Joseph Roth
Hiob
Joseph Roth

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VII

Nach Dubno fährt man mit Sameschkins Fuhre; nach Moskau fährt man mit der Eisenbahn; nach Amerika fährt man nicht nur auf einem Schiff, sondern auch mit Dokumenten. Um diese zu bekommen, muß man nach Dubno.

Also begibt sich Deborah zu Sameschkin. Sameschkin sitzt nicht mehr auf der Ofenbank, er ist überhaupt nicht zu Haus, es ist Donnerstag und Schweinemarkt, Sameschkin kann erst in einer Stunde heimkehren.

Deborah geht auf und ab, auf und ab vor Sameschkins Hütte, sie denkt nur an Amerika.

Ein Dollar ist mehr als zwei Rubel, ein Rubel hat hundert Kopeken, zwei Rubel enthalten zweihundert Kopeken, wieviel, um Gottes willen, enthält ein Dollar Kopeken? Wieviel Dollar ferner wird Schemarjah schicken? Amerika ist ein gesegnetes Land.

Mirjam geht mit einem Kosaken, in Rußland kann sie es wohl, in Amerika gibt es keine Kosaken. Rußland ist ein trauriges Land, Amerika ist ein freies Land, ein fröhliches Land. Mendel wird kein Lehrer mehr sein, der Vater eines reichen Sohnes wird er sein.

Es dauert nicht eine Stunde, es dauert nicht zwei Stunden, erst nach drei Stunden hört Deborah Sameschkins genagelte Stiefel. Es ist Abend, aber immer noch heiß. Die schräge Sonne ist schon gelb geworden, aber weichen will sie nicht, sehr langsam geht sie heute unter. Deborah schwitzt vor Hitze und Aufregung und hundert ungewohnten Gedanken.

Nun, da Sameschkin herankommt, wird ihr noch mehr heiß. Er trägt eine schwere Bärenmütze, zottelig und an einigen Stellen räudig, und einen kurzen Pelz über schmutzigen Leinenhosen, die in den schweren Stiefeln stecken. Dennoch schwitzt er nicht.

In dem Augenblick, in dem ihn Deborah sieht, riecht sie ihn auch schon, denn er stinkt nach Branntwein. Einen schweren Stand wird sie mit ihm haben. Es ist schon keine Kleinigkeit, den nüchternen Sameschkin herumzukriegen.

Am Montag ist Schweinemarkt in Dubno. Es ist nicht von Vorteil, daß Sameschkin bereits den Schweinemarkt zu Hause absolviert hat, er dürfte keine Veranlassung mehr haben, nach Dubno zu fahren, und die Fuhre wird Geld kosten.

Deborah tritt Sameschkin mitten in den Weg. Er taumelt, die schweren Stiefel halten ihn aufrecht. Ein Glück, daß er nicht barfuß ist! denkt Deborah, nicht ohne Verachtung.

Sameschkin erkennt die Frau nicht, die ihm den Weg verstellt. »Weg mit den Weibern!« ruft er und macht eine Bewegung mit der Hand, halb ein Griff und halb ein Schlagen.

»Ich bin es!« sagt Deborah tapfer. »Montag fahren wir nach Dubno!«

»Gott segne dich!« ruft Sameschkin freundlich. Er bleibt stehn und stützt sich mit dem Ellenbogen auf Deborahs Schulter. Sie hat Angst, sich zu rühren, damit Sameschkin nicht hinfalle.

Sameschkin wiegt gute siebzig Kilo, sein ganzes Gewicht liegt jetzt im Ellenbogen, und dieser Ellenbogen liegt auf Deborahs Schulter.

Zum erstenmal ist ihr ein fremder Mann so nahe. Sie fürchtet sich, aber sie denkt zugleich auch, daß sie schon alt ist, sie denkt auch an Mirjams Kosaken und wie lange sie Mendel nicht mehr berührt hat.

»Ja, mein Süßes«, sagt Sameschkin, »wir fahren Montag nach Dubno und unterwegs schlafen wir miteinander.«

»Pfui, du Alter«, sagt Deborah, »ich werde es deiner Frau sagen, vielleicht bist du besoffen?«

»Besoffen ist er nicht«, erwiderte Sameschkin, »er hat nur gesoffen. Was willst du überhaupt in Dubno, wenn du nicht mit Sameschkin schläfst?«

»Dokumente machen«, sagt Deborah, »wir fahren nach Amerika.«

»Die Fuhre kostet fünfzig Kopeken, wenn du nicht schläfst, und dreißig, wenn du mit ihm schläfst. Ein Kindchen wird er dir machen, bekommen wirst du es in Amerika, ein Andenken an Sameschkin.«

Deborah erschauert, mitten in der Hitze.

Dennoch sagt sie, aber erst nach einer Minute: »Ich schlafe nicht mit dir und zahle fünfunddreißig Kopeken.«

Sameschkin steht plötzlich frei, er hat den Ellenbogen von Deborahs Schulter weggezogen, es scheint, daß er nüchtern geworden ist.

»Fünfunddreißig Kopeken«, sagt er mit fester Stimme.

»Montag um fünf Uhr früh.«

»Montag um fünf Uhr früh.«

Sameschkin kehrt in seinen Hof ein, und Deborah geht langsam nach Haus.

Die Sonne ist untergegangen. Der Wind kommt vom Westen, am Horizont schichten sich violette Wolken, morgen wird es regnen. Deborah denkt: Morgen wird es regnen, und fühlt einen rheumatischen Schmerz im Knie, sie begrüßt ihn, den alten, treuen Feind. Der Mensch wird alt! denkt sie. Die Frauen werden schneller alt als die Männer, Sameschkin ist genauso alt wie sie und noch älter. Mirjam ist jung, sie geht mit einem Kosaken.

Vor dem Wort »Kosaken«, das sie laut gesagt hatte, war Deborah erschrocken. Es war, als ob erst der Klang ihr die Furchtbarkeit des Tatbestands bewußtgemacht hätte.

Zu Hause sah sie ihre Tochter Mirjam und ihren Mann Mendel. Sie saßen am Tisch, der Vater und die Tochter, und sie schwiegen so beharrlich, daß Deborah sofort beim Eintritt wußte, daß es bereits ein altes Schweigen war, ein heimisches, festgesiedeltes Schweigen.

»Ich habe mit Sameschkin gesprochen«, begann Deborah. »Montag um fünf Uhr früh fahre ich nach Dubno um die Dokumente. Fünfunddreißig Kopeken will er.« Und da sie der Teufel der Eitelkeit ritt, fügte sie hinzu: »So billig fährt er nur mit mir!«

»Du kannst überhaupt nicht allein fahren«, sagte, Müdigkeit in der Stimme und Bangnis im Herzen, Mendel Singer. »Ich habe mit vielen Juden gesprochen, die sich auskennen. Sie sagen, ich muß selber beim Urjadnik sein.«

»Du beim Urjadnik?«

Es war in der Tat nicht einfach, sich Mendel Singer in einem Amt vorzustellen. Nie in seinem Leben hatte er mit einem Urjadnik gesprochen. Nie hatte er einem Polizisten begegnen können, ohne zu zittern. Den Uniformierten, den Pferden und den Hunden ging er sorgfältig aus dem Weg. Mendel sollte mit einem Urjadnik sprechen?

»Kümmere dich nicht, Mendel«, sagte Deborah, »um die Dinge, die du nur verderben kannst. Ich allein werde alles richten.«

»Alle Juden«, wendete Mendel ein, »haben mir gesagt, daß ich persönlich erscheinen muß.«

»Dann fahren wir Montag zusammen!«

»Und wo wird Menuchim sein?«

»Mirjam bleibt bei ihm!«

Mendel sah seine Frau an. Er versuchte, mit seinem Blick ihre Augen zu treffen, die sie unter den Lidern furchtsam verbarg. Mirjam, die von einer Ecke aus den Tisch betrachtete, konnte den Blick ihres Vaters sehn, ihr Herz ging schneller. Montag war sie verabredet. Montag war sie verabredet. Die ganze heiße Zeit des Spätsommers war sie verabredet. Ihre Liebe blühte spät, zwischen den hohen Ähren, Mirjam hatte Angst vor der Ernte. Sie hörte schon manchmal, wie die Bauern sich vorbereiteten, wie sie die Sicheln wetzten an den blauen Schleifsteinen. Wo sollte sie hin, wenn die Felder kahl wurden? Sie mußte nach Amerika. Eine vage Vorstellung von der Freiheit der Liebe in Amerika, zwischen den hohen Häusern, die noch besser verbargen als die Kornähren im Feld, tröstete sie über das Nahen der Ernte. Schon kam sie. Mirjam hatte keine Zeit zu verlieren. Sie liebte Stepan. Er würde zurückbleiben. Sie liebte alle Männer, die Stürme brachen aus ihnen, ihre gewaltigen Hände zündeten dennoch sachte die Flammen im Herzen an. Stepan hießen die Männer, Iwan und Wsewolod. In Amerika gab es noch viel mehr Männer.

»Ich bleibe nicht allein zu Hause«, sagte Mirjam, »ich habe Angst!«

»Man muß ihr«, ließ sich Mendel vernehmen, »einen Kosaken ins Haus stellen. Damit er sie bewacht.«

Mirjam wurde rot. Sie glaubte, daß der Vater ihre Röte sah, obwohl sie in der Ecke, im Schatten stand. Ihre Röte mußte doch durch das Dunkel leuchten, wie eine rote Lampe war Mirjams Angesicht entzündet. Sie bedeckte es mit den Händen und brach in Tränen aus.

»Geh hinaus!« sagte Deborah, »es ist spät, mach die Fensterläden zu!« Sie tastete sich hinaus, vorsichtig, die Hände immer noch vor den Augen. Draußen blieb sie einen Moment stehen. Alle Sterne des Himmels standen da, nah und lebendig, als hätten sie Mirjam vor dem Haus erwartet. Ihre klare, goldene Pracht enthielt die Pracht der großen, freien Welt, kleine Spiegelchen waren sie, in denen sich der Glanz Amerikas spiegelte.

Sie trat ans Fenster, sah hinein, versuchte aus den Mienen der Eltern zu erkennen, was sie sprechen mochten. Sie erkannte nichts. Sie löste die eisernen Haken von dem Holz der aufgeklappten Läden und schloß die beiden Flügel wie einen Schrank. Sie dachte an einen Sarg. Sie begrub die Eltern in dem kleinen Häuschen. Sie fühlte keine Wehmut. Mendel und Deborah Singer waren begraben. Die Welt war weit und lebendig. Stepan, Iwan und Wsewolod lebten. Amerika lebte, jenseits des großen Wassers, mit all seinen hohen Häusern und mit Millionen Männern.

Als sie wieder ins Zimmer trat, sagte ihr Vater, Mendel Singer: »Sogar die Läden kann sie nicht schließen, eine halbe Stunde braucht sie dazu!«

Er ächzte, erhob sich und trat an die Wand, an der die kleine Petroleumlampe hing, dunkelblauer Behälter, rußiger Zylinder, durch einen rostigen Draht verbunden mit einem gesprungenen runden Spiegel, der die Aufgabe hatte, das spärliche Licht kostenlos zu verstärken. Die obere Öffnung des Zylinders überragte Mendel Singers Kopf. Vergeblich versuchte er, die Lampe auszupusten. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, er blies, aber der Docht flackerte nur stärker auf.

Indessen entzündete Deborah ein kleines, gelbliches Wachslicht und stellte es auf den Ziegelherd. Mendel Singer stieg krächzend auf einen Sessel und blies endlich die Lampe aus. Mirjam legte sich in die Ecke, neben Menuchim. Erst wenn es finster war, wollte sie sich ausziehen. Sie wartete atemlos, mit geschlossenen Lidern, bis der Vater sein Nachtgebet zu Ende gemurmelt hatte. Durch ein rundes Astloch im Fensterladen sah sie das blaue und goldene Schimmern der Nacht. Sie entkleidete sich und befühlte ihre Brüste. Sie taten ihr weh. Ihre Haut hatte ein eigenes Gedächtnis und erinnerte sich an jeder Stelle der großen, harten und heißen Hände der Männer. Ihr Geruch hatte ein eigenes Gedächtnis und behielt den Duft von Männerschweiß, Branntwein und Juchten unablässig, mit quälender Treue. Sie hörte das Schnarchen der Eltern und das Röcheln Menuchims. Da erhob sich Mirjam, im Hemd, barfuß, mit den schweren Zöpfen, die sie nach vorne legte und deren Enden bis zu den Schenkeln reichten, schob den Riegel zurück und trat hinaus in die fremde Nacht. Sie atmete tief. Es schien ihr, daß sie die ganze Nacht einatmete, alle goldenen Sterne verschlang sie mit dem Atem, immer noch mehr brannten am Himmel. Frösche quakten und Grillen zirpten, den nordöstlichen Rand des Himmels säumte ein breiter, silberner Streifen, in dem schon der Morgen enthalten zu sein schien. Mirjam dachte an das Kornfeld, ihr Hochzeitslager. Sie ging rund um das Haus. Da schimmerte von ferne her die große, weiße Mauer der Kaserne. Ein paar kärgliche Lichter schickte sie Mirjam entgegen. In einem großen Saal schliefen Stepan, Iwan und Wsewolod und viele andere Männer.

Morgen war Freitag. Alles mußte man für den Samstag vorbereiten, die Fleischkugeln, den Hecht und die Hühnerbrühe. Das Backen begann schon um sechs Uhr morgens. Als der breite, silberne Streifen rötlich wurde, schlich sich Mirjam wieder in die Stube. Sie schlief nicht mehr ein. Durch das Astloch im Fensterladen sah sie die ersten Flammen der Sonne. Schon regten sich Vater und Mutter im Schlaf. Der Morgen war da.

Der Sabbat verging, den Sonntag verbrachte Mirjam im Kornfeld, mit Stepan. Sie gingen schließlich weit hinaus, ins nächste Dorf, Mirjam trank Schnaps. Den ganzen Tag suchte man sie zu Hause. Mochte man sie suchen! Ihr Leben war kostbar, der Sommer war kurz, bald begann die Ernte. Im Walde schlief sie noch einmal mit Stepan. Morgen, Montag, fuhr der Vater nach Dubno die Papiere besorgen.

Um fünf Uhr früh am Montag erhob sich Mendel Singer. Er trank Tee, betete, legte dann schnell die Gebetsriemen ab und ging zu Sameschkin. »Guten Morgen!« rief er von weitem. Es war Mendel Singer, als begänne schon hier, vor dem Einsteigen in die Fuhre Sameschkins, die Amtshandlung und als müßte er Sameschkin begrüßen wie einen Urjadnik.

»Ich fahre lieber mit deiner Frau!« sagte Sameschkin. »Sie ist noch ansehnlich für ihre Jahre und hat einen anständigen Busen.«

»Fahren wir«, sagte Mendel.

Die Pferde wieherten und schlugen mit den Schwänzen auf ihre Hinterteile. »Hej! Wjo!« rief Sameschkin und knallte mit der Peitsche.

Um elf Uhr vormittags kamen sie nach Dubno.

Mendel mußte warten. Er trat, die Mütze in der Hand, durch das große Portal. Der Portier trug einen Säbel.

»Wohin willst du?« fragte er.

»Ich will nach Amerika – wo muß ich hin?«

»Wie heißt du?«

»Mendel Mechelovitsch Singer.«

»Wozu willst du nach Amerika?«

»Geld verdienen, es geht mir schlecht.«

»Du gehst auf Nummer 84«, sagte der Portier. »Dort warten schon viele.«

Sie saßen in einem großen, gewölbten, ockergelb getünchten Korridor. Männer in blauen Uniformen wachten vor den Türen. Die Wände entlang standen braune Bänke – alle Bänke waren besetzt. Aber sooft ein Neuer kam, machten die blauen Männer eine Handbewegung; und die schon saßen, rückten zusammen, und immer wieder nahm ein Neuer Platz. Man rauchte, spuckte, knackte Kürbiskerne und schnarchte. Der Tag war hier kein Tag. Durch das Milchglas eines sehr hohen, sehr fernen Oberlichts konnte man eine blasse Ahnung vom Tag erhaschen. Uhren tickten irgendwo, aber sie gingen gleichsam neben der Zeit einher, die in diesen hohen Korridoren stillestand.

Manchmal rief ein Mann in blauer Uniform einen Namen aus. Alle Schläfer erwachten. Der Aufgerufene erhob sich, wankte einer Tür zu, rückte an seinem Anzug und trat durch eine der hohen, zweiflügeligen Türen, die statt einer Klinke einen runden, weißen Knopf hatte. Mendel überlegte, wie er diesen Knopf behandeln würde, um die Tür aufzumachen. Er stand auf, vom langen Sitzen, eingezwängt zwischen den Menschen, taten ihm die Glieder weh. Kaum aber hatte er sich erhoben, als ein blauer Mann auf ihn zutrat. »Sidaj!« rief der blaue Mann, »setz dich!« Mendel Singer fand keinen Platz mehr auf seiner Bank. Er blieb neben ihr stehen, drückte sich an die Wand und hatte den Wunsch, so flach zu werden wie die Mauer.

»Wartest du auf Nummer 84?« fragte der blaue Mann.

»Ja«, sagte Mendel. Er war überzeugt, daß man jetzt gesonnen war, ihn endgültig hinauszuwerfen. Deborah wird noch einmal hierherfahren müssen. Fünfzig Kopeken und fünfzig Kopeken machen einen Rubel. Aber der blaue Mann hatte nicht die Absicht, Mendel aus dem Haus zu weisen. Dem blauen Mann lag vor allem daran, daß alle Wartenden ihre Plätze behielten und daß er alle übersehen konnte. Wenn einer schon aufstand, so konnte er auch eine Bombe werfen.

Anarchisten verkleiden sich manchmal, dachte der Türsteher. Und er winkte Mendel zu sich heran, betastete den Juden, fragte nach den Papieren. Und da alles in Ordnung war und Mendel keinen Platz mehr hatte, sagte der blaue Mann: »Paß auf! Siehst du die gläserne Tür? Die machst du auf. Dort ist Nummer 84.«

»Was willst du hier?« schrie ein breitschultriger Mann hinter dem Schreibtisch. Genau unter dem Bild des Zaren saß der Beamte. Er bestand aus einem Schnurrbart, einem kahlen Kopf, Epauletten und Knöpfen. Er war wie eine schöne Büste hinter seinem breiten Tintenfaß aus Marmor. »Wer hat dir erlaubt, hier ohne weiteres einzutreten? Warum meldest du dich nicht an?« polterte eine Stimme aus der Büste. Mendel Singer verbeugte sich unterdessen tief. Auf solch einen Empfang war er nicht vorbereitet gewesen. Er beugte sich und ließ den Donner über seinen Rücken dahinstreichen, er wollte winzig werden, dem Erdboden gleich, wie wenn er von einem Gewitter auf freiem Felde überrascht worden wäre. Die Falten seines langen Rockes schlugen auseinander, und der Beamte sah ein Stück von Mendel Singers fadenscheiniger Hose und das abgeschabte Leder der Stiefelschäfte. Dieser Anblick machte den Beamten milder. »Tritt näher!« befahl er, und Mendel rückte näher, den Kopf vorgeschoben, als wollte er gegen den Schreibtisch vorstoßen. Erst als er sah, daß er sich schon dem Saum des Teppichs näherte, hob Mendel ein wenig den Kopf. Der Beamte lächelte.

»Her mit den Papieren!« sagte er.

Dann war es still. Man hörte eine Uhr ticken. Durch die Jalousien brach das goldene Licht eines späten Nachmittags. Die Papiere raschelten. Manchmal sann der Beamte eine Weile nach, blickte in die Luft und haschte plötzlich mit der Hand nach einer Fliege. Er hielt das winzige Tier in seiner riesigen Faust, öffnete sie vorsichtig, zupfte einen Flügel ab, dann den zweiten und sah noch ein bißchen zu, wie das verkrüppelte Insekt auf dem Schreibtisch weiterkroch.

»Das Gesuch?« fragte er plötzlich, »wo ist das Gesuch?«

»Ich kann nicht schreiben, Euer Hochwohlgeboren!« entschuldigte sich Mendel.

»Das weiß ich, du Tepp, daß du nicht schreiben kannst! Ich habe nicht nach deinem Schulzeugnis gefragt, sondern nach dem Gesuch. Und wozu haben wir einen Schreiber? Ha? Im Parterre? Auf Nummer 3? Ha? Wozu erhält der Staat einen Schreiber? Für dich, du Esel, weil du eben nicht schreiben kannst. Also geh auf Nummer 3. Schreib das Gesuch. Sag, ich schicke dich, damit du nicht zu warten brauchst und gleich behandelt wirst. Dann kommst du zu mir. Aber morgen! Und morgen nachmittag kannst du meinetwegen wegfahren!«

Noch einmal verneigte sich Mendel. Er ging rückwärts, er wagte nicht, dem Beamten den Rücken zu kehren, unendlich lang schien ihm der Weg vom Schreibtisch zur Tür. Er glaubte, schon eine Stunde zu wandern. Endlich fühlte er die Nähe der Tür. Er wandte sich schnell um, ergriff den Knopf, drehte ihn zuerst links, dann rechts, dann machte er noch eine Verbeugung. Er stand endlich wieder im Korridor.

In Nummer 3 saß ein gewöhnlicher Beamter, ohne Epauletten. Es war eine dumpfe, niedrige Stube, viele Menschen umstanden den Tisch, der Schreiber schrieb und schrieb, die Feder stieß er jedesmal ungeduldig auf den Boden des Tintenbehälters. Er schrieb flink, aber er wurde nicht fertig. Immer kamen neue Menschen. Trotzdem hatte er noch Zeit, Mendel zu bemerken.

»Euer Hochwohlgeboren, der Herr von Nummer 84 schickt mich«, sagte Mendel.

»Komm her«, sagte der Schreiber.

Man machte Mendel Singer Platz.

»Einen Rubel für den Stempel!« sagte der Schreiber. Mendel kramte einen Rubel aus seinem blauen Taschentuch. Es war ein harter, blanker Rubel. Der Schreiber nahm die Münze nicht, er erwartete noch mindestens fünfzig Kopeken. Mendel verstand nichts von den ziemlich deutlichen Wünschen des Schreibers.

Da wurde der Schreiber böse. »Sind das Papiere?« sagte er. »Fetzen sind es! Die zerfallen einem ja in der Hand.« Und er zerriß wie unabsichtlich eines der Dokumente, es zerfiel in zwei gleiche Teile, und der Beamte griff nach dem Gummiarabikum, um es zusammenzukleben. Mendel Singer zitterte.

Das Gummiarabikum war zu trocken, der Beamte spuckte in das Fläschchen, dann hauchte er es an. Aber es blieb trocken. Er hatte plötzlich einen Einfall, man sah ihm an, daß er plötzlich einen Einfall hatte. Er schloß eine Schublade auf, legte Mendel Singers Papiere hinein, schloß sie wieder zu, riß von einem Block einen kleinen, grünen Zettel, bestempelte ihn, gab ihn Mendel und sagte: »Weißt du was? Morgen früh um neun Uhr kommst du her! Da sind wir allein. Da können wir ruhig miteinander sprechen. Deine Papiere sind hier bei mir. Du holst sie morgen ab. Den Zettel zeigst du vor!«

Mendel ging. Sameschkin wartete draußen, neben den Pferden saß er auf den Steinen, die Sonne ging unter, der Abend kam.

»Wir fahren erst morgen«, sagte Mendel, »um neun Uhr früh muß ich wiederkommen.«

Er suchte nach einem Bethaus, um übernachten zu können. Er kaufte ein Stück Brot, zwei Zwiebeln, steckte alles in die Tasche, hielt einen Juden auf und fragte ihn nach dem Bethaus. »Gehn wir zusammen«, sagte der Jude.

Unterwegs erzählte Mendel seine Geschichte.

»Bei uns im Bethaus«, sagte der Jude, »kannst du einen Mann treffen, der dir die ganze Sache besorgt. Er hat schon viele Familien nach Amerika geschickt. Kennst du Kapturak?«

»Kapturak? Natürlich! Er hat meinen Sohn weggeschickt!«

»Alte Kundschaft!« sagte Kapturak. Im Spätsommer hielt er sich in Dubno auf, er ordinierte in den Bethäusern. »Damals war deine Frau bei mir. An deinen Sohn erinnere ich mich noch. Gut geht es ihm, was? Kapturak hat eine glückliche Hand.«

Es erwies sich, daß Kapturak bereit war, die Angelegenheit zu übernehmen. Es kostete vorläufig zehn Rubel per Kopf. Einen Vorschuß von zehn Rubeln konnte Mendel nicht geben. Kapturak wußte einen Ausweg. Er ließ sich die Adresse vom jungen Singer geben. In vier Wochen hat er Antwort und Geld, wenn der Sohn wirklich die Absicht hat, seine Eltern kommen zu lassen.

»Gib mir den grünen Zettel, den Brief aus Amerika, und verlaß dich auf mich!« sprach Kapturak. Und die Umstehenden nickten. »Fahr heute noch nach Hause. In ein paar Tagen komme ich bei euch vorbei. Verlaß dich auf Kapturak!«

Ein paar Umstehende wiederholten: »Verlaß dich ruhig auf Kapturak!«

»Es ist ein Glück«, sagte Mendel, »daß ich euch hier getroffen habe!« Alle gaben ihm die Hand und wünschten ihm eine gute Fahrt. Er kehrte zum Marktplatz zurück, wo Sameschkin wartete. Sameschkin war schon im Begriff, sich in seinem Wagen schlafen zu legen. »Mit einem Juden kann nur der Teufel etwas Gewisses ausmachen!« sagte er. »Also fahren wir doch noch!«

Sie fuhren.

Sameschkin band sich die Zügel ums Handgelenk, er gedachte, ein wenig zu schlafen. Er nickte wirklich ein, die Pferde scheuten vor dem Schatten einer Vogelscheuche, die ein Spitzbube aus einem Feld fortgetragen und an den Straßenrand gestellt hatte. Die Tiere setzten sich in Galopp, die Fuhre schien sich in die Luft zu heben, bald, so glaubte Mendel, würde sie zu flattern beginnen, auch sein Herz galoppierte, wie ihm schien, es wollte die Brust verlassen und in die Weite hüpfen. Auf einmal stieß Sameschkin einen lauten Fluch aus. Die Fuhre glitt in einen Graben, die Pferde ragten noch mit den Vorderbeinen auf die Straße, Sameschkin lag auf Mendel Singer.

Sie kletterten wieder hervor. Die Deichsel war zersplittert, ein Rad war locker geworden, einem anderen fehlten zwei Speichen. Sie mußten die Nacht über hierbleiben. Morgen wollte man sehn.

»So beginnt deine Reise nach Amerika«, sagte Sameschkin. »Was fahrt ihr auch immer soviel in der Welt herum! Der Teufel schickt euch von einem Ort zum andern. Unsereins bleibt, wo er geboren ist, und nur wenn Krieg ist, zieht man nach Japan!«

Mendel Singer schwieg. Er saß am Straßenrand, neben Sameschkin. Zum erstenmal in seinem Leben saß Mendel Singer auf der nackten Erde, mitten in der wilden Nacht, neben einem Bauern. Er sah über sich den Himmel und die Sterne und dachte: Sie verdecken Gott. All das hat der Herr in sieben Tagen geschaffen. Und wenn ein Jude nach Amerika fahren will, braucht es Jahre!

»Siehst du, wie schön das Land ist?« fragte Sameschkin. »Bald wird die Ernte kommen. Es ist ein gutes Jahr. Wenn es so gut ist, wie ich mir vorstelle, kaufe ich noch ein Pferd im Herbst. Hörst du was von deinem Sohn Jonas? Er versteht was von Pferden. Er ist ganz anders als du. Hat dich dein Weib vielleicht einmal betrogen?«

»Alles ist möglich«, erwiderte Mendel. Es war ihm auf einmal sehr leicht, alles konnte er begreifen, die Nacht machte ihn frei von Vorurteilen. Er schmiegte sich sogar an Sameschkin wie an einen Bruder.

»Alles ist möglich«, wiederholte er, »die Weiber taugen nichts.«

Plötzlich begann Mendel zu schluchzen. Mendel weinte, mitten in einer fremden Nacht, neben Sameschkin.

Der Bauer drückte seine Fäuste gegen die Augen, denn er fühlte, daß er auch weinen würde.

Dann legte er einen Arm um die dünnen Schultern Mendels und sagte leise:

»Schlaf, lieber Jude, schlaf dich aus!«

Er blieb lange wach. Mendel Singer schlief und schnarchte. Die Frösche quakten bis zum Morgen.


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