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IV.

Es ging gegen den Wind den Hügel hinab. Die Gräfin redete nicht, sie saß, leicht nach vorn gebeugt, die Hände auf das Rad gelegt, während der Wind in ihren Haaren spielte. Die weite, faltige Automobilkleidung verlieh ihr etwas Unförmiges und ließ sie mit dem Rad, dem ganzen Wagen verwachsen erscheinen.

Und die Luft war schneidend trotz des Sonnenscheins.

Auch Skram redete nicht. Seine Gedanken drehten sich beständig um dieselbe Frage. Hat sie gewußt oder auch nur geahnt, daß die beiden Messer vertauscht waren? Wer kann es ihr gesagt haben? Oder ist sie wirklich unschuldig? Liegt Selbstmord vor? Hat Viffert sich noch im Tode rächen und einen verdächtigen Schein auf das Haus werfen wollen, das er haßte und das ihn haßte?

Viffert war wohl imstande dazu gewesen. Er war imstande gewesen, mit kalter, hämischer Berechnung seine Pläne auszuführen. Selbst sein Besuch bei Leonie und sein Scheck ließen sich im Anschluß hieran erklären. Der Brief war offenbar ein Glied in seinem Plan; der Verdacht sollte sich nicht gegen die Gleichgültigen, gegen die Dienerschaft, sondern höher hinauf, gegen den Grafen oder gegen die Gräfin richten.

Hatte Viffert nun diese Absicht erreicht?

Oder log sie?

Vom ersten Augenblick an war Skram einem ruhigen wohlüberlegten Plan gefolgt. Er fand selbst, daß das Glück ihn dabei begünstigt habe – zu sehr begünstigt habe. Nun hemmten die neidischen Götter seinen Schritt und stürzten ihn ins Dunkel der Ungewißheit hinaus. Nun wußte er nichts. Und die Gewißheit, die er sich erzwungen hatte, war nun zum Zweifel geworden. Er zweifelte an allem. Er stand allein; er, der Richter, der gegen die Missetat kämpfen wollte, hatte sein Schwert gerade gegen die erhoben, die er davor beschützen sollte.

Viffert hatte sicher Hand an sich gelegt. Skram stand das bleiche Antlitz des Toten mit dem zynischen Lächeln vor Augen: So narre ich Sie, liebe Obrigkeit; ein bißchen Spannung – ein bißchen Erschlaffung – voilà tout!

Und warum hatte er der Gräfin vorhin seine Vermutung verraten? Wie töricht war es von ihm gewesen, ihren Zorn zu erregen, und wie roh, sie so zu kränken! War sie unschuldig, so hatte er gehandelt, wie ein kluger Mann nicht handeln darf. Und er war doch nicht allein Richter, sondern auch ein Mann.

Das hatte er vergessen. –

Vorwärts ging es gegen den schneidenden Wind über das wellige, hügelige Land.

Eine halbe Meile von Edelsburg entfernt läuft der Weg einen Hügel hinab und führt dann quer über einen Eisenbahndamm. Die Bahnanlage gehört einer Privatgesellschaft, und am Übergang sind keine Schlagbäume angebracht, nur in kurzer Entfernung von den Schienen steht auf jeder Seite ein Pfahl mit der Warnungstafel: »Auf den Zug achten!« Und es ist nicht schwer, auf den Zug zu achten, denn die Bahnlinie schneidet den Weg im rechten Winkel und führt von der Stadt an aufwärts. Auf beiden Seiten kann man die Bahnlinie schon von weitem sehen, und überdies verkehren nur wenig Züge auf ihr. – –

Es war gegen fünf Uhr, und der von der Stadt herkommende Zug arbeitete sich schwerfällig den langen Hügel hinauf.

»Werden wir noch hinüberkommen?« fragte Skram.

»Wollen's versuchen,« erwiderte die Gräfin. »Sie haben ja Eile.«

»Wie Euer Gnaden wünschen.«

Sie fuhren jetzt mit einer Geschwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde, was weit über das erlaubte Maß hinausging, und die auf der Landstraße Befindlichen blickten kopfschüttelnd dem Wagen nach, der mit kurzen, heiseren Tutenstößen dahinjagte und den Staub aufwirbelte, daß er wie eine Mauer hinter ihm stand.

Nun näherten sie sich der Bahnlinie.

»Es geht nicht,« sagte Skram.

»Es muß gehen,« lautete die Antwort.

Die Gräfin preßte den Mund zusammen und vollführte einen Griff am Regulator. Die Steine der Straße flogen jetzt weit von den Rädern ab und schlugen gegen die Stämme der Chausseebäume.

»Haben Sie Angst, Skram?« fragte sie neckend.

»Ich habe gesagt, daß ich niemals Angst habe,« erwiderte er und lehnte sich zurück, die Füße gegen den Boden stemmend.

Es war also ihre Absicht, den Wagen in den heranbrausenden Zug hineinfahren zu lassen. Es konnte nur noch einige Sekunden dauern, dann mußte es geschehen – – nur ein Schlag – ein Krachen, und das Ganze würde vorbei sein.

Jetzt war es schon zu spät.

Die Lokomotive pfiff warnend – ein, zwei, drei, viermal – und zum fünften Mal – das Gefahrsignal.

Der Chauffeur im Hintersitz sprang auf und schrie: »Bremsen – Bremsen!«

Doch die Gräfin biß die Zähne zusammen.

Nun mußte es geschehen. Die Lokomotive stieß dichten, weißen Dampf aus; sie bremste mit aller Kraft, während ihre Pfeife die Luft durchschnitt. Und die Fahrt verlangsamte sich. Wohl war es unmöglich, den Zug zum Stehen zu bringen, er mußte über den Weg, doch Skram erkannte, daß der lautlos vorwärts schießende Wagen den Vorsprung eines Augenblicks hatte und die Bahnlinie überqueren konnte, wenn er diese Fahrt beibehielt.

Da beugte sich die Gräfin schnell herab und Skram sah, wie ihr Fuß die Bremse suchte. Er selbst war ein geübter Chauffeur und erkannte ihr Vorhaben.

Vom Zuge her erscholl das heisere Rufen des Lokomotivführers, während der Dampf, vom Winde getrieben, ihnen warm und feucht ins Gesicht schlug.

Wurde jetzt die Fahrt verlangsamt, so war ein Zusammenstoß unvermeidlich.

Und energisch beugte sich Skram zur Gräfin hin und schlug ihren Fuß von der Bremse weg. Ihre linke Hand ruhte auf dem Rad, die rechte führte sie jetzt zur Bremse hinab, die über dem Trittbrett angebracht war. Sie wollte den Wagen mit einem Ruck mitten vor dem Zuge zum Stehen bringen. Skram, der alle Muskeln anspannte, tastete mit der Linken nach dem Regulator und stellte ihn so ein, daß die Maschine mit äußerster Kraft arbeitete. Dann erfaßte er das Rad und hielt es fest, um ein Abbiegen und Umstürzen des Wagens zu verhindern. Fast auf dem Boden knieend, beugte er sich über die Gräfin, hinderte sie, die Kuppelung der Maschine mit dem Wagenrad zu lösen, und schlug mit der Linken ihre rechte Hand von der Bremse weg.

Es sauste um seinen Kopf, während der Wagen vorwärts fuhr. Einen Augenblick lang erblickte er dicht neben sich die große grüngestrichene Lokomotive mit ihren Lampen und den blanken Beschlägen und nahm die ihr entströmende glühende Hitze wahr.

Den Bruchteil einer Sekunde lang nur; dann war es vorbei – und der Wagen jagte den Hügel hinunter, während hinter ihnen der Zug mit angezogenen Bremsen und kreischenden Rädern vorüberglitt.

Skram stieß die Gräfin zur Seite, stieß sie ganz gegen die Seitenlehne; sie leistete nicht den geringsten Widerstand. Er ergriff nun selbst das Rad, schlug die Kuppelung vom Triebrade und preßte langsam die Bremse hinab, daß die Fahrt sich zusehends verlangsamte und der Wagen mit stillstehenden Rädern den Weg hinunterglitt.

Dann hielt er still – noch zitternd wie ein Renner nach wildem, wahnwitzigem Lauf.

Skram wandte sich zu der Gräfin um – sie war bleich, aber ihre Augen glühten.

Der Chauffeur stand zitternd auf dem Weg, und hinter ihnen klang das kurze Fauchen des Zuges, der sich wieder in schnellere Fahrt setzte.

Leute kamen herbei; sie wollten reden, doch als sie den Amtsrichter erkannten, schwiegen sie.

Skram erhob sich.

»Wir wollen unsre Plätze tauschen,« sagte er kurz und bestimmt. »Denn nun sind Sie nervös, Gräfin!« Und er bat den Chauffeur, wieder im Wagen Platz zu nehmen.

Dann ging es mit Skram am Rade in mäßig schneller Fahrt vorwärts. Und als sich der Staub wieder hinter ihnen hob und die ihnen nachstarrenden Leute weit zurückgeblieben waren, wandte sich Skram mit leisem Lächeln zu der Gräfin um und sagte: »Warum taten Sie das? Jetzt hege ich ja keinen Verdacht mehr gegen Sie.«

Gräfin Polly schwieg.

Aber sie war totenbleich im Gesicht.


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