Felicitas Rose
Das Haus mit den grünen Fensterläden
Felicitas Rose

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Berlin-Moabit, im Hause mit den grünen Fensterläden. Dezember 19.. Meine kleine Erdmuthe! Dein Großje, dünkt mich, wird immer kleiner und kümmerlicher, und immer noch ruft mich Der da oben nicht ab, als ob Er wirklich meine, ich sei noch etwas nütze auf der Welt. Wenigstens so viel nütze, daß ich Dich hie und da an mein altes Herz drücke und warm halte, Du tapferes, Du liebes Kind. – Wie ist das Schicksal über Dich hergefallen! Aber ich weiß, ein junges Bäumlein erstarkt im Sturm. Und ein Denso knickt nicht so leicht um. Was mir der brave Schmiedemeister von Dir erzählte, da konnten einem wohl die Tränen kommen, aber meine alten Augen haben das Weinen verlernt. Das tröstende, erleichternde Naß ist versiegt. Deshalb weine Du tüchtig drauf los, mein Liebes, wenn das Geschick die Schläge zu heftig austeilt. Es kommt eine Zeit, da Du nicht mehr weinen kannst. – Dann wird der Schmerz bohrender denn je zuvor. Deine Ahnin pflegte zu sagen: »Wenn man keine Freude mehr hat, soll man sich mit dem Leid behelfen.« Ja, freilich, – und sie hat es gekonnt, und ihre sonnige Seele schuf ihr ein helles Gesicht im tiefsten Unglück.

»Mundwinkel hoch!« rief sie jedem zu, der mit trübetimplichen Gesicht zu ihr trat. Es wurde das Kommandowort für Generationen. Du scheinst mir das Zeug zu dieser Ahne zu haben, Muthchen. – Einen unendlich guten Brief erhielt ich von einem Unbekannten, von Baron von Twieler. An dem besitzest Du wohl einen sehr guten, väterlichen Freund. Vielleicht sogar noch mehr... Jedenfalls ist mein altes Herz von einer tiefen, schönen Ruhe erfüllt, seit ich diesen mannhaften, guten Brief las. Ich weiß, ich weiß mein einsames Muthchen von treuen Herzen umhegt, auch wenn sie es selbst nicht spüren sollte. – Wenn er Dich aufsucht, liebes Erdmuthenkind, – sei gut zu ihm. Ach, die Welt ist grausam, man soll die guten, sorgenden Herzen darin festhalten, selbst wenn einem nicht alles daran gefällt. Dein uraltes Großje grüßt Dich.

Ach, du Großje, – dachte Erdmuthe, ich brauche keine äußere Stütze, ich halte schon durch. Du weißt ja nichts von dem starken Etwas in mir. Von der süßen Gewißheit: Ich und der Bernd Hartmann gehören zusammen. Und wenn sein Dickkopf auch jetzt nicht den ersten Schritt tun will, weil ich so abscheulich war, ihm gar nie zu antworten, – wir sind ja doch eins. Ob er wohl Heimweh nach mir hat, der dumme Bengel? Ob er wohl manchmal singt:

Andre Mädchen, andere Städtchen
Kommen freilich zu Gesicht,
Ach, wohl sind es andere Mädchen,
Doch die Eine ist es nicht...?

Oder hat er das Muthchen doch am Ende vergessen? Vergessen Berlin, die grünen Fensterläden, die Heide, die Hansohms, sein Mütterchen...? Das ist doch ein bißchen viel auf einmal. Und du bist dumm, Erdmuthe, daß du dich mit aller Gewalt niederdrücken willst. Wie sagte Oheim Venso? »Sursum corda!« Und die Ahne ruft noch aus dem Grabe: »Wundwinkel hoch!« Zwei Wegweiser sind das, und zwei Stäbe, die man dir in die Hand gibt. Vorwärts und durch! Bernd Hartmann! Hu – uhhh!!! Ich grüße dich! Über Berg und Tal und Meer!

Schrill tönte die silberne Klingel von oben. Es war Erdmuthe, als klirre die Kette an ihrem Fuß...

»Armes Fräulein von Denso! Sie hätten ruhig unten bleiben können«, sagte bedauernd Schwester Lotte. »Ich bin ja hier, und streng auf dem Posten. Unerträglich ist die Kranke heute. Und doch erholt sie sich körperlich sichtbar. Unser Sparen an uns selbst scheint gut bei ihr anzuschlagen.«

»Ach, das ist gut, ist gut!« frohlockte Erdmuthe. »Wir sind sonst zu sehr im Vorteil, Schwester Lotte. Wir sind jung und gesund mit Riesenkräften, und sie ist alternd und krank...«

»Woher das strahlende Gesicht, gnädiges Fräulein?« Seit einigen Wochen gehen Sie mit federnden Schritten...

»Also gehe ich doch wenigstens noch auf Mutter Erde?! Ich dachte, ich flöge...«

Kopfschüttelnd sah ihr Schwester Lotte nach.

Die Kranke greinte. »Ich dachte schon, das ganze Haus sei leer. Ihr beiden jungen Fratzen amüsiert euch wohl königlich. Und ich, und ich?«

»Du wirst lieb und gut von Schwester Lotte gepflegt, Tante Sidonie, und ich bemühe mich nach besten Kräften für dich zu kochen.«

»Du kochst selbst? Ich habe keine Kontrolle mehr. Wo ist die Köchin?«

»Wie schön, Tantchen, daß du sie noch nicht vermißt hast. Sie ist mit dem Hausmädchen und der Jungfer in eine andere Stellung gegangen.«

»Und davon weiß ich nichts?«

»Doch, Tante Sidonie. Wir haben dir alles erzählt.«

»So ist das Ganze keine Komödie, die ihr mir zum Ärger aufführt? Ich sah dich neulich in der Küchenschürze, und glaubte, du seist verrückt geworden oder spieltest Theater.«

»Keins von beiden. Mein Verstand ist leidlich in Form und die Küchenschürze ist ganz neu und kleidet mich reizend. So sagte mir der Milchmann.«

»Mon dieu, welche vulgäre Sprache! Ich werde rasch gesund werden müssen, um den alten Haushalt aufzurichten.«

»Schön, Tantchen! Werde gesund! Das ist unser herzlicher Wunsch. Jetzt möchte ich an die Arbeit.« »Bleib! Du mußt mir sagen, warum niemand zu mir gelassen wird! Es ist wie ein Grab hier. Ich brauche Freunde und Zuspruch wie das liebe Brot. Wo sind Berklers, Oynhausens, Hermelands? Sie waren früher täglich hier und ich habe manches Spielchen mit ihnen gemacht...«

Sehr ernst sah die junge Nichte auf sie hin. –

»Hast du nie von Ratten gehört, die das sinkende Schiff verließen? Wir sind arm, Tante Sidonie, mehr noch, wir haben Schulden.«

»Schulden? Die Plebejer sind glücklich, wenn wir Schulden bei ihnen haben.« Frau von Denso bekam einen Weinkrampf. Schwester Lotte sprang nach den beruhigenden Tropfen.

Erdmuthe ging nach der Küche. »Mundwinkel hoch«, sagte sie laut. »Ahne, ich danke dir!«

B., den 5. Dezember 19..

Mein liebstes Großje! Dein Briefchen – – ja weißt Du, – ganz war es mir nicht »nach der Mütze«. Verzeih, wenn ich Dir das sage. Großje, Du hast Hintergedanken. Und ich bitte Dich innig und so zärtlich, wie wir beide miteinander stehen, schiebe sie ganz aus Deinem lieben Kopf heraus. Auch wenn ich Dir ehrlich, ja sogar etwas brutal sage: Es ist fürchterlich mit Tante Denso. Schwester Lotte muß ein Engel sein, bei der Flügel nur noch Frage der Zeit sind, daß sie es überhaupt aushält bei ihr. Noch dazu bei der schmalen Kost, die ich zu geben imstande bin. Tante Denso leidet noch keine Not. Ich denke mir täglich raffinierte Leckerbissen für sie aus, und auch in diesen ist nur ein Viertel Raffinement, und drei Viertel sind Hausmannskost. Und denk, sie hat bis jetzt die alte, perfekte Köchin noch nicht vermißt. – Aber Schwester Lotte und ich werden ganz »schlanke Linie«, schon mehr Lineal. Ich bin auch nicht die Spur scherzhaft, das sieht nur so aus. Aber soviel Humor habe ich doch noch, daß ich mich nicht feige in das Schloß Twielers flüchte. Das meintest Du doch, Goßje?! – Sag, ist die Schmiede nun aufgebaut? Die muß entzückend sein, wenn sie erst richtig angerußt ist. Hat sie auch grüne Fensterläden? Großje, wenn ich an grüne Fensterläden denke, werde ich froh. Und Du darfst nicht »klein und kümmerlich« werden. Denn die beste Zeit kommt ja noch für Dich. So zwischen neunzig und hundert, will's Gott. Dann ziehen wir nämlich zusammen, ganz eng und wonnig behaglich. Irgend jemand wird uns schon ein Haus bauen... meinst Du nicht? Ach, Großje, denke nicht, daß ich übergeschnappt bin. Das meint schon längst Tante Denso. Aber wenn man jung ist, Großje, gelt, da darf man Luftschlösser bauen und hoffen, daß sie »bei klein«, wie der Heidjer sagt, ein richtiges Fundament bekommen. Aber Baron Twieler kommt nicht mit in das Luftschloß mit dem soliden Unterbau, – nein – nein. Er ist wirklich ein Ehrenmann, der es viel zu gut mit Deiner Erdmuthe meint, aber – – –

Leb wohl, Großje! Mach' fix zu, daß Du bald Neunzig wirst. Ich kann mein Glück kaum noch erwarten...

Dein Muthchen.

Berlin, im Haus mit den grünen Fensterläden, den 10. Dezember 19..

Meine liebe Enkelin! Ich wage es heute gar nicht, froh und zärtlich an Dich zu schreiben. Mir ist's, als müßte ich Dir so ernst und mahnend, als ich es nur vermag, in die Blauaugen sehen. Erdmuthe, was ist mit Dir geschehen? Ich fühle, daß Dein junges Herz zur Liebe erwacht ist, und fürchte zugleich, daß Du Dich in andere Kreise begeben hast. Ich will nicht sagen, »niedrige Kreise«. Das würde gar nicht zu mir passen, denn Du weißt ja, daß meine Verehrung und herzliche, mütterliche Liebe dem prächtigen Schmiedemeister gehört, und wie ich an der treuen, seltenen Frau Ernstine hing. Aber in diese Kreise hineinheiraten? Eine Denso??? Kindchen, ich tappe ja im Dunkeln. Ach, lasse Dich nicht auf irgendeine Misere ein. Das Wort von »Hütte und Herz« klingt sehr verlockend, ist aber auf einem Trugschluß aufgebaut. Sieh, Kleines, – ich ziehe mich ja in nicht zu ferner Zeit in ein winzig kleines, kaltes Stübchen zurück. Aber Du wirst mir Blumen bringen und Deine Liebe ist imstande, selbst Eis und Schnee von meiner Ruhestätte fortzutauen. Aber ich meine doch, ich könne nicht ruhig schlafen, wenn ich wüßte, meine geliebte Enkelin stürzte sich aus der jetzigen Szylla in die künftige Charybdis. Überlege weislich, und dann handle mit Gott!

Deine treue Großmutter Denso.

Berlin, Alt-Moabit, an die Ecke von die Stromstraße. Advent 19..

Hochgeehrtes Frollein! Hei lewet noch, hei lewet noch, nämlich die Blumenfrau. Aber ik habe keene Blumen bei den Schnee. Nur Adventbäumeken. So kleen, wie Sie ooch mal waren, Frollein. Ik habe mir immer über Sie amesiert. Sonne Jöhre, un denn son adlichten Verstand. Un da dacht ik, der wird noch jewachsen sin mit die Jahre, denn sowat bleibt nich stehn. Sowat reift wie'n Kalfilleappel ant Spalier. Und da dacht ik, Sie kennten mich vielleicht helfen. Nich mits Jeld, denn det is wohl bei Ihnen knapp, wenn ik so von Ihre Großje aus urteile, wie die sich durchschlägt. Aber ik habe Jeld un noch dazu jewonnen, weil mich der Frisöhr jute Tipps jejeben hat. Ne, also Jeld – – nich zu knapp. Aber Aussichten fehlen jänzlich. Sehn Sie, ik bemühe mir nach den hochseligen Tod der Frau Ernstine Hartmann jewissermaßen ernstlich so an die fünf Jahre um den hinterlassenen Witmann. Aufdringlich – nich in die Hand! Aber scheu wie 'ne Konfirmandin, det kenn Se globn. Nur daß ik ihm öfters stelle so uff die Straße, wo er mir nich rausschmeißen kann, un denn so diesbezügliche Redensarten loslasse. Aber fein, dufte, knorke. »Na wie is, Meester? Ihnen fehlt wohl nischt zun Leben, bloß 'ne ordnende Frauenhand.« Un denn strecke ik ihm meine hin. Un denn schlägt er ooch in, aberst er sagt jedesmal: »Danke, ich bin versorcht.« Er is es abers nich, Frollein. An deshalb mecht ich bitten, ob Sie als seine langjährichte Jenossin ihm nich auf die ungeheuren Vorteile sonner Ehejemeinschaft mit mir stoßen mechten. Wenn ik denn erst int Haus mit de Jrine sitze, denn kommt's mich nich uff'n sehr anständiges Taschengeld for Sie an, Frollein. Un so egal Blumenschmuck fors Großje, det wär so zu sagen Ehrensache. – Denn in't Vertrauen jesacht, Frollein, – der Schmiedemeister verwildert uns. Nich etwa mit Suff, oder mits Kettenrauchen, oder jar mit Weibliche. Ne, aber er will ins Ausland machen, – – wat sagen Se nu? Is er erst ins Amerika, oder jar int Soffjetsche, nich auszudenken – denn is er for ne anständije, jesunde, wohlhabende Ehe verloren, det sehn Se doch in, Frollein? Wa? Denn singt ihn uns keen Richard Tauber zurück, nich uff de scheenste Schallplatte.

Also Frollein, passen Se Achtung! Jleich setzen Se sich hin, un nu wird jeschriem: Det derfst de nich, un det derfst de nich, un det biste Altmoabiten un det Haus mit de jriene Fensterläden schuldig. Mach nich ins Ausland, nich in de Hand! Nähre dich redlich in't scheene Berlin, un so. – Un denn 'ne kleene unschullige Anspielung uff mir, un denn schnell Schluß. Se wern so leichte koppscheu, de Mannsleute. Ik verlasse mir janz uff Ihnen.

Ihre verbundene Blumenfrau, Ecke Stromstraße, verwitibte Schmidt.

Ganz verstört saß Erdmuthe da. Vielleicht hatte sie weiter gar nichts in dem langen, wunderlichen Schreibebrief gelesen, als den einen Satz: »der Schmiedemeister will in's Ausland.« Ins Ausland, das hieß: zu Bernd. War Bernd krank? Denn er hatte ja zurückkommen wollen, wenn der Grundstein zum Konsulatsgebäude in Rio Grande do Sul gelegt war. Ach, wie war man so einsam und unwissend, und gehörte doch zu den Allernächsten. Wenn Bernd krank war, dann mußte sie ihn pflegen, das erwartete er wohl auch ganz sicher. Und vorher rief er den Vater, und der sagte ihm, daß Großje hinfällig und Tante Sidonie schwer nervenkrank sei. Dann würde er geduldig warten, bis sie das Haus bestellt und die Kranke gut untergebracht hätte. Und als Erdmuthe dies alles durchdacht hatte und recht einsah, wie sie doch eigentlich gar keine Ansprüche machen dürfe, und so gar kein Recht auf den geliebten Mann habe, da schlug sie beide Hände vor das Gesicht und schämte sich ihrer uferlosen Träume. – –

Schwester Lotte war aufrichtig betrübt über ihre junge Herrin. Wie war sie so blaß und überanstrengt. Und doch so unermüdlich. – An vielen Orten zugleich schien sie zu sein. Und als einmal Frau Sidonie von Denso endlich eingeschlafen war, und Schwester Lotte auch der Schlaf übermannte, was sie glaubte sich nie verzeihen zu dürfen, da hatte Erdmuthe sie beide betreut. Erst die schrille Stimme der Kranken hatte sie geweckt: »Sie schlafen, und wollen eine Pflegerin vorstellen?« O die grausamen Nächte am Bette dieser selbstsüchtigen Frau. Als einmal beide Wärterinnen ganz und gar erschöpft waren, und eine neue Einteilung ihrer Pflichtstunden verabredeten, rief die Hausklingel. Schwester Lotte erbot sich zu öffnen. Nach geraumer Weile kam sie wieder. »Der Diener des Herrn Baron Twieler läßt sich nicht abweisen. Er habe strengen Befehl, das gnädige Fräulein mitzunehmen in die Heide.«

Ein schwaches Lächeln kam in Erdmuthes Gesicht.

»Ich lasse mich nicht mitnehmen. Baron Twieler unterschätzt mich.«

Sie ging hinaus. In abwartender strammer Haltung standen Diener und Kraftwagenführer.

»Einen Gruß an den Herrn Baron«, sagte sie. »Die Schwester und ich sind an das Bett der Kranken gefesselt.«

Das Auto stob davon. – »So, Schwester. Ich hätte Ihnen gar zu gern diese Erholung gegönnt. Vielleicht macht es sich später einmal. Ich kann es nur nicht vom Baron Twieler annehmen.« –

Schon an demselben Nachmittag war Gräfin Müdingen bei ihr. Ohne weitere Einleitung sagte sie: »Mein Herzenskind, man soll sich niemals mit seinem eigenen Butterbrot verzanken.«

»Frau Gräfin, ich wüßte nicht, inwiefern Baron Twieler mein Butterbrot sein sollte.«

»Nun, Sie haben mich wenigstens gleich verstanden, das ist gut. Sehen Sie, Erdmuthe, das Verkehrteste ist, wenn man mit dem Kopf durch die Wand rennt. Man hat nichts, als die Brusche, und gewöhnlich kann man sein ganzes Leben dran kühlen. Ich bin nicht für Moralpauken. Aber ich weiß, mit Ihnen, kleines Mädchen, läßt sich gut reden. Da ist in der Stadt aus unsern Kreisen wohl niemand, der nicht aufrichtig bewundernd davor steht, wie Sie, Lüttjes, das Leben angepackt haben. Aber nun auch keinen Raubbau treiben. Wenn man bei schmaler Kost leistungsfähig bleiben will, dann muß man mindestens auch mal durchatmen und sich ausrennen, und im Betrieb Pausen machen. Und wenn dann ein alter Herr, der für niemand sonst zu sorgen hat, so einem jungen Dinglein sein schönes Auto schickt, rein aus christlicher Nächstenliebe, dann soll sich das Dinglein hübsch bedanken und froh in die weite Welt fahren.«

Erdmuthe beugte sich nieder und küßte die Hand der gütigen Frau.

»Ach sie meinen es gut, gnädigste Gräfin, – – – viel Vertrauen hab ich zu Ihnen. Aber es ist schwer, über all dies zu sprechen – – – ich – ich stelle den Baron sehr hoch – aber er – er hat die Hoffnung, daß ich – – –.«

»Ahhhh! Mein Bruder, Graf Büdingen in Berlin, würde jetzt sagen: ›Kiekst du aus die Luke???‹ Also dann ist die Sache anders, und Sie sind ein famoses Frauenzimmerchen. Sieh mal einer den Twieler an! Auf 'n Kopp gefallen is er nicht ... Nein, nein, ich bin schon still. Sie sollen Ihr Vertrauen nicht bereuen. Wenn mein Neffe, eben der Sohn dieses Berliner Bruders nicht so 'n Luftikus und Jeu-Ratte wäre, auf der Stelle müßte er antreten und Sie heiraten. Verlieben würden Sie sich sofort in ihn, er ist 'n ›Sieh-und-stirb-Held‹. Aber ...«

»Aber ich bin so gar nicht geeignet, so einfach geheiratet zu werden. Ich möchte so gern furchtbar geliebt werden und schrecklich wieder lieben.«

»Ach, Sie Wickelkindchen! Prinzessin Weißnichts und Ohnearg! Und auf diesen Helden warten Sie? Ist er denn schon da? In Ihrer Nähe?«

»Ach nein. – Im Ausland ...« Erdmuthe erschrak heftig, als sie ihr Geheimnis herausgerufen hatte, und barg ihren Kopf an der Schulter der mütterlichen Freundin.

»Süßes, kleines Dümmerchen! Lassen Sie sich's nicht leid sein. Ich bin keine Plaudertasche. Und von heute ab Ihre feste Freundin. – Und da mußt du mir erstens das ›du‹ erlauben, Erdmuthenkind, und zweitens schicke ich euch beiden pflegenden Frauenzimmerchen jetzt jeden Mittag, während ich mein Nickerchen mache, meine Kalesche mit den stadtbekannten alten Pferden Donner und Doria. Trotz dieser rabiaten Namen könnten sie um die Welt nicht mehr durchgehen. Mein Kutscher Traugott Knispel ist auch uralt, nämlich mit mir zusammen auf unserm Dorf und Gut konfirmiert. 'n jungen Kutscher krieg ich nicht, die genieren sich alle mit dem Wagen und den Gäulen zu fahren. Ich genier' mich nicht. Und Donner und Doria sollen die Pferde auch bis an ihr Lebensende heißen. Ich tauf sie nicht um in: Anemone und Pulsatille.« –

Hellauf lachte Erdmuthe.

»Ach Sie Putzjunges! Sie haben noch Lachen und Weinen in einem Sack. Und nun gehe ich. And Sie fahren fortan jeden Tag ein Stündchen in die verschneite Heide. Die ist immer gleich schön, ob Sommer oder Winter. Und mit der braven Schwester Lotte wechseln Sie sich ab. Was macht die Kranke?«

»Es ist dasselbe, Frau Gräfin. Reizbar und anspruchsvoll ist Tante Sidonie. Sie denkt nie an irgendeinen anderen Menschen. Aber Onkel Denso hatte sie lieb und verwöhnte sie, und – – jetzt bin ich Onkel Denso.«

»Du närrischer Zwickel! Also dann leb wohl, Onkel Denso. Und ich wünsch dir aus meinem alten Herzen zu tiefst heraus, daß der ›Mann aus dem Ausland‹ bald kommt. Er ist hoffentlich kein Besenstiel und Pappstoffel, sondern weiß, was er an dir hat.«

»Nein, das weiß er noch nicht«, meinte Erdmuthe ernsthaft, und die Gräfin verabschiedete sich rasch, und schüttelte den Kopf den ganzen Tag lang.

B., den dritten Advent 19..

Verehrter, lieber Beschützer! Ihr kleines Muthchen ist verzagt, und dürfte es von Rechts wegen nicht sein. Aber ich habe der Schwester Lotte ein paar Tage Urlaub geben müssen, weil sie schon ganz fertig mit ihren Nerven und Kräften war. Und nun bin ich an der Reihe, zermürbt zu werden. Ach, das versteht Tante Sidonie. And weil ich jähzornig bin und in die Lüfte fahre, setze ich mich immer ins Unrecht. Aber sie kann manchmal trotz ihrer Nerven furchtbar ruhig und gelassen bleiben, und dann behält sie scheinbar Recht, weil sie sich einen guten Abgang ausklügelt. Es ist doch gut, daß es einen Herrgott gibt, der genau weiß, wer zuerst weh tat, daß man beinahe nicht mehr atmen konnte. Und ich möchte Sie doch sehr bitten, mein Beschützer, daß Sie mir Sonne schicken, eine große Frachtkiste voll. Und daß Sie nicht ins Ausland gehen, wie die Blumenfrau schreibt, die auch sehr gern bei Ihnen bleiben möchte als Ehefrau und sorgende Hand. Ich habe den Brief von ihr ein paarmal durchgelesen, zuerst war es mir nicht aufgegangen, was sie wollte. Ich finde natürlich, daß sie nicht zu Ihnen paßt, mein lieber Beschützer. Doch bin ich wohl zu unerfahren, als daß ich Ihnen einen Rat geben könnte. Aber es wäre mir lieber, wenn Sie Bernd riefen aus dem Ausland, als daß Sie selbst hinfahren und Ihr Muthchen so sehr allein lassen. Sind Sie oft bei Großje? Ich wollte, ich wäre auch bei ihr. Aber wenn ich nicht mehr so traurig bin, dann habe ich auch wieder Kraft und bleibe gern bei Tante Sidonie, bis ich sterbe. – Aber ich möchte dann im Gärtchen von dem Hause mit den grünen Fensterläden beerdigt sein, wenn Sie das erlauben, lieber Meister. – Ich bitte sehr um rasche Antwort.

Ihre merkwürdig gestimmte Erdmuthe.

Berlin, Altmoabit, im Hause mit den grünen Fensterläden. Acht Tage vor Weihnachten.

Mein liebes Muthchen! Das hat nun doch lange gedauert, bis ich Dir antworten konnte. Aber es ruht jetzt viel auf mir mit dem Bau der Schmiede, die doch innen und außen schmuck dastehen soll, wenn der Bernhard mal wiederkehrt. Er scheint sogar was vorzuhaben mit ihr. Ich glaube, da sollen besonders wertvolle Schlösser und Schlüssel handgeschmiedet werden, was der Maxe-Altgesell so gut und kunstvoll versteht und ich stehe wohl auch noch meinen Mann darin. Aber Bernhard will noch Schlosser und Schmiede aus dem Ausland mitbringen, die sollen teils den Maxe belehren, teils aber auch zulernen von ihm. Große Herren da drüben wünschen solche deutsche handgeschmiedete Sachen an ihre Paläste, da kann man sich nur freuen, wenn sie's aus Deutschland beziehen. Aber das hat alles wohl noch gute Wege. Denn er ruft mich dringend nach drüben, und schreibt von einem großen Fest, das er nicht ohne seinen lieben Vater dort feiern will. Das hat mich gerührt und gefreut. Abkommen kann ich ja, denn Frau Peters nebenan ist dem gnädigen Frau Großje sehr wert, und sie kann sich ihr völlig anvertrauen. Und nun muß ich Dir sagen, daß ich selbst in begreiflicher Aufregung bin. Denn der Bernhard schickte mir den Brief durch seinen Freund, einen Dr.-Ing. aus dem Rheinland, der mit ihm in Südamerika war. Und der Herr deutete mir an, daß die Tochter des Konsuls sich für meinen Bernd interessiere; ein reizendes, liebes Mädchen soll sie sein, und sehr vornehm. Und der Freund meinte ferner, es würde wohl, wenn ich hinkäme, die Verlobung gefeiert werden. Und Bernhard sei auch geschäftlich vorläufig gar nicht abkömmlich, so daß ich nur gleich auch zur Hochzeit dableiben könne. In vornehmen Familien zieht man sich ja auch nicht lange herum, und sie ist ebenso alt wie der Bernhard. Die Feder zittert etwas, es wird aber wohl mein Herz und meine Hand sein. Denn was soll ich dort in all dem Prunk und der Vornehmheit? Ich bin ein einfacher Mann und habe nie etwas anderes sein wollen. Und dann bin ich ja nur der Stiefvater, aber der Geist meiner lieben Ernstine lebt auch in ihrem Jungen, deshalb ehrt er mich so. Dennoch ist mir mein Herz sehr beklommen, denn eine richtige Tochter von mir kann doch so was Vornehmes nie werden. Ich habe auch nicht die fremden Sprachen so lernen können, und mein Deutsch ist nicht einwandfrei, so sehr ich mir auch Mühe gebe. Die Dame da drüben wird immer nach ihrer Heimat streben, wenn auch ihre Mutter eine Deutsche ist. All dieses wollte ich nun in das Herz meines Muthchens auspacken, denn ich weiß, es freut sich, daß mein Bernhard sein Glück gefunden hat. Gelt, Muthchen, er war doch immer mehr Dein lieber Spielgefährte und Hausgenosse, als Dein Feind. – Und wenn wirklich alles so kommt, wie es mir der Freund gesagt hat, dann bist Du mit all Deinen lieben Gedanken bei uns in der Ferne. Herr Dr.-Ing. Perguleit geht mit mir zusammen nach Rio Grande do Sul und wird mich bemuttern. Das hat sich alles der Bernhard ausklamüsert. Und nun fehlt mir bloß eins: daß mein Muthchen könnt mitreisen! Am neunzehnten geht schon das Schiff ab. Und ich hab so viel zu erledigen bis dahin. Das gnädige Frau Großjen hat sich mächtig über die Verlobung gefreut. Ist auch soweit gut zu Wege. Sie wird mir sehr fehlen, denn sie ist richtig meine Freundin gewesen in all den Jahren. Daran werde ich mich immer aufrichten, sollte meine neue Tochter mich etwa nicht als ihresgleichen ansehen. Aber das sind alles schwere Gedanken und ich bin ja kein heurig Häslein mehr, das nur so mit ihnen reinhuppt ins Amerika, wie wenn nix war. Und ich habe jetzt so viel geschwatzt, weil ich mir das alte Herz erleichtern wollte. Ich bliebe lieber hier und käme an einem Weihnachtstag hinüber zu meinem Muthchen. Und säße am Heiligen Abend mit Frau von Denso, dem schönen Großje, unter der Weihnachtstanne, und wir röchen die Wachslichtchen und den frischen Stollen. Lebe wohl liebes, gutes Mutheken! Halte nur Dein schönes stolzes Köpfchen immer recht hoch, damit das Ungemach mit der Frau Präsident nicht den Sinn bezwingt. Am Montag geht schon die »Polonia« ab von Hamburg. Ich darf gewiß den Bernhard von Dir grüßen.

Dein allertreuster Freund Peter Hartmann.

Da war der Schlag gefallen ...

Sie hatte alles nur geträumt. Hatte sich in Wahngebilde eingesponnen, und nun kam der liebste Freund und Beschützer und schnitt grausam die lieben Fäden durch. Was sollte Erdmuthe nun noch auf dieser argen Welt. Sie spürte, diese Kinderliebe zu Jumbo, dem großen Schlagetot, dem Schmiedejungen, die war nicht über Nacht auszurotten, die war zehn Jahre alt und saß, ach so fest. Ob sie wohl jemals wieder herauszog aus dem Herzen? Daß sie sich einem anderen je zuwandte, war ja ganz unmöglich. Erdmuthe könnte ja nie jemanden mit dem großen Schlagetot vergleichen. Nie. Mit dem Riesen. Mit dem dunklen Lockenwald um Kopf und Stirn und Ohren. Mit der energischen Nase und dem schmalen Mund und dem trotzigen Kinn. –

Erdmuthe weinte nicht. Das war ja viel zu gewaltig, was sie da erlebte, das konnte nicht mit Tränen überwunden werden.

»Ich will jetzt nur andern gehören«, sagte sie still zu sich. Und sie schritt hinauf ins Krankenzimmer. Wollte sich in den Sorgenstuhl setzen, der dicht am Bette stand. Aber da erhob sich die schlichte Gestalt Schwester Lottes aus dem Sessel: »Ich hatte solches Heimweh nach Ihnen und meiner Pflicht.«

»Aber Schwester! Sie sollten sich doch erholen!«

»Hab ich, hab ich! Aber Sie? Wie ein Geistchen sehen Sie aus! Es war also viel zu viel für Sie allein. Ich hab mich leise ins Haus geschlichen, während Sie in der Küche hantierten. Schnell umgezogen und zu Frau Präsident hinein. Kam grade zur rechten Zeit, um ihr Morphium zu geben. Fräulein Erdmuthchen, wir müssen mit dem Arzt und dem Justizrat beraten – was geschehen soll. Eine Wärterin muß her – sehen Sie...« Die Hand der Schwester blutete heftig, die Kranke hatte hineingebissen.

»Warum, o warum, wie furchtbar!« klagte Erdmuthe. »Und ich kann ja keine Wärterin bezahlen ... Aber Sie müssen von uns fort, liebste Lotte, ich will alles allein schaffen. Je mehr Arbeit, desto besser für mich.«

Aber während sie sprach, klang ihr die eigene Stimme fremd, als spräche ein anderer. Die Kranke wachte aus unruhigem Schlaf auf und verlangte aus dem Bett. Mühselig zogen die beiden sie an. Frau Sidonie tobte und weinte bei jedem Kleidungsstück. »Immer dasselbe! Wie eine Magd kleidet ihr mich. Wer gibt euch das Recht?«

Das übergeworfene schwarze Seidenkleid zog sie sofort wieder vom Körper, und warf es in eine Ecke. »Wo sind meine Gesellschaftskleider? Ich will in die Oper ...«

Still sahen die beiden Pflegerinnen sich an. »Ich rufe den Arzt«, raunte Schwester Lotte und lief hinaus. Dr. Siemering war noch auf Praxis, und hatte einen schweren Fall. Schwester Lotte lief von einem Patienten zum anderen, um des Arztes habhaft zu werden. Und in dieser Zeit erlebte Erdmuthe einen Anfall bei der Kranken, der hart an Tobsucht grenzte.

»Haben Sie niemand, den Sie um die Summe angehen könnten, um die Kranke in ein Sanatorium zu überführen? Besitzt sie keine wohlhabenden Verwandten?« fragte später der Arzt.

»Nein. Wir sind alle arm«, entgegnete Erdmuthe kurz.

»Nun, das ist keine Schande. Nur in diesem Falle sehr bedauerlich, weil wir öffentliche Hilfe nicht in Anspruch nehmen können ...« Erdmuthe hob abwehrend beide Hände.

»Ich übernehme die Pflege allein, wenn es nötig wird«, sagte sie bestimmt.

»Lassen Sie mich weiter sprechen. Eine Irrenanstalt kommt nicht in Frage, die Kranke kann allmählich wieder gesunden, namentlich da Sie es fertig gebracht haben, ihr das Rauchen abzugewöhnen. Aber das Unterbringen in eine solche Anstalt würde sie maßlos aufregen, das muß vermieden werden.«

»Ja. Tante Denso hat gestern Schwester Lotte in den Finger gebissen. Das kann ich nicht ertragen. Wenn sie mich beißt, ist es nicht so schlimm.«

»Sie sind bedenklich auf den Hund gekommen, gnädiges Fräulein, ich sehe mit großem Bedauern, daß Sie sich kaum noch aufrecht halten.«

»Das geht vorüber, Herr. Doktor. Und seien Sie mir nicht böse, daß ich so kurz angebunden bin. Mir ist selbst so, als sei ich nicht mehr Erdmuthe Denso.«

»Na, das sind Sie hoffentlich noch, und bleiben es, bis Ihnen jemand einen anderen Namen gibt.«

»Das geschieht niemals. Ich möchte Diakonissin werden.«

»Sie, Fräulein von Denso?? Das gibt es nicht. Ihre Rasse darf nicht aussterben. Lassen Sie mich mal deutlich reden, Sie prachtvolles Menschenkind. Sie müssen heiraten, irgendeinen hochgemuten Menschen und zwölf Kinder bekommen, sechs Buben und sechs Mädchen, und die sollen Sie erziehen zu Menschen, wie Sie selbst einer sind ...«

»Ach, wie sind Sie gut mit mir, Herr Doktor Siemering! Ich möchte wohl gern zwölf oder vielleicht vierundzwanzig Kinder haben, aber mich will niemand.«

»Ach?? Na, ich bin nun schon mit einer ganz besonders guten, lieben Frau behaftet, sonst – sofort.« Es tat gut, in diesem Hause einmal wieder lachen zu können, und es von andern zu hören. Es war das letztenmal für lange Zeit. Denn die Nächte wurden unerträglich, und die Tage hallten wider von maßlosen Zornausbrüchen der Kranken. Frau von Denso hatte trotz ihrer kranken Nerven einen eiseren Willen. Sie mühte sich im Zimmer herumzuwandern, man sah, es trieb sie irgendein Entschluß. Sogar auf die Straße wagte sie sich am Arm der Schwester und schlief nach dem Gang ohne Morphium fest und gut. – Aber einmal war sie ganz allein fortgeschlichen, als die beiden Mädchen sie fest schlafend glaubten und sich endlich einmal der geliebten Musik hingaben. Erdmuthe spielte künstlerisch und vermißte immer schmerzlich den großen Bechsteinflügel, der Tante Sidoniens Schulden zum Opfer gefallen war. Aber das kleine, unscheinbare Klavier, das an seine Stelle getreten war, hatte überraschend guten Klang unter den weichen Händen der jungen Meisterin. Währenddem kaufte Frau Sidonie ein und hatte mit einemmal wieder Kredit; sie kehrte mit wertvollen, unbezahlten Sachen heim. Erdmuthe trat bittre Gänge an und trug sämtliche Sachen wieder in die Geschäfte. Sie atmete auf, als man sie anstandslos wieder zurücknahm und erzählte schlicht von der schweren Krankheit ihrer Verwandten. Aber dies wiederholte sich, und die Wärterinnen waren kaum der Kraft gewachsen, die über Frau von Denso kam, wenn es galt, ihren Willen durchzusetzen. Und die Auftritte, wenn die Sachen wieder fortgetragen wurden, waren schier unerträglich für die beiden stillen Dulderinnen.

Und in all dies Trübe leuchtete das nahe Weihnachtsfest herein. Ein winziges Tannenbäumchen stand in Erdmuthes Stübchen. Gräfin Müdingen hatte es mit vielen Lichtern besteckt und einen guten Brief dazu geschickt. Die Fahrt mit »Donner und Doria« hatte nur einmal stattfinden können, weil keines der beiden Mädchen das andere im Stich lassen wollte. Schwester Lotte war aber sehr beglückt und froh angeregt von ihrer Fahrt heimgekehrt. Freilich waren während der Stadtfahrt die Schulkinder hinter der Kalesche dreingelaufen unter den gellenden Flüchen: »Donner und Doria!« Und der alte Kutscher hatte grimmig in seinen zahnlosen Mund gemurmelt: »De Jugend, de heitige Jugend! Se sin wie de faulen Eier. Wenn man se in Ruh läßt, laufen se weg, un wenn man se haut, dann stinken se.« Aber draußen in der Heide, da war die braune Kalesche wie eine Wiege gewesen, die das müde Menschenkind schaukelte, und über den niedrigen Kutschenschlag mußte wohl im Frühling der goldene Ginster und im Spätsommer die hochblühende rotsamtene Heide hineinragen. Aber Erdmuthe dachte an keine Winter– noch Sommerfreuden. Sie wollte nur an harte Pflicht und Arbeit denken. – So dämmerte in all' die kleinen Freuden und großen Kümmernisse der heilige Abend herein. Die beiden Freundinnen hatten beschlossen, so feierlich wie möglich den vierundzwanzigsten Dezember zu begehen. Düster genug hing er herein mit seinen dicken Schneewolken. Erdmuthe hatte ihr Tannenbäumchen mit den alten Sächelchen aus froher Kinderzeit behangen. Einem Silberschiffchen, einer Lokomotive und einem Englein, das von ihren vielen Küssen farblos geworden war. Sie trug es mit selbstloser Güte zu Frau von Denso herein, die aber heftig den »fadenscheinigen Ersatz« ablehnte. Sie lag laut weinend und klagend zu Bett und wollte nichts sehen, noch hören. So kam das leuchtende Etwas wieder in das Wohnzimmer, wurde mit einem Choral begrüßt und beschien hell das Liebespaket von Großje, das mit wahrer Andacht geöffnet wurde. Auch Schwester Lotte hatte von einem fernen Jugendfreund ein Päckchen bekommen und saß verträumt vor seinem Inhalt. Dann seufzte sie auf, küßte Erdmuthe und begab sich langsamen Schrittes zur Kranken hinauf. – Still las Erdmuthe den Brief, den Großje mit zitternder Hand geschrieben:

Mein Herzenskind! Weihnachten ist da und Du nicht bei mir und ich nicht bei Dir. War doch sonst immer stark und zuversichtlich, und jetzt wirft mich die Sehnsucht nach Dir beinahe um. Beinahe? Ach, ganz und gar. Ich will mich nicht stärker machen als ich bin. Meine Jahre erlauben mir größere Hinfälligkeit, als ich gemeinhin in Anspruch nehme. – Liebling, wie hart, wie hart kommt es mich an, am schönsten Fest, in der lieben Weihenacht nicht bei Dir zu sein. Und es dürfte doch das heilige Fest darum nicht minder wertvoll sein. Aber die Einsamkeit scheint mich zu erdrücken. Der hochwerte Freund fort, ungewissen Tagen entgegen, schier ausgestorben das Haus mit den grünen Fensterläden. Er sagte mir noch vor seiner Ausreise nach Südamerika, daß Du ein tapferer Kämpe seist, der uns sicher nicht die Hälfte seiner Nöte mitteilte. Ist es so? Und dieser Frau Sidonie bringen wir so ungeheuerliche Opfer. Nein, das hat sich Denso nicht wohlweislich überlegt. Er ahnte nicht das Heischende, Unerbittliche dieser Krankheit, die außer dem Befallenen noch andere mit sich reißt. – Ich muß nur tiefschmerzlich sagen, daß Du dort ganz unabkömmlich bist. Und daß Du des größten Opfers für meine Person fähig wärst, wenn es irgendwie möglich wäre, Weihnachten oder Neujahr zu mir zu kommen.

Nein, es ist nicht möglich. – Und ich werde still warten, wenn es einmal sein wird. Nur lebendig müßte ich dann noch sein, Dich zu grüßen Du liebes, liebes Kind. Ich bitte Gott um reichgesegnete Weihnachten für Dich.

Deine Großje von Denso.

Alte Silbersachen lagen um den Brief herum in weißes Seidenpapier eingewickelt. Erdmuthe strich über jedes einzelne Stück. Gottlob, daß Großje mit warmer Hand gab, so brauchte man sich nicht im Grübeln zu verlieren, konnte antworten, und jedes Stück mit rechter Freude begrüßen. – Draußen klingelte es. Es war, als ob jemand die Hausglocke niederhielt. Vor der Tür stand eine tiefvermummte Gestalt: »Kann dieser Maiblumenstrauß wohl gleich in Wasser gestellt werden? Baron Twieler schickt ihn mit ergebensten Grüßen.«

»Ich danke herzlich, Baron. Ich erkannte Sie sofort. Aber – Fastnacht ist ja eigentlich noch fern...«

»Heute ist Weihnacht«, sagte er ernst. »Und wir sind beide einsam. Darf ich die Ehre haben, über Ihre Schwelle zu treten?«

»Sie sollten so gar nicht sprechen, Baron Twieler. Ich bin so jung gegen Sie ...«

»Ja, und so sollten Sie nun wieder nicht sprechen. Meinen Sie, kleine junge Erdmuthe, das ist angenehm für den ›alten Herrn‹?«

Sie lächelte traurig und lieblich zugleich. »Kommen Sie herein, Herr Baron.«

Er stand drinnen im kleinen Zimmer. Der verwöhnte Aristokrat schaute sich rings um. Die alten, schönen, eingelegten Möbel, daneben das schlichte Klavier, so gar nicht passend dazu, ein paar alte Stiche an den Wänden und von Künstlerhand gemalt, das Ahnenschloß der Densos aus dem Jahre 1520. Über allem lag ein besonderer Schimmer.

»Die Hütte wird durch dich zum Himmelreich«, ging es durch seine Gedanken. Dann blieb er lange vor dem Bäumchen stehen. »Nie sah ich etwas Schöneres!« sagte er ernsthaft.

»Ja, Sie sind gut mit mir«, entgegnete sie nachdenklich. »Man braucht viel Sonne und Güte, wenn man einsam ist. Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für die schönen Blumen und ...«

»Und? Sie haben mir nichts zu danken ...«

»Doch! – – daß Sie zu Fuß gegangen sind ... Es war ein Opfer.«

»Nein«, rief Twieler lebhaft und nahm ihre beiden Hände in die seinen. »Es war meine Weihnachtsfreude. Ich habe auf der weiten Welt niemand, der mir etwas schenkt. Haben Sie vielleicht was für mich?«

Sie sah ihn ernsthaft an. »Ja! – – Daß Sie hier sein dürfen. Das ist mein Geschenk. Es kommen sonst nur zwei alte Freunde in mein Haus.«

»Ich danke Ihnen. Und ich möchte eine Tasse Tee bei Ihnen trinken. Kann ich das?«

»Natürlich! Es ist ja Weihnachten. Da wollten Schwester Lotte und ich sowieso schlemmen.«

»Herrlich! Also lassen Sie mich an dieser Orgie teilnehmen.«

»Ja. Und Sie bekommen sogar Rum in den Tee. Weil Sie ein Mann sind. Es ist noch eine Flasche von Oheim Denso da.«

Er nickte. Sprechen konnte er nicht. Baron Twieler konnte sich nicht besinnen, wann er das letztemal, oder ob er überhaupt einmal in seinem Leben gerührt gewesen war. –

Sie saßen in zwei großen, alten Sesseln und blickten in die kleinen verglimmenden Lichtchen. »Ich stecke gleich neue auf. Gräfin Müdingen hat mir viele geschickt.«

»Lassen Sie das, sie brennen schon noch ein Weilchen. Erdmuthe – warum haben Sie mich nicht ein einziges Mal gerufen? Ich hörte von Dr. Siemering zufällig, daß Frau Sidonie von Denso sehr, sehr ernstlich krank ist – daß Gefahr für Sie, teure, liebe Erdmuthe damit verknüpft ist. Deshalb rannte ich hierher wie ein Schuljunge – und weil ich meinte, es brauche niemand seine neugierigen Augen auf Ihr Häuschen zu richten, wie es so ein Protzauto immer hervorruft. Erdmuthe – und Ihr Großje bangt sich nach Ihnen... Kind, einzig liebes – bin ich Ihnen denn so ganz und gar gleichgültig, oder verhaßt, oder unwürdig...? Herrgott – – ich würde die Kranke sofort in eine Privatheilanstalt geleiten – ja – Dr. Siemering würde sie selbst zu sich nehmen..., er ist ein hervorragender Psychiater...«

»Sie würden mich zu Großje bringen?« fragte sie leise – verträumt – sehnsüchtig.

»Erdmuthe! Ich frage noch einmal. Könnten Sie mir vertrauen? So vertrauen, daß Sie meine Frau würden? Mein sorgsam behütetes Kleinod? Erdmuthe!«

»Aber ich habe einmal über Sie gespottet, Baron Twieler. Es war schlecht von mir und Sie sind gut. Könnten Sie mir das verzeihen?«

»Sie sollen mir nicht beichten. Kleines, törichtes Mädchen! Du wirst mir mehr zu verzeihen haben, als ich dir... gib mir eine klare Antwort!«

Er stand auf und sah auf sie nieder. Wie müde und abgehetzt das holde Geschöpf aussah! And doch so lieb, so schön! Jeder Zoll eine Prinzessin ...

»Ja, Baron Twieler. Ich bin Ihnen so grenzenlos dankbar. Ich soll zu Großje kommen, und die arme Tante Sidonie soll alles haben was sie braucht. – Ohhh! Sie braucht aber viel, Baron Twieler.«

»Du seltsames Kind! – Und ich darf morgen alles ordnen? Und erst mal zu Großje fahren, damit sie unsere Verlobung bekannt gibt? Du kannst dann in der Weihnachtswoche nachkommen, sobald Frau Sidonie bei Dr. Siemering ihre Heimat hat.« –

»Darf ich Schwester Lotte mitbringen? Sie hat mich lieb.«

»Natürlich muß sie mit. Wir sind dann in Berlin eine ganze Kompagnie, die dich lieb hat.«

»Oh, das ist schön! Innig danke ich Ihnen.«

Er zog einen Ring von seinem Finger und steckte ihn ihr an. Ein Lichtchen, ein einziges brannte noch und funkelte in dem Brillanten.

»Meine Mutter trug ihn bis zu ihrem Tode. Es war ihr Verlobungsring. Ich grüße dich als meine Braut, Erdmuthe Denso!«

Sie nickte ernst. »Ich danke dir.«

Sacht zog er sie an sich und küßte ihre Stirn. »Gute Nacht, Erdmuthe. Und auf ein fröhliches Wiedersehn!«

Dann war er gegangen. –


Es war eine ganz stille Hochzeitsfeier, die im Januar 19.. im Hause mit den grünen Fensterläden stattfand. Man sah das Brautpaar im geschlossenen Wagen des Bräutigams nach dem Standesamt fahren, und nachmittags fuhr der Pfarrer vor und traute Erdmuthe von Denso und Baron von Twieler am Krankenstuhl des Großje. Lothar von Twieler wandte kein Auge von seiner weißen, holden Braut. Die Myrtenkrone mit lebenden Blüten hatte die Blumenfrau Ecke Stromstraße geschickt, das hatte sie sich nicht nehmen lassen. Und der handgearbeitete Brüsseler Brautschleier war Familienschatz der Densos. Er umschloß die ganze, schlanke Gestalt, so daß es Erdmuthe war, als hielten die Arme der heimgegangenen Mutter sie umschlungen, die einst ebenfalls diesen Schleier getragen. Es war niemand sonst zugegen als Schwester Lotte. Die sollte fortan als Pflegerin bei Großje bleiben. –

Die beiden Trauzeugen auf dem Standesamt, Freunde des Barons, waren schon vom Rathaus aus wieder in ihre Garnisonen abgereist. Nur eine märchenhafte Fülle von seltenen Blumen und Pflanzen, die Baron Twieler bestellt, und die Gärtner Herrmann in den Wohnzimmern künstlerisch verteilt hatte, zeigte, daß eine vornehme Hochzeit im Hause mit den grünen Fensterläden stattfand. Man bildete vor dem Hause Spalier, und jeder gab seine derbe oder zarte Meinung über alles ab, was sich ereignete. Als die Blumenfrau Ecke Stromstraße die Myrtenkrone brachte, mußte sie diese auch den Nachbarn zeigen. Man lugte unter die Seidenpapierhülle und war des Lobes und der Rührung voll.

»Für mein Frollein Mutheken«, sagte jedesmal Mutter Schmidten unter heißen Tränen, »sie kann nischt dafor.« Und wenn diese herausgeschluchzte Bemerkung den Umstehenden auch unverständlich war, so wußte sie selbst es doch, daß der verschluckte Nachsatz lautete: »... daß mich der Schmiedemeister durch die Lappen jejangen is.« Sie betrachtete sich auch in Zukunft kraft ihrer späten Liebe viel mehr als Witib des lebendigen Schmiedes, als des toten Dienstmannes vom Lehrter Bahnhof. –

Eine Stunde blieb den Neuvermählten Zeit, um sich dem Großje noch recht zu widmen. Es war, als ob die Greisin verjüngt sei, da sie ihr Enkelkind wiedergesehen hatte. Gleich nach der längeren Hochzeitsreise sollte Erdmuthe auf viele Wochen zu ihr kommen, während der Baron auf seinen Gütern zu tun hatte. Denn Großje hatte flehentlich gebeten, im Hause mit den grünen Fensterläden bleiben zu dürfen. »Nicht verpflanzen den alten Baum, liebster Freiherr – ich wurzele tief in diesem guten Hause.«

Twieler willfahrte sofort dem Wunsche. Ihm war das späte Glück, dies holdselige junge Weib zu besitzen, jedes Opfer wert. Mit gutem Zuvertrauen sahen ihn Erdmuthes Blauaugen an, und daß sie so durchsichtig blaß war, kam sicher nur von der übergroßen Anstrengung der letzten Wochen und Monate. Ihre zarte Scheu, ja selbst gelegentliche heftige Abwehr entzückte ihn. Seine Erdmuthe war eben anders als alle Mädchen und Frauen auf dem Erdenrund. Der Abschied von Großje war seltsam. Twieler sprach drunten mit dem Schofför. Er wollte die Reise bis Hamburg im Kraftwagen zurücklegen und sich dann mit seiner jungen Gattin zur Auslandsreise einschiffen. Sie hatte ja noch nichts gesehen, nicht einmal das Meer. Als sich Erdmuthe abschiednehmend über das Großje beugte, erschrak die Greisin vor dem Weh, das in den Blauaugen stand. Sie zog den jungen Kopf ganz nah zu sich herunter und fragte leise, forschend, seltsam bang: »Du bist doch glücklich, Kind?«

Erdmuthe richtete sich auf. »Großje, wenn du es bist, bin ich's auch. Und ich habe auch Oheim Denso nicht das Wort gebrochen. Davor fürchtete ich mich am meisten. Tante Sidonie ist besser aufgehoben, als je bei mir.«

»Kind, ich bin alt. Ich verstehe den Zusammenhang nicht...«

»Großje, dann zergrüble dich nicht. Denk immer nur, daß dein Muthchen einen edlen, ritterlichen Gatten hat. Wie wenig Frauen können das von sich sagen.«

»Ja, ja, daran will ich immer denken.«

»Großje – mir ist bang. Es ist nicht jene törichte Bangigkeit, wie sie immer in Büchern steht..., weißt du. Mehr so, als könnt ich doch nicht mit dem Baron ganz allein fortgehen, ohne dich ...«

»Herzenskind, was redest du?«

»Ja, nicht wahr, lauter dummes Zeug. Und ich meinte nur, Großje, wenn der Bernd Hartmann mal zu dir kommt – mit seiner Frau – – dann sollst du ihm ganz allein ins Ohr sagen, ich wäre nie, nie sein Feind gewesen...«


Die »Cap Polonia« zog ihre Straße wie ein Held. Sturmstärke 8 machte ihrem Namen »Vergnügungsdampfer« gerade keine Ehre. Von den vielen Fahrgästen waren die meisten hoffnungslos seekrank. Nur die junge, schöne Baronin von Twieler stand zwar zart und blaß, aber doch recht wie ein Bäumchen auf Deck, spürte das Schaukeln nicht als etwas greulich Unangenehmes und behielt ihr gutes Gleichgewicht. Als sie auch nur ein wenig blasser wurde denn zuvor, wickelten sie hilfsbereite Hände sofort in große, warme Decken und betteten sie auf Deck in den bequemen Liegestuhl. Sie mußte kleine Schlückchen eisgekühlten Sekt trinken. So fiel sie dem heischenden Ungeheuer Seekrankheit nicht zum Opfer. Der vorbildlich liebenswürdige Kapitän widmete sich ihr, soviel sein Dienst es nur zuließ. Denn der durch die tückische Krankheit gänzlich erledigte Baron Twieler hatte, solange er noch richtig denken konnte, seine Gattin dem Kapitän zur Fürsorge feierlich übergeben. Dieser war restlos entzückt von seiner schönen, klugen Pflegebefohlenen. Er zeigte ihr alle Merkwürdigkeiten, die ihnen unterwegs begegneten; das heißt, er zeigte ihr alles, und alles waren für sie Merkwürdigkeiten. Am meisten freute er sich über ihren gesunden Hunger, der gar nicht mit ihrem blassen, feinen Gesichtchen in Einklang zu bringen war. Lachend brachte er ihr eine Fülle von Leckerbissen, mit denen der Koch des schönen Schiffes den Tisch täglich so reich bestellte, und sie aß alles zu seinem Erstaunen auf, bei Putz und Stingel. Der Kapitän wußte ja nicht, wie ausgehungert sie war. Aber er sah, wie sie auflebte, wie der Seewind die blassen Wangen färbte und wie sie manchmal ganz fröhlich auflachte. Der Tag, an dem sie auf dem Standesamt ihren Namen wechselte, kam ihr mit der Zeit ganz unwirklich vor. – Aber jeden Tag ging sie mit sachten, scheuen Schritten an die Kabinentür, hinter welcher Baron Twieler lag: »Wie geht es dem Herrn Baron, liebe Stewardesse?« Das erstemal hatte die Frau unbefangen geantwortet.

»Es wäre besser, wenn der Herr Vater an Deck gehen wollte, die Krankheit erträgt sich leichter in frischer Luft.«

»Grüßen Sie Herrn Baron vielmals«, sagte Erdmuthe hastig. »Meinen Sie, daß ich ihn einmal besuche?«

»O nein, lieber nicht. Er will ganz allein sein, hat es mir extra aufgetragen, jedermann abzuweisen, da darf ich wohl beim Töchterchen keine Ausnahme machen.«

Glühend rot wurde Erdmuthe. »Der Herr Baron ist mein Mann«, sagte sie kurz.

»Ei der Tausend! Da muß ich um Verzeihung bitten...« Aber die junge Frau hatte sich schon eilends entfernt. Sehr bestürzt sah ihr die Stewardesse nach. »Kein Mensch wäre auf den Gedanken gekommen«, murmelte sie, »warum nun grade ich?« Aber schon am nächsten Morgen ging ihr der »Herr Gemahl« sehr glatt von den Lippen. »Ich kann noch von Glück sagen, daß ich ihn nicht für ihren Großvater gehalten habe«, meinte sie zu den Kolleginnen, »man kann sich die schönsten Trinkgelder verderben durch unrichtige Bezeichnungen.«

Inzwischen hatte man schon die Kanarischen Inseln überholt, dann kamen die Kapverdischen, und später lief man Pernambuco an. Hier versuchte Baron Twieler zum erstenmal aufzustehen, aber er mußte schleunigst wieder in seine gezwungene Einsamkeit zurück. – Erdmuthe bekam ein Zettelchen von seiner Hand: »Mein Einziges, ich komme mir so lächerlich vor. Eine langersehnte, schöne Seereise wird mir vergällt, und Du gehst des Anblickes der herrlichen Häfen verlustig. Ich hoffe, Du vermißt Deinen alten Mann etwas und lachst nicht über ihn. Dein Twieler.«

Wie sonderbar war das alles!

Nun richtete sie ihren ersten Brief an ihn: »Wie sollte ich über Dich lachen? Das würde mir nie in den Sinn kommen. Ich danke Dir diese wunderschöne Reise, und Du selbst hast gar keine Freude daran. Das tut mir innig leid. Einzelne Patienten kommen schon aus der Kabine hervor, aber sie sehen schrecklich aus. Und deshalb bleibst Du wohl auch unten. Ich weiß, Du bist Ästhet. Alle sind gut mit mir und verwöhnen mich. Nun grüße ich Dich herzlich als Deine dankbare Frau Erdmuthe von Denso.«

Sie dachte gar nicht daran, daß sie den Brief falsch gezeichnet hatte. Die Stewardesse nickte vertraulich und lief mit dem Schreiben davon. –

Der Schiffsarzt trat zu Erdmuthe. »Es tut mir leid, daß der Herr Baron nicht aus der Kabine heraus will. Hier muß feste Willenskraft einsetzen, die allerdings bei jedem von Seekrankheit Befallenen geschwächt ist. Können Sie ihm nicht mal energisch zureden, gnädigste Baronin?«

»Nein, das kann ich nicht. Aber ich verstehe ihn gut. Sehen Sie nur, Herr Doktor, wie die unglücklichen Bündel da herumliegen. Igittigitt. Nein – mein Mann will nicht, daß ihn jemand so sieht. Auch ich mag es nicht. Geht denn dies Greuel niemals vorbei?«

»Solange wir diese Windstärke haben, wohl kaum. Es verschwindet ja einer nach dem andern vom Deck. Und sollten doch ruhig die Spritzer aushalten. Denn in der Kabine unten ist's fürchterlich, und der ›Mensch versuche die Götter nicht‹. Sie, meine Gnädigste, sind die einzige, die noch rechtschaffen ißt. Aber ich weiß nicht, wenn ich Ihnen fetten Speck anböte, ob Sie dann – – –«

»Das ist häßlich von Ihnen, Herr Doktor, so laut von fettem Speck zu reden.« Erdmuthe sagte es ernsthaft und verweisend. »Sehen Sie, da entfliehen wieder zwei nette Damen, die eben noch neben uns saßen.«

»Ja, das sollen sie man tun«, lachte der Arzt herzlos. »Die beiden sind meine geschworenen Feindinnen. – Sie prahlen immer und ich führe sie ad absurdum. Aber nun kommt etwas Schönes in Sicht, Rio de Janeiro, dort legen wir an und nehmen neue Gäste an Bord, die fahren mit uns nach Rio Grande do Sul.«

»Rio Grande do Sul!« Erdmuthe schien das Herz still zu stehen. »Aber da wollen wir ja gar nicht hin – wir wollten in Rio de Janeiro aussteigen, weil mein Mann mit dem dortigen Konsul befreundet ist. Halten Sie es nicht für viel besser, Herr Doktor, wenn mein Mann endlich an Land kommt?«

Der Arzt sah erstaunt auf die erregte junge Frau. »Ich halte es allerdings für gut und werde dem Herrn Baron Ihren Wunsch übermitteln.« – Und er hatte Erfolg. In Rio de Janeiro stieg ein halbwegs Genesener an Land, sah aber nicht nach rechts, noch links, und taumelte mehr, als er ging. Dann nahm der Wagen sie auf, der sie beide in das erste Hotel fuhr. Erdmuthe kam sich einsam und verloren vor in dem großen Zimmer, das man ihr angewiesen hatte. Aber schon nach einer Stunde wurde ihr Konsul von Hillich gemeldet. »Meine verehrte Baronin, ich komme von meinem Freund, Ihrem Herrn Gemahl. Er will sich noch ruhen, und kann leider nicht an unserer kleinen Gesellschaft teilnehmen, die meine Frau und ich einigen deutschen und ausländischen Freunden heute nachmittag sechs Uhr geben. Baron Twieler bittet herzlich, daß Sie uns keinen Korb geben. Darf ich Ihre Zusage meiner Frau mitnehmen?«

»Ich komme gern«, erwiderte Erdmuthe schlicht. »Und es wäre mir lieb, wenn Sie mir sagten, Herr Konsul, welches Kleid wohl dieser Gesellschaft entspräche?«

»Licht, licht, meine gnädige Baronin. Sie sollten nie anders, als weiß tragen. Das hat Ihnen sicher längst Ihr Spiegel gesagt.« Sein Blick ruhte mit unverhohlenem Entzücken auf ihr. »Um ein Viertel vor sechs Uhr steht mein Auto zu Ihrer Verfügung. Mein Diener wird es Ihnen melden ...« Der Konsul schüttelte ihr freundschaftlich die Hand. »Auf Wiedersehn!«

Sie rief ihn noch einmal zurück. »Mir ist etwas Angst, Herr Konsul. Sind viele Ausländer da? Ich spreche nur Deutsch, Französisch und Englisch, aber vom Italienischen weiß ich nur non capisco und vom Spanischen etwas mehr: Malvasier, Malaga und spanish stripes ...« Er lachte herzlich. »Das genügt vollkommen. Wir haben einen vergnügten spanischen Attaché, bei uns, dem werfen Sie nur diese drei Wörter gleich ins Gesicht und wechseln später damit ab.«

So schieden sie als gute Freunde, und der Konsul entwarf eine lebhafte Schilderung von der »wonnigen jungen Deutschen«.

Rio de Janeiro, Hotel gegenüber vom Botanischen Garten mit der berühmten Promenade. Namen weiß ich noch gar nicht.

Lieber Lothar Twieler! Es ist mir gar nicht recht, daß ich allein hinfahren soll. Ich war schon zweimal an Deiner Tür, aber da stehen so schauderhaft viele Bediente davor. Als sie mich das zweitemal gewahr wurden, bildeten sie richtig Spalier, aber der nächste an Deiner Tür sagte ganz ergebenst: »Du seist unbedingt nicht zu sprechen und schliefest. Also sage ich Dir nun schon gute Nacht, lieber Lothar Twieler, denn heute abend, wenn ich wieder komme, schläfst Du doch sicher erst recht. Bitte schicke mir Deinen Diener zum Abholen.

Deine Frau Erdmuthe.

Erstaunte frohe Augen leuchteten auf, als die liebliche Frau am Arme des Hausherrn in den kerzenstrahlenden Saal trat. Das Kleid aus weißem Samt, das nur die seltsame große Kette der Ahnfrau schmückte, war mit künstlerischem Geschmack gearbeitet und der weiße Hermelinmantel wirkte schlicht, trotz seiner vornehmen Kostbarkeit. Auch die Hausfrau war entzückt von ihrem Gast. Man ging froh plaudernd zu Tisch, der mit erlesenen Blumen geschmückt war. Der Hausherr führte Erdmuthe, und an ihrer anderen Seite saß der »vergnügte spanische Attaché«, wie ihn der Konsul genannt hatte. Erdmuthe lächelte, als sie ihn begrüßte. Und der Attaché dachte: »Ist diese Frau einzig schön! Allein ihr Lächeln ist ein Vermögen.« Aber da er es auf spanisch dachte, verstand Erdmuthe es nicht. Jemand rief über den Tisch: »Hartmann kommt wohl nicht? Schade!«

»Wir sollten nicht auf ihn warten. Er ist noch heiß mit seinen großen Plänen beschäftigt. Ein fabelhafter Auftrag für diesen verhältnismäßig jungen Mann. Aber er ist ein Genie. Wir gönnen es ihm alle.«

»Hartmann!« Erdmuthe wechselte die Farbe. Was sollte daraus werden, wenn schon der Name sie in Verwirrung brachte. Sie war froh, als man endlich aufstand und sich zum Mokka in das Damenzimmer begab, das in edelstem Geschmack eingerichtet war.

Frau von Hillich nahm sie beiseite. »Sie liebes, kleines Mädchen – ja so sehen Sie aus und ich muß Sie so nennen. Sie ahnen nicht, wie glücklich ich bin, eine Deutsche bei mir zu haben. Bleiben Sie nur recht lange hier. Ihr lieber Herr Gemahl ist ein so werter Freund von uns ... es ist zu schade ...«

Sie vollendete nicht, ein Wink des Konsuls rief sie nach der Tür. »Erlaube mir, Elisabeth, dir Herrn Professor Hartmann vorzustellen.«

»Ganz ruhig sein«, dachte Erdmuthe gequält – »nicht umfallen – du bist ja Muthchen..., ach, nicht umfallen.«

Ja, es war Bernd. Der überlebensgroße Jumbo, ohne jede Eleganz des Auftretens – seltsam abstechend gegen alle die vornehmen Diplomatengesichter. Seine dunkle Lockentolle warf er noch ebenso zurück, wie als Junge, und der Frack saß ungeschickt an seinem gewaltigen Körper. Aber seine Augen unter der hohen, schönen Stirn sahen groß und blitzend über die Versammlung hin. Er verbeugte sich tief vor jedem einzelnen, dem er vorgestellt wurde. Auch das paßte nicht zu ihm. »Das ist noch von früher an ihm hängengeblieben«, dachte Erdmuthe. »Er überragt und beherrscht sie alle, sie sollen sich vor ihm neigen.«

Und dann ein Stutzen – – ein heftiges Zurückwerfen des Kräuselkopfes – ein Erkennen. –

»Muthchen!«

»Bernd Hartmann...«

Er war ganz unbeherrscht. Sah aus, als wollte er einen urwüchsigen Schrei ausstoßen. Ihre Hände packte er...

Da war eine kluge, seine, gütige Frau im Hause. Die Wirtin. Frau von Hillich. »Hier vollzieht sich etwas Köstliches«, sagte sie laut. »Eine alte, schöne Jugendfreundschaft feiert ein Wiedersehn. Da müssen wir jetzt alle weichen, nicht wahr, nicht wahr?« Und sie scheuchte die wenigen, die im Damenzimmer Mokka tranken, wie Hühner vor sich her. Die meisten saßen ja längst im Rauchsalon. Alle gehorchten gern der Wirtin des Hauses. Man mußte dem berühmten Professor ja manches zugute halten. Er sah aus, als wollte er die zarte, schlanke Baronin Twieler vor Wiedersehnsfreude zerbrechen. –

»Sie sind alle fort, Bernd«, stammelte Erdmuthe beklommen. Ein Glücksgefühl ohne Maßen überflutete sie, und doch fürchtete sie sich vor Bernd Hartmann und seinem Ungestüm.

»Das ist gut, das ist gut«, rief er. »Sie können auch alle fortbleiben. Muthchen – wir haben uns sofort erkannt, und du nennst mich Bernd ... und gewiß auch wieder ›du‹. Ja? Süße Erdmuthe, sag einmal du zu mir. Wir gehören ja zusammen ...«

»Ja, du! Bernd Hartmann.«

»Wie schön du bist! Wie das wohltut, solch ein Kunstwerk zu sehen. Stümper sind alle Bildhauer, alle Maler ...«

»Du mußt ruhiger sein, Bernd. Und du fragst gar nicht, weshalb ich hier bin?«

»Ach, das ist ja nebensächlich. Du bist hier, das ist Tatsache und Hauptsache. Denk doch, mein Vater sitzt in Rio Grande do Sul in der Obhut einer lieben, feinen Frau – und du mußt mit hinkommen, um das große Fest mitzumachen, du Süße. Herrgott, ich verliere noch den Verstand ... Du, du willst mit uns feiern ...« Erdmuthe schrie leise auf. »Nein, nein, das kann ich nicht. Bernd, ich verstehe dich gar nicht... Verlange es nicht von mir...«

»Du bist totenblaß, Erdmuthe – warum? Warum?«

Ein Diener ging durch das Zimmer und verschwand lautlos, als er das Paar gewahrte. Bernd Hartmann hatte Erdmuthens Hände losgelassen – rote Streifen zeigten ihre Handgelenke von seinem herben Griff. »Ich Tölpel«, klagte er. »Ich zerbreche meine feine, weiße Rose... vergib.« Er küßte die roten Male, heiß, ungestüm. »Herrgott, ich hab dich wieder! Zu Tode gesehnt hab ich mich nach dir, du Liebe, du Königin, du böse, grausame Erdmuthe. Warum hast du mir nie geschrieben, nie geantwortet? Du kleines Dummes, mit deinem albernen Kinderschwur? O Gott, Erdmuthe! Ich liebe dich! Ich liebe dich!«

Er war wie ein Vulkan und Erdmuthes Kraft war am Versagen.

»Wo ist – deine Frau? Deine Braut?« stieß sie heraus.

Er lachte – urgewaltig laut, als sei er allein im Hause.

»Das ist ja eine tolle Frage! Ich bestürme dich mit meiner Liebe und du fragst, wo meine Frau ist? Ich habe keine Braut und keine Frau. Auf dich hab ich gewartet, du, du. Immer, immer. Und ich lasse dich nicht wieder. Sag ja – sag ja...«

»Bernd – Bernd – und du sag – nein! Martere mich nicht. Sei nicht grausam! Sag's nicht noch einmal, daß du auf mich gewartet hast ... du – du...«

Er umfing sie mit beiden Armen und da sah er, daß sie ohnmächtig war. Der lautlose Diener kam wieder ins Zimmer und verschwand auf Bernds Wink und meldete den Vorfall seiner Herrin. Entsetzt kam Frau von Hillich zu den beiden.

Nur keinen Gesellschaftsskandal, dachte sie. Diese süße, kleine Frau ist unschuldig wie ein Bambino auf dem Muttergottesbild, aber dieser Schlagetot ist zu allem fähig. »Herr Professor, ich muß Sie jetzt auch hinausscheuchen«, sagte sie beherrscht. »Solch ein stürmisches Wiedersehen greift an.« Sie nahm dem Diener ein eiskaltes Glas Champagner aus der Hand und hielt es Erdmuthe an die blassen Lippen, rieb die Stirn mit einer starkten Essenz.

»Gnädige Frau – ich gehe, aber seien Sie gütig. Geben Sie mir Bescheid über Fräulein von Denso.«

Da wußte die gütige, neue Freundin Erdmuthes, daß hier ein Schicksal sich entschied.

»Gehen Sie, Herr Professor«, sagte sie sanft. »Suchen Sie unauffällig meinen Mann auf und bitten Sie ihn um eine wichtige Unterredung. Außergewöhnliche Vorfälle erheischen außergewöhnliche Vorsicht. Ich behalte meinen Gast heute nacht hier, und werde dem abholenden Diener Bescheid geben. Geht es Ihnen besser, kleines Mädchen?«

»Bernd – Bernd – darf ich dir schreiben?« flehte Erdmuthe leise.

»Ja, ja! And ich dir – wir haben so viel nachzuholen.«

»Verzeihen Sie, gnädige Frau ...«

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß.

»Kommen Sie, Kindchen – ich bringe Sie zu Bett. Nicht reden jetzt ... morgen – – morgen.« Konsul von Hillich war sehr ärgerlich und rannte wie ein Tiger im Käfig in seinem Arbeitszimmer auf und ab.

Da war dieser prächtige Mensch, dieser bahnbrechende Künstler, der die Welt mit seinen Bauten in Erstaunen setzte, aus seinen Räumen, in die er als Gast geladen war, davon gestürmt wie ein Schulbube. – Erziehung war doch ein schöne Sache. Aber freilich, das Genie brauchte vielleicht keine gute Kinderstube. Wie sollte man sich die ganze Geschichte zusammenreimen? Dieser Professor und Gewaltmensch hatte ihn, den Konsul Hillich, bei den Schultern genommen und geschüttelt, so in Heller Verzweiflung, als er ihm ruhig gesagt, daß seine Jugendgespielin, Erdmuthe von Denso, die Gattin des Baron von Twieler sei. –

Gott sei Dank, der Auftritt hatte keinen Zeugen gehabt. Der Hartmann war nicht zurechnungsfähig gewesen und tat ihm furchtbar leid. Aber Konsul von Hillich war Diplomat genug, um seinen Gästen jetzt zu sagen, daß Professor Hartmann auf dem Schiff einen kleinen Sonnenstich erlitten habe. – –

Am andern Morgen, nachdem Erdmuthe die Nacht in dumpfer Betäubung verbracht hatte, wurde ein Brief für sie abgegeben. Die Handschrift wies noch große Ähnlichkeit auf mit der weiland grausam schlechten Jungspfote des Gymnasiasten Bernhard Hartmann.

Er war nur kurz: »Ich verzichte auf weitere Erklärungen, schriftlich oder mündlich. Erdmuthe von Denso ist tot, und die Baronin Twieler kenne ich nicht. Bernhard Hartmann. Da begrub Erdmuthe ihre Liebe, die sie ja schon einmal um eines Irrtums willen eingesargt hatte. Das Leid reifte sie seltsam rasch zum Entsagen, und der tiefverletzte Frauenstolz, der in ihr aufstand, war ihr bester Helfer. Als sie sich vom Konsul Hillich und seiner Frau verabschiedete, war sie wie eine blasse, feine Lilie. Angeknickt, kerzengerade stand sie vor den gütigen Gastgebern. Ihre verdunkelten Augen sahen wunderlich starr geradeaus.

»Weinen Sie, Kindchen, weinen Sie«, bat Frau von Hillich, die selbst tränenüberströmt war und das salzige Naß als Allheilmittel für alle Schmerzen des Leibes und der Seele betrachtete.

»Warum soll ich weinen?« fragte Erdmuthe gefaßt. »Ich habe einem lieben Jugendfreund weh tun müssen, diese Schuld trage ich nun und brauche Kraft dazu. Ich danke Ihnen innig, gnädige Frau, daß Sie mir so gütig geholfen haben.«

Nachdem Erdmuthes Wagen fortgefahren war, meinte der Konsul überzeugungsfroh: »Und ich sage dir, Frau, die süße Kleine ist überhaupt gar nicht an der Sache beteiligt – armer Hartmann!«

Baron Twieler empfing Erdmuthe in voller Frische. Er hatte gut geruht und zum erstenmal wieder gegessen. »Du kannst und darfst tüchtig mit mir schelten, Erdmuthe. Es ist unverantwortlich, wie ich mich benommen habe. Aber der Leidtragende war ich. Und selbstlos war ich auch, denn ich erlaubte gleichgültigen Menschen meine schöne Frau anzusehen und zu unterhalten. Aber du hast müde Augen, mein Liebes, und – – holla, du hast geweint. Ist es über deinen abscheulichen, unritterlichen Mann?« Er zog sie sacht an sich, aber sie machte sich hastig frei. »Am besten ist's, wir sprechen gar nicht darüber, Lothar, am allerbesten! Unritterlich kannst du gar nicht sein, ach und du glaubst nicht, wie mir der Gedanke wohl tut, daß du es nie sein wirst.«

»So schönes Vertrauen hat dein Herz zu mir? Ich will es wahrlich nicht enttäuschen. Aber ich möchte alle deine Gedanken wissen, es sind gewiß nur liebe und gute. Und ich möchte wissen, wer deinen Augen Tränen entlockt hat, damit ich ihn totschlagen kann.«

»Er ist schon tot«, sagte sie ernsthaft. »Er hat sich selbst totgeschlagen.«

»Kleine Sphinx! Willst du's mir nicht erklären?«

»Es wird mir schwer, aber ich will es tun, weil ich dir so dankbar bin, Lothar. Hillichs waren einziggut zu mir – hat man dir nicht gemeldet, daß sie mich über Nacht bei sich behielten?«

»Tausendnochmal, nein, das hat man mir allerdings nicht gemeldet. Dauerte die Gesellschaft so unvernünftig lange? Aber ich will nicht schelten, es ist meine Schuld – ich hätte dir zur Seite bleiben müssen.«

»Ja, das wäre wohl besser gewesen«, sagte Erdmuthe still. »Denke dir, Lothar, ich traf dort ganz zufällig einen Jugendgespielen, und, und, und – ja, er glaubte, ich sei noch Erdmuthe von Denso, und da war er ganz schrecklich lieb und gut mit mir ...«

»Wart ihr mal verlobt?« fragte Twieler nervös. Der Gedanke, daß dieser süße Mund schon einmal geküßt worden sei von der Leidenschaft, war ihm merkwürdig unangenehm – aber auch ebenso unglaublich. –

»Nein, Lothar. Ich war zwölf Jahre alt, als er von Berlin fortkam.«

Twieler lachte herzlich und anhaltend. »Warum siehst du denn so unheilkündend, kassandrahaft aus, Kleines? Ich bin nicht eifersüchtig auf Schulbubenliebe.«

»Oh, er ist jetzt ein hochberühmter Mann und noch einmal so groß, wie du ...«

»Spielst du ihn gegen mich aus, Erdmuthe? Der Mann soll in eine Schaubude gehen, wenn er überlebensgroß ist.«

›Wie man mich quält‹, dachte Erdmuthe. Aber sie war ganz altmodisch erzogen und wußte, daß man seinem angetrauten Ehemanne alles sagen müßte, was irgendwie entscheidend in das eigene Leben trat.

»Und wie trenntet ihr euch?« fragte Twieler unbarmherzig weiter.

»Frau von Hillich schickte ihn fort und ich wurde ohnmächtig«, bekannte Erdmuthe. Twieler sprang auf. »Was für eine verrückte Angelegenheit! Wurdest du ohnmächtig, weil man ihn fortschickte?«

»Nein, schon vorher.«

Twieler sah, daß Erdmuthe am Umsinken war und das brachte ihn sehr auf. »So sprich doch« – fuhr er sie ungeduldig an, »erzähle mir alles!« »Ja, wenn du nicht zornig und nervös bist, tue ich das auch, Lothar. Aber du mußt dran denken, daß ich immer ohne Eltern und ganz selbständig war. Ich lasse mich so sehr schwer kommandieren. Sieh, er sagte mir, als wir allein im Zimmer waren, daß er mich liebt, und daß er immer auf mich gewartet hätte. Und da wurde ich ohnmächtig.«

»Warum?«

»Weil es ja zu spät war ...«

Baron Twieler wurde sehr blaß. Da stand das scheue, junge Geschöpf vor ihm, das seine Gattin war. And das er noch gar nicht zum Weibe erweckt hatte. Und ein großes Weh stand in ihm auf, als er fühlte, daß sie eine tiefe Liebe zu einem andern im Herzen trug. Keusch und zurückgedrängt war diese Liebe, das wußte er wohl. Aber seine kluge Erdmuthe hatte sie wohl erkannt und nur aus Gewissenhaftigkeit zurückgewiesen. Sie wollte ehrlich durchs Leben gehen, weil sie ihm, Lothar Twieler, Treue geschworen hatte am Altar. Er wollte ihr danken, indem er ihr Zeit zur Prüfung ließ. Er nahm ihre Hände in die seinen. »Du wirst dich durchkämpfen, Erdmuthe, ich habe großes Vertrauen in deine Kraft und Ehrlichkeit. Vielleicht hättest du mir nicht so rasch dein Jawort geben sollen – und vielleicht bin ich selbst daran schuld. Ist jener Jugendgespiele es wert, daß du ihm dein goldenes Herz schenktest, ihm Treue bewahrtest?«

»Ja, Lothar. Tausendmal ja!« Ihre Augen leuchteten. »Diesen Gedanken darf ich doch behalten, Lothar? Bernd Hartmann kann nur Vorbild sein.« »Bernd Hartmann? Ist das der geniale Bauherr, der jetzt das Konsulatsgebäude in Rio Grande do Sul der Öffentlichkeit übergibt?«

»Ja, Lothar. Mir ist's selbst wie ein Wunder, was aus dem wilden Jung geworden ist ... Aber er hat mich gestern totgeschlagen ..., magst du die tote Erdmuthe denn bei dir behalten, Lothar ...?«

Baron Twieler riß sie heftig an sich.

»Die tote? Sprich nicht so, Kind – liebstes – – und laß alle Schatten und Gespenster aus deiner lichten, lebendigen Seele heraus – hörst du?«

Er nahm ihr schönes Gesicht in beide Hände und sah ernst und voll Liebe in ihre Augen. – »Erdmuthe .. darf ich dir sagen, daß ich einen Sohn und Erben heiß von dir ersehne? Mein Name stirbt sonst mit mir aus. Die Twielers waren kein ungut Geschlecht, waren tapfere Kämpen und treue Hausväter. Und du, Erdmuthe, hochgemuter Sproß der tapferen Densos, du würdest eine vorbildliche Mutter unseres Sohnes sein, das weiß ich.«

»Ich danke dir für dein Vertrauen, Lothar. Gut bist du und ritterlich. Ich brauche viel Sonne ... Sie nahm seine Hand und küßte sie dankbaren Herzens. Laß mir Zeit – Lothar, laß mir Zeit ...«

Rio Grande do Sul im Februar. Mein liebes Mutheken! Das hättest Du auch nicht gedacht, daß Dein alter Freund Schmiedemeister so lang sollt auf der Walze sein in fernen Landen. Ganz schlecht bekam mir die Seereise und bin doch ein großer, ungeschlachter Mann, ein wahrer Kinderschreck. Nur das Mutheken hatte immer ihre wunzkleinen, weißen Händchen in meinen schwarzen Schmiedefäusten versteckt und fürchtete sich nicht. So was, wie Du bist, hab' ich auch noch gar nicht wieder kennengelernt, Mutheken. Auf der ganzen Seereise nicht, wo ich ja auch meistens über der Reeling lag – weißt schon – –, und auch nicht in den Klubs hier, wo die Weibsen den Jumbo anhimmeln, was ihm so zuwider ist. Und auch nicht auf der Straße. Bist eben ein Einziges, und ich habe verflucht Heimweh nach Mutheken. Weißt, als ich hier ankam, hat mich der Bernhard beinahe erdrückt vor Freude, und das tat so wohl, wenn auch meine Rippen krachten. Aber dann kam die Angst wieder in mir hoch. Weißt, davon war mir ja so speiübel geworden, wenn ich nur auf der Reise dacht', was für ein vornehmes Gelump aus dem Ausland sich möchte der Jumbo »angetütelt« haben, wie meine Ernstine immer sagte. Und deshalb nahm ich den Stier gleich bei den Hörnern und brüllte ihn an, wo seine Braut wäre. Da lachte er, daß die Schiffsplanken dröhnten. Und war das alles ein dummer Schnack von Freunden und Mißverständnissen. Er ist also ganz ledig und ein braver Mensch, dabei von Zucht und Sitte. Hätt' einen prächtigen Schmied abgegeben und Erben für meine Schmiede. Na, was nicht ist, kann noch werden. Aber hier ist er ein großes Tier mit Frack und Orden. Doch er litt es nicht, daß ich mir auch einen machen ließ, sondern stellte mich immer den hochgeborenen Leuten in meiner abgeschabten, rötlich werdenden Kluft vor. Denn er hat das Herz auf dem rechten Fleck. Und was glaubst Du, Mutheken, als ich ihm von Dir erzählte und ihm dann Deine goldigen Briefchen aus B.... zeigte, war er nicht wie verrückt vor Freude? Und hat sich in Malvasier einen angetrunken, und ich desgleichen, weil es so feierlich wäre, wenn Vater und Sohn zugleich duhn seien. Es war ein schöner Abend in seiner vornehmen Junggesellenbude, und die Nachbarn haben alle geglaubt, es wär eine politische Versammlung mit Aussprache von lauter Gegnern, aber es waren nur Jumbo und ich, die sich von Dir erzählten. Du wirkst eben bis in die Ferne sehr anfeuernd. Ja, und das war mir dann alles nicht bekömmlich gewesen, und ich kriegte Fieber, und dieser Brief ist viele Wochen liegengeblieben, denn ich schrieb gleich, als ich ankam. Und nun, es war vorvorgestern, hat mich beinahe der Schlag gerührt. Ich war am Kai und erwartete sein Schiff, denn er hatte nach Rio de Janeiro reisen müssen, um noch Sachverständige zu sprechen und neue Aufträge entgegenzunehmen. Inzwischen kamen hier eine Last Leute an, alle für das Fest von wegen seines Baues. Und da steigt er finster und blaß vom Schiff, packt meinen Arm, und fährt mit mir in seine Wohnung. Dort schließt er sich zwei Tage ein. Ich konnt sehen, wo ich blieb. Aber da ist eine feine, alte Dame, die hat mich betreut. Und jetzt ist der Jumbo ganz verändert, wortkarg und manchmal aufbrausend, daß ich ihm sagen mußte: »Jungeken, ik bin ooch nich von jestern, un war schon wat, als dir noch de Windeln un de Ohren Tag und Nacht nich trocken wurden ...« Denn kann er wohl noch mal auflachen, aber es klingt nicht schön. Und als ich mal wieder von meinem Mutheken anfing, da sagte er eiskalt un klöterig: »Mit deinem Mutheken, da is es Essig, die hat 'n Baron geheirat.« Dann ist er wieder verreist bis zur Eröffnungsfeier hier. Und wenn die vorbei ist, dann fahre ich mit Gott nach Berlin zurück. Denn Berlin is Berlin, un das machen se uns auf der ganzen Welt nich nach. – Und wo, wo bist Du, mein Mutheken? Denn, nich wahr, mit der Baronin, das ist doch nur Blödsinn von ihm? Ich habe so lange nichts vom Großje jehört, trotzdem ich wie ein ehrfurchtsvoller Bräutigam an sie geschrieben habe, hochachtend und liebevoll zugleich. Dagegen hat mich die Blumenfrau, Ecke Stromstraße, richtig hier gefunden und mir Rosen geschickt. Und war ganz poetisch, hat 'n Zettel beigelegt, wo drauf stand: »Int Kino spielen se ›Rohsen aus' Sühden‹ un danzen darzu, ahber ik schike ›Rohsen in'n Sühden‹ un härme mir nach Ihnen, Herr Schmiehdemeister, hier in't Norden.«

Wirklich, Mutheken, sie sollte sich das Schulgeld wiedergeben lassen.

Nun streichle ich mein Mutheken, weil ich genau weiß, sie is keine Baronin, und ein Brief, wenn Du gleich schreibst, erreicht mich hier noch. Dein treuster Freund Peter Hartmann.

Berlin, im Hause mit den grünen Fensterläden.

2. März 19.. Ich schreibe gleich, und ich bin bei Großje. Wir haben uns ganz kringlig gefreut über Ihren Brief. Der war so warm und gut. Und ich bin nun wohl die Baronin Twieler, aber noch genau ebenso Ihr Muthchen. Und das wird auch nie anders. Daß der Jumbo sich so toll gebärdet, das verstehe ich gut. Und ich würde es auch nicht anders machen. Aber ich sage es Ihnen, lieber Meister, daß die Leute, die so müßig hingeschwatzt haben, der Bernd wolle sich verloben und natürlich auch heiraten –, ja, daß diese Leute die Bastonade verdienten. Sie konnten zerstören, aber nicht wieder aufbauen. Ich sage Ihnen das leise ins Ohr, aber ich weine heiße Tränen dabei – – – Aber nun mache ich einen dicken Strich und reite mich auf Kandare, das werden Sie als alter Vizewachtmeister verstehen. Wenn Sie bald wiederkommen, lieber Herr Schmied, dann finden Sie mich vielleicht noch bei Großje, denn mein Mann revidiert seine Güter und war so lieb, mich beim Großje zurückzulassen. Es geht ihr gut. Ach, sie hat mich so lieb, und daß ich so gut versorgt bin und obendrein solch ritterlichen Beschützer habe, ist ihre große Lebensfreude. Aber ich glaube, wenn sie ihren alten Freund Schmiedemeister wiedersieht, dann verjüngt sie sich um zehn Jahre. Ich wünsche Ihnen gute, gesunde Heimfahrt und bin bis an mein Lebensende Ihre allerbeste Freundin Mutheken.

Nachschrift: Wissen Sie noch, daß ich als Kind immer drei bis vier Nachschriften schrieb? Und dann sagten Sie, Sie fingen immer gleich bei den Nachschriften an, denn die wären das Wichtigste. Heute aber kriegen Sie nur eine. Nämlich, daß Tante Denso gestorben ist. Ja, es kommt eben alles zu spät ...


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