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Der Zug sauste durch die friedliche Thüringer Landschaft. Kerlchen stand am Wagenfenster und drückte ihr Stumpfnäschen an den Scheiben platt. Es war so interessant zu beobachten, wie die Telegraphendrähte sich gegeneinander neigten, höher und höher stiegen und sich so hart streiften, daß man immer meinte, die Schwalben, die sich so vergnügt auf den Drähten wiegten, müßten plötzlich elendiglich zerquetscht zu Boden fallen. Aber die Telegraphenstangen besannen sich eines Bessern, sie kamen wieder zurück, verneigten sich vor den Fenstern des vorbeijagenden Zuges, und das lustige Spiel begann von neuem. Die Schwalben zwitscherten und jubilierten. – »Sie haben's gut,« dachte Kerlchen mit tiefem Seufzer, »sie werden niemals in eine Pension gebracht, »in die Benehmigte«, wie der Thüringer sagt. Sie brauchen auch nicht in einem heißen, staubigen Coupé zu sitzen, und es wird ihnen nie der Schnabel verboten.«
Kerlchen streift mit sehr finsterem Gesicht die Insassen des Wagenabteils ... In der einen Ecke sitzt ihr lieber Papa und schläft; er ist in Zivil, aber jeder, der Augen im Kopfe hat, muß den Offizier in ihm erkennen, außerdem ist die Dame, die in der anderen Ecke schläft, beim Einsteigen über die hohe Helmschachtel gefallen, mit welcher Kerlchen gespielt hatte. Und das war der Anfang der stürmischen Debatte gewesen, die sich gleich darauf entspann. Oberst Schlieden hatte noch eine leichte Zornröte auf seiner Stirn, Kerlchen hätte gern einen Kuß darauf gedrückt, aber sie wagte es nicht, sich zu rühren, aus Furcht, die zeternde Dame wieder zu wecken. Kerlchen wußte nicht, womit sie die Mitreisende so erzürnt hatte. Sie hatte ihr in mitfühlender Weise Ratschläge für das zerstoßene Schienbein gegeben, und der Papa hatte ein paar entschuldigende Worte hinzugefügt, aber sie waren auf steinigen Boden gefallen, und wo ein Wort hinfiel, flog ein Stein zurück. »Vorlaut, naseweis, rüpelhaft« waren Kerlchen verständliche Worte, aber »Proletarier der zweiten Klasse« verstand es nicht, und Papa gewiß auch nicht, denn er antwortete garnicht darauf, sondern sagte nur ganz ruhig: »Kerlchen, rüttle mal die alte Schachtel zurecht,« worauf das Kind die Helmschachtel an den richtigen Platz brachte. Aber die Dame hatte den Schaffner gerufen, von Beleidigung geschrieen und um einen andern Fahrgast ersucht, was ihr jedoch versagt wurde. Dann war Waffenstillstand eingetreten, und nun schliefen die streitenden Parteien.
Kerlchen dachte in der Stille und Schwüle des Wagens darüber nach, wie es wohl käme, daß das Leben immer so kriegerisch verliefe, woran es wohl läge, daß so viele Mütter auf der Welt krank seien und so viele Kinder zu fremden Leuten müßten, und es beschloß, daß die eigenen späteren vierundzwanzig Kinder niemals in Pension kommen sollten. Dann schlief Kerlchen ebenfalls ein.
*
»Die Neue hat wieder geheult!«
»Ist gar nicht wahr, ich heule nie, ich hab schlecht geträumt!«
Kerlchen setzte sich im Bette auf, das mit noch neun andern Betten in einem großen Schlafsaal stand. Dickverschwollene Augen blinzelten aus einem heißen, mit roten Flecken bedeckten Gesicht.
»Soll ich dir 'n Spiegel holen, Fee?«
»Ha, ha, ha, schöne Fee!«
»Machst deinem Namen viel Ehre!«
»Prinzessin Heulmeier!«
»Rrrrraus!«
Kerlchen schrie es mit aufgeregter Stimme, der man das verhaltene Schluchzen deutlich anhörte.
Die übrigen Mädchen brachen in tosendes Gelächter aus und liefen dann eiligst hinaus. Die Klassenuhr schlug acht Schläge, eine schrille Klingel tönte durch das Haus, dann war alles still.
*
»Felicitas, wie siehst du wieder aus? Und warum kommst du jetzt erst? Es ist zehn Uhr!«
»Wann bist du aufgestanden?«
»Um vier Uhr, wie immer!«
»Du lügst!«
»Fee lügt nie! Sie ist um vier Uhr aufgestanden und in den Garten gegangen; da hat sie Fräulein Kleist wieder geholt und trotz ihres Sträubens ins Bett gesteckt.«
Gretchen Döring war es, die für Fee die Verteidigung aufnahm.
»Warum sprichst du nicht, Felicitas?«
»Das thut sie nie, wenn Sie ihr sagen, sie hätte gelogen.«
»Unsinn! Sie soll sich verteidigen, dieses Schweigen ist nichts als Trotz.«
Kerlchen war ganz blaß geworden, ihre Augen funkelten die Lehrerin kampfbereit an.
»Warum kamst du nicht zur rechten Zeit, wenn du doch seit vier Uhr wach warst?«
»Weil ich kein eigenes Zimmer habe!«
»Spukt dieser Unsinn immer noch in deinem Kopfe?«
Die Mädchen lachten laut.
»Natürlich, sie zieht sich nicht an in unserer Gegenwart.«
»Wenn wir nicht mal vorher in den Garten laufen, wenn's recht schönes Wetter ist, dann kommt sie regelmäßig zu spät; wir necken sie natürlich und bleiben im Schlafsaal – –«
»Es ist zu verrückt von ihr!«
»Ruhe!!! Felicitas, du solltest dich schämen, in dieser Weise die Schulordnung zu stören. Du wirst dich an den gemeinsamen Schlafsaal gewöhnen müssen, solange deine Eltern es für richtig halten, dich in einer Pension zu lassen. Dein Papa hat ausdrücklich geschrieben, daß du ganz so gehalten werden sollst wie die anderen Mädchen. Und nun setzt euch ruhig hin, die Stunde beginnt!« Die Lehrerin seufzte tief auf.
Es war wirklich schwer, dieses Mädchen zu erziehen, das so »anders« war, wie auch die Mitschülerinnen sagten. Dabei wußte Felicitas ganz gut Bescheid, sie hatte die Lücken, (ganz unglaubliche Lücken bei einem elfjährigen Mädchen) in rascher Zeit aufgefüllt und überflügelte die besten Mitschülerinnen, wenn sie wollte. Aber sie wollte nicht immer. Heute z. B. dieser Aufsatz!
Fräulein Kolditz schaute ergrimmt auf das Heft. Schon die Schrift des Mädchens empörte sie jedesmal von neuem. Diese steilen, deutlichen, dicken Buchstaben waren gegen jede Schulordnung. Und der Aufsatz selbst! Fräulein Kolditz wollte ihn nachher gleich der Vorsteherin bringen. »Felicitas, steh auf und sieh mich an! Du hast den schlechtesten Aufsatz von allen zehn Mädchen geliefert! Du hast dich von Anfang an dem Thema widersetzt und behauptet, man könnte nicht darüber schreiben, die anderen Mädchen strafen dich Lügen, denn sie haben sehr hübsch über die »Wüste Sahara« geplaudert. Du dagegen hast deiner Bosheit die Zügel schießen lassen und fängst an:
»Die Wüste Sahara ist furchtbar langstielig.« Den besten Aufsatz hat Helene von Giers geschrieben, er ist zu meiner Überraschung sehr fließend abgefaßt: »Betrachten wir auf der Karte von Afrika den schmalen Küstenstrich – –«
Ein helles, lustiges Gelächter unterbrach die Lehrerin. »Abgeschrieben! Hi hi hi, abgeschrieben!«
Mehr als fünf Lesebücher zugleich wurden ihr hingereicht, und da stand es freilich im »Kinderfreund«:
»Die Wüste Sahara: ›Betrachten wir auf der Karte von Afrika den schmalen Küstenstrich – – –‹«
»Es ist gut, ich werde nachher mit Helene von Giers reden. Durch diese Täuschung wird aber dein Aufsatz nicht besser, Felicitas; du brauchst die Mundwinkel nicht so verächtlich herunterzuziehen. – Dann ist also der beste Aufsatz der von Gretchen Döring – du bist sonst keine Heldin im Schreiben, hat dir jemand geholfen?«
»Geholfen? Nein! Den ganzen Aufsatz hat sie mir gemacht – die Fee!«
»Mir auch, mir auch!« riefen die lustigen Kinderstimmen. »Fräulein, wir wußten alle nichts darüber zu schreiben, da hat die Fee sie für uns gemacht; die kann's, die schreibt gern Aufsätze – –«
»Geht alle hinaus, Kinder, leise – – daß ihr die anderen Klassen nicht stört. Du, Felicitas, bleibst hier!«
»So! Und nun komm einmal her! Weißt du, daß du sehr Unrecht gethan hast?«
»Nein, Fräulein! Die Kinder baten mich alle so und sie sind sonst nicht gut zu mir, da dachte ich, sie würden vielleicht ein bißchen netter, wenn ich ihnen einen großen Gefallen thäte. Bloß Gretchen Döring ist gut mit mir, deshalb hab ich ihr den ersten Aufsatz gemacht, und Helene von Giers ist gräßlich, der hab ich keinen gemacht, und wie ich acht Aussätze geschrieben hatte, da kam meiner dran, oh Fräulein – da hing mir die Wüste Sahara zum Halse 'raus.«
»So, so! Und da schriebst du, sie wäre furchtbar langstielig. Nun verstehen wir uns schon besser.«
Fräulein Kolditz zog Felicitas zu sich heran.
»Du wirst so etwas niemals wieder thun, Fee?«
»Ich weiß es noch nicht, Fräulein!«
»Du bist ein sehr merkwürdiges Kind, Fee; Wie ist nur deine Gouvernante mit dir ausgekommen?«
»Oh ganz gut! Bis sie 'ne Leber bekam!«
»Waaas bekam sie? Schon gut, schon gut, rufe die anderen Kinder wieder herein.«
Es war schon dreiviertel auf elf, aber die Kinder lernten gut in dieser einen Viertelstunde, und die Vorsteherin erfuhr nichts von der »Wüste Sahara«.
*
»Seht mal, dort geht Doktor Calmus!«
»Wo, wo, wo? Oh Gott, laß sehen!«
»Drängel doch nich so!«
»Und die erste Klasse hinter ihm her!«
»Wo? Wo?«
»Warum laufen sie hinter ihm her?«
»Felicitas, frag nicht so geistreich!«
»Weil er ihr Schwarm ist!«
»Was is 'en das?«
»Ach, sei nicht so albern!«
»Meine große Schwester hat gestern den Namen von Dr. Calmus aus der Zeitung geschnitten und auf dem Butterbrot gegessen.«
»Pfui!«
»Garnicht pfui! Alice von Felsen hat einen Knopf von ihm im Medaillon.«
»Warum?«
»Fee, du bist ein Schaf!«
»Selber eins! Warum steckt sie nicht sein Bild ins Medaillon, ein Knopf ist ja zu dumm!«
»O Gott, sein Bild! Wenn sie das bekommen könnte! Sie wäre selig, sagt meine große Schwester.«
»Phhhh! Ich finde Doktor Calmus grrräßlich.«
»Er findet dich auch gräßlich, Fee, er hat's gesagt.«
»Freut mich!«
»Weshalb ist die Fee so kratzbürstig auf ihn?«
»Er hat »süßes Lockenköpfchen« gesagt und sie gestreichelt.«
»Wie interessant!«
»Na, was is'en da interessant bei?«
»Und sie hat ihn auf die Hand gehauen und ihm die Zunge lang herausgestreckt.«
»Fee!«
»Na ja, hab'ch immer gethan. Aber er hats gepetzt; pfui, gepetzt hat er!«
»Und du mußtest ihm abbitten!«
»Hab ich aber nich! Ich hab bloß was gemurmelt so mit zugemachtem Munde: »Alter, ekliger Petzkalmuser«, und da sagte er so sanft und katzenfreundlich: »Schon gut, kleine Fee!« Pfui! Grrräßlich ist er! Aber Herr Schönwolt, das ist ein famoser Kerl!«
»Och! So'n Volksschulmeister!«
»Dem gehorch' ich garnicht!«
»Der paßt garnicht in unsere Schule, sagt Mama.«
»Wenn er in der ersten Klasse mal Aushilfe hat, dann antwortet ihm niemand!«
»Seinen Anzug trägt er nun schon vier Jahre.«
»Und Papierkragen und -Manschetten.«
»Ich hab mal gesehen, wie er mit einem Gummi große Wäsche hielt.«
»Seine Mutter ist 'ne Bauernfrau in Vieselbach.«
»Wie schrecklich!«
»Und von so'n Menschen soll man sich unterrichten lassen!«
»Warum nicht! Er ist so klug, klüger als alle und lustig kann er sein; und alle Dummheiten, die man macht, hat er früher auch gemacht, das ist zu famos! Ich hab ihm auch mal die Zunge rausgestreckt, ganz im Anfang wars; er hatte mich ungerecht beschuldigt, und ich war so wütend, da lachte er und sagte: »So ists recht, Felicitas, immer länger, immer länger, soweit die deutsche Zunge reicht!« Da hab ich mich so geschämt und ihm von allein abgebeten.«
»Du bist komisch, Felicitas!«
»Denkt doch, er kann nich mal 'ne Ferienreise machen, so arm ist er. Alles muß er seiner Mutter geben und 'ne kranke Schwester hat er auch.«
»Deshalb sieht er immer so schäbig aus!«
»Ich schenier' mich ordentlich, wenn er mir auf der Straße begegnet.«
»Wir sind doch Töchter höherer Stände. Warum unterrichtet er nicht Straßenjungen?«
»Ja, dazu sind Volksschullehrer da, sagt Mama!«
»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Gänse seid ihr alle mit'nander! Prinz Li hatte als ersten Lehrer auch einen Volksschullehrer, oh – solch lieben guten, Herr Lorenz hieß er, und Papa hat mir so viel von ihm erzählt, er ist dann gestorben, und Prinz Li hat sich garnicht trösten lassen wollen.«
»Ach – einerlei!«
»Was kümmerts uns!«
»Wir wollen lieber was anderes erzählen!«
»Fee hat ja immer so verrückte Ansichten.«
»Nu eben!«