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Eine Woche im ganzen wohnte der Eichmeister Anselm Eibenschütz zu Hause. Die Frau Regina bekam er nicht zu sehen, das Kind des Schreibers hörte er manchmal kreischen.
Eines Tages unterwegs, während er mit dem Wachtmeister Slama auf dem Wägelchen saß – sie fuhren nach Bloty –, begann er zu erzählen. Es drückte ihm das Herz ab. Er mußte sprechen – und es gab weit und breit keinen Menschen, nur den Wachtmeister Slama. Zu wem sollte man reden? Ein Mensch muß zu einem Menschen reden.
Also erzählte der Eichmeister dem Wachtmeister seine Geschichte. Er erzählte, daß er bis zur Stunde, in der er Euphemia gekannt hatte, gar nicht gewußt hatte, was das Leben bedeute. Und er erzählte auch dem Wachtmeister von dem Betrug seiner Frau mit dem Schreiber Josef Nowak.
Der Gendarmeriewachtmeister war ein sehr einfacher Mensch. Aber er verstand alles, was ihm Eibenschütz erzählte, und zum Zeichen dafür, daß er es verstehe, nahm er die Pickelhaube ab, als könnte er barhäuptig zuversichtlicher mit dem Kopf nicken.
Es war dem Eibenschütz sehr leicht ums Herz, nachdem er seine ganze Geschichte erzählt hatte. Er wurde geradezu fröhlich; und er war so traurig.
Dem Wachtmeister Slama fiel nichts ein, aber er wußte wohl, daß man etwas Fröhliches sagen müsse, und er sagte also schlicht und ehrlich: »Das würde ich nicht aushalten!«
Er wollte Eibenschütz trösten, aber er machte ihn nur trauriger.
»Auch ich«, begann Slama, »bin betrogen worden. Meine Frau hat sich da – Vertrauen gegen Vertrauen – mit dem Sohn des Bezirkshauptmanns eingelassen. Sie ist an der Geburt gestorben.«
Eibenschütz, den die ganze Geschichte nicht berührte, sagte nur: »Sehr traurig!« Ihn kümmerte sein eigenes Schicksal. Was ging ihn die verstorbene Frau Slama an?
Der Wachtmeister aber, einmal im Erzählen und mit aufgerissener Herzenswunde, hörte nicht auf, von seiner Frau zu berichten. »Dabei waren wir«, sagte er, »zwölf Jahre verheiratet. Und, denken Sie, es war gar kein Mann, mit dem sie mich betrogen hat. Es war ein Jüngling, der Sohn des Bezirkshauptmanns, er war ein Kadettenschüler.« Und als hätte es eine besondere Bedeutung, fügte er nach einer Weile hinzu: »ein Kavallerie-Kadettenschüler aus Mährisch-Weißkirchen.«
Längst hörte Eibenschütz nicht mehr zu. Es tat ihm aber wohl, daß ein Mensch neben ihm redete, ähnlich, wie es manchmal einem wohltut, wenn es so daherregnet und man versteht auch die Sprache nicht, die der Regen redet.
Sie hatten in Bloty nur einen Laden zu besuchen, den Milchhändler und Gastwirt Broczyner, aber sie blieben den ganzen Tag dort. Man fand bei Broczyner im ganzen fünf falsche Pfundgewichte. Man zeigte den Broczyner an. Man ging dann in das Wirtshaus, zum gleichen Broczyner.
Der angezeigte Broczyner kam an den Tisch und versuchte, ein Gespräch mit dem Eichmeister und dem Wachtmeister anzuknüpfen. Aber sie waren beide dienstlich und strenge, das heißt, sie bildeten sich ein, daß sie dienstlich und strenge seien.
Einen ganzen Tag, bis zum späten Abend, blieben sie dort. Dann sagte Eibenschütz: »Fahren wir nach Szwaby.« Dorthin fuhren sie auch.
Sie spielten Tarock mit Kapturak. Kapturak gewann immer wieder. Der Eichmeister Eibenschütz hätte auch gewinnen können, wenn er nur achtgegeben hätte. Er aber dachte an Euphemia und Konstantin Sameschkin.
Endlich, es war schon spät in der Nacht, kamen sie beide an den Tisch, Euphemia und Sameschkin. Sie kamen, Arm in Arm, die Treppe hinunter. Arm in Arm traten sie an den Tisch. Sie erinnerten an Bruder und Schwester. Eibenschütz bemerkte plötzlich, daß sie beide die gleichen schwarzblauen Haare hatten.
Es war ihm auf einmal, als begehrte er die Frau nicht mehr aus Liebe wie bisher, sondern aus Haß. Sameschkin lächelte, gutherzig und mit allen seinen weißen Zähnen, wie immer. Indessen reichte er freigiebig seine rostbraune, große, starke Hand. Es sah aus, als verteile er Spenden.
Er setzte sich. In seiner nicht leicht begreiflichen Sprache erzählte er, daß er heute gute Geschäfte gemacht hatte. Sogar aus Zlotogrod wäre man zu ihm gekommen, rohe Kastanien zu kaufen.
Euphemia saß zwischen den Männern. Sie schwieg, sie war stumm, einer Blume ähnlich, die man an einen Tisch gesetzt hat, statt sie auf ihn zu stellen.
Eibenschütz betrachtete sie fortwährend. Er versuchte, ihrem Blick, einmal wenigstens, zu begegnen, aber es gelang ihm nicht. Ihre Augen gingen irgendwo in der Weite spazieren. Weiß Gott, woran sie denken mochte!
Sie begannen aufs neue zu spielen, und Eibenschütz gewann immer wieder. Er schämte sich ein bißchen, während er das Geld einsteckte. Immer noch saß Euphemia am Tisch, eine stumme Blume. Sie leuchtete und schwieg.
Ringsum herrschte der gewöhnliche Lärm, den die Deserteure verursachten. Sie hockten auf dem Boden und spielten Karten und würfelten. Sobald sie alles verspielt hatten, begannen sie zu singen. Sie sangen, wie gewöhnlich, das Lied: »Ja lubyl tibia«, falsch und mit krächzenden Stimmen.
Schließlich erhoben sich Euphemia und Sameschkin. Arm in Arm gingen sie hinauf, und der arme Eichmeister Eibenschütz sah ihnen ohnmächtig nach. Es kam ihm schließlich in den Sinn, daß er hierbleiben müßte. Ja, hierbleiben! Er hatte schon ein wenig getrunken, der Eichmeister Eibenschütz. Es schien ihm plötzlich, daß er Sameschkin verdrängen könnte, wenn er nur hierbliebe, einfach im Hotel bliebe. Auch graute es ihm entsetzlich vor der Rückkehr, obwohl er gewiß war, daß er seine Frau nicht sehen würde noch ihr Kind, das Kind des Schreibers Nowak. Plötzlich erschien ihm auch der Wachtmeister Slama sehr vertraut. Zu ihm sagte Eibenschütz: »Sagen Sie, soll ich hierbleiben?« Der Gendarm dachte nach und griff an den Kopf, und es war, als nähme er den Helm noch einmal ab, den er natürlich längst abgelegt hatte.
»Ich glaube, Sie sollten hierbleiben«, sagte er schließlich nach einigem Nachdenken. Und der Eichmeister Eibenschütz blieb in der Grenzschenke.
Später, ein paar Wochen später, wußte er selbst nicht mehr, weshalb er den Gendarmen Slama um Rat gefragt hatte und weshalb er in der Grenzschenke geblieben war.
Es ging dem Eichmeister Eibenschütz überhaupt sehr schlecht in dieser Zeit. Der Winter kam.
Vor diesem Winter hatte Eibenschütz Angst.
Ach, was war das für ein Winter! Seit Jahren hatte man dergleichen nicht gesehen! Er kam plötzlich daher, wie ein ganz großer, scharfer Herr daherkommt, mit Peitschen. Der Fluß Struminka gefror sofort, an einem Tage. Eine dicke Eisschicht überzog ihn plötzlich, als hätte sie sich nicht aus dem Wasser selbst gebildet, sondern als wäre sie von irgendwoher gekommen, Gott weiß woher.
Nicht nur, daß die Spatzen tot von den Dächern fielen, sie erfroren auch mitten im Flug. Sogar die Raben und die Krähen hielten sich dicht in der Nähe der menschlichen Behausungen auf, um nur ein bißchen Wärme zu ergattern. Vom ersten Tage an hingen die Eiszapfen groß und stark von den Dächern. Und die Fenster sahen aus wie dicke Kristalle.
Ach, wie einsam war da der Eichmeister Eibenschütz! Den und jenen kannte er, zum Beispiel den Wachtmeister Slama und den Kaufmann Balaban und den kleinen Kapturak. Aber was bedeuteten sie alle! In seiner riesengroßen Einsamkeit erschienen ihm die paar Menschen, die er kannte, wie verlorene Fliegen in einer eisigen Wüste. Er war sehr unglücklich, der Eichmeister Eibenschütz. Auch suchte er gar nicht mehr nach den Menschen. Und er fühlte sich beinahe wohl in seiner Wüste.
Jetzt wohnte er wieder in der Schenke. Er wohnte wieder in der Nähe Euphemias. Ja, er stand sehr früh auf, um sie kommen zu sehen. Sie kam früher als Sameschkin. Er stand erst eine Stunde später auf. Gutmütig war er und auch faul, sehr faul. Er liebte das frühe Aufstehn nicht, ja, er haßte den Morgen. Übrigens kamen die Leute, die Maroni kaufen wollten, erst am Nachmittag. Was sollte Sameschkin am frühen Morgen? Er liebte nun einmal keinen frühen Morgen.
Dennoch erwartete Eibenschütz auch ihn geduldig. Es tat dem Eibenschütz wohl, in der Nähe Sameschkins zu sein. Er begann sogar, Sameschkin zu lieben. Immerhin hatte Sameschkin noch etwas von der süßen, süßen Wärme Euphemias. Und es war so kalt in diesem Winter! – Und er war so einsam, der Eichmeister Eibenschütz!
Er war so einsam, der Eichmeister Eibenschütz, daß er manchmal vor das große, rostbraune Tor der Schenke trat und sich neben Sameschkin, den Maronibrater, stellte, ungeachtet seiner Stellung und seines Amtes. Es kamen verschiedene Leute Kastanien kaufen, rohe und gebratene, und manchmal ließ sich der Eichmeister Eibenschütz sogar herbei, den Leuten die Maroni zu verkaufen, während der Zeit, in der Sameschkin ausgetreten war. Sehr lieb wurde ihm Sameschkin mit der Zeit. Er verstand nicht recht, warum, aber Sameschkin wurde ihm eben lieb.
Mit der Zeit begann er ihn zu lieben, wie man einen Bruder liebt.