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Unter solch ungünstigen Bedingungen trat Anselm Eibenschütz sein neues Amt im Bezirk Zlotogrod an. Er kam im Frühling, an einem der letzten Märztage. In der bosnischen Garnison des Feuerwerkers Eibenschütz hatten schon die Eichkätzchen linde geschimmert, der Goldregen zu leuchten begonnen, die Amseln flöteten bereits auf dem Rasen, die Lerchen trillerten schon in der Luft. Als Eibenschütz nach dem nördlichen Zlotogrod kam, lag noch der weiße, dichte Schnee in den Straßen, und an den Rändern der Dächer hingen die strengen, die unerbittlichen Eiszapfen. Eibenschütz ging die ersten Tage einher wie ein plötzlich Ertaubter. Er verstand die Sprache des Landes zwar, aber es ging ja gar nicht so sehr darum, zu verstehen, was die Menschen sagten, sondern was das Land selber sprach. Und das Land redete fürchterlich: Es redete Schnee, Finsternis, Kälte und Eiszapfen, obwohl der Kalender den Frühling erzählte und in den Wäldern der bosnischen Garnison Sipolje schon längst die Veilchen blühten. Hier aber, in Zlotogrod, krächzten die Krähen in den kahlen Weiden und Kastanien. In ganzen Büscheln hingen sie an den nackten Zweigen, und es sah aus, als wären sie gar keine Vögel, sondern eine Art geflügelter Früchte. Der kleine Fluß, Struminka hieß er, schlief noch unter einer schweren Eisdecke, und die Kinder glitschten fröhlich über ihn dahin, und ihre Fröhlichkeit machte den armen Eichmeister noch trauriger.
Plötzlich in der Nacht, vom Kirchturm hatte es noch nicht Mitternacht geschlagen, hörte Eibenschütz das große Krachen der geborstenen Eisdecke. Obwohl es, wie gesagt, mitten in der Nacht war, begannen auf einmal die Eiszapfen an den Dachrändern zu schmelzen, und die Tropfen fielen hart auf den hölzernen Bürgersteig. Ein linder, süßer Wind aus dem Süden hatte sie zum Schmelzen gebracht, er war ein nächtlicher Bruder der Sonne. An allen Häuschen gingen die Läden auf, die Menschen erschienen an den Fenstern, viele verließen auch ihre Häuser. An einem hellblau leuchtenden Himmel standen kalt, ewig, prächtig die Sterne, die goldenen und die silbernen, und es sah aus, als lauschten sie auch von der Höhe dem Krachen und Poltern. Viele Einwohner zogen sich eilig an, wie man sich sonst nur bei Feuersbrünsten anzieht, und zogen zum Fluß. Mit Windlichtern und Laternen stellten sie sich an seinen beiden Ufern auf und sahen zu, wie das Eis barst und wie der Fluß aus seinem Winterschlaf erwachte. Manche hüpften, in kindischer Freude, auf eine der großen dahintreibenden Schollen, schwammen eilig mit ihr davon, die Laterne in der Hand, Grüße noch winkten sie mit ihr den am Ufer Zurückbleibenden, und erst nach einer langen Weile sprangen sie wieder ans Ufer. Alle benahmen sich ausgelassen und töricht. Zum erstenmal seit seiner Ankunft begann da der Eichmeister mit dem und jenem Einwohner des Städtchens zu sprechen. Der und jener fragte den Eibenschütz, woher er komme und was er hier zu machen gedenke. Er gab Auskunft, freundlich und zufrieden.
Die ganze Nacht blieb er wach, mit den Einwohnern des Städtchens. Am Morgen, als er heimkehrte und sich das Krachen des Eises schon besänftigt hatte, fühlte er sich wieder traurig und einsam. Zum erstenmal verspürte er jenen Schauder, den Ahnung allein bereiten kann. Er fühlte, daß sich hier in Zlotogrod sein Schicksal erfüllen sollte. Zum erstenmal auch in seinem ganzen tapferen Leben hatte er Angst. Und zum erstenmal, als er im grauenden Morgen heimkam und sich aufs Bett legte, fand er keinen Schlaf. Er weckte seine Frau Regina. Seltsame Gedanken kamen ihm, er mußte sie aussprechen. Er hatte eigentlich fragen wollen, warum der Mensch so allein sei. Aber er schämte sich und sagte nur: »Regina, jetzt sind wir ganz allein!«
Die Frau saß aufgerichtet in den Kissen, in einem lila Nachtgewand. Der Morgen sickerte spärlich durch die Ritzen der Fensterläden. Die Frau erinnerte Eibenschütz an eine Tulpe, die während dieser ersten Frühlingsnacht in Zlotogrod zu welken begonnen hatte. »Regina«, sagte Eibenschütz, »ich fürchte, ich hätte niemals die Kaserne verlassen sollen!«
»Für mich sind drei Jahre Kaserne gerade genug«, sagte die Frau, »laß mich jetzt schlafen!«
Sie fiel auch sofort in die Kissen zurück. Eibenschütz stieß einen Fensterladen auf und sah hinaus in die Straße. Aber auch der Morgen war welk. Welk war der Morgen. Sogar der Morgen war welk.
Ringsherum gab es Kinder. Kinder gab es ringsherum. Der Wachtmeister der Gendarmerie Wenzel Slama hatte sogar zweimal hintereinander, innerhalb von zwanzig Monaten, Zwillinge bekommen. Es wimmelte ringsherum von Kindern. Überall, wo Eibenschütz hinblickte, sah er Kinder. Sie spielten im Rinnstein mit dem schmutzigen Wasser. Sie spielten Murmeln im Trockenen. Sie spielten auf den alten Bänken des kümmerlichen Parks in Zlotogrod, ein schwindsüchtiger Park, ein Park, im Sterben begriffen. Sie spielten im Regen und im Sturm. Sie spielten Ball und Reifen und Kegel. Überall, wo der Eichmeister Eibenschütz hinblickte, sah er Kinder, lauter Kinder. Die Gegend war fruchtbar, es war kein Zweifel.
Wenn der Eichmeister Eibenschütz Kinder gehabt hätte! Es wäre alles anders gewesen: Ihm zumindest schien es so.
Sehr einsam war er, und er fühlte sich fremd und heimatlos in der ungewohnten Zivilkleidung, nachdem er zwölf Jahre in seiner dunkelbraunen Artillerie-Uniform gehaust hatte. Seine Frau: was war sie ihm! – Zum erstenmal fragte er sich, warum und wozu er sie geheiratet hatte. Darüber erschrak er gewaltig. Er erschrak darüber gewaltig, weil er sich selbst niemals zugetraut hätte, daß er überhaupt erschrecken könnte. Es kam ihm vor, daß er, wie man sagt, aus der Bahn geworfen sei – und dabei hatte er doch immer wieder und ständig seinen rechten Weg eingehalten! Aber immerhin, soldatischer Disziplin getreu und aus Furcht vor der Furcht, ergab er sich seinem Dienst und seinen Pflichten. Niemals vorher hatte man einen dem Staat, dem Gesetz, dem Gewicht und dem Maß so ergebenen Eichmeister gesehen in dieser Gegend.
Er entdeckte plötzlich, daß er seine Frau nicht liebte. Denn nun, da er allein und einsam war, in der Stadt, im Bezirk, im Amt, unter den Menschen, verlangte er Liebe und Zutraulichkeit zu Hause, und da sah er, daß nichts davon vorhanden war. Manchmal in der Nacht richtete er sich im Bett auf und betrachtete seine Frau. Im gelblichen Schimmer des Nachtlämpchens, das oben auf dem Kleiderkasten stand und nicht nur die Finsternis nicht vertrieb, sondern sogar an eine Art leuchtenden Kerns der Nacht im Zimmer erinnerte, erschien die schlafende Frau Regina dem Eichmeister Eibenschütz wie eine trockene Frucht. Er richtete sich im Bett auf und betrachtete sie ausführlich. Je länger er sie ansah, desto einsamer fühlte er sich. Es war, als ob ihr Anblick allein ihm Einsamkeit bereitete. Zu ihm, zu Anselm Eibenschütz, gehörte sie gar nicht, so, wie sie dalag, mit schönen Brüsten, mit dem ruhigen Kindergesicht und den kühn geschwungenen Augenbrauen und dem lieben, halboffenen Mund und dem kleinen, leichten Schimmer der Zähne zwischen den dunkelroten Lippen. Keine Begierde mehr trieb ihn zu ihr wie einst in früheren Nächten. Liebte er sie noch? Begehrte er sie noch?
Er war sehr einsam, der Eichmeister Anselm Eibenschütz. Bei Tag und bei Nacht war er einsam.