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VIII.

Skram ließ sich reichlich Zeit. Er setzte sich an ein im Vorzimmer stehendes Pult und schrieb gemächlich einige Briefe; dann nahm er seinen Hut und ging aus. Er schritt auf gut Glück zum Fjord hinüber, der im Abendscheine glänzend dalag – verfolgte den Weg, bis er die Spitze erreicht hatte, an der der Fjord ins Meer übergeht. Er dachte an nichts, sondern schritt nur vorwärts und saugte die frische Abendbrise in vollen Zügen ein.

Es war eine Viertelstunde Wegs bis zur Spitze und eine Viertelstunde zurück. Es verging im ganzen also eine halbe Stunde, und Skram wollte den beiden eine ganze Stunde lassen. Er wußte gut, wie leicht und häufig menschliche Macht versagt. Er hatte als Richter oft jener hartnäckigen Schweigsamkeit gegenübergestanden, die in entschwundenen Zeiten die Richter zur Anwendung der Folterinstrumente gezwungen hat. Er wußte, wie hilflos man einem, der nicht reden will, gegenüberstehen kann. Aber Skram war auch geduldig, und seine Stärke bestand darin, daß er immer reichlich Zeit ließ. Wer mit der Zeit rechnet, als ob alle Zeit ihm gehörte, der ist Herr über die Ewigkeit, und nur aus Schwachheit glauben die Menschen, daß die Zeit ihnen davonlaufe. So sagt der Herzog von Wien in seinem » Measure for Measure« zu dem gefangenen Claudius: »Du eilst dem Tod entgegen, wenn du glaubst, ihn zu fliehen. Alle Hast führt zum Tode. Das Leben kommt nur dem Wartenden.« –

Skram lenkte seine Schritte dem Hause des Kreisarztes zu. Der Doktor, der ihn bereits erwartete, führte ihn in sein Studierzimmer und bat ihn, Platz zu nehmen.

»Doktor,« sagte Skram, »ich will Ihnen gestehen, daß ich jetzt in einer ernsten Klemme sitze. Ich habe mir nach und nach eine Theorie über die Ermittlung und Konstatierung von Missetaten gebildet, die von der gewöhnlichen entschieden abweicht. An Indizien als Richtschnur für das Urteil glaube ich nicht; sie stellen den menschlichen Wissensdrang durchaus nicht zufrieden, sondern lassen eine niederträchtige Ungewißheit zurück, die draußen im Volke böses Blut macht. Der Zeugenbeweis ist der schlechteste von allen Beweisen; er tritt mit einer vom Gesetz bestärkten, althergebrachten Autorität auf, die ihm im voraus ein gewaltiges Übergewicht verleiht. Aber zu unsrer Zeit mit ihren tausendfachen Eindrücken, mit ihrem ganzen zusammengesetzten Gesellschafts- und Gefühlsleben hat es sich erwiesen, daß die Menschen – buchstäblich genommen – überhaupt nicht imstande sind, zu zeugen. Die Zeugenaussagen sind gar nicht mehr Berichte aus erster Hand über Gesehenes und Gehörtes, sondern sie sind gefällte Urteile nicht kompetenter Richter. Das einzige Beweismittel, dem ich mich beuge, ist das eigene Geständnis. Wenn ein Mann sagt, daß er ein Verbrechen begangen habe, so bin ich unter gewöhnlichen Umständen geneigt, ihm Glauben zu schenken. Und ich glaube nicht, daß ich je, ohne ein Geständnis erlangt zu haben, eine Verurteilung aussprechen könnte. Es kommt bloß darauf an, auf welche Weise man ein Geständnis erzwingt. Es ist lange Zeit hindurch gebräuchlich gewesen, von den Bezichtigten ein Geständnis zu erpressen; das ist allerdings ausführbar, aber es können dabei Mißbräuche vorkommen, die die Sicherheit des Resultats erschüttern. Meine Methode dagegen ist die, mit Vermutungen zu arbeiten, mir eine Ansicht über das Geschehene zu schaffen und meine Vermutungen nach Möglichkeit zu bekräftigen. Das ist allerdings schon die gebräuchliche Methode, doch wird hierbei die Gefahr außer acht gelassen, von vornherein Partei zu ergreifen. Im allgemeinen wird es für schwächlich gehalten, hinterher seine Ansicht zu ändern, bei meiner Methode dagegen ist dieses notwendig. Ich lasse die Vermutungen aus den Tatsachen, die ich in Betracht ziehe, entstehen, lasse sie verschwinden und sich gegenseitig bekämpfen. Mein Ziel ist, schließlich zu einer Ansicht zu gelangen, die allein richtig erscheint, und sie dem Betreffenden, den ich für schuldig halte, vorzulegen und auseinanderzusetzen. Wenn meine Vermutung richtig ist, wenn ich alle Wege, auf denen ich zu ihr gelangt bin, nachweisen kann, so ist es wahrscheinlich, daß ich das Geständnis erlange; das will sagen: ich siege im logischen Zweikampf.«

Der Doktor nickte. »Das sind allgemein gültige Bemerkungen, Skram – ich bin nun unbändig neugierig, die speziellen zu hören. Wen haben Sie in Verdacht?«

»Die Gräfin,« sagte Skram kurz.

»Die Gräfin?« wiederholte der Doktor und öffnete den Mund vor Erstaunen, »das ist ja ganz was Neues!«

»Für Sie – nicht für mich. Nun, da es sich nicht um Mord handelt, sondern um einen leichteren Fall, trage ich kein Bedenken mehr, Sie an meinem Geheimnis teilnehmen zu lassen. Einen Augenblick lang bin ich im Zweifel gewesen, denn sie erzählte mir mit klaren Worten, daß Viffert selbst im Ankleidezimmer des Grafen gewesen sei, nachdem er ihr Schlafzimmer passiert habe, und daß er selbst das Messer, auf dem sich unsre Theorie aufbaut, an sich genommen habe. Da sie unmöglich gewußt haben kann, daß mit den Messern etwas vorlag, so wäre das Ganze durch Vifferts Niedertracht, die mich keineswegs in Erstaunen setzt, erklärt. Nun dagegen stellt sich die Sache wieder anders. Viffert hat nicht Selbstmord begangen, schon aus dem Grunde, weil er bereits tot war, ehe ihm der Schnitt zugefügt wurde. Nicht wahr?«

»Die Wunde ist entschieden postmortal.«

»Gut, wir stehen also einem neuen Rätsel gegenüber, das sich indessen lösen läßt. Viffert hat das Messer tatsächlich in der Absicht geholt, es zu benutzen; er wollte sich den Hals abschneiden, und nur sein plötzlicher Tod hat ihn daran gehindert. Nun bieten sich zwei Möglichkeiten. Die erste ist folgende: er hat tot im Bett gelegen, ohne das Barbiermesser in der Hand zu halten – sei es, daß er seinen Selbstmordsplan hat fallen lassen, sei es, daß er zu den Vorbereitungen noch nicht geschritten war. Das Messer hat jedenfalls auf dem Tisch am Bett oder vielleicht auch auf dem Bett selbst gelegen. – Dann kam sie herein – nicht um ihn zu ermorden, sondern aus andern Gründen, um mit ihm zu reden. Sie hat ihn liegen sehen und geglaubt, er schlafe. Ein plötzlicher Einfall, das Blitzen des Messers oder, was weiß ich, hat sie mit sich fortgerissen. Sie hat das Messer ergriffen und zugeschnitten, um dann, wie Sie es für wahrscheinlich halten, zu entdecken, daß sie in eine Leiche schnitt. Wenn dies richtig ist, so liegt ein Mordversuch vor, der in Anbetracht der obwaltenden Umstände mit ein paar Jahren Zuchthaus bestraft werden würde. Es würde hart für mich sein, hier einzuschreiten, denn teils bin ich prinzipmäßig Widersacher der Bestrafung putativer Verbrechen, die in großen Kulturländern straffrei sind und es auch sein müssen, teils bin ich sehr dafür, über diese Handlung, die doch kaum mit voller Zurechnungsfähigkeit ausgeführt sein kann, den Schleier fallen zu lassen. Doch ein Konflikt liegt hier immerhin vor, und es ist von Amtswegen meine Pflicht, hier einzuschreiten.«

»Das wäre also die erste Möglichkeit,« sagte der Doktor, »und nun die zweite?«

»Die zweite,« versetzte Skram, »ist noch sonderbarer als die erste, aber dennoch neige ich zu ihrer Annahme am meisten. Viffert hatte beschlossen, sich unter solchen Umständen zu entleiben, daß ein Mordverdacht auf andre fallen mußte. Die verschiedenen Andeutungen, die er mir gegenüber gestern abend machte, bestärken mich in diesem Glauben. Die Gräfin hat sicher die Wahrheit gesprochen, als sie von seinem nächtlichen Besuche erzählte. Doch Viffert hat mehr getan; er hat sich mit dem Messer bewaffnet, sich im Bett zurecht gelegt und ist dann, ganz unerwartet, gestorben. Dann ist sie hinzugekommen, an sein Bett getreten und hat gesehen, daß er bereits tot war. Beachten Sie wohl, das ist durchaus nicht undenkbar, denn es muß gegen zwei Uhr gewesen sein, und es war somit schon hell. – Doch das Unheimliche der ganzen Situation, sein Gesichtsausdruck, der festgeschlossene Mund, die Leichenstarre und das Messer haben ihren Schritt gehemmt und sie mit Entsetzen erfüllt. Und unter dem Einfluß dieses Entsetzens hat sie wie ein Schlafwandler gehandelt, fast mechanisch das Messer ergriffen und zugeschnitten, in den Kadaver hinein, der vor ihr lag. Es klingt recht wunderlich, aber es kann doch so gewesen sein, und ich bin zu dem Glauben geneigt, daß es wirklich so gegangen ist. Diese ihre Handlung würde absolut straffrei sein, und auf dieser Grundlage kann ihr kein Prozeß gemacht werden.«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Es klingt sehr wunderlich – aber möglich ist es ja.«

»Jawohl,« sagte Skram, »es erscheint mir weit verständlicher, daß eine Frau wie sie einem nervösen, krankhaften Zwange nachgegeben hätte, als daß sie einen Mord oder einen Versuch dazu hätte vollbringen können. Eine Frau mit ihrem Naturell muß zu einer solchen Handlung angereizt werden; der passive Schlaf reicht nicht hin, aber der Tod selbst, der Tod ist ihr entgegengetreten und hat ihren Handlungsdrang in dieser wahnwitzigen Tat ausgelöst.«

»Das ist gar nicht so undenkbar,« sagte der Doktor, »– psychologisch erklärlich ist es jedenfalls. Aber was wollen Sie nun machen?«

»Das will ich Ihnen sagen,« lautete die Antwort. »Ich benutze diese beiden – wollen sagen – Richtervermutungen derart gegen sie, daß sie mir sagen muß, welches die richtige ist.«

»Und dann?«

»Einstweilen will ich mir meine Stellungnahme noch vorbehalten, wenn ich auf Sie rechnen kann.«

»Was meinen Sie damit?« fragte der Doktor.

»Ich möchte Sie fragen, Doktor, ob Sie, wenn ich es mit meiner Amtsverantwortung in Einklang bringen kann, die Sache ad acta zu legen, es als möglich dahingestellt sein lassen wollen, daß die Herzlähmung während eines Selbstmordversuches eingetreten ist.«

»Das würde mir als Gerichtsarzt peinlich sein,« sagte der Doktor, »denn, ehrlich gesagt, halte ich das für ausgeschlossen. Der Blutaustritt müßte dann viel größer gewesen sein und die Wunde würde auch ganz anders ausgesehen haben. Wie gesagt, ist es eine postmortale, keine intravitale Verletzung.«

»Die Herren Ärzte sind verteufelt sicher in ihren Urteilen,« sagte Skram. »Ich will in diesem Falle so bescheiden als möglich sein: es kann doch möglich sein, daß Sie sich irren!«

»Dann können Sie ja ein Obergutachten einholen,« sagte der Kreisarzt, ein wenig verdrossen. Es ärgerte ihn, daß man an seinem visum et repertum zweifelte.

»Auch ein gutes Wort,« sagte Skram. »Diese Sache soll entweder zu einem Fall werden, der das ganze Land in Aufregung versetzt, oder sie soll in aller Stille beigelegt werden. Ein Drittes gibt es nicht. Und würden Sie mit dem letzteren einverstanden sein, wenn ich es täte?«

»Ja,« sagte der Doktor.

»So werde ich Ihnen morgen Bescheid senden. Ich rechne auf Sie.«

Damit schieden sie.


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