Felicitas Rose
Heideschulmeister Uwe Karsten
Felicitas Rose

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Den 6. Dezember.

Heute möchte ich am liebsten den Schlußsatz des gestrigen Blattes durchstreichen, vernichten, ungeschehen machen.

Die Heide, die einsame Heide und der Mondschein tragen die Schuld, daß ich so untapfer war. –

Aber ich will nichts durchstreichen und nichts vernichten, – solch ein Memento ist heilsam.

Aber das Herzbeklemmende ist von mir gewichen, auch das Sentimentale, das mich gestern umspann, wenn ich des Schulhauses gedachte. Ich schaue den seltsamen Mann fester an, klarer, – sein Weg liegt ja so weit ab von meiner ganzen Sphäre. Unglaublich nüchtern komme ich mir heute vor. Und in dieser Nüchternheit stelle ich mir Fragen. –

War Uwe Karsten immer so? Schon in seiner Jugendzeit? Schon als Kind?

So poetisch, so weltfremd, wie seine Lieder? Vor zehn Jahren hat er sie gesungen, aber vorher?

Wie war er als Knabe? Wild, unbändig? Mit nichts verratend, was Tiefes in ihm lebte und später hervorbrechen sollte? Oder war er sinnig und träumerisch? Und wie zeigte sich seine Liebe zu Sörine Witt?

Was geht's dich an, Ursula Diewen? Ist das auch noch eine nüchterne Frage? Nein, er kümmert mich, es ist starke, tiefe Anteilnahme an diesem Dichter und Mann und Schulmeister.

Wie lächerlich bist du, Ursula! Du hast diese schweigsame Heide um dich, dies stille Zimmer und die verschwiegenen Blätter, und doch suchst du nach Entschuldigungen für deine stummen Fragen? Niemand hört sie als du selbst, du närrisches Ding, und der, der dein heftig klopfendes Herz in deiner Brust erschaffen hat.

Ursula, bist du neugierig? Du, die nur ein Zerrbild der Liebe kennengelernt hat, du möchtest wissen...

Warum erniedrige ich mich selbst in solcher Zwiesprache mit meinem Herzen?

In Uwe Karstens Heideliedern steht nichts von Liebe, nichts von Sehnsucht des einen Menschenherzens zum andern. Nur von Wald und Heide und Heimat singt er. – Aber auch vom Föhn, der urgewaltig über die Heide braust. Man muß den Föhn kennen, wenn man ihn singt...

»Heidesturm, hei! Reckst du die riesigen
Reckengewaltigen, rauhen Arme?
Reiße mich fort! Mich locket dein Lärmen,
Sturmwind, ich liebe dich!!!«

Wer den Sturmwind so herzgewaltig liebt, der ist nicht zahm, der geht nicht im Geleise, der ist urwüchsig, herb, der ist – – anders wie die andern.

Es ist allzeit ein Suchen in meinem Leben gewesen.

Ich weiß nicht, ob ich finden werde, und ob ich dann glücklich bin, oder ob gerade das Suchen mein Glück ausmacht. Oft ist's mir auch, als könnte ich nur wachsen, weben und gedeihen im Glücke anderer, als müßte ich auslöschen, käme das Glück zu meinem Selbst geschritten, öder ist das schon das ureigentliche Glück, daß ich die Menschen so liebhabe?

Heute spann das Schicksal drei Fäden, ich durfte sie auffangen und an dem alten Mahagoni-Nähtisch aus meiner Mutter Brautzeit zu einem festen Gewebe verknüpfen.

Ich saß an dem Nähtischchen und stichelte für die Armen von Immenhof zur Christbescherung, und bei jedem Stiche dachte ich: »Ach, das armselige Tröpfchen Linderung gegen das Meer von Elend!«

Da schwebte der erste Faden herab, wenn ich schon an meinem Gleichnis festhalten will.

Der alte Heidebriefbote brachte mir ein Schreiben von Lu. Die Ankündigung eines großen Haufen Geldes. Wie, wo, wann ich es anzulegen gedächte? Eine ganze Schwadron Zahlen und Namen ließ er aufmarschieren, eins so unverständlich wie das andere.

Aber das ist mir doch verständlich, daß ich reich bin, und nicht nur mit Worten und einem warmen Herzen, sondern mit der Tat helfen kann.

Mit einem unendlichen Frohgefühl im Herzen legte ich das Schreiben fort und – nahm den zweiten Herrgottsfaden in die Hand, der sich in Gestalt des sehr langen, dünnen Heidepfarrers in meine Tür schlängelte.

Aber der dünne Faden hatte einen runden, festen, gemütlichen Knoten, das war die Frau Pfarrerin, die »achtern« kam.

Sind das zwei liebe Menschen!

Ehrwürden Pastor Sunneby und Frau Beate sind so verschieden und ergänzen sich so köstlich.

Er sieht Natur und Menschen aus der Vogelschau, hat große, leuchtende, wasserblaue, scharfsichtige Augen, wahre Röntgenaugen, die jede der guten und desgleichen versteckten Seelen im Pfarrbezirk Immenhof durchschauten, was ihm die Gemeindepflege sehr erleichtert.

Frau »Pastorin« ist klein, rund, dick, mit braunen, kurzsichtigen Beerenaugen, die nichts, aber auch »rein gor nix« erkennen, Augen, welche die Kuh des Bäckers Niebohm für den Herrn Amtmann ansehen, weshalb Frau »Pastörin« eine liebliche Verneigung vor besagter Kuh gemacht hat. –

Dies kleine Geschichtchen machte im Dörfchen die Runde. »De Slüngel, de Hinrich, het dat äwerall vertellt, de Näswater.«

Ja ja, mehr Respekt hat Immenhof vor dem langen Herrn »Pastur«, aber mehr Liebe und Zutrauen hat es zur »Pastörin«. So nennt die alte Stina ihre Herrschaft. Die »Pastörin« sieht mit dem Herzen, das ist auch was wert, und deshalb braucht sie keine Brille.

Pastor Sunnebys haben keine eigenen Kinder. Die Immenhofer Jungs und Deerns sind alle »de Pastörin ehr«. »Von Patentum und von Menschlichkeit wegen«, setzt wieder Stina hinzu.

Aber ich Plaudertasche verliere meine zwei Fäden.

Nachdem sich Pastor Sunneby und Frau Beate gesetzt hatten, versuchte ich mich zum ersten Male in meinem Leben diplomatisch und steuerte in dem Gespräch unentwegt auf das Schulhaus hin, denn ich hätte gern mehr erfahren, als Mutter Alslev über ihren Sohn und sein Heim zu sagen gewillt war.

Der Herr Pastor mit den scharfen Augen merkte aber nichts, der war ganz bei seiner lieben Kirche und ihrem schlechten Glockenspiel und bei seiner lieben Gemeinde und ihren schlechten Angewohnheiten.

Er wurde sehr weitläufig in seinen Schilderungen, aber die kurzsichtige Frau Beate, die ohne Brille mit dem Herzen sieht, unterbrach ihn und meinte gütig lächelnd: »Ich glaube fast, Fräulein Ursula Diewen möchte gern vom Lehrer Alslev hören, und das ist ja ein Thema, das auch uns behagt.«

Da waren wir mit einem Male mittendrin.

»Ein Edelmensch!«

Das sagten beide zusammen.

»Ein klarer Kopf, ein tiefer Beobachter, ein vorzüglicher, eigenartiger Lehrer.«

Das sagte der Herr Pastor allein.

»Ein guter Sohn, ein treuer Bruder, ein Vater nach dem Herzen Gottes.«

Also die »Pastörin«.

Aber sie setzte überlebhaft, beinahe aufgeregt und böse hinzu:

»Viel, viel zu schade für Immenhof.«

»Aber, Beate!« beschwichtigte der Pfarrer. »Warum soll Alslev zu schade sein? Warum soll nicht gerade aus unserm Immenhof eine Schar ganz besonders gut erzogener junger Deutschen ins Leben treten?«

»Aber könnte er draußen nicht noch viel besser wirken? In der Großstadt? Der ist doch allem gewachsen. Und hier hat er ewig die Kette am Fuß, die zwei schrecklichen, alten Leute und das Krüppelchen!«

»Diese Kette kennt unser Herrgott und wird sie durchfeilen und von ihm abfallen lassen, wenn es Zeit ist. Und Alslev ist einer, der den Segen des Leides kennt.«

»War auch seine Frau immer krank?« fragte ich.

»Nicht immer. Er hat sie als blühendes Geschöpf kennengelernt, und an Sanftmut und Güte soll sie ein Engel gewesen sein. Aber sie tat als junge Frau einen schweren Fall, gab dem Krüppelchen das bißchen elende Leben und starb dann. Alslev war nur dreiviertel Jahr verheiratet.«

»Und seine Bücher?«

»Sie sind ja in jedermanns Hand, wer sollte die Heidelieder nicht kennen? Aber den Verfasser kennen wenige. Doch Alslev hat gut zu leben. – und wenn auch Lieder und Märchen keine Goldquelle sind, so bringen ihm seine wissenschaftlichen Sachen ein hübsches Geld. Sie kennen doch Wohl ›Flora und Fauna der Heide‹, ›Hünengräber‹ und wie sie alle heißen?«

»Die Schulbücher meiner Stiefbrüder. Und die hat Alslev geschrieben?«

»Freilich! Und die Professoren pilgern nach unserm kleinen Immenhof und holen sich Rat für wichtige Vorträge und anzulegende Sammlungen von unserm Schoolmeester. Wir sind stolz auf ihn.«

»Da frage ich aber nun auch, wie Ihre Gattin: Warum geht Herr Alslev nicht in eine Großstadt?«

»Das will ich Ihnen sagen, mein Fräulein. Weil er ein Heidekind ist! Weil er sich von seiner Heimat nicht loszureißen vermag und mit dem Besten hier festwurzelt. Dies Beste würde im Heimatboden auch bleiben, und nur als halber Mensch würde er in der Fremde vegetieren. Aber er hängt auch mit allen Fasern an seinem Beruf, an seinen Schulkindern, und – an seinem Kinde.«

»Vergiß auch die Alten nicht, mein Pastor, den Trunkenbold und den Drachen!«

»Nein nein, das stimmt, – wer sollte die vergessen? Wahrheit ist, daß Alslevs sterbendes Weib ihm gesagt hat: ›Verlaß Vater und Mutter nicht, Awe, sonst sind sie verlassen.‹ So kommt's, daß wir den Schulmeister, diese seltene Edeltanne in unserm dürren Heideboden, weiter behalten. Gott läßt sie dafür wachsen und blühen, vielen zum Segen.«

»Pastor Sunneby,« scherzte Frau Beate, »viel darf diese Tanne aber nicht mehr wachsen, sie ist schon länger als du.«

»Ei, ei, Pastörin,« entgegnete ebenso der Seelsorger, »wer wird alles so körperlich nehmen!«

»Und das Krüppelchen?« fragte ich wieder. »Wäre es nicht viel besser in einer Anstalt aufgehoben?«

»Besser? Ich glaube nicht. Christiane Alslev gibt ihm die beste Körperpflege, und das winzige Flämmchen, das auch in diesem armen Seelchen brennt, wird gespeist von – ›Tata‹, vom täglichen Sehen des Vaters. Aber dies schwache, erbärmliche Dasein entzieht uns auch ein großes Werk, an dem Alslev arbeiten würde, wäre das Krüppelchen nicht. Nur hält Alslev das Leben seines Kindes für wichtiger, als sein Werk, auf das jetzt schon im Entstehen die ganze Gelehrtenwelt schaut.«

Eine lange Pause entstand, und in dieser Pause lief mir der dritte Faden in die Hand. Ich hielt ihn fest.

»Herr Pastor, heute morgen trug der Wind zarte Klänge, wie Gesang, an mein Heidehaus, was kann das gewesen sein?«

»Ei, ei, so weit führt sie der lose Geselle, der Heidewind? Das ist recht von ihm. Ein Ständchen war's, – ein wundervolles Morgenständchen, dargebracht von allen Kindern des Ortes und Umkreises Immenhof, – Uwe Karsten Alslev hat heute Geburtstag.«

Da waren die drei Fäden zu einem Gewebe verknüpft.

Ein eigenes Freuen kam in mein Herz. –

Und dann fiel mir der Kuchen ein, den Mutter Alslev schon in aller Frühe gebacken, und den ich selbst gekostet, ohne zu ahnen, daß er für den Sohn bestimmt war, und ich erinnerte mich an ein Heidekränzlein, das über dem Kinderbildchen hing, heute morgen, als ich in Mutter Alslevs Stübchen trat.

»Ahh! Lupus in fabula«, rief Pastor Sunneby, und er stand rasch auf und ging dem Herrn Lehrer entgegen, der leise angeklopft und die Tür aufgeklinkt hatte.

»Ich war bei der Mutter«, sagte Herr Alslev, »und hörte, daß Sie hier wären, – darf meine Laterne Ihnen heimleuchten? Es ist ungewöhnlich finster heut.«

Mich sah er kaum.

Denn nun nahm er beide Hände der Pastorin und schüttelte sie.

»Dank! Dank! Wie eine Mutter haben Sie des heutigen Tages gedacht! Wie haben Sie für Christiane und Sörine gesorgt! Und nirgends konnte ich Sie erwischen, Frau Pastorin, um Ihnen zu danken!«

»Ist auch nicht nötig, Herr Alslev, und das schönste war doch das Ständchen!«

»Das war es! Meine lieben Jungs und Deerns!!!« Seine Augen leuchteten auf. Da trat ich auf ihn zu, und so bekam ich etwas von dem Leuchten ab.

»Herr Alslev! Glückauf zum neuen Lebensjahr!«

Meine Hand lag in der seinen, – er sah mich gut und ruhig an und nickte ernst.

So scheu war ich und verlegen, wie sein dümmstes Schulkind, und wollte ihm doch so viel sagen.

Da nahm ich mich ordentlich zusammen.

»Herr Alslev,« – erst sprach ich stockend, dann überstürzten sich meine Worte, – »ich, ich möchte Ihnen auch etwas schenken, – drei Fäden, – ein Gewebe, – nein, nicht doch – – – mein Bruder Ludwig hat mich heute morgen gefragt, was ich mit einer großen Summe Geldes anfangen wolle, die er da für mich liegen hat. Vorhin habe ich die Antwort gefunden, und diese Antwort soll mein liebes Geburtstagsgeschenk für Sie sein. Ein Heim für kranke Kinderchen möchte ich bauen, – hier in Immenhof, – und – und Ihre Sörine, – wollen Sie Ihr Kindchen dort ein paar lieben Diakonissinnen anvertrauen – – – –? Es ist mir selbst alles noch nicht ganz klar, aber ich meine, auch ein hoher Wunsch von Fräulein Christiane könnte damit seine Erfüllung finden...«

»Fräulein Ursula!!!«

Ein schluchzender, jubelnder Aufschrei – – nichts weiter.

Die Tür öffnete sich und fiel ins Schloß, – der Mann war fortgestürmt, Pastor Sunneby und Frau Beate hielten sich bei den Händen, wortlos – glücklich, bis der Pastor ruhig sagte: »So müssen wir wohl ohne Laterne heimgehen, – aber dies Licht leuchtet heller.

Fräulein Ursula, – niemals den da droben vergessen, der Ihnen die Kraft verlieh, solches zu entzünden.«

Den 10. Dezember.

Wie habe ich diese Blätter vernachlässigt! Es ist so, wie ich es Mutter Alslev versprach. Früher schrieb ich angestrengt und war krank und elend im Herzen, jetzt lebe ich und alles Schreiben ist nur Notbehelf.

Es soll nur ein Bindeglied sein zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – ich will als altes Mütterchen mich einst in diese Blätter vertiefen und die Endsumme meines Daseins ziehen.

Als altes Mütterchen? Jedenfalls als altes Jüngferchen. Und warum schrieb ich vier lange Tage nicht? Ludwig war bei mir, – mein alter Lu. Wer konnte da an Feder und Papier denken! Hand in Hand saßen wir und schwatzten und waren glücklich. Mit aller Tatkraft und wahrer Begeisterung hat Ludwig den Plan für das Krüppelheim aufgegriffen. Wir haben beraten, überlegt und beschlossen, ein namhafter Architekt ist mit der Zeichnung betraut – Pastor Sunneby geht fröhlich händereibend umher. Und Lehrer Alslev? Ich habe ihn noch nicht wiedergesehen. Und ich selbst mag nicht hingehen in sein Haus, wenn er sich vor mir aus irgendeinem Grunde verbirgt. Aber Christiane könnte doch einmal kommen, – könnte und müßte meinen Besuch erwidern. Aber das sind dumme Gedanken. Wir leben hier nicht in den starren Gebräuchen der Gesellschaft, wir leben in der Heide und sind Bauern.

Und Christiane Alslevs schwere Samariterpflichten stehen über den Vorschriften der vornehmen Welt.

In mir ist's wie Heimweh.

Dumme Urschel!

Heimweh, wonach?

Wie selbstsüchtig war ich gewesen! Ohne es zu wissen und zu wollen.

Mir kam's zum Bewußtsein, als ich Ludwig sah.

Wie war mein Lu so blaß!

Tief lagen die guten, schönen Augen in ihren Höhlen, und nur selten war das alte Leuchten in ihnen zu schauen, das übermütige, aus ferner, schöner Jugendzeit.

»Meine alte Urschel, – du wirst immer schöner,« sagte er zärtlich zu mir, »die richtige Heiderose!«

»Oje, Lu! Wenn ein Bruder seiner Schwester Schmeicheleien sagt, ist irgend etwas nicht im Lot bei ihm.«

»Wenn es aber keine Schmeicheleien sind, sondern Wahrheiten?«

»So kann ich sie weder annehmen, noch dir zurückgeben, alter Lu. Denn ich bin eine ›alte‹ Urschel und du, – Lu, du gefällst mir gar nicht.«

»Nun, dieses Lob teilen viele Brüder mit mir, daß sie ihren Schwestern nicht gefallen.«

»Spotte nicht. Du weißt recht gut, was ich meine. – Ludwig, ich habe Sorge um dich!«

Dabei setzte ich mich auf die Armlehne seines Sessels und schlang den rechten Arm um seinen Hals.

Er schwieg, und das bestärkte mich in meiner Sorge.

»Ich glaube nicht, daß du, körperlich krank bist, du alter Recke, aber irgend etwas frißt dir am Herzen.«

Er war noch um einen Schein blasser geworden, und doch versuchte er zu scherzen:

»Die Sehnsucht nach dir. Urschel ...«

Jetzt sprang ich auf, stellte mich vor ihn hin und sah ihm gerade in die Augen.

Und erschrak vor dem wehevollen Ausdruck seines Gesichtes.

»Ludwig – – darf ich nicht wissen, was dich drückt? Ich hab' dich so lieb!«

Da zog er mich zu sich, ich kniete neben ihm, er umfaßte mich, und so, in enger Umarmung mit meinem einzigen, geliebten Bruder hörte ich, – – o du lieber Herrgott, was hörte ich?

Also nicht nur mein Leben war düster geworden durch den Menschen, dessen Namen mir einst vom Gesetze gegeben, und auf unsere Eingaben hin vom Gesetze wieder genommen war, – – auch er, mein Lu, hatte schwer gelitten und litt noch.

Um Martha Detleffsen.

War ich denn mit Blindheit geschlagen gewesen?

Mit tonloser Stimme hat Bruder Ludwig mir nun alles erzählt, – sein stilles Werben, seine Kämpfe mit der »Zweiten«, die es »entwürdigend« fand, daß der Chef des Hauses die Tochter eines ehemaligen »obskuren« Angestellten heiraten wolle, die scheue Zurückhaltung Marthas, ihr Abwehren – – und dann die Erkenntnis, daß sie längst, – längst gebunden war, und wie gebunden. Dann sprang Ludwig auf und drückte meine Hände so stark, daß sie schmerzten: »Ursula, das ist noch nicht das Schlimmste, Aber ich suche sie und kann sie nicht finden.«

»Was willst du noch von ihr?« fragte ich hart, denn mein Stolz bäumte sich auf gegen jene beiden, die uns so freudlos gemacht hatten.

»Nichts, Ursula! Das ist vorbei!« Er atmete schwer. »Aber sie ist ein armes, krankes, verlassenes Weib, und seit dem Tode deines – – jenes Menschen gänzlich mittellos. Er hat ja in keiner Weise für sie – und das Kind gesorgt. Alles fiel an seine Verwandten zurück, welche ›die Dirne‹ verleugneten, so ging sie in die Fremde, ohne ein Wort zu hinterlassen, und all meine Nachforschungen sind umsonst.«

»Lu, du bist viel besser als ich. Ich habe nur an Haß gedacht in der ganzen langen Zeit und werde Sturm ernten, – du hast nur Liebe gesäet – guter, lieber, einziger Bruder.«

Er schüttelte abwehrend den Kopf, – – dann saßen wir noch lange schweigend beisammen, aber wir verstanden uns ohne Worte und gingen im Geiste Hand in Hand einen öden, entsagungsvollen Weg. –

An demselben Abend lernte Lu noch Uwe Karsten Alslev kennen.

Wir hörten Schritte vor dem Heidehaus, die sich näherten, als wollten sie hereinkommen, und sich dann doch immer wieder entfernten, – dies wiederholte sich wohl zehn Minuten lang, bis Ludwig das Fenster öffnete und fragte: »Ist jemand hier?«

Da tauchte die hohe Gestalt aus dem Dunkel und trat in meine Zimmertür, so unbeholfen und linkisch wie ein unbequemer Bittsteller. Das dauerte jedoch nicht lange.

Wir waren bald im angeregtesten Gespräch, aber jetzt war ich die Stillere, die mit tieferer Freude lauschte und gern hörte, »wenn kluge Männer reden«.

Ich holte Mutter Alslev als Ehrendame herüber, sie band sich eine schwarzseidene Schürze vor und saß in meinem altmodischen Lehnsessel wie ein Bild von Vautier.

Aus meiner Urväterkredenz holte ich vier prächtige, geschliffene Römer, und Lu entkorkte eine staubige Flasche, – mein Weinschrank war gut versehen, das war Gepflogenheit von je im Handelshause Diewen. Mutter Alslev nippte nur wie ein Vogel, als es galt, auf ein »gutes, freudiges, gesundes Leben« im Heidehause anzustoßen. Lu trank sein Glas bis auf die Neige aus. Uwe Karsten betrachtete mit künstlerischem Genuß den Kelch und sog tiefatmend die Blume des Weines ein, dann drückte er uns die Hände und setzte den Römer fort.

Wir aber fragten nicht, warum er den köstlichen Trank verschmähe.

Ludwig schien zu staunen, je tiefer und anregender das Gespräch mit unserm Gaste wurde, auch Mutter Alslev warf ab und zu einige Brocken herein, schlichte, ernste Lebensweisheiten, die oft durch ihre knappe Form verblüfften.

»Urschel, ich weiß dich gut aufgehoben.« Er lachte froh. »Wer hätte gedacht, daß du hier nicht in der Verbannung, sondern unter lieben, gebildeten Menschen leben würdest!«

Er trank Herrn Alslev zu, und dieser nickte gelassen.

»Das ist Ihre liebenswürdige Auffassung, Herr Diewen. Es gibt auch andere. So sagte gestern Frau von Hinrichsen auf Kornhagen, deren Sohn ich zum Einjährigen vorbereite: ›Wie unbegreiflich von einer Ursula Diewen, sich unter ungebildeten Menschen zu begraben!‹ Ich gebe es wörtlich wieder.«

»Und zu wem sagte sie das?« fragten Lu und ich zusammen.

»Nun zu mir

Wir lachten alle laut und herzlich. Man fühlte, solch eine Frau konnte ihn nicht beleidigen.

»Sie stirbt mal sicher nicht an Alpdrücken«, bemerkte Mutter Alzlev trocken.

»Aber,« fragte Lu, »wenn Sie wörtlich wiederholt haben, warum sagte sie wohl ›einer‹ Ursula Diewen? Ist mein Schwesterchen etwas so Besonderes, daß sie nicht auch ihre Eigenheiten haben könnte?«

Uwe Karsten sah mich so forschend an, als wollte er zur Minute ergründen, ob ich etwas Besonderes sei.

»Es ist das Geld«, meinte ich verächtlich.

»Schelten Sie es nicht,« bat Alslev, »Sie dürfen das nicht. O das Krüppelheim und mein kleines Sörinchen!« Ganz unvermittelt kam sein Ausruf. Er streckte mir wieder die Hand hin.

»Ich habe Ihnen noch mit keinem Worte gedankt, Fräulein Ursula, aber mit jedem Atemzuge.«

Mutter Alslev stand auf und trat ebenfalls auf mich zu; ihre alten, treuen Augen glänzten feucht.

»Mien Jung denkt as ik, und ik denk' as mien Jung, – Se sünd brav, Frölen.« Das hochdeutsch war ihr zu gering für das, was sie fühlte.

»Nun fehlt noch Fräulein Christiane«, rief ich etwas unvermittelt, um den leichten Bann abzuschütteln, der auf uns allen lag. »Könnte man nicht den Knecht hinschicken und sie holen lassen?«

»Sie ist ganz und gar unabkömmlich«, entgegnete Alslev ernst. »Freilich schläft mein Haus zu dieser Stunde, aber Christiane lernt noch, – – sie will nun wirklich Diakonissin werden – – es war ja so lange ihr heißester Wunsch, – Sie hatten es erraten, Fräulein Ursula. Denn in meinem Hause tritt ja doch vielleicht bald schon eine Änderung ein, ich darf dann Christianens schaffenden, sorgenden Geist nicht in meine Enge spannen.« –

Eine Änderung?

Ich dachte an den Ausspruch des Arztes, daß Jochen Witt und sein Weib sehr alt werden könnten und ebenso das Krüppelchen. Welches Leben für Christiane Alslev. And nach diesem Leben – Diakonissin. Klein kam ich mir vor, – eine Drohne im Immenhof. –

»Und was wird dann aus Ihnen, Herr Alslev, wenn Sie die Schwester einmal nicht mehr haben?« fragte Ludwig. »Man sagte mir, Sie hingen so sehr aneinander.«

»Was aus mir wird? Nicht viel. Ein noch etwas einsamerer Mensch als jetzt.«

»Aber Sie brauchen sich ja nicht zu trennen!« Ich wurde ganz lebhaft und aufgeregt. »Bis dahin ist, will's Gott, unser Heim längst fertig und Fräulein Christiane kann in Immenhof Diakonissin werden.«

Alslev sah mich seltsam strahlend an.

Er hat so gute Augen und ein so liebes Lächeln.

Ludwig klopfte mir derb auf die Schulter.

»Unserer Ursula ist unbehaglich zu Sinn, wenn sie keine ›Ideen‹ haben kann, sie entspringen ihrem Kopfe wie Pallas Athene aus dem ihres Vaters. Schnell fertig ist die –«

»Alte Jungfer mit dem Wort«, ergänzte ich lachend, und sie stimmten alle ein. »Aber ich will's auch halten. O ihr sollt mich kennenlernen.«

»Das wollen wir, – immer mehr«, erwiderte Alslev warm. »Sie sind ein Buch, in dem man gerne blättert.«

Das machte mich stolz und froh.

Uwe Karsten stand auf.

»Ich muß jetzt heim und kann Sie nicht bitten, mich zu besuchen«, sagte er zu Ludwig, und das Sonnige in seinem Gesicht war völlig fortgewischt.

»Ich komme doch«, entgegnete mein Lu fest und schüttelte ihm die Hand.

Die Mutter begleitete den Sohn hinaus, Lu und ich standen am Fenster und sahen ihm nach.

Dann nahm mich mein Bruder an den Schultern und drehte mich zu sich herum. Ernsthaft sah er mir in die Augen, nur zögernd ließ er mich los. –

»Gute Nacht. Urschel!«

»Gute Nacht, Lu.«

Am andern Tage ist Ludwig zu Alslev gegangen.

Mir schlug das Herz bis zum Halse, als ich ihn wieder heimkommen sah.

Und während ich ihn erwartete, dachte ich darüber nach, wie eigen sich doch mein Leben gestaltet habe. –

Wie dies enge, niedere Heidehaus eine ganze Welt für mich umschlösse.

Wie die Liebe meines Herzens groß und gewaltig über die weite Heide hinjauchzte, dann still und innig durch das kleine Dörfchen zog, um dort schüchtern um Einlaß zu bitten in Pfarrhaus und – Schule.

Eine neue Welt war es, grundverschieden von meinem bisherigen Leben.

Ja – Ursula Diewens Hand, die begehrt wurde von so vielen, sie klopfte zaghaft an die einfachen Türen der Heidebewohner:

»Laßt mich ein! Laßt mich euch liebhaben!«

Ludwig stand erst lange Zeit am Fenster und sah auf den Weg, den er eben gekommen, dann schritt er im Zimmer auf und ab, ohne ein Wort zu sprechen.

Als er endlich vor mir stehenblieb, ruhten seine Augen ernst, schmerzlich fragend auf mir.

Ich sah ihn ruhig an.

»Ursula!« Er legte seine Arme um mich. – »Kehr' mit mir heim nach Hamburg. Ursula, ich habe Angst um dich! Mich dünkt, du bist deiner selbst nicht mehr sicher.«

Ich schüttelte abwehrend den Kopf, dann lachte ich bitter.

»Ich bleibe hier! Und Lu, – wenn meine Augen auch trübe sind vom vielen Weinen, – sie sind doch klar genug, um eine ›Kluft‹ zu sehen, – die unüberbrückbare Kluft, Hab' keine Sorge!«


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