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Und durch das von Kriegslärm immer lauter wiederhallende Thal wandelte der Knabe mit dem weißen Lamm.
Als er auf der Straße, außer dem Bereiche der Mutter sich befand, war er einen Augenblick still gestanden, um zu horchen. Geschrei, Gerassel, Glockenläuten, Pferdegewieher von allen Seiten. Aus der obern Gegend, wo durch die finsterbewaldete Schlucht der Eisack hervorkam, dröhnten Kanonen. Nach dieser Richtung hin eilte Hans, der kleine Wirtssohn von der Mahr. Von der wildbewegten, staubwirbelnden Straße bog er ab und schlug einen Feldweg ein. Auf demselben ging schleppend ein alter Mann hin, der am Rücken in der braunen Holzkraxe eine Ladung von »Herrgötteln« hatte. Den holte der Knabe bald ein und er betrachtete die neugeschnitzten Kruzifixe; solche waren in verschiedenen Größen für Kirche, wie für Haus und Wegsäulen gemacht und sorgsam bemalt. Ein paar davon hatten um das Haupt sogar vergoldete Glanzstrahlen. Aus dem Pitzthale war der Mann, war friedsam und fromm mit seiner christlichen Ware die weiten Straßen gezogen, einkehrend überall. Denn es steht kein Haus in Tirol, das nicht seine Kruzifixe hat, außerhalb, innerhalb den Wänden, in der Vorlaube, an der Tischecke, in der Schlafkammer, aber auch an Zäunen und Baumstämmen, an Kreuzwegen, an Brücken, Brunnen und Wegpässen, an Unglücksstellen und schönen Aussichtspunkten – überall das Kreuz. So waren für den »Herrgotteltrager« aus dem Pitzthale, wo die Bildnisse geschnitzt wurden, auch stets gute Zeiten gewesen – und nun sah er sich plötzlich mitten unter rohen Soldaten. Anstatt zu beten, fluchten sie, anstatt zu loben, daß er mit schönen Herrgötteln daherkäme, höhnten sie ihn, und anstatt etwas zu kaufen, rissen sie ihm einmal die Kraxe auseinander, grausam schimpfend über ein »bigottes Gesindel«, das den hölzernen Christussen vor lauter Frömmigkeit die Zehen wegküsse und meuchlings aus dem Hinterhalte auf Menschen schieße. – Der alte Hausierer verstand zuerst gar nicht, wie das gemeint war; als er aber unweit von sich einen französischen Reiter, der ruhig des Weges getrabt kam, plötzlich vom Pferde fallen sah, nachdem im Gebüsch ein Schuß gefallen, verstand er es wohl und murmelte in seinen weißen Bart: »Geschieht euch recht. Hat euch wer gerufen ins Tirolerland herein?«
Diesen Alten holte nun der Knabe ein auf dem Feldweg. Gleich rief er ihn an: »Herrgöttelmann, kauf mir mein Lamm ab!«
Der Alte blieb stehen, schaute um und als er den Knaben sah, fragte er: »O Kleiner! Wagst du dich denn aus bei so schlechtem Wetter? Wohin willst denn mit deinem Schafkind?«
»Verkaufen!«
»Schafbraten, jetzt, wo Menschenfleisch so wohlfeil ist? Dumme Zeit. Wieviel willst denn für dein wollenes Rössel?«
»Daß ich mir einen Stutzen kann kaufen,« sagte der Kleine.
»Du?« fragte der Alte und lugte so drein, »was brauchst denn du schon so ein Rauchrohr!? Ein Christussel geb' ich dafür, daß du's deiner Mutter kannst bringen.«
»Ich' will einen Stutzen zum Schießen,« sagte der Knabe mit großer Entschiedenheit und eilte dem Alten voraus.
Dieser schüttelte den Kopf. Das war ihm auch noch nicht vorgekommen im Lande Tirol, daß man den Herrgott vor einem Schußprügel zurücksetzt.
Der Knabe kam bis Neustift, wo er sah, wie man von der Wand eines großen Hauses just den bayrischen Adler herabriß und in eine Pfütze warf. Dem Taubenwirtshause ging er zu, wo er sonst mit seinem Vater schon mehrmals gewesen; es war aber das Hausthor verschlossen und zum Fenster fragte eine alte Frau heraus, was er wolle?
»Wer kauft Lämmer?«
»Hast Hunger?«
»Ein Schußgewehr brauch' ich.«
»Kind Gottes, es gibt für die Großen ihrer nicht genug.«
Der Knabe ging durch die Feldschranke hinaus und zog weiter. Das Lamm blökte, so stellte er es auf den grünen Rasen, daß es Gras fressen konnte. Das Tier machte sich alsogleich dran mit hastigem Schnäuzlein. »Eile doch nur!« redete ihm der Knabe zu. »Lange kann ich dir nicht Zeit lassen. Mir ist recht leid, daß du fort mußt, aber schau, müssen der Vater und der geweihte Vetter und die andern auch fort. Ja, wenn du ein Löwe wärst, da könnte ich dich schon brauchen, aber du bist ein Lamm. Du bist viel zu gut, mein armes herzliebes Lämmel, du!« Er koste es und dann ging's wieder fürbaß.
Bei Schabs kam er zur Straße und konnte ihr nicht mehr ausweichen. An den Hängen war dichtes Gebüsch. Da holte ihn ein rasselndes Fuhrwerk ein. Vier Pferde und acht Bayern brachten eine Kanone daher. Einer der Soldaten packte den Knaben mit dem Lamm, hub sie empor und mit den Worten: »Das sind die Richtigen!« setzte er sie auf die Kanone, so daß der kleine Hans, das gewaltige Erzrohr zwischen den Beinen, förmlich darauf ritt. – Auch gut! dachte er sich, blieb ruhig sitzen und preßte seinen Liebling mit beiden Armen an die Brust.
»Na, junger Tiroler, reitest du auch gegen die Bayern?« spottete der Soldat.
»Ja,« antwortete der Kleine trotzig.
»Wessen Sohn bist du, tapferer Held?«
»Des Mahrwirts.«
»Des Mahrwirts? Des Aufrührers? Des Rebellen?« riefen mehrere der Soldaten zugleich.
Der Knabe schwieg und biß sich in die Lippen. Ein schlimmes Wort, das ihm da entsprungen war! Das konnte ein Unglück geben, er war sich rasch darüber klar; er wußte zu gut, wie sehr sein Vater von den Bayern gehaßt war, und sie schienen nicht im Unklaren über ihn zu sein. Nun werden sie den Sohn gefangen halten und schweres Lösegeld für ihn begehren. Oder gar den Vater zwingen, mit seiner Freiheit das Leben des Kindes zu kaufen. – O nein! ein solches Leben brauche ich nicht. Lieber stürze ich mich vom Felsen herab.
»Also des Mahrwirts Sohn!« sagte der Soldat noch einmal. »Da willst du jetzt deinen Vater suchen, nicht wahr? Und ihm einen Lammbraten bringen zum Siegesmahl, wie? Ich kann dich weisen, dein Vater hat sich heute früh schon bei uns angemeldet, er wird da oben sein bei den andern Rebellen, da in den Büschen oben. Wird wohl so sein, nicht wahr? Na, Bürschel, wir werden ihn schon finden. Er wird uns bald entgegenkommen, er will die Bayern ja lebendig spießen, nicht wahr? Ein wackerer Mann, dein Vater. Wir wollen ihm auch eine große Ehre anthun. Auf den allerhöchsten Fichtenbaum, nicht wahr? Oder viertheilen, daß sie in jedem Viertel Tirols ein Stück von ihm kriegen, wie?«
Der Knabe zuckte bei solchem Zuspruch ein wenig mit den buschigen Augenwimpern, schwieg und blieb sitzen auf der Kanone, als ob er angegossen wäre. Aber kläglich blökte das Lamm. Das schwere Geräder holperte ächzend weiter; sie kamen schon gegen die Waldschlucht, wo aus den Tiefen und von den Hängen bläulicher Rauch aufstieg. Dort und da konnte man den Rauch wie weiße Springbrunnen hervorschießen sehen und dabei war ein Geknatter zu vernehmen, als brächen im Walde alle Baumstämme nieder.
»Siehst du, Junge, da geht's lustig zu!« sagte der gesprächige Soldat zum Knaben, während er nebenherschritt und gleichwie die übrigen den Wagen rasch weiterzubringen trachtete. Dann zu den Genossen: »Was glaubt ihr, Kameraden, sollen wir den schönen jungen Tiroler, den wir bei uns haben, nicht austrommeln lassen? Die Herren Strauchschützen sollen doch einmal unsere Kanone aufs Korn nehmen. Vielleicht will's der Mahrwirt selber thun, nicht wahr? Der ist ja überall voran.«
Wie ein Kätzlein, so sprang der Knabe plötzlich vom Gefährte auf die Straße, beinahe wäre er entkommen, aber der Bayer erhaschte seinen Arm und sagte, ihn festhaltend, ganz gemüthlich: »Oha, junger Herr, wir bleiben noch beisammen.«
Das Lamm war von den Rädern zermalmt und sein rotes Blut färbte die staubige Straße. In demselben Augenblicke zuckte der gesprächige Soldat zusammen, fuhr mit beiden Händen an den Kopf und stürzte zu Boden. Der Knabe war frei, aber nur für einen Augenblick, schon faßten ihn zwei andre. Die übrigen der Bedeckung hatten ihre Gewehre von den Schultern gerissen, wußten aber nicht, wohin zielen, denn sie sahen nur Gebüsche, Bäume und Steine, aber keinen Feind. Fast wahnwitzig schossen sie auf das Buschwerk hin, gegen Stellen, wo eben wieder frischer Rauch aufwehte.
Sie waren mitten im Treffen. Aus der Schlucht hervor brachen Bayern und Franzosen. Ein bayrischer Hauptmann gab die Parole aus: den Mahrwirt fangen! An die Lehnen kletterten sie hinan, viele purzelten zurück in die Tiefe. Auf andre hatten sich aus Verstecken Bauern gestürzt und sie rangen miteinander. Aus einem Strauche hervor sprangen etliche Tirolerschützen zur Straße herab und auf die Kanone los. Roß und Reiter stürzten, da sprengte mit verhängten Zügeln ein Rothmantel heran und spaltete mit dem Säbel einem stattlichen Landjäger, der ihm den Aermel durchschossen hatte, das Haupt.
Der Knabe Hans nutzte die Verwirrung, um den Hang hinanzuklettern, da sah er am Straßenrand den furchtbar zugerichteten Bauernschützen. Einen gellen Schrei stieß er aus, stürzte sich an die Brust des Toten und rief in heller Verzweiflung: »Mein Vater! Mein Vater!«
Mehrere der feindlichen Männer standen einen Augenblick vor diesem herzzerreißenden Bilde. Endlich sagte einer, auf den Erschlagenen weisend: »Schade, den hätten wir lebendig haben sollen. Es ist der Mahrwirt.«
Bald ging's um unter den Truppen: »Der Rebell ist erschlagen!«
Immer mehr belebte sich der Platz mit Kämpfenden. Zur Rechten war der steile Hang, zur Linken das tiefstürzende Ufer des Wassers. Die Franzosen führten ununterbrochen ein heftiges Geschrei, das von Trompetenstößen schrill durchschnitten wurde. Die Tiroler hinter ihren Verschanzungen zielten ruhig und schweigend, fast bei jedem Schusse purzelte ein Mann. Der Sohn des Mahrwirts war entkommen. Behendig wie eine Wildkatze kletterte er an dem Felsenschrunde hinan gegen die Schützen. Unter finstern Fichten trat der Kreuzwirt von Brixen auf ihn zu und fragte erregt: »Ist's wahr, was sie sagen? Dein Vater . . .«
»Wo ist mein Vater?« rief der Knabe.
»Du sollst ihn ja selber liegen gesehen haben.«
»Nein,« antwortete der Knabe, »der ist es nicht gewesen.«
»Du sollst es doch selber gesagt haben!«
»Ich habe es nur gesagt. Er ist es nicht.«
»Hans!« versetzte der Kreuzwirt, »warum frevelst du so?«
»Ich hab's gesagt,« entgegnete der Knabe trotzig, »damit sie meinem Vater nicht mehr nachstellen.«