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Es war erst fünf Uhr am Morgen, aber die Hausthüren waren schon überall aufgeschlossen und auf dem Marktplatz entwickelte sich bereits ein reges Durcheinander.
Schlächter Krone war »Festausschuß«. Er ging mit sehr großen Schritten umher, um die Guirlanden zu besehen, die an den Häusern hingen und diese wieder mit den Laternenpfählen verbanden, welche den Marktplatz einfaßten. In jeder Marktplatzguirlande hing ein Kranz mit einer Citrone, was einen geradezu überwältigenden Eindruck machte, eine Stiftung der Frau Kolonialwarenhändlerin Traut.
»Vor de neie Fahne is mer nischt zu viel,« hatte sie erklärt, »un ech schwör's Ihnen, Herr Festausschuß, ech will nich eene eenziche Citrone widder habn, o gongträr in Gegenteil, ech will abends de Damens uff Citronlamunade frei halte, wenn mir de Lausejungen nich vorher de Citronen runtermausen.«
Herr Schlächter Krone inspizierte weiter. Er nickte durch ein offenes, niedriges Fenster der kleinen blassen Nähterin zu, die an der Nähmaschine saß und ein grell rosafarbenes Kleid der Vollendung entgegen brachte.
»Nicht so fleißig sein, Fräulein Keilhau, Sie wissen doch, was Doktor Karsten sagt: Immer hübsch Pausen machen und an Ihre kranke Brust denken!«
Fräulein Keilhau lächelte wehmütig.
»Ich möcht schon dran denken,« entgegnete sie, ohne auch nur von der Arbeit aufzusehen, »aber Fräulein Eckardt denkt nicht dran, sie hat schon dreimal hergeschickt, ob das Kleid auch ja fertig würde, und ich muß doch immer wieder auftrennen, weil ihr nichts recht ist.«
Schlachter Krone murmelte etwas, was nicht schmeichelhaft für Fräulein Eckardt war. Dann lief er, so schnell es seine behäbige Person erlaubte, nach seinem eigenen Laden und gab den Befehl, der Schneiderin, Fräulein Keilhau, zwei Pfund saftige Querrippe zur Suppe hinüberzuschicken und suchte selbst noch ein paar Markknochen dazu aus. Dann legte er aus seinem eigenen Geldbeutel eine Mark in die Ladenkasse, – seine Frau ist ja zwar »'ne Seele von 'ner Frau«, aber für solche kleine Wohlthaten, wenn die rechte Hand nicht weiß, was die linke thut, fehlt ihr das Verständnis. Wozu auch solch Aufhebens machen um 2 Pfund Querrippe, dachte der brave Meister. – – – –
In der »Thüringer Edeltanne« war auch schon alles auf den Beinen. Die Holzböcke wurden in dem großen Saal zurecht gestellt und die Tannen-Bretter darüber gelegt, darauf kamen dann die »eigengemachten« Tischtücher der Frau Wirtin, – an solchen Festtagen durfte sie ihre Aussteuer recht zeigen, und wie wurde von dem weiblichen Teile Schwarzhausens darauf geachtet! Die Servietten waren wahre Riesendinger und ungeheuer schwer zu handhaben, sie wurden nur an der Quertafel aufgelegt, wo die Honoratioren saßen, die an »sowas« gewöhnt waren. »Was nutzt der Kuh Muschkate,« dachte die Wirtin verächtlich, denn beim letzten Scheibenschießen hatte der Schneidermeister Kniesel seine Serviette hochgehoben und gerufen: »Kellner, nahm Se emol das Dingerichs wech, Se glaben wohl, ich hätt kee Schnupptuch nich?« Aber andrerseits hatte die Wirtin auch ihre Freuden damals, denn die Frau Oberst Schlieden hatte sie durch einen Wink besonders herangerufen und ihr versichert: »Solches Gespinst findet man heutzutage selten,« na und die mußte es wissen. Freilich war die schwere Serviette immerwieder von dem seidenen Kleid der Frau Oberst auf die Erde gerutscht und ihr Tischherr, der Brauer Jobst, war jedesmal diensteifrig unter den Tisch gefahren, von wo er krebsrot wieder zum Vorschein kam. Diesmal hatte ihn Doktor Karsten deshalb an einen serviettenlosen Tisch bugsiert, – der Mann neigte zu Schlagflüssen.
Jean, der Oberkellner, schwebte über dem Ganzen. Er rührte nicht einen Fuß, er kommandierte nur, und betrachtete die Ohren des kleinen Piccolo als Glockenzüge, an denen man beliebig reißen konnte, um die mannigfachsten Dinge herbeizuklingeln. Karline, das Aufwartmädchen hatte einen Ungeheuern Stapel Teller vor sich stehen, die sämtlich noch mal abgeputzt werden sollten; für allzu heftige Flecke stand eine »Kumme« mit warmen Wasser da. Karline war aber auch geistig thätig, sie wiederholte ein »Gedicht«, das sie abends aufsagen sollte, wenn der Kriegerverein seinen Rundgang durchs ganze Haus machte und auch in die Küche kam.
»Heil euch, Ihr edelen Gestalten – Gestalten – Gestalten« – – Karline kam nicht weiter, da war auch ein Fliegenfleck auf dem Teller, der »barduh« nicht weichen wollte. »Heil euch Ihr edelen Gestalten« – schwapp – sie dachte nicht mehr an die Kumme mit dem warmen Wasser, – im Feuer patriotischer Begeisterung hatte sie sich auf andere Weise geholfen, der Fleck war fort und – »mög' Frieden egal euch umwallen«, deklamierte sie gemütsruhig weiter. Gut, daß der Herr Bürgermeister, als er am Abend den Teller bekam und mit großem Appetit Braten und Gemüse davon aß, nichts ahnte.
*
Die Fahnenweihe war vorüber, der Herr Pfarrer hatte schön, warm und zum Herzen gehend gesprochen. Kerlchen hatte im weißen, gestickten Kleidchen mit schwarz-weiß-roter Schärpe ihr Festgedicht schwungvoll vorgetragen, nur allzu schwungvoll, denn im Feuer der Begeisterung kippte der Tisch um, den man für das kleine Persönchen auf den Marktplatz hingestellt hatte, und Kerlchen wäre unrettbar heruntergefallen, wenn es nicht vorgezogen hätte, mit einem improvisierten »Hurra« das etwas längliche Gedicht willkürlich zu kürzen und herunterzuspringen, eine Störung, über die von den Schwarzhäusern mild lächelnd hinweggesehen wurde, sie waren Schlimmeres gewöhnt. Dann sang der Mollakkord: »Nun laßt uns gehn und treten,« was von der freudig erregten Menge buchstäblich genommen wurde, ferner: »Das ist der Tag des Herrn« und zum Schluß: »Was ist des deutschen Vaterland?« eine wohlangebrachte Frage, da in der Nähe von Schwarzhausen drei Grenzsteine von verschiedenen kleinen Staaten standen.
Dann ging der »unabsehbare Riesenzug« zur Thüringer Edeltanne, es war kein Ende abzusehen, denn von den 4000 Seelen, welche Schwarzhausen zählte, war außer dem Kriegsveteranen Wiedeborn, der nicht mehr laufen konnte und seinem Urenkel Friedel der noch nicht laufen konnte, alles zur Stelle.
Die Wirte von Schwarzhansen schmunzelten, denn die »Thüringer Edeltanne« konnte nicht alle fassen; so kam die »goldene Traube«, das »schwarze Roß«, der »grüne Jäger«, der »weiße Schwan«, ja selbst die untergeordneten Wirte, zur »dreck'gen Gabel« und »zum renklichen Löffel«, auch noch auf ihre Rechnung.
In der »Thüringer Edeltanne« wurde zunächst mal ein Frühschoppen getrunken, an den sich der Einfachheit halber gleich das »Festessen« und – abends der »Ball« anschloß. Um 1 Uhr mittags wurde der Herr Oberst feierlich begrüßt; der Vorstand des Kriegervereins gewährte huldvollst Verzeihung, daß die Frau Oberst wegen »Familientrauer« nicht mitkam und dafür Kerlchen schickte. Kerlchen sollte deshalb auch für den »offiziellen« Teil des Programms auf dem »offiziellen« Ehrenplatz der Frau Oberst sitzen, war aber gleich beim Eintritt in den Saal von ihrem alten Todfeinde Dingelmann, in Firma Schnabel und Sohn, angerempelt worden und befand sich demgemäß in einer regelrechten Prügelei mit ihm, – weshalb es endgültig an den Kindertisch verbannt wurde.
Oberst Schlieden hielt eine Kaiserrede – die war »nich von Pappe«, wie Schlachter Krone mit Begeisterung betonte, der Bürgermeister sprach auf »Seine Durchlaucht« und ein brausendes Hurra brach los, denn das Stadtoberhaupt hatte es verstanden, alle die kleinen und großen, schönen Züge im Leben des edlen Fürsten mit schlichter Natürlichkeit hervorzuheben.
Dann kamen in unabsehbarer Reihe die andern Trinksprüche; der Apotheker Ganswind ließ allein »sieben« von Stapel, so daß ganz zuletzt noch ein Witzbold rief: »Die Zwei, die alle Menschen leben lassen, der liebe Gott und der Herr Apotheker Ganswind, sie leben hoch!«
Um vier Uhr verabschiedeten sich der Herr Oberst, der Herr Bürgermeister, der Herr Postdirektor, der Herr Pfarrer, der Herr Hofapotheker und der Doktor Karsten, letzterer endgültig und mit vollem Fug und Recht, denn: »So 'n Mann muß nüchtern sein, wenn Unsereinen was Menschliches bassiert, dadervor is er Dokter.« Diesen Herren folgten die »Muskanten«, die sich erst etwas »verpusten« mußten, um abends 7 1/2 Uhr wieder auf Posten zu sein und den Ball würdig durch eine ellenlange »Pollnäse« einleiten zu können. Um 7 Uhr erschienen sämtliche Frauen der Krieger mit ihren Töchtern und Söhnen, die »Mächens« waren »scheene durch de Bank«, wie das starke Geschlecht anerkannte, jedenfalls waren es durchweg frische, vollwangige, liebliche Thüringer Provinzmädelgesichtchen. Auf die Gewänder war natürlich viel Zeit und Mühe verwendet worden, wenn sich auch die Wenigsten ein nagelneues Kleid angeschafft hatten, wie Fräulein Eckardt, die noch vor einer Viertelstunde der letzte »Haken uff 'n Leibe angenäht worden war«, worauf sich die totmüde Schneiderin mit einem erlösenden Seufzer ins Bett gelegt hatte. Alle andern Mädchen hatten jedenfalls Seife, Stärke und Waschblau nicht geschont und die Frau des Böttchers Hildebrand erklärte mit Stolz: »So steif und blau wie heite war meine Male noch nie.«
Die Herren räumten nun rasch ihre Plätze, Der Oberkellner Jean trat wieder in seine Kommandostelle und bald war das »Hufeisen« aus dem Saale entfernt, der nun mit viel Staubaufwirblung gefegt und mit Talkum bestreut wurde. »Etze fluscht's aber,« meinte der Tanzordner zu seiner Erwählten. Allmählich erschienen auch die Musikanten wieder, einer nach dem andern und stimmten ihre Instrumente; natürlich fehlte, wie immer, die »gottheilluse Klarinette«, die noch einen von des Tannenwirts »echten« Schnäpsen genehmigte. Endlich kam auch die Klarinette, fiel aber gleich über einen schnöde daliegenden Knochen, und verstauchte sich dermaßen, daß ihr während des ganzen Abends das Ventil versagte.
Nun erschienen der Herr Bürgermeister, der Herr Hofapotheker, der Herr Rechtsanwalt und der Herr Major a. D., jeder mit seiner Frau. Man wußte von dem Herrn Major nicht viel, er verhielt sich außerordentlich schweigsam über seine Laufbahn. Böswillige behaupteten, er hätte als Leutnant den Abschied genommen, ein wohlhabendes Schwarzhauser Mädchen geheiratet und dieses sei im Laufe der Jahre »auf eigne Faust« zur »Frau Majorin« avanciert, wobei ihr Gatte den Vorteil hatte, mit zu avancieren. –
Die »Pollnäse« begann: Schlachter Krone eröffnete sie mit der Frau Bürgermeisterin und der endlose Zug ging durch alle Räume und Gemächer des Hauses: Schlachter Krone war unerbittlich und die Frau Wirtin konnte es ihm später nie verzeihen, daß er auch ihre »unaufgeräumten« Kammern »durchpollnäste«, anstatt sich mit der tadellosen »guten Stube« zu begnügen. In der Küche empfing Karline die Krieger und sagte ihre »Lex« so überwältigend auf, daß die Wirtin beschloß, ihr fünfundzwanzig Pfennig zum monatlichen Lohn zuzulegen; außerdem erhielt sie ein himmelblaues Band, das noch an demselben Abend »anprobiert« wurde. Nach der »Pollnäse« waren alle reichlich erschöpft, und ruhten sich bei einer »Tulpe hiesiges« aus, und während dieser Pause erschien die Frau Kanzleirätin Pfotenhauer. Sie hätte natürlich schon früher da sein können, aber sie hatte irgendwo gehört, daß »wer 'n bißchen was is«, spät kommt. Gleich beim Eintritt stieß sie auf Kerlchen, welches eben heimgeholt wurde, und in Anbetracht der blauen Flecke, die ihr Enkel Dingelmann heimgebracht hatte, nahm sie die Gelegenheit wahr, Kerlchen etliche heimliche Knüffe zu verabfolgen. Kerlchen trug aber nichts nach, sie brachte der stuhllosen Kanzleirätin sogar eine Sitzgelegenheit und erhielt vom Vorsitzenden für diese edle That ein Bonbon. Daß der Stuhl mit hellgrüner Farbe frisch angestrichen war, merkte man leider erst, als die Kanzleirätin vom Schlachter Krone zu einem sanften Großvaterwalzer »ankaschiert« wurde. Unter lautem, ungebildeten Gelächter sowohl, als auch unter verstecktem »Grienen« der schnöden Mitwelt tanzte sie dahin und es war offenbar Hohn des Schicksals, daß sie nach den bekannten anzüglichen Versen walzte:
»Wenn ich ämol 'ne Farbe seh,
Ne rechte scheene griene.
Dorchzieht mei Herz ä stilles Weh,
Dann denk ich an Bauline.«
Der Ball war in vollem Gange. Die Löwen des Ballsaals, Leutnant von Wenzel und Referendar Hammer, hatten bereits ihren Damen das »Neuste« beigebracht und die Paare wurden gebührend ob ihrer »Kratzie« bewundert, und der sonst sehr begehrte, aber heute beinahe kalt gestellte zweite Provisor der Hofapotheke stand thränenden Auges an einem der vier Pfeiler. Nicht, daß er so unmännlich gewesen wäre, über seine heutige Niederlage zu weinen, – diese flößte ihm höchstens Verachtung gegen die »Frauenzimmer« ein – oh, nein, seine Augen thränten, weil er sich zur Feier des Tages für seine durchaus gesunden Sehorgane einen Klemmer geliehen hatte. Das Unbehagen, welches ihm das Glas verursachte, das noch dazu ein »kurzsichtiges« war, stand in keinem Vergleich zu dem schwachen Bewußtsein, »nach was auszusehen«. Mitten in der Festfreude wurde Leutnant von Wenzel, der Adjutant des Obersten, plötzlich abgerufen; man fand das von Seiten der sämtlichen Damen »unerhört«, und als man nach kaum einer Viertelstunde den Obersten samt seinem Adjutanten im scharfen Trabe zum Bahnhof fahren sah, war man »empört«: »Oberschtens erlaubten sich äbend alles.«
*
Um zehn Uhr entstand eine feierliche Pause, man hatte den Telegraphenboten ins Haus gehen sehen, man erwartete die Antwort des Fürsten auf das Telegramm, das mittags als Huldigung an Seine Durchlaucht abgegangen war. Schlachter Krone rückte krampfhaft an seiner Halsbinde, die Vorlesung dieses Telegrammes kam ihm zu; dies war für alle Teilnehmer in jedem Jahr der feierlichste, erhebendste Augenblick vom ganzen Tage. Sein loyales Herz schlug in stürmischen Schlägen, denn sein Fürst sprach zu ihm, dem Schlachtermeister Krone. Er nahm noch mit leidlicher Würde dem Boten das Telegramm ab, dann aber erbrach er es hastig mit zitternder Hand. Aber, was war das? –
Wieder und wieder las er es, er wischte sich mit der Hand über die Augen, unfähig, ein Wort herauszubringen, als nur das eine: »Unmöglich, unmöglich!« Krampfhaft stützte er sich auf den Tisch, dann erschütterte ein trocknes Aufschluchzen seinen Körper.
Der Bürgermeister riß das Telegramm an sich, dann richtete er sich hoch auf: »Unser allergnädigster Fürst ist soeben sanft entschlafen.« Niemand hatte dazu aufgefordert, ohne weiteres erhoben sie sich von ihren Sitzen, die einfachen Kleinstädter, die Frauen weinten leise, die Männer reichten sich stumm die Hände, einen Augenblick war es totenstill im Saal.
Dann aber rannten alle durcheinander, die Frauen eilten zu ihren Männern, sie kamen sich plötzlich so schutzbedürftig vor, eine nie gekannte Erregung ging durch die Gemüter. »Liebe Mitbürger,« rief der Bürgermeister mit bebender Stimme, »wir wollen alle recht ruhig nach Hause gehen und dort still um unsern heimgegangenen Fürsten trauern.«
*
Schwarzhausen liegt in tiefstem Schnee; Weihnachten steht vor der Thür, der Abend des vierundzwanzigsten Dezembers ist eben angebrochen.
Die Villa vom Oberst Schlieden erscheint bis in die tiefsten Winkel taghell erleuchtet, denn der Hausherr ist soeben vom sonnigen Süden in sein verschneites Heim zurückgekehrt, um das Weihnachtsfest mit seinen Lieben zu feiern. Er hat frohe Nachricht mit heimgebracht: Der junge Fürst Elimar, welchen er unter Obhut der verwitweten Fürstin-Mutter in San Remo zurückgelassen hat, hat an das Kerlchen und Erich tausend herzliche Grüße bestellen lassen und: »Es ginge ihm viel, viel besser, er hoffte sicher auf ein Wiedersehn im Frühling.« Oh, nun konnte man doch Weihnachten fröhlich feiern! Dem Kerlchen hatte der Gedanke an ihren einsamen Li fortgesetzt schwer auf der Seele gelegen und sie hatte nie so recht froh sein können. Nun aber hatte der einzig gute Vater unvermutet liebe Weihnachtsgäste mitgebracht, Fritz von Rumohr und seinen Vormund – den prächtigen Onkel Liskow. Das sollte ein Fest werden! Kerlchen hatte mit seinen ewig zappelnden Händen die wunderbarsten Arbeiten zusammen »geprünt«, wie Herr Boorde sich ausdrückte. Für den Vater aus weißer Wolle einen schwarzen Strumpf, der andere befand sich in Vorbereitung; für die Mutter etwas, das kein Mensch erklären konnte; Kerlchen selbst gab es für einen Wäschebeutel aus, aber der Oberst meinte, dieses Ding lüde förmlich zum Grübeln ein und würde seine Phantasie bis in Ewigkeit rege erhalten.
Für alle Übrigen hatte Kerlchen »Seifläppchen« gestrickt, aus denen Dorette zuerst »Bouillon« gekocht hatte, aber dann, als sie aus der Wäsche erstanden, wurde ein rotes Rändchen drum gehäkelt und nun sahen sie ganz schmuck aus.
Als es vom Kirchturm sechs Uhr schlug, setzte sich die Hausfrau an den herrlichen Flügel, der Oberst stand neben ihr und hatte den Arm leicht um sie gelegt, Kerlchen schmiegte sich an seine Seite. Erich hatte Fritz von Rumohr herzlich umgefaßt, er fühlte, was durch die Seele des verwaisten Jungen ging, der nie ein schönes, warmes Elternhaus gekannt hatte. Onkel Liskow war zu dem jungen Lehrer getreten, in dessen Gesicht es mächtig arbeitete. Auch er war in der Welt herumgestoßen worden, bis er in diesem Hause eine zweite Heimat gefunden hatte. Es war lange her, seit seine tote Mutter ihm am Heiligabend die Hände zum Gebet gefaltet hatte; er that heute unwillkürlich das Gleiche, während die feierlichen Klänge durch das Zimmer rauschten: »Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren.« Dann stand Kerlchen wortlos vor dem reichen Geschenktisch, auf dem so unendlich viel Gaben lagen, die meistens im Auftrage des Fürsten gesendet waren.
Es war zu viel für ihr anspruchsloses Empfinden, sie raffte tiefaufatmend ein Buch vom Tisch, das Onkel Liskow ihr dort hingelegt hatte, nahm noch den Teller mit Äpfeln, Nüssen und Pfefferkuchen mit sich und setzte sich unter den Tannenbaum. Kerlchen hatte keinen Hunger, als man zu Tisch ging, es vergaß alles um sich her und las und las: »Onkel Toms Hütte.«
Fritz von Rumohr stand lange Zeit schweigend vor seinem reichen Tisch. Er war noch so tief traurig in seinem Innern, gerade heute brach die Erinnerung mit unbezwinglicher Gewalt durch. Aber neben der Trauer wuchs eine große Dankbarkeit in ihm auf gegen die lieben Menschen, die ihm ein so liebes, schönes, deutsches Fest bereiteten; er betrachtete mit Staunen und Freude alle die prächtigen, mit feinstem Geschmack ausgesuchten Geschenke, – sie waren nach seiner Meinung ja viel zu kostbar für ihn – am meisten freute er sich aber doch über den Seiflappen von Kerlchen. –
Nach Tisch las Kerlchen immer noch, während die Großen um eine dampfende Terrine saßen, aus deren Innern verlockender Duft aufstieg, der zu einem höchst vortrefflichen Punsch gehörte. »Ah, ist das gemütlich!« rief der Oberst aus und reckte sich behaglich im weichen Sessel, »Kinder: Nord, Süd, Ost, West, to Hus is 's Best! Und nun wollen wir auch den Thüringer Kräpfeln, die unsere Dorette gebacken hat, alle Ehre anthun.«
»Ja,« schmunzelte der Kapitän, »gemütlich ist's, und genau das Gegenteil hiervon ist ein Weihnachten auf hoher See. Dankt Gott daß Ihr immer die Heimat habt.«
Er blickte sinnend vor sich hin. An seinem Geiste zogen die Jahre vorüber, die schönen und die schweren Stunden seines Lebens, die letzteren waren allzeit in der Mehrzahl gewesen. Vorbei! Jetzt hatte ihm das Schicksal wieder einen Sohn gegeben, er wollte sich dafür dankbar erweisen und den Fritz von Rumohr zu einem tüchtigen Manne erziehen. Er streckte dem Jüngling die Hand hin und dieser zog sie an seine Lippen.
Kerlchen sprang von seinem Buch auf und legte die Arme um Kapitän Liskows Hals. »Hast du den Fritz jetzt allein lieb?« fragte es stürmisch.
»Nein, du Eifersüchtiges,« lachte der Kapitän, »aber du sollst den Fritz lieb haben, denn er ist jetzt mein Junge!«
Er zog die beiden jungen Menschenkinder an sein Herz.
Erich sah leuchtenden Blicks auf die Gruppe.
Oberst Schlieden hielt seine Gattin umschlungen, ihr Kopf ruhte an seiner Schulter.
»Was wird das kommende Jahr uns bringen?« fragte er.
»Mundschenk, walte deines Amtes! Wir wollen das Glas der unbekannten Zukunft weihn! Gottlob, unser alter Herrgott lebt noch.«
Hell klangen die Gläser an einander.
Leise brannten die Wachslichtchen herab, verlöschten knisternd und verbreiteten den lieben, weihnachtlichen Duft, den niemand vergißt, der ihn einmal geatmet.
*
Ende.