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In der Grenzschenke Jadlowkers war es warm und gut und fröhlich. Man trank, man spielte Karten, man rauchte. Der Rauch stand über den Häuptern der Männer. Es waren keine Frauen vorhanden, und das war gut. Der Eichmeister Eibenschütz hätte schwer die Anwesenheit einer Frau vertragen können, es sei denn die der Euphemia Nikitsch. Aber sie zeigte sich nicht. Eibenschütz wußte gar nicht, daß er hierhergekommen war, sie zu sehen. Erst, als er Platz genommen und einen Schluck getan hatte, glaubte er zu wissen, daß er eigentlich hierhergekommen war, um die Frau wiederzusehen. Gelegentlich kam Leibusch Jadlowker an seinen Tisch und setzte sich für eine Weile hin, flüchtig, wie sich eine Biene auf Honig setzt, ein Schmetterling auf Blumen. Je ernster der Eichmeister Eibenschütz wurde – und er wurde immer ernster, je mehr er trank –, desto heiterer erschien ihm Jadlowker. Heiterer erschien er ihm und gehässiger. Er wußte wohl, der Eichmeister Eibenschütz, daß die meisten Denunziationsbriefe von der Hand Jadlowkers stammten. Sehr wahrscheinlich war es, daß Jadlowker die Aufmerksamkeit des Eichmeisters von sich ab und auf andere lenken wollte. Er wußte das, er glaubte, es zu wissen, der Eibenschütz. Dennoch ertrug er die süßliche Freundlichkeit des Gastwirtes mit unerschütterlicher Geduld und sogar mit einer andächtigen Sanftmut. Er sah das widerliche, breite, stets grinsende Angesicht Jadlowkers an. Ein spitzes rotblondes Bärtchen zierte es. Man kann sagen: zieren, nichts hätte es entstellen können. Es war blaß, von einer wächsernen Blässe. Zwei winzige grünliche Äuglein glommen darin wie Lichter, die bereits erloschen sind, und dennoch immer noch Lichter; den Sternen ähnlich, von denen die Astronomen wissen, daß sie seit Jahrtausenden bereits erstorben sind, und die wir trotzdem immer noch leuchten sehen. Das einzig Lebendige war noch der rote Spitzbart. Er sah aus wie ein dreieckiges Feuerchen, das etwa überraschenderweise einer längst tot geglaubten, erloschen geglaubten Materie entspringt.
»Gehorsamst! Herr Eichmeister!« sagte Leibusch immer wieder, sooft er an den Tisch herankam. Es war, als wollte er immer wieder, im Laufe eines einzigen Abends, den Eichmeister zum erstenmal gesehen haben. Eibenschütz ahnte in diesem Verfahren eine gewisse Ironie. Eine gewisse Ironie mochte Eibenschütz auch aus der Tatsache ersehen, daß Jadlowker niemals an seinen Tisch kam, ohne eine volle Flasche in der Hand zu haben. Nun, das konnte noch zu den vorschriftsmäßigen Abzeichen eines Wirtes gehören. Aber, wenn Jadlowker, von dem Eibenschütz genau wußte, daß er falsche Gewichte hatte, noch fragte: »Wie geht es Ihrer gnädigen Frau?«, so glaubte der Eibenschütz es nicht mehr ertragen zu können, und um es ertragen zu können, bestellte er mehr Schnaps. Er trank, er trank, bis zum Morgengrauen. Längst schon schnarchten schwer und fürchterlich die Deserteure unter den Tischen und auf den Tischen. Der Morgen graute zwar noch nicht, aber er war schon zu ahnen, als sich der Eibenschütz erhob. Onufrij gab ihm das Geleit. Immer in dem Augenblick, in dem er den Schlitten bestieg, fühlte er sich erleichtert und bedrückt. Wenn er die Stadtgrenze von Zlotogrod erreichte, graute schon der winterliche Morgen. Eibenschütz kehrte nicht nach Hause zurück. Er kehrte bei dem Barbier Leider ein, und er ließ sich rasieren und den Kopf kalt waschen. Er ging dann in das einzige Kaffeehaus der Stadt Zlotogrod, es nannte sich Bristol. Er trank einen Kaffee und aß zwei Kipfel, die so frisch waren, daß sie noch nach dem Bäcker rochen. Hierauf fuhr er ins Amt, saß stumpf vor dem leeren Tisch, auf dem begreiflicherweise noch keine Post liegen konnte, und erwartete den trägen, fetten Schreiber mit Ungeduld. Er ging hinaus und wusch sich, so, wie er war, in Pelz und Stiefeln, Gesicht und Hände unter der fürchterlich kalten Pumpe, die im Hof der Bezirkshauptmannschaft dastand, den Pferden der berittenen Gendarmerie zu dienen.
An solchen Morgen dachte der Eichmeister gar nichts oder nur sehr wenig. Er dachte daran, daß es acht Uhr vom Kirchturm schlagen und daß der neue Schreiber so bald wie möglich kommen müßte. Als es endlich acht Uhr vom Kirchturm schlug, ging Eibenschütz noch hinaus, einen Rundgang durch die Stadt machen. Der Rundgang konnte nicht lange dauern, die Stadt war winzig. Er wollte nur nicht vor dem Schreiber dagewesen sein. Auch dachte er daran, daß ihm eine Rundfahrt durch die Stadt und durch den Frost nicht nur das Aussehen, sondern auch das Gefühl eines Menschen geben könnte, der in normalen Verhältnissen die Nacht durchgeschlafen hatte.
Er fuhr also los, mit dem Schlitten durch den morgendlich knirschenden Schnee. Er kehrte zurück. Er führte den Jakob und den Schlitten zuerst nach Hause. Dann ging er, nicht ohne einen gehässigen Blick gegen die noch geschlossenen Fensterläden seines Hauses zu werfen, zu Fuß ins Amt.
Auch im Amt noch konnte er sich nicht enthalten, an die Freundin Jadlowkers zu denken, an die Zigeunerin Euphemia Nikitsch. Auf eine seltsame Weise vermischte sich in ihm der berufliche und menschliche Ekel vor dem Gastwirt Jadlowker mit der schönen Sehnsucht nach der Frau Euphemia. Er wußte selbst nicht, der arme Eichmeister, was ihm da geschah. Es beunruhigte, ja, es erschütterte sein Gewissen, daß er dermaßen ständig, dermaßen unerbittlich, dermaßen gleichmäßig an die gesetzlichen Verfehlungen Jadlowkers denken mußte wie an die Schönheit Euphemias. Gleichermaßen dachte er an beides und auch gleichzeitig. Eins ging nicht ohne das andere.
Auch dieser harte Winter ging vorüber, und es kam eine Nacht, da krachte das Eis wieder über dem Fluß Struminka. Und genau wie im ersten Jahr, als er angekommen war, aber nunmehr, wie ihm selber schien, sehr gealtert und vollkommen verwandelt, erlebte er in einer Nacht im März das Krachen des Eises über dem Fluß und die Aufregung der Einwohner. Diesmal aber bedeutete ihm der Einbruch des Frühlings etwas anderes. Er kam sich sehr gealtert vor, während er so das Jahr und die Welt neu werden sah, und keinerlei Hoffnung erwachte in seinem Herzen, wie damals im ersten Jahr seiner Ankunft. Auch heute noch, wie im ersten Jahr seiner Ankunft, standen die Leute da, an beiden Ufern des Flusses, mit Fackeln und mit Laternen, und sie sprangen plötzlich auf die treibenden Eisschollen, und sie hüpften wieder ans Ufer. Es war Frühling. Frühling war es! –
Der Eichmeister Eibenschütz aber ging trostlos nach Hause. Was bedeutete ihm schon der Frühling? Was bedeutete ihm schon der Frühling? – Drei Tage später kam seine Frau nieder. In der Küche. Es war eine leichte Geburt. Kaum war die Hebamme gerufen worden, und schon war er da, der Sohn des Josef Nowak. Der Eichmeister Eibenschütz dachte, daß nur Bastarde so schnell und leicht zur Welt kommen.
Die Nacht, in der ihm der Sohn des Josef Nowak geboren wurde, verbrachte der Eichmeister in der Schenke Jadlowkers. An diesem Abend erschien auch wieder an seinem Tisch die Frau Jadlowkers. Wie beim erstenmal sagte Euphemia: »Sie trinken nichts?« – »Wenn Sie wollen, daß ich trinke, so trinke ich«, antwortete er. Sie schnalzte mit den Fingern, und der Diener Onufrij kam und schüttete das Glas des Eichmeisters voll.
Auch sie verlangte nach einem Glas. Man brachte es ihr. Sie trank den Neunziggrädigen in einem Zug aus.
Sie näherte ihr Angesicht dem Eichmeister, und ihm war es, als seien ihre Ohren mit den großen, leise klirrenden Ohrringen ihm beinahe näher als ihre hellen Augen. Er sah sehr wohl ihr schneeweißes Gesicht, aber wacher noch als sein Auge war sein Ohr. Er vernahm ganz deutlich das ganz leise Klingeln, das von dem sachten Anschlag der goldenen Münze an den Ohrring her kam, sobald die Frau eine Bewegung machte. Er dachte dabei, daß ihre Finger hart und stark und braun waren, seltsamerweise wußte er nicht mehr, weshalb er an ihre Finger denken mußte, dieweil er ihre Ohren ansah und das Klingeln der kleinen Goldmünzen vernahm.
Für die Dauer eines Augenblicks setzte sich auch Leibusch Jadlowker an den Tisch. Aber es dauerte nicht länger, als eben ein Schmetterling auf einer Blume sitzt. Im nächsten Moment war er weg. Euphemia beugte sich zu Eibenschütz hinüber und flüsterte: »Ich liebe ihn nicht! Ich hasse ihn!« – Hierauf lehnte sie sich zurück und nippte an ihrem Glase. Und an ihren Ohrläppchen klingelte es süß und sachte.
Eibenschütz konnte es nicht mehr aushalten. Er winkte dem Schankdiener Onufrij und zahlte und bestieg seinen Schlitten und fuhr nach Hause.
Er erinnerte sich nicht mehr, ob er der Frau Euphemia gute Nacht gesagt hatte oder nicht. Es erschien ihm plötzlich sehr wichtig.
Der Schnee war noch sehr hart, und der kleine Schlitten flog dahin wie mitten im Winter.
Aber von oben her wehte es schon milde und fast schon österlich herunter, und blickte man zum Himmel empor, so sah man, daß die Sterne nicht mehr so kalt und strenge dastanden. Es war, als hätten sie sich der Erde ein wenig mehr genähert. Auch ein sehr gütiger, kaum spürbarer Wind gab sich zu erkennen.
Es gab schon eine ganz gewisse herbe Süße in der Luft. Der Schimmel raste dahin wie noch nie, und dabei hatte Eibenschütz kaum die Zügel gestrafft. Der Schimmel warf von Zeit zu Zeit den Kopf hoch, wie um zu sehen, ob die Sterne schon der Erde näher gekommen wären. Auch er fühlte, daß der Frühling nahe war.
Besonders aber fühlte es der Eichmeister Anselm Eibenschütz. Während er seinem tristen Heim entgegenglitt, durch den glatten Schnee, unter dem milden Himmel, dachte er daran, daß ihn zu Hause ein Bastard erwartete. Auch darüber war er im Grunde sehr froh. Denn noch stärker dachte er an das Wort, daß ihm Euphemia gesagt hatte: »Ich liebe ihn nicht. Ich hasse ihn!«
Er hörte das Klingeln ihrer Ohrringe!