Joseph Roth
Hiob
Joseph Roth

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XI

Da verließen zum erstenmal die Sorgen das Haus Mendel Singers. Vertraut waren sie ihm gewesen, wie verhaßte Geschwister. Neunundfünfzig Jahre wurde er jetzt alt. Seit achtundfünfzig Jahren kannte er sie. Die Sorgen verließen ihn, der Tod näherte sich ihm. Sein Bart war weiß, sein Auge war schwach. Der Rücken krümmte sich, und die Hände zitterten. Der Schlaf war leicht, und die Nacht war lang. Die Zufriedenheit trug er wie ein fremdes, geborgtes Kleid. Sein Sohn übersiedelte in die Gegend der Reichen, Mendel blieb in seiner Gasse, in seiner Wohnung, bei den blauen Petroleumlampen, in der Nachbarschaft der Armen, der Katzen und der Mäuse. Er war fromm, gottesfürchtig und gewöhnlich, ein ganz alltäglicher Jude. Wenige beachteten ihn. Manche bemerkten ihn gar nicht. Ein paar alte Freunde besuchte er tagsüber: Menkes, den Obsthändler, Skowronnek, die Musikalienhandlung, Rottenberg, den Bibelschreiber, Groschel, den Schuster. Einmal in der Woche kamen seine drei Kinder, sein Enkel und Mac. Er hatte ihnen gar nichts zu sagen. Sie erzählten Geschichten aus dem Theater, aus der Gesellschaft und aus der Politik. Er hörte zu und schlief ein. Wenn Deborah ihn weckte, schlug er die Augen auf. »Ich habe nicht geschlafen!« versicherte er. Mac lachte. Sam lächelte. Mirjam flüsterte mit Deborah. Mendel blieb eine Weile wach und nickte wieder ein. Er träumte sofort: Begebenheiten aus der Heimat und Dinge, von denen er in Amerika nur gehört hatte, Theater, Akrobaten und Tänzerinnen in Gold und Rot, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, das Weiße Haus, den Milliardär Vanderbilt und immer wieder Menuchim. Der kleine Krüppel mischte sich zwischen das Rot und Gold der Sängerinnen, und vor dem bleichen Strahlen des Weißen Hauses haftete er als ein armer, grauer Fleck. Dies und jenes mit wachen Augen anzuschauen, war Mendel zu alt. Er glaubte seinen Kindern aufs Wort, daß Amerika das Land Gottes war, New York die Stadt der Wunder und Englisch die schönste Sprache. Die Amerikaner waren gesund, die Amerikanerinnen schön, der Sport wichtig, die Zeit kostbar, die Armut ein Laster, der Reichtum ein Verdienst, die Tugend der halbe Erfolg, der Glaube an sich selbst ein ganzer, der Tanz hygienisch, Rollschuhlaufen eine Pflicht, Wohltätigkeit eine Kapitalanlage, Anarchismus ein Verbrechen, Streikende die Feinde der Menschheit, Aufwiegler Verbündete des Teufels, moderne Maschinen Segen des Himmels, Edison das größte Genie. Bald werden die Menschen fliegen wie Vögel, schwimmen wie Fische, die Zukunft sehn wie Propheten, im ewigen Frieden leben und in vollkommener Eintracht bis zu den Sternen Wolkenkratzer bauen. Die Welt wird sehr schön sein, dachte Mendel, glücklich mein Enkel! Er wird alles erleben! Dennoch mischte sich in seine Bewunderung für die Zukunft ein Heimweh nach Rußland, und es beruhigte ihn, zu wissen, daß er noch vor den Triumphen der Lebendigen ein Toter sein würde. Er wußte nicht, warum. Es beruhigte ihn. Er war bereits zu alt für das Neue und zu schwach für Triumphe. Er hatte nur eine Hoffnung noch: Menuchim zu sehn. Sam oder Mac würde hinüberfahren, ihn holen. Vielleicht fuhr auch Deborah.

Es war Sommer. Das Ungeziefer in der Wohnung Mendel Singers vermehrte sich unaufhaltsam, obwohl die kleinen Messingräder an den Füßen der Betten Tag und Nacht in Näpfchen voll Petroleum standen und obwohl Deborah mit einer zarten Hühnerfeder, in Terpentin getaucht, alle Ritzen der Möbel bestrich. Die Wanzen zogen in langen, geordneten Reihen die Wände hinunter, den Plafond entlang, warteten in blutlüsterner Tücke auf den Anbruch der Finsternis und fielen auf die Lager der Schlafenden. Die Flöhe sprangen aus den schwarzen Sparren zwischen den Brettern der Diele, in die Kleider, auf die Kissen, auf die Decken. Die Nächte waren heiß und schwer. Durch die offenen Fenster kam von Zeit zu Zeit das ferne Dröhnen unbekannter Züge, die kurzen, regelmäßigen Donner einer meilenweiten, geschäftigen Welt und der trübe Dunst aus nachbarlichen Häusern, Misthaufen und offenen Kanälen. Die Katzen lärmten, die herrenlosen Hunde heulten, Säuglinge schrien durch die Nacht, und über dem Kopf Mendel Singers schlurften die Schritte der Schlaflosen, dröhnte das Niesen der Erkälteten, miauten die Ermatteten in qualvollem Gähnen. Mendel Singer entzündete die Kerze in der grünen Flasche neben dem Bett und ging ans Fenster. Da sah er den rötlichen Widerschein der lebendigen amerikanischen Nacht, die sich irgendwo abspielte, und den regelmäßigen, silbernen Schatten eines Scheinwerfers, der verzweifelt am nächtlichen Himmel Gott zu suchen schien. Ja, und ein paar Sterne sah Mendel ebenfalls, ein paar kümmerliche Sterne, zerhackte Sternbilder. Mendel erinnerte sich an die hellgestirnten Nächte daheim, die tiefe Bläue des weitgespannten Himmels, die sanftgewölbte Sichel des Mondes, das finstere Rauschen der Föhren im Wald, an die Stimmen der Grillen und Frösche. Es kam ihm vor, daß es leicht wäre, jetzt, so wie er ging und stand, das Haus zu verlassen und zu Fuß weiterzuwandern, die ganze Nacht, so lange, bis er wieder unter dem freien Himmel war und die Frösche vernahm und die Grillen und das Wimmern Menuchims. Hier in Amerika gesellte es sich zu den vielen Stimmen, in denen die Heimat sang und redete, zum Zirpen der Grillen und zum Quaken der Frösche. Dazwischen lag der Ozean, dachte Mendel. Man mußte ein Schiff besteigen, noch einmal ein Schiff, noch einmal zwanzig Tage und Nächte fahren. Dann war er zu Hause bei Menuchim.

Die Kinder redeten ihm zu, endlich das Viertel zu verlassen. Er hatte Angst. Er wollte nicht übermütig werden. Jetzt, wo alles gutzugehn begann, durfte man nicht Gottes Zorn hervorrufen. Wann war es ihm je bessergegangen? Wozu in andere Gegenden ziehn? Was hatte man davon? Die paar Jahre, die er noch zu leben gedachte, konnte er in Gemeinschaft mit dem Ungeziefer verbringen.

Er wandte sich um. Da schlief Deborah. Früher hatte sie hier im Zimmer mit Mirjam geschlafen. Jetzt wohnte Mirjam bei ihrem Bruder. Oder bei Mac, dachte Mendel, hurtig und verstohlen. Deborah schlief ruhig, halb aufgedeckt, ein breites Lächeln über dem breiten Angesicht. Was geht sie mich an? dachte Mendel. Wozu leben wir noch zusammen? Unsere Lust ist vorbei, unsere Kinder sind groß und versorgt, was soll ich bei ihr? Essen, was sie gekocht hat! Es steht geschrieben, daß es nicht gut ist, daß der Mensch allein sei. Also leben wir zusammen. Sehr lange schon lebten sie zusammen, jetzt handelte es sich darum, wer früher sterben würde. Wahrscheinlich ich, dachte Mendel. Sie ist gesund und hat wenig Sorgen. Immer noch verbirgt sie Geld unter irgendeinem Dielenbrett. Sie weiß nicht, daß es Sünde ist. Mag sie es verbergen!

Die Kerze im Flaschenhals ist zu Ende gebrannt. Die Nacht ist vergangen. Die ersten Geräusche des Morgens hört man schon, noch ehe man die Sonne sieht. Man öffnet irgendwo kreischende Türen, man hört polternde Schritte im Stiegenhaus, der Himmel ist fahlgrau, und von der Erde steigt ein gelblicher Dunst auf, Staub und Schwefel aus den Kanälen. Deborah erwacht, seufzt und sagt: »Es wird regnen! Es stinkt aus dem Kanal, mach die Fenster zu!«

So beginnen die sommerlichen Tage. Am Nachmittag kann Mendel nicht zu Hause schlafen. Er geht auf den Spielplatz der Kinder. Er freut sich am Gesang der seltenen Amseln, sitzt lange auf einer Bank, zieht mit dem Regenschirm verworrene Striche in den Sand. Das Geräusch des Wassers, das ein langer Gummischlauch über den kleinen Rasen stäubt, kühlt Mendel Singers Angesicht, er glaubt, das Wasser zu fühlen, und er schläft ein. Er träumt vom Theater, von Akrobaten in Rot und Gold, vom Weißen Haus, vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, vom Milliardär Vanderbilt und von Menuchim.

Eines Tages kommt Mac. Er sagt (Mirjam begleitet ihn und übersetzt es), daß er Ende Juli oder im August nach Rußland fahren wird, Menuchim holen.

Mendel ahnt, warum Mac fahren will. Er möchte wahrscheinlich Mirjam heiraten. Er tut alles mögliche für die Familie Singer. Wenn ich stürbe, denkt Mendel, würde Mac Mirjam heiraten. Beide warten auf meinen Tod. Ich habe Zeit. Ich warte auf Menuchim. Es ist Juni, ein heißer und besonders langer Monat. Wann wird endlich der Juli kommen?

Ende Juli bestellt Mac eine Schiffskarte. Man schreibt an die Familie Billes. Mendel geht in den Laden der Skowronneks, um den Freunden zu erzählen, daß sein jüngster Sohn ebenfalls nach Amerika kommt. Im Laden der Familie Skowronnek sind viel mehr Leute versammelt als sonst, an andern Tagen. Jeder hat ein Zeitungspapier in der Hand. In Europa ist der Krieg ausgebrochen.

Mac wird nicht mehr nach Rußland fahren. Menuchim wird nicht nach Amerika kommen. Der Krieg ist ausgebrochen.

Hatten die Sorgen nicht soeben erst Mendel Singer verlassen? Sie gingen, und der Krieg brach aus.

Jonas war im Krieg und Menuchim in Rußland.

Zweimal in der Woche am Abend kamen Sam und Mirjam, Vega und Mac Mendel Singer besuchen. Und sie bemühten sich, dem Alten Jonas' sichern Untergang und Menuchims gefährdetes Leben zu verbergen. Es war, als glaubten sie, sie könnten Mendels nach Europa gerichteten Blick auf ihre eigene glückliche Leistung und ihre eigene Sicherheit lenken. Sie stellten sich gleichsam zwischen Mendel Singer und den Krieg. Und während er ihren Reden zuzuhören schien, ihren Vermutungen recht gab, daß Jonas in einer Kanzlei beschäftigt sei und Menuchim seiner besonderen Krankheit wegen gesichert in einem Petersburger Spital, sah er seinen Sohn Jonas mit dem Pferd stürzen und in einem jener Stacheldrähte hängenbleiben, die von den Kriegsberichterstattern so anschaulich beschrieben wurden. Und sein Häuschen in Zuchnow brannte – Menuchim lag im Winkel und wurde verbrannt. Gelegentlich getraute er sich, einen kleinen Satz zu sagen. »Vor einem Jahr, als der Brief kam«, sagte Mendel, »hätte ich selbst zu Menuchim fahren müssen.«

Niemand wußte darauf etwas zu erwidern. Ein paarmal schon hatte Mendel diesen Satz gesprochen, und stets war das gleiche Schweigen eingebrochen. Es war, als löschte der Alte mit diesem einen Satz das Licht im Zimmer aus, finster wurde es, und keiner sah mehr, wohin mit dem Finger zu deuten. Und nachdem sie lange geschwiegen hatten, erhoben sie sich und gingen.

Mendel Singer aber schloß die Tür hinter ihnen, schickte Deborah schlafen, entzündete eine Kerze und begann, einen Psalm nach dem andern zu singen. In guten Stunden sang er sie und in bösen. Er sang sie, wenn er dem Himmel dankte und wenn er ihn fürchtete. Mendels schaukelnde Bewegungen waren immer die gleichen. Und nur an seiner Stimme hätte ein aufmerksamer Lauscher vielleicht erkannt, ob Mendel, der Gerechte, dankbar war oder ausgefüllt von Ängsten.

In diesen Nächten schüttelte ihn die Furcht wie der Wind einen schwachen Baum. Und die Sorge lieh ihm ihre Stimme, mit einer fremden Stimme sang er die Psalmen. Er war fertig. Er schlug das Buch zu, hob es an die Lippen, küßte es und drückte die Flamme aus. Aber er wurde nicht ruhig. Zu wenig, zu wenig – sagte er sich – habe ich getan. Manchmal erschrak er über die Erkenntnis, daß sein einziges Mittel, das Singen der Psalmen, ohnmächtig sein könnte in dem großen Sturm, in dem Jonas und Menuchim untergingen. Die Kanonen, dachte er, sind laut, die Flammen sind gewaltig, meine Kinder verbrennen, meine Schuld ist es, meine Schuld! Und ich singe Psalmen. Es ist nicht genug! Es ist nicht genug!


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