronnek hob den Kopf und sah Mendel an. Er stand auf, schlurfte zur Tür und öffnete sie. Skowronnek sang nun die Einladung an den Propheten. Mendel wartete, bis sie zu Ende war. Denn er wollte nicht den Weg zweimal machen. Dann schloß er die Tür, setzte sich wieder, stemmte die stützende Faust unter das Tischbrett, und der Gesang ging weiter.
Kaum eine Minute, nachdem Mendel sich gesetzt hatte, klopfte es. Alle hörten das Klopfen, aber alle dachten, es sei eine Täuschung. An diesem Abend saßen die Freunde zu Haus, leer waren die Gassen des Viertels. Um diese Stunde war kein Besuch möglich. Es war gewiß der Wind, der klopfte. »Mendel«, sagte Frau Skowronnek, »Ihr habt die Tür nicht richtig geschlossen.« Da klopfte es noch einmal, deutlich und länger. Alle hielten ein. Der Geruch der Kerzen, der Genuß des Weins, das gelbe, ungewohnte Licht und die alte Melodie hatten die Erwachsenen und die Kinder so nah an die Erwartung eines Wunders gebracht, daß ihr Atem für einen Augenblick aussetzte und daß sie ratlos und blaß einander ansahen, als wollten sie sich fragen, ob der Prophet nicht wirklich Einlaß verlange. Also blieb es still, und niemand wagte, sich zu rühren. Endlich regte sich Mendel. Noch einmal schob er die Teller in die Mitte. Noch einmal schlurfte er zur Tür und öffnete. Da stand ein großgewachsener Fremder im halbdunklen Flur, wünschte guten Abend und fragte, ob er eintreten dürfe. Skowronnek erhob sich mit einiger Mühe aus seinen Polstern. Er ging zur Tür, betrachtete den Fremden und sagte: »Please!« – wie er es in Amerika gelernt hatte. Der Fremde trat ein. Er trug einen dunklen Mantel, hochgeschlagen war sein Kragen, den Hut behielt er auf dem Kopf, offenbar aus Andacht vor der Feier, in die er geraten war, und weil alle anwesenden Männer mit bedeckten Häuptern dasaßen.
Es ist ein feiner Mann, dachte Skowronnek. Und er knöpfte, ohne ein Wort zu sagen, dem Fremden den Mantel auf. Der Mann verneigte sich und sagte: »Ich heiße Alexej Kossak. Ich bitte um Entschuldigung. Ich bitte sehr um Entschuldigung. Man hat mir gesagt, daß sich ein gewisser Mendel Singer aus Zuchnow bei Ihnen aufhält. Ich möchte ihn sprechen.« »Das bin ich«, sagte Mendel, trat nahe an den Gast und hob den Kopf. Seine Stirn reichte bis zur Schulter des Fremden. »Herr Kossak«, fuhr Mendel fort, »ich habe schon von Ihnen gehört. Ein Verwandter sind Sie.«
»Legen Sie ab, und setzen Sie sich mit uns an den Tisch«, sagte Skowronnek.
Frau Skowronnek erhob sich. Alle rückten zusammen. Man machte dem Fremden Platz. Skowronneks Schwiegersohn stellte noch einen Stuhl an den Tisch. Der Fremde hängte den Mantel an einen Nagel und setzte sich Mendel gegenüber. Man stellte einen Becher Wein vor den Gast. »Lassen Sie sich nicht aufhalten«, bat Kossak, »beten Sie weiter.« Sie fuhren fort. Still und schmal saß der Gast auf seinem Platz. Mendel betrachtete ihn unaufhörlich. Unermüdlich sah Alexej Kossak auf Mendel Singer. Also saßen sie einander gegenüber, umweht von dem Gesang der andern, aber von ihnen getrennt. –
Es war beiden angenehm, daß sie der andern wegen noch nicht miteinander sprechen konnten. Mendel suchte die Augen des Fremden. Schlug sie Kossak nieder, so war dem Alten, als müßte er den Gast bitten, sie offenzuhalten. In diesem Angesicht war Mendel Singer alles fremd, nur die Augen hinter den randlosen Gläsern waren ihm nahe. Zu ihnen schweifte immer wieder sein Blick wie in einer Heimkehr zu vertrauten, hinter Fenstern verborgenen Lichtern, aus der fremden Landschaft des schmalen, blassen und jugendlichen Gesichts. Schmal, verschlossen und glatt waren die Lippen. Wenn ich sein Vater wäre, dachte Mendel, würde ich sagen: Lächle, Alexej. Leise zog er aus der Tasche das Plakat, entfaltete es unter dem Tisch, um die andern nicht zu stören, und reichte es dem Fremden hinüber. Der nahm es und lächelte, schmal, zart und nur eine Sekunde lang.
Man unterbrach den Gesang, die Mahlzeit begann, einen Teller heißer Suppe schob Frau Skowronnek vor den Gast, und Herr Skowronnek bat ihn mitzuessen. Der Reisende in Musikalien begann ein Gespräch in Englisch mit Kossak, von dem Mendel gar nichts verstand. Dann erklärte der Reisende allen, daß Kossak ein junges Genie sei, nur noch eine Woche in New York bleibe und sich erlauben werde, den Anwesenden Freikarten zu dem Konzert seines Orchesters zu schicken. Andere Gespräche konnten nicht in Gang kommen. Man aß in wenig festlicher Eile dem Ende der Feier zu, und jeden zweiten Bissen begleitete ein höfliches Wort des Fremden oder seiner Wirte. Mendel sprach nicht. Frau Skowronnek zu Gefallen aß er noch schneller als die andern, um keinen Anlaß zu Verzögerungen zu geben. Und alle begrüßten das Ende des Mahls und fuhren eifrig fort im Absingen der Wunder. Skowronnek schlug einen immer schnelleren Rhythmus an, die Frauen konnten ihm nicht folgen. Als er aber zu den Psalmen kam, veränderte er die Stimme, das Tempo und die Melodie, und so betörend klangen die Worte, die er nunmehr sang, daß sogar Mendel am Ende jeder Strophe »Halleluja, Halleluja« wiederholte. Er schüttelte den Kopf, daß sein tiefer Bart über die aufgeschlagenen Blätter des Buches strich und ein zartes Rascheln hörbar wurde, als wollte sich der Bart Mendels an dem Gebet beteiligen, da der Mund Mendels so sparsam feierte.
Nun waren sie bald fertig. Die Kerzen waren bis zur Hälfte abgebrannt, der Tisch war nicht mehr glatt und feierlich, Flecken und Speisereste sah man auf dem weißen Tischtuch, und Skowronneks Enkel gähnten schon. Man hielt am Ende des Buches. Skowronnek sagte mit erhobener Stimme den überlieferten Wunsch: »Im nächsten Jahre in Jerusalem!« Alle wiederholten es, klappten die Bücher zu und wandten sich zum Gast. An Mendel kam jetzt die Reihe, den Besucher zu fragen. Der Alte räusperte sich, lächelte und sagte: »Nun, Herr Alexej, was wollen Sie mir erzählen?«
Mit halblauter Stimme begann der Fremde: »Ihr hättet längst von mir Nachricht gehabt, Herr Mendel Singer, wenn ich Eure Adresse gewußt hätte. Aber nach dem Kriege wußte sie niemand mehr. Billes' Schwiegersohn, der Musikant, ist an Typhus gestorben, Euer Haus in Zuchnow stand leer, denn die Tochter Billes' war zu ihren Eltern, die damals schon in Dubno wohnten, geflohen, und in Zuchnow, in Eurem Haus, waren österreichische Soldaten. Nun, nach dem Kriege schrieb ich an meinen Manager hierher, aber der Mann war nicht geschickt genug, er schrieb mir, daß Ihr nicht zu finden seid.«
»Schade um Billes' Schwiegersohn!« sagte Mendel, und er dachte dabei an Menuchim.
»Und nun«, fuhr Kossak fort, »habe ich eine angenehme Nachricht.« Mendel hob den Kopf. »Ich habe Euer Haus gekauft, vom alten Billes, vor Zeugen und auf Grund einer amtlichen Einschätzung. Und das Geld will ich Euch auszahlen.«
»Wieviel macht es?« fragte Mendel.
»Dreihundert Dollar!« sagte Kossak.
Mendel griff sich an den Bart und kämmte ihn mit gespreizten, zitternden Fingern. »Ich danke Ihnen!« sagte er.
»Und was Euren Sohn Jonas betrifft«, sprach Kossak weiter, »so ist er seit dem Jahre 1915 verschollen. Niemand konnte etwas über ihn sagen. Weder in Petersburg noch in Berlin, noch in Wien, noch im Schweizer Roten Kreuz. Ich habe überall angefragt und anfragen lassen. Aber vor zwei Monaten traf ich einen jungen Mann aus Moskau. Er kam eben als Flüchtling über die polnische Grenze, denn, wie Ihr wißt, gehört Zuchnow jetzt zu Polen. Und dieser junge Mann war Jonas' Regimentskamerad gewesen. Er sagte mir, daß er einmal durch Zufall gehört hat, daß Jonas lebt und in der weißgardistischen Armee kämpft. Nun ist es wohl ganz schwer geworden, etwas über ihn zu erfahren. Aber Ihr dürft die Hoffnung immer noch nicht aufgeben.«
Mendel wollte eben den Mund auftun, um nach Menuchim zu fragen. Aber sein Freund Skowronnek, der Mendels Frage vorausahnte, eine traurige Antwort für sicher hielt und bestrebt war, betrübliche Gespräche an diesem Abend zu vermeiden oder sie wenigstens, solang es ging, zu verschieben, kam dem Alten zuvor und sagte: »Nun, Herr Kossak, da wir das Vergnügen haben, einen so großen Mann wie Sie bei uns zu sehen, machen Sie uns vielleicht noch die Freude, etwas aus Ihrem Leben zu erzählen. Wie kommt es, daß Sie den Krieg, die Revolution und alle Gefahren überstanden haben?«
Der Fremde hatte offenbar diese Frage nicht erwartet, denn er antwortete nicht sofort. Er schlug die Augen nieder wie einer, der sich schämt oder nachdenken muß, und antwortete erst nach einer längeren Weile: »Ich habe nichts Besonderes erlebt. Als Kind war ich lange krank, mein Vater war ein armer Lehrer, wie Herr Mendel Singer, mit dessen Frau ich ja verwandt bin. (Es ist jetzt nicht an der Zeit, die Verwandtschaft näher zu erläutern.) Kurz, meiner Krankheit wegen und weil wir arm waren, kam ich in eine große Stadt, in ein öffentliches medizinisches Institut. Man behandelte mich gut, ein Arzt hatte mich besonders gern, ich wurde gesund, und der Doktor behielt mich in seinem Haus. Dort«, hier senkte Kossak die Stimme und den Kopf, und es war, als spräche er zum Tisch, so daß alle den Atem anhielten, um ihn genau zu hören, »dort setzte ich mich eines Tages an das Klavier und spielte aus dem Kopf eigene Lieder. Und die Frau des Doktors schrieb die Noten zu meinen Liedern. Der Krieg war mein Glück. Denn ich kam zur Militärmusik und wurde Dirigent einer Kapelle, blieb die ganze Zeit in Petersburg und spielte ein paarmal beim Zaren. Meine Kapelle ging mit mir nach der Revolution ins Ausland. Ein paar fielen ab, ein paar Neue kamen dazu, in London machten wir einen Kontrakt mit einer Konzertagentur, und so ist mein Orchester entstanden.«
Alle lauschten immer noch, obwohl der Gast längst nichts mehr erzählte. Aber seine Worte schwebten noch im Zimmer, und an den und jenen schlugen sie erst jetzt. Kossak sprach den Jargon der Juden mangelhaft, er mischte halbe russische Sätze in seine Erzählung, und die Skowronneks und Mendel begriffen sie nicht einzeln, sondern erst im ganzen Zusammenhang. Die Schwiegersöhne Skowronneks, die als kleine Kinder nach Amerika gekommen waren, verstanden nur die Hälfte und ließen sich von ihren Frauen die Erzählung des Fremden ins Englische übersetzen. Der Reisende in Musikalien wiederholte daraufhin die Biographie Kossaks, um sie sich einzuprägen. Die Kerzen brannten nur noch als kurze Stümpfe in den Leuchtern, es wurde dunkel im Zimmer, die Enkel schliefen mit schiefen Köpfchen auf den Sesseln, aber niemand machte Anstalten zu gehn, ja, Frau Skowronnek holte sogar zwei ganze Kerzen, klebte sie auf die alten Stümpfe und eröffnete so den Abend von neuem. Ihr alter Respekt vor Mendel Singer erwachte. Dieser Gast, der ein großer Mann war, beim Zaren gespielt hatte, einen merkwürdigen Ring am kleinen Finger trug und eine Perle in der Krawatte, mit einem Anzug aus gutem europäischem Stoff bekleidet war – sie verstand sich darauf, denn ihr Vater war Tuchhändler gewesen –, dieser Gast konnte nicht mit Mendel in die Hinterstube des Ladens gehn. Ja, sie sagte zur Überraschung ihres Mannes: »Mister Singer! Es ist gut, daß Sie heute zu uns gekommen sind. Sonst«, und sie wandte sich an Kossak, »ist er so bescheiden und zartfühlend, daß er alle meine Einladungen ausschlägt. Er ist dennoch wie das älteste Kind in unserem Haus.« Skowronnek fiel ihr ins Wort: »Mach uns noch einen Tee!« Und während sie aufstand, sagte er zu Kossak: »Wir alle kennen Ihre Lieder schon lange, ›Menuchims Lied‹ ist doch von Ihnen?« »Ja«, sagte Kossak. »Es ist von mir.« Es schien, daß ihm diese Frage nicht angenehm war. Er sah schnell auf Mendel Singer und fragte: »Ihre Frau ist tot?« Mendel nickte. »Und soviel ich weiß, haben Sie doch eine Tochter?« Statt Mendels erwiderte nun Skowronnek: »Sie ist leider durch den Tod der Mutter und des Bruders Sam verwirrt geworden und in der Anstalt.« Der Fremde ließ wieder den Kopf sinken. Mendel erhob sich und ging hinaus. Er wollte nach Menuchim fragen, aber er hatte nicht den Mut dazu. Er kannte ja die Antwort schon im voraus. Er selbst versetzte sich an die Stelle des Gastes und antwortete sich: Menuchim ist schon lange tot. Er ist jämmerlich umgekommen. Er prägte sich diesen Satz ein, schmeckte im voraus seine ganze Bitterkeit, um dann, wenn er wirklich erklingen sollte, ruhig bleiben zu können. Und da er noch eine schüchterne Hoffnung tief in seinem Herzen keimen fühlte, versuchte er, sie zu töten. Wenn Menuchim am Leben wäre, sagte er sich, so hätte es mir der Fremde sofort am Anfang erzählt. Nein! Menuchim ist schon lange tot. Jetzt werde ich ihn fragen, damit diese dumme Hoffnung ein Ende nehme! Aber er fragte noch immer nicht. Er setzte sich eine Pause, und die geräuschvolle Tätigkeit der Frau Skowronnek, die in der Küche mit dem Teekocher hantierte, veranlaßte ihn, das Zimmer zu verlassen, um der Hausfrau zu helfen, wie er es gewohnt war.
Heute aber schickte sie ihn ins Zimmer zurück. Er besaß dreihundert Dollar und einen vornehmen Verwandten. »Es schickt sich nicht für Euch, Mister Mendel«, sagte sie. »Laßt Euren Gast nicht allein!« Sie war übrigens schon fertig. Mit den vollen Teegläsern auf dem breiten Tablett betrat sie das Zimmer, gefolgt von Mendel. Der Tee dampfte. Mendel war endlich entschlossen, nach Menuchim zu fragen. Auch Skowronnek fühlte, daß die Frage nicht mehr aufzuschieben war. Er fragte lieber selbst, Mendel, sein Freund, sollte zu dem Weh, das ihm die Antwort bereiten würde, nicht auch noch die Qual zu fragen auf sich nehmen müssen.
»Mein Freund Mendel hatte noch einen armen, kranken Sohn namens Menuchim. Was ist mit ihm geschehn?«
Wieder antwortete der Fremde nicht. Er stocherte mit dem Löffel auf dem Grunde des Glases herum, zerrieb den Zucker, und als wollte er aus dem Tee die Antwort ablesen, sah er auf das hellbraune Glas, und den Löffel immer noch zwischen Daumen und Zeigefinger, die schmale, braune Hand sachte bewegend, sagte er endlich, unerwartet laut, wie mit einem plötzlichen Entschluß:
»Menuchim lebt!«
Es klingt nicht wie eine Antwort, es klingt wie ein Ruf. Unmittelbar darauf bricht ein Lachen aus Mendel Singers Brust. Alle erschrecken und sehen starr auf den Alten. Mendel sitzt zurückgelehnt auf dem Sessel, schüttelt sich und lacht. Sein Rücken ist so gebeugt, daß er die Lehne nicht ganz berühren kann. Zwischen der Lehne und Mendels altem Nacken (weiße Härchen kräuseln sich über dem schäbigen Kragen des Rocks) ist ein weiter Abstand. Mendels langer Bart bewegt sich heftig, flattert beinahe wie eine weiße Fahne und scheint ebenfalls zu lachen. Aus Mendels Brust dröhnt und kichert es abwechselnd. Alle erschrecken, Skowronnek erhebt sich etwas schwerfällig aus den schwellenden Kissen und behindert durch den langen, weißen Kittel, geht um den ganzen Tisch, tritt zu Mendel, beugt sich zu ihm und nimmt mit beiden Händen Mendels beide Hände. Da verwandelt sich Mendels Lachen in Weinen, er schluchzt, und die Tränen fließen aus den alten, halb verhüllten Augen in den wild wuchernden Bart, verlieren sich im wüsten Gestrüpp, andere bleiben lange und rund und voll wie gläserne Tropfen in den Haaren hängen.
Endlich ist Mendel ruhig. Er sieht Kossak gerade an und wiederholt: »Menuchim lebt?«
Der Fremde sieht Mendel ruhig an und sagt: »Menuchim lebt, er ist gesund, es geht ihm sogar gut!«
Mendel faltet die Hände, er hebt sie, so hoch er kann, dem Plafond entgegen. Er möchte aufstehn. Er hat das Gefühl, daß er jetzt aufstehn müßte, gerade werden, wachsen, groß und größer werden, über das Haus hinauf und mit den Händen den Himmel berühren. Er kann die gefalteten Hände nicht mehr lösen. Er blickt zu Skowronnek, und der alte Freund weiß, was er jetzt zu fragen hat, an Mendels Statt.
»Wo ist Menuchim jetzt?« fragt Skowronnek.
Und langsam erwidert Alexej Kossak:
»Ich selbst bin Menuchim.«
Alle erheben sich plötzlich von den Sitzen, die Kinder, die schon geschlafen haben, erwachen und brechen in Weinen aus. Mendel selbst steht so heftig auf, daß hinter ihm sein Stuhl mit lautem Krach hinfällt. Er geht, er eilt, er hastet, er hüpft zu Kossak, dem einzigen, der sitzen geblieben ist. Es ist ein großer Aufruhr im Zimmer. Die Kerzen beginnen zu flackern, als würden sie plötzlich von einem Wind angeweht. An den Wänden flattern die Schatten stehender Menschen. Mendel sinkt vor dem sitzenden Menuchim nieder, er sucht mit unruhigem Mund und wehendem Bart die Hände seines Sohnes, seine Lippen küssen, wo sie hintreffen, die Knie, die Schenkel, die Weste Menuchims. Mendel steht wieder auf, hebt die Hände und beginnt, als wäre er plötzlich blind geworden, mit heftigen Fingern das Gesicht seines Sohnes abzutasten. Die stumpfen, alten Finger huschen über die Haare Menuchims, die glatte, breite Stirn, die kalten Gläser der Brille, die schmalen, geschlossenen Lippen. Menuchim sitzt ruhig und rührt sich nicht. Alle Anwesenden umringen Menuchim und Mendel, die Kinder weinen, die Kerzen flackern, die Schatten der Wand ballen sich zu schweren Wolken zusammen. Niemand spricht.
Endlich erklingt Menuchims Stimme: »Steh auf, Vater!« sagt er, greift Mendel unter die Arme, hebt ihn hoch und setzt ihn auf den Schoß wie ein Kind. Die andern entfernen sich wieder. Jetzt sitzt Mendel auf dem Schoß seines Sohnes, lächelt in die Runde, jedem ins Angesicht. Er flüstert: »Der Schmerz wird ihn weise machen, die Häßlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark.« Deborah hat es gesagt. Er hört noch ihre Stimme.
Skowronnek verläßt den Tisch, legt seinen Kittel ab, zieht seinen Mantel an und sagt: »Gleich komme ich wieder!« Wohin geht Skowronnek? Es ist noch nicht spät, kaum elf Uhr, die Freunde sitzen noch an den Tischen. Er geht von Haus zu Haus, zu Groschel, Menkes und Rottenberg. Alle sind noch an den Tischen zu finden. »Ein Wunder ist geschehn! Kommt zu mir und seht es an!« Er führt alle drei zu Mendel. Unterwegs begegnen sie der Tochter Lemmels, die ihre Gäste begleitet hat. Sie erzählen ihr von Mendel und Menuchim. Der junge Frisch, der mit seiner Frau noch ein bißchen spazierengeht, hört ebenfalls die Neuigkeit. Also erfahren einige, was sich ereignet hat. Unten vor dem Hause Skowronneks steht als Beweis das Automobil, in dem Menuchim gekommen ist. Ein paar Leute öffnen die Fenster und sehen es. Menkes, Groschel, Skowronnek und Rottenberg treten ins Haus. Mendel geht ihnen entgegen und drückt ihnen stumm die Hände.
Menkes, der Bedächtigste von allen, nahm das Wort. »Mendel«, sagte er, »wir sind gekommen, dich in deinem Glück zu sehn, wie wir dich im Unglück gesehn haben. Erinnerst du dich, wie du geschlagen warst? Wir trösteten dich, aber wir wußten, daß es umsonst war. Nun erlebst du ein Wunder am lebendigen Leibe. Wie wir damals mit dir traurig waren, so sind wir heute mit dir fröhlich. Groß sind die Wunder, die der Ewige vollbringt, heute noch wie vor einigen tausend Jahren. Gelobt sei Sein Name!« Alle standen. Die Töchter Skowronneks, die Kinder, die Schwiegersöhne und der Reisende in Musikalien waren schon in Überkleidern und nahmen Abschied. Mendels Freunde setzten sich nicht, denn sie waren nur zu einem kurzen Glückwunsch gekommen. Kleiner als sie alle, mit gekrümmtem Rücken, im grünlich schillernden Rock stand Mendel in ihrer Mitte, wie ein unscheinbarer, verkleideter König. Er mußte sich recken, um ihnen in die Gesichter zu sehn. »Ich danke euch«, sagte er. »Ohne eure Hilfe hätte ich diese Stunde nicht erlebt. Seht euch meinen Sohn an!« Er zeigte mit der Hand auf ihn, als könnte irgend jemand von den Freunden nicht gründlich genug Menuchim betrachten. Ihre Augen befühlten den Stoff des Anzugs, die seidene Krawatte, die Perle, die schmalen Hände und den Ring. Dann sagten sie: »Ein edler junger Mann! Man sieht, daß er ein Besonderer ist!«
»Ich habe kein Haus«, sagte Mendel zu seinem Sohn. »Du kommst zu deinem Vater, und ich weiß nicht, wo dich schlafen zu legen.«
»Ich möchte dich mitnehmen, Vater«, erwiderte der Sohn. »Ich weiß nicht, ob du fahren darfst, weil ja Feiertag ist.«
»Er darf fahren«, sagten alle wie aus einem Munde.
»Ich glaube, daß ich mit dir fahren darf«, meinte Mendel. »Schwere Sünden hab' ich begangen, der Herr hat die Augen zugedrückt. Einen Isprawnik hab' ich Ihn genannt. Er hat sich die Ohren zugehalten. Er ist so groß, daß unsere Schlechtigkeit ganz klein wird. Ich darf mit dir fahren.«
Alle begleiteten Mendel zum Wagen. An diesem und jenem Fenster standen Nachbarn und Nachbarinnen und sahen hinunter. Mendel holte seine Schlüssel, sperrte noch einmal den Laden auf, ging ins Hinterzimmer und nahm das rotsamtene Säckchen vom Nagel. Er blies darauf, um es vom Staub zu befreien, ließ den Rolladen herunter, sperrte zu und gab Skowronnek die Schlüssel. Mit dem Sack im Arm stieg er ins Auto. Der Motor ratterte. Die Scheinwerfer leuchteten auf. Aus dem und jenem Fenster riefen Stimmen: »Auf Wiedersehen, Mendel!« Mendel Singer ergriff Menkes am Ärmel und sagte: »Morgen, beim Gebet, wirst du verkünden lassen, daß ich dreihundert Dollar für Arme spende. Lebt wohl!«
Und er fuhr an der Seite seines Sohnes in den vierundvierzigsten Broadway, ins Astor Hotel.