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Das Bimmelbähnchen hielt. »Peter, hier ist Birkbuschen, meine Heimat, un da stehn die Eltern. Wie einmal lieb, daß sie beide gekommen sind. Der alte Hansohm sah trotz seiner achtundsiebzig noch sehr stattlich aus, und die Tochter Ernstine glich ihm aufs Haar. – Mutter Hansohm schien vor Tränen nichts sehen zu können. Sie nahm aber Jung-Bernhard um den Hals: »Apfelkuchen hab' ich gebacken, du Sleef, kannst dich besinnen, ißt ihn denn noch geern? Weetst noch? Ümmer 'n ganzes Blech hest upeten ...«
»Ik weet gornix«, lachte Bernhard und freute sich, daß er noch platt snacken konnte, »un ok verstunn.«
»So, un mich süht Muddern gornich«, rief Ernstine Hartmann, »un irst min betere Hälft ... Mudder, Vadder, hier steiht mien Hartmann.«
»Dat's 'n dägten!« rief Vadder Hansohm anerkennend und schlug dem Schwiegersohn auf die Schulter. Und dachte, wie der Riese doch so gut und fest und brav aussähe, anders, als der verstorbene, etwas weichliche Bruder Bernhard. Mit dem die Ernstin' wohl doch nich recht glücklich west wir. So dachten still beide, Vadder und Mudder. –
»Aber nun bin ich glücklich«, rief Frau Ernstine der Mutter zu. Leise, eindringlich, als hätte sie gehört, was die Eltern dachten. Die nickten froh. –
»'n dägten is he, 'n dägten!«
Sie hatten es ja nie früher geäußert, daß ihnen der Bernhard nicht ganz recht gewesen war. Es ist nicht Heidjerart, der mündigen Tochter drein zu reden. Wenn nicht von vornherein die Sippe etwa bestimmt hat, daß Liegenschaften, die nebeneinander sind, auch nebeneinander bleiben. Wer in die Stadt heiratet, ist ohnehin ein »arm Stackel«. Den muß man immer extra dem Herrgott befehlen, sonst kann der sich nicht recht drum kümmern bei den schreckbar vielen Menschen. Wie oft hatten die Eltern diese Frage besprochen. Aber nun wußte die Ernstine, was sie wollte. An ihrem schmucken, hochgetragenen Kopfe sah man's, an ihren federnden Schritten, an dem Gesicht, von dem ein warmes Leuchten ausging. »Nu kiek eins an«, lachte Vadder Hansohm, »de olle Deern is verliebt in ehren eignen Mann ...«
»Was 'n Schnack!« wehrte die Mutter. »Schall se dat denn in 'n fremden Minschen sin?«
Daheim in dem schmucken Bauernhaus, das die niedersächsischen Pferdeköpfe trug und sehr stattlich mit seinem Giebel inmitten eines großen gepflegten Obstgartens stand, war der Kaffeetisch gedeckt, mit Töpfen voll frischer Sahne. Mit riesengroßen Schwarzbrotschnitten und frischer Grasbutter und Bergen von Butter- und Apfelkuchen. »Hier geh ich nie wieder fort«, sagte Erdmuthe von Denso. »Is recht«, nickte Vadder Hansohm. »Die Ernstine hat ihren Bernhardjung, un nu bringt sich der Erbschmied gleich 'n lütt Dirning mit, sport man gliks de Kösten för de Hebeamme.«
Er bekam gleich eine Menge verwarnende Blicke, aber Erdmuthe lachte sehr glücklich, wiewohl sie's nicht verstanden hatte.
»Er ist auch wirklich wie'n Vater, nur ohne Uniform«, meinte sie.
»Die Unneform is sin Schurzfell«, fiel Onkel Oehm ein, ein Bruder von Mudder Hansohm, »un sowat adelt auch.«
Nun kamen die Verwandten und Nachbarn in den verschiedensten Ausgaben. Solche mit aufrichtiger Freude und warmem Herzen und solche, die erst mal »wohrschugten«, was sich die Ernstine in ihren »öllerhaften Tagen« noch angebändigt hatte. »Schmuck wär er ja, der Schmiedemeister, den Düwel ok.«
»Äwer wenn he ok 'n kröpelig wier, – he hött bannig Moses un de Propheten...« Nachbar Diedrichson bekräftigte das mit 'n ordentlichen Köm, den er sich selbst einschänkte. –
»Mudder, wo girn wier ik mit di alleen«, seufzte Frau Ernstine, »wat heww ik di all to vertelln ...«
»Jo jo, man langsam, mien Deern. Nur keen Stadtmoden inführen. Irst kommt de Fründschaft und de Nachbarslüd, un denn sitten wi beid ok wohl mol alleen tosamen.«
»Und ich kann mich ja dann wohl mit 'n Pferdeköppen uff'n Dach unterhalten«, sagte Peter Hartmann.
»Ist er wohl ein wenig verstimmt?« grübelte Ernstine, denn sie sah, daß er das Plattdeutsche in der raschen Redeweise der Birkbuscher nicht verstand. Sie nahm seine Hand und streichelte sie. –
»Verliebt ... as ik segg«, kopfschüttelte nun auch Nachbar Matsen.
»Wenn dat man gaud geht. Wenn olet Holz brennt, denn gifft dat Unglück im Stadel.«
»Olet Holz? De Ernstin olet Holz? Ne, de hett Saft in de Telgen. Wer so rank un resch is, as de, de brukt nich sülfst to brennen, de stickt schon so allens an, rundüm.«
Es war Ohm Wietze, der das rief. Und Mudder Hansohm nahm ihm den »Köm« weg, nach dem er eben die Hand ausstreckte.
»Schluderworte känen wi hier nich bruken«, sagte sie energisch, »un Köm födert son Saken. Gah man sachtjen heim. Din Fru dankt mi dat nahstens.«
Draußen meinte Ohm Wietze zum Knecht: »Ik glöw, de ole Hansohmsche hett mi rutsmiten. Dats 'n verflixten Oart, de Hansohmsche. De ol Fru leid' ok nich 'n Spirken, so grot as unnern Nagel steckt, – daß dat up de Ernstien fällt.« »Rech so. Dat is brave Sippenoart.«
»Äwer mit düsse brave Sippenart makt ihr doch keen Minschen dumm«, nörgelte Ohm Wietze. »Sitzt mol en poor Stun'n bi de Heideher Detleffsen, denn hört ji manches vun de Ernstien ...«
»Dat geiht mi nix an. Äwer ik bün bald föfftig Johr bi de Hansohms un rechen mi to Familie.«
»Äwer worüm man di woll ›Ohm‹ nennt, müggt ik weeten, büst wirklich Ohm vun die Hansohms, denn büst du 'n slichten Vagel, der sien eigen Nest besmutzt.«
»Ne, ik bün keen ›Ohm‹, dats man 'n Snack. Äwer it bün för Wahrheit un Gerechtigkeit.«
Nun mischte sich ein Dritter ein:
»Dat sün twee bannig schöne Wörters, wenn se ut 'n Ehrenmann sin Mund kamen ...«
»Bün ik dat nich?« begehrte Wietze auf. Aber der andere ging raschen Schrittes von ihm fort. Es war der ehrenfeste Nachtwächter Mingsen, dessen Wahlspruch lautete: »Wer Schiet angriept, besudelt sik.«
Schon als kleiner Jung hatte er sich gewünscht, mal Nachtwächter zu werden. Zuerst aus dem einfachen Grunde, weil es kein Kunststück sei, bei Tage zu wachen. – Dann aber auch, weil er die Nachtwächterzunft zu Ehren bringen wollte, durch verläßliche Nüchternheit und Wachsamkeit. Damit haperte es ja fast immer auf den Dörfern. Auch von den Birkbuschern, deren Fleiß und Regsamkeit sprichwörtlich war, hatte man gerühmt: »Die sün immerlos ›zuwege‹, der einzigst, der in Birkbusch Tag und Nacht schläft, is der Nachtwächter.« – Bis man den Mingsen wählte. Da hatten die Stromer nichts mehr zu lachen, da gab's keine nächtlichen Brände mehr, und keine lebendigen Heustadel und Strohdiemen. Da lag alles, wo es hingehörte. Da war »öwerall rein Schiff, klar Kimning«. Da merkte man, daß »'n olen Mariner zugange war«, der noch »Disseplin« im Leibe hatte.
»Kommt her, Nachtwächter Mingsen«, rief ihn Mudder Hansohm freundlich, »ich hab für euch 'n braven Kaffee gekocht. Supen dohn Ji nich, smöken dürft Ji nich, spielen is 'ne Sünd, da bleibt nur der Kaffee, das 'n guts Werk un höllt Liw un Seel tosamen.«
»Jawoll, jawoll, Fru Hansohm, abers 'n gutes Werk is auch, das junge Ehepaar endlich mol allein zu lassen. Nur die Hand geben wollt ich noch der Ernstin' und ihrem Bernhardjung.« –
»Der schläft schon den gerechten Jungsschlaf, un die kleine, feine Erdmuthe, die sie sich mitbröcht haben, auch. Aber da sitzt mein staatschen Schwiegersohn, den könn se lange drücken, ohn ihn klein zu kriegen«, lachte Mudder Hansohm stolz. »Un der will gleich gehen, und sich sein angetrautes Weib holen, sie is bei Mudder Detleffsen nahbarn gegangen ...«
»Bei die ole Detleffsen???«
»Na was gibt's da zu wunnerwarken? Ich verhoff nich, daß unser gescheidter Nachtwächter an Hexenkram glöwt.«
Der Nachtwächter schüttelte den Kopf und sprang rasch auf. Ging auf Peter Hartmann zu und sah ihn ernst und gut an. »Sie habn jo Heidjeraugen!« verstaunte er sich.
Peter Hartmann lachte. »Wie Sie das stolz sagen! Als sollt ich 'n Orden bekommen.«
»Ja, dat is bi uns Heidjern der Purrlemerritt. Aber bei Ihnen, Meister Hartmann, scheint's Knopploch schon voll to sin, un nu haben Se sich noch die brave, schmucke Ernstine als Hausorden eingehäkelt. Meine jratulierende Hochachtung!«
»Danke schön! Ich will jetzt verschwinden. Meine Frau is noch 'n bißken nahwern jejangen. Das machen wir in Berlin jenau so. Jute Freunde un jetreue Nachbarn haben noch Anwert.« –
»Dat schall wohl sin. Gott befohln, Herr Schmiedemeister!«
»Auch so viel.«
Ernstine Hartmann saß in der verfallenen Kate der alten Detleffsen. Die hatte aufgeschrien, als sie die Eintretende erkannte.
»Jesses, Jesses, die Frau mit den drei Männern, die Ernstien!!!«
»Das is übler Schnack, Mudder Detleffsen, aber ich kann ja auch wieder gehen!«
»Du bleibst.« Die alte Frau hielt die Junge krampfhaft fest. »Kein Menschen hab ich, der mir von mein Tetje erzählt.«
»Da kann ich auch nich mit dienen«, sagte Ernstine mit blassen Lippen.
»Großer Gott! Ihr seid doch in einen Ort.« –
»Berlin is nich Birkbusch. Und dein Sohn, Mutter Detleffsen, den seh ich lieber gehn als kommen.«
»Un früher gab's ein Zeit, da konntest kaum ertragen, wenn er ging.«
»So war's nich! Beileib nich! Aber er war schmuck und schneidig, und nicht langweilig wie die andern. Da bildete ich mir ein, er müßt auch brav sein ...«
»Un war er nich brav?« fragte die Alte lauernd. »Für ein junge Deern is allemal der brav, der verliebt is.«
»Für mich nicht!« Ernstine warf den Kopf in den Nacken.
»Immer noch so stolz? Hast's doch gornich nödig«, höhnte die alte Frau. »Aber du verstehst es. Ich hab's nich verstanden un bin bei aller Reputierlichkeit die Heidehex geworden. Warum? Weil die Kühe vom Bürgermeister blutige Milch gaben. Wer war im Stall gewesen? Die Detleffsen!«
Sie lachte schrill; Ernstine fröstelte es. Warum war sie hergegangen? Aus Gutheit, das weiß Gott. Und aus Mitleid. Die alte Mutter konnte nichts dafür, daß der Tetje Detleffsen schlecht geworden war. Und seinem Vater hatte es das Herz gebrochen.
Aber wie sie in die flackernden Augen sah, bekam sie Angst. »Laß mich gehen, Mudder Detleffsen, ich will jetzt zu meinem Manne.«
»Zu dein' Dritten, Ernstine?«
»Weiß nich, was du meinst.«
»Wirst es schon wissen. Und mich nimmt nur Wunder, daß du deinen Jung Hartmann nennen magst, – is ja gor kein Hartmann, – is mein Vadder selig wie aus 'n Aug geschnitten ...«
Gellend schrie Ernstine auf, und sie tappte sich zur niederen Tür, und stieß wie eine Trunkene gegen den Pfosten. Nur fort, nur hinaus, und die reine Luft der Heide atmen. –
Drinnen nahm die alte Frau mit zitternder Hand eine Postille vom »Eckbörd« und schlug sie auf. »Ist aber Lügen und schlecht Nachred machen schon all des Teufels«, las sie murmelnd. Sie brauchte trotz ihrer alten trüben Augen keine Brille, denn diese Worte konnte sie auswendig, und wußte auch, wo sie standen und wußte auch, was für Strafen hintennach kamen für den Frevler, »so ein Unschuld in Verdammnus vor den Menschen brachte.«
Sie streichelte einen sauber geflickten Mannsrock, der neben ihr auf dem Tisch lag. »Sühst du, mein klein Tetje, nu hab ich wieder for dich gelogen, wie ich dich versprochen habe. Un daför wirst nu bald kommen un dein ol Mudder straken un eien. Och, mien Jung, wo lang hast mi nich strakt un eiet. Hab ich mein Sach gut gemacht? Wie hast gesagt? ›Ümmer son beten was Slechtes anhängen, un all Menschens glauben's denn. Ümmer so bei klein'. Un das is denn 'ne schöne Vergeltung daför, dat de Ernstien mi mol slagen hedd, – midden ins Gesicht.‹ – Hett se di slagen, mien arm lütt Tetje? Denn g'schieht ehr dat rech. – An denn lüg ich weiter för di, un mein klein Jung nimmt sin ol Mudder in Arm, und giwwt ehr ok mol 'n Söten ...« Und nun waren ihre Züge geglättet von den Gedanken der Mutterseligkeit, und die Heidehex sah ganz so aus, wie eine gute alte Frau aussieht, die Heimweh hat nach ihrem einzigen Sohn.
Als Ernstine aus dem Hause gestürmt war, atmete sie tief die reine Heideluft ein. Die scheidende Sonne legte ihren metallischen Schimmer auf die Kiefern. Noch ein paarmal schluchzte die Frau schwer auf. Wie seltsam war der heutige Heimkehrstag! Wie rein und klar hatte er begonnen, um so häßlich zu enden? Sie hätte wohl Rechenschaft fordern müssen von der Irren da drinnen.
Peter Hartmann kam suchend durch die Dämmerung geschritten.
Und dann lachte er, wie befreit, und umfaßte sein Weib mit beiden Armen. »Du weißt gut mit dem Fegfeuer Bescheid, Ernstine. Wer läßt denn seinen Hochzeiter solange warten und suchen, als hätt kein Standesamt die Namen gebucht und kein Pastor Amen gesagt ...«
Sie stand vor ihm, blaß und zitternd.
»Ist was geschehen, Ernstine? Na, nun will ich Antwort.« –
»Ach du großer Sauberer, – du Hartmann! Wirst mich noch mögen? Einen Smutzkübel hat jemand über mich ausgegossen ...«
Er sah sich wild um. »Wer?«
Aber dann drückte er sie ganz fest an sich. »Nun sag nur nicht, daß ich warten soll, bis du'n Bad genommen hast«, raunte er an ihrem Ohr. »Komm, Ernstien, komm! Dein guts Mudding hat die Kammer gerüstet ... Ernstien, ich hab dich lieb ...«
Längelang lag Jung-Bernhard in der braunen Heide. Warm schien die Sonne vom blauen Himmel auf die »wunderschöne Gotteserde, wert, darauf vergnügt zu sein«. Neben ihm saß Erdmuthe von Denso und flocht Kränze von Birkenblättern. Wenn sie ja einmal aufschaute, lachte sie in die hohen Kiefern, Tannen, Wacholden hinein, und war so recht in Gott vergnügt. –
»Wie gut du schweigen kannst«, sagte Jung-Bernhard leise. »Du bist erstaunlich seltsam.«
»Urgroßvaters Spruch hängt doch über meinem Bett: Maul halten, Ordre parieren, Gott vor Augen, den König im Herzen.«
»Sprüche hängen viel, und werden nich befolgt.«
»Ohhh! Da würde aber Großje betrübt sein!«
»Ja, das ist schön bei euch. Und das wird dir mal was Festes geben. Immer zu wissen: So haben die Vorfahren gedacht, so der Großvater und die Urgroßmutter, – darin steckt Wert. Ich kann das nich. Bei uns war immer Essen und Trinken die Hauptsache. Und Sonntags fein aussehen. Aber so: Schöne Briefe schreiben, und zusammen sitzen und in guten Büchern lesen, das kenne ich nicht. Aber ich will das alles mal haben.«
»Wann denn?«
»Wenn ich 'ne eigne Familie gründe.«
»Wann gründest du eine?«
»Och – irgendwann mal. – Aber nun mußt du wieder Kränze binden.«
Und bald war ein Kranz fertig. Erdmuthe legte ihn neben Bernhard nieder, so daß er über seiner Hand lag, und sie drückte noch fürsorglich seinen Daumen in die Blätter. Damit er den Kranz auch ja festhielt. »Das ist für deine erste Kirche, die du baust. Ich weiß, daß große Künstler Kränze bekommen ...«
Bernhard sprang auf. »Sei still! Schweig! Och – nur sowas nich bereden. Nichts bin ich. Nichts kann ich.« – Er warf sich wieder hin. Ganz wild. – Erdmuthe hatte sich rasch erhoben. –
»Nicht doch, nicht doch!« wehrte sie ganz fein und leise dem Ungestümen. Als sei sie kein jung-junges Kind, sondern ein liebevoll beschwichtigendes Mütterchen.
Er richtete sich auf und sah Erdmuthe an, wie etwas ganz Neues.
Dann strich er sich über die Stirn: »Ja, das ist es. Das Leise, das muß auch ich noch lernen, das habt ihr alles so in eurer Kinderstube bei den leisen Müttern und Großmüttern ...«
»Komm du nur oft zu Großje ... bei der lernt sich's fein ... soll ich dir nun noch 'n Kranz machen? Für das erste Schloß? Und die erste Villa?«
»Nein, laß man, es hat Zeit, sie werden welk bis dahin ... sieh, da kommt 'ne Großmudder angewackelt, wolln mal sehen, ob's 'ne feine ist.«
Erdmuthe sah das verkrümmte Etwas, das da mit einem Korb am Arm auf sie zukam, forschend an.
»Hei!« nickte die Alte mit schüttelndem Kopf. »Wo zwei Junge sind, fällt für eine hungrige Alte allemal was ab. Wer sind wir denn, wie heißen wir?«
»Ich bin die Prinzessin von Ohnesorg und Weißnichts«, lachte Erdmuthe und setzte kindlich gütig hinzu: »Nicht wahr, das tut Ihnen nicht weh, wenn ich das bin? – Und das dort ist der größte Baumeister von der Welt, der Professor Bernhard Hartmann ...«
Mit einem Wutschrei riß ihr der Junge alle grünen Birkenblätter aus der Hand, daß sie in Fetzen davonflogen. »Pfui!« rief er jähzornig.
»Mußt mich so uffn Arm nehmen? Wo ich mich den janzen Dag um dich kümmerte, weil es Frau von Denso wünschte? Jeschieht mir schon recht. Mir ...«
Wie versteint stand Erdmuthe. »Was hab ich getan?« fragten ihre bangen Kinderaugen. –
Die Alte aber kreischte beinahe lustig auf und wies mit dem Finger. »Das da soll der Bernhard Hartmann sein?«
»Das soll er nich nur, das is er«, trumpfte der Jungbursch.
Laut auf lachte die Alte. »Ham sie es dir weis gemacht? Is scho rech, is scho rech. Aber ich weiß besser. Du bist der Ernstien ihr Jung, und heißt Bernhard Hansohm. – Hörst? Bernhard Hansohm! An dein Jähzorn kenn ich dich. Ich bin dein Großmutter.«
»Komm!« sagte Bernhard Hartmann. Und er griff wie schutzsuchend nach Erdmuthes Hand. Die sah in sein totblasses Gesicht, und war mit einem Male wieder ganz mütterliche Fürsorge.
»Ja, ich gehe mit dir, du bist gewiß krank. Aber die alte Frau bringen wir doch erst nach Hause. Ich glaub, sie ist nicht so lustig, wie sie tut, sie ist auch krank. Wo mag sie wohnen?«
Die alte Detleffsen sah jetzt ziemlich blöde aus. Sie hatte die runzligen Hände gefaltet und betete laut: »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Und von allem Teufelszeug, als da sind Lügen und üble Nachred, Amen!«
Dann rannte sie plötzlich, als hätte sie nie gehumpelt mit ihrem krummen Fuß. Bernhard Hartmann zog Erdmuthe mit sich nach dem Hause der Großeltern. »Mir ist nicht gut«, sagte er gequält. »Geh zu den andern, ich – ich will arbeiten.«
Sie sah ihm scheu nach. Aber ihr Kindesherz war nicht beschwert. Sie waren hier alle so gut mit ihr, und wer nicht gut war, der war eben krank, und Kranksein war schrecklich. So mußte man groß Mitleid haben auch mit dem Schlagetot, dem Bernhard. Und die zerrissenen Kränze wollte sie ihm alle nachliefern.
Drinnen im wohlhabenden Heidehause saß man um den runden, derben Tisch, auf dessen weißgescheuerter Platte eine große, braune Steingutschüssel stand. Darinnen glänzte goldgelb die sahnenbelastete Dickmilch. Weiße Holzlöffel lagen neben den buntbemalten Tellern. An dunkles Schrotbrot lehnte sich das große Weißbrot, wovon eine einzige Riesenscheibe den Städter schon satt machte. Ein halber Schinken, selbstgeschlachtete Würste und Sülze prangten neben einem mächtigen Topf mit Senf. Erdmuthes Augen leuchteten.
»Wenn ich darf, nehme ich mir von allem«, entschied sie. »Ihr gebt es so gern, da schmeckt es so gut«, lachte sie dankbar jeden an.
»Was is das Lüttje einmal nett!« lobte Vadder Hansohm. »Du hast uns gefehlt, Muthchen, kanns gliks dorbliwen.«
»Wo has dein Komeroden?« fragte Mudder Hansohm. Und der Schmiedemeister sagte etwas scharf: »Unpünktlichkeit ist gar nich Mode bei uns Berlinern, nich wahr, Ernstine?«
»Aber gewiß nich. Willst, daß ich ihn hole, Peter?«
»Kindermädchen braucht doch so'n Lorbaß nich mehr.« Peter Hartmann schien ernstlich böse zu sein.
»Bernhard Hartmann arbeitet«, berichtete Erdmuthe. »Sie dürfen ihn wohl nicht stören. Er kommt dann auch eher zu seiner Kirche.«
Sie sahen sich verdutzt an. Man aß schweigend eine Weile. Mit einemmal lachte Erdmuthe hell auf. »Da war solch eine komische Frau«, berichtete sie, und alle Mienen wurden gleich heller.
»Kann ich helfen«, unterbrach sie sich, und sie sprang flink auf und setzte die tiefen, bunten Teller zusammen, in denen nun die Dickmilch ausgelöffelt war, und trug sogleich die flachen auf, die mit bunten Tieren oder mit Rosen und Tulipanen bemalt waren. »O sehen Sie nur, ich hab Hühner auf meinem Teller! Wie wonnig!« Sie freuten sich alle an ihrem Entzücken.
»Den Teller nimmst gliks mit nah Berlin«, lachte Mudder Hansohm und strich liebkosend über die krausen Haare des Kindes.
»Hühner gibt's ja woll ni in de mächtig grote Stadt.«
»Ich hab noch keins gesehn«, bekannte Erdmuthe kleinlaut. »Doch – einmal eines, aber das lag in der Suppenterrine und lauter Grünes und viel Reis drumrum.«
»Süh mol, süh!« neckte Vadder Hansohm. »Un wie hebben de Federn gesmeckt?«
»Wo nur Bernhard bleibt!«
»Ich glaube, er hat sich fürchterlich geärgert«, antwortete Erdmuthe, die mittlerweile wieder still saß und auf das nachfolgende Gericht wartete. »Und es war eigentlich so lustig. Die krumme Frau auf der Heide sagte ihm, er hieße gar nicht Bernhard Hartmann, er hieße Bernhard Hansohm ... Und sie wär seine Großmutter! Oh, was hab' ich gelacht! Aber Bernhard war wild ...«
›Wenn das Kind doch schwiege!‹ dachte Frau Ernstine.
»Was 'n Schnack! Was 'n einmal dummen Schnack!« sagte Mutter Hansohm. Aber sie blieb gleichmütig, und war wirklich sehr erschreckt, als der Schmiedemeister plötzlich hart aufsprang und zur Tür hinausging.
»Is dem Schwiegersohn nich extra?« fragte Vadder Hansohm ärgerlich. »Oder paßt ihm was nich hier? Erst mit dem Jung und nu so ohne was zu sagen? Is nich Mod im Heidehaus.«
Ernstine kämpfte mit den Tränen. »Ihr müßt nicht ungut denken. Hartmann is raschblütig, er kann da nichts für. Und solch böses Reden, wie die alte Detleffsen das hat. – Das macht ihn scheint's rabiat.«
»Wir werd'n doch nich so hintersinnig geworden sein, daß die Heidehexe uns aus der Ruh bringt – den Dunnerja ...«
Mit großen, ernsten Augen sah Erdmuthe auf die Gesichter ringsum, sah auf die Tür, durch die ihr großer Freund hinausgeschritten war. Mutter Hansohm legte ihre hartgearbeitete Hand auf die Augen des Kindes. »Ümmer kandidel, Lüttjes«, mahnte sie, »dat geiht allns vörbi. Dat is nur so: ›Wolken öwer de Heid.‹ Kannst dat verstohn?«
»Ja, das kann ich. – Soll ich die Wolken wegbringen? Soll ich alle wieder froh machen?«
»Kind, was redest du da!« –
»Ja, das Großje in Berlin sagte immer zu mir: ›Na denn mal fixing to, wenn du 'n büschen ›lieber Gott‹ spielen willst.‹ Und dann ging ich ringsum, bis sie wieder lachten. Aber einmal wollt ich Sonne und Regen über Gerechte und Ungerechte machen, und habe die Gießkanne genommen ..., da durft ich nie mehr lieber Gott spielen. Die Base Kamilla hatte gepetzt.«
Mutter Hansohm zog Erdmuthe an sich. »Dich laß ich gar nich wieder fort«, sagte sie herzlich. »Bei dir spart man Dokter un Apteiker.« –
Hand in Hand traten sie in den Grasgarten, der mit wohlgepflegten Obstbäumen bestanden war. Unter diesen, die schon Früchte angesetzt hatten, lief der Schmiedemeister hin und her wie ein Tiger im Käfig, augenscheinlich bemüht, einer großen Erregung Herr zu werden.
Jung-Bernhard stand unter einem Baum und folgte dem Oheim mit scheuen Blicken. Jetzt trat er zur Großmutter Hansohm. »Das ist nur – ich habe mich ungehörig benommen«, sagte er dunkelrot vor Beschämung. Aber Mudder Hansohm erließ ihm die weitere Entschuldigung. »Wenn du's einsiehst, is scho recht. Hier dies lütt Dirning hat mir's Herz für ein paar Tag froh gemacht, jetzt kann ich nüms gram sein. Mein Chott, wat hadd ik för Angst vor bis hochadlige Mitbringsel, un nu is es Sünnschien, un weiter gornix. Lop tau, lütt Dirning, plück mi 'n Schüssel Solat. Hut abend giwwt das Bokweetenpannkoken. Kennst dat ...?«
»Bokweetenpannkoken? Hurra, das kann kein Mensch aussprechen. Das muß wundervoll schmecken. Aber da muß ich erst dreimal ums Dorf rennen, ehe ich inwendig Platz kriege. Rennst mit, Baumeister?«
»Schweig«, zischte Bernhard sie an. »Weißt nicht, daß es gemein is, mir vorzuhalten, was ich dir anvertraut habe?«
»Nein, das weiß ich nicht. Du kannst mich auch gern ›Mutter‹ nennen, denn das will ich werden.«
Der Jungbursch sah auf »Muttern« nieder, auf dies nichtige Lebewesen mit den närrischen krausen Gedanken, das sich nie verblüffen ließ, und immer irgendwie recht hatte. Es rannte jetzt flink zur Küche, kam mit einer Schüssel wieder und ging zum Gemüsegarten. Auf dem Wege dahin rief sie im Vorbeigehen Frau Ernstine zu: »Kommen Sie doch mit, Frau Hartmann – Ihr Junge is 'n Ekel.« –
Und sie zog die stille, ernsthafte Frau mit sich fort, der man so gar nicht ansah, daß sie eine frohe Hochzeiterin sein sollte, und die sich so merkwürdig verändert hatte in der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes im Mutterhof in der Heide. – Im Gemüsegarten stand eine Bank. Da hatten die verstorbenen Großeltern gern draufgesessen und das Wachstum der Gartenfrüchte beobachtet. Und sie waren jung geblieben mit neunzig Jahren, weil sie mit jedem neuen Frühling das Blühen und Leben gesehen hatten und mitfühlten, wie alles erstand und ward. Und als die letzte Frucht geerntet war und der Boden brach lag – mit den ersten Schneeflocken waren die uralten Hansohms an einem und demselben Tage heimgegangen. Das wußte auch Peter Hartmann aus den Erzählungen seiner Gastgeber, und er hatte sich jetzt auf die grüne Bank gesetzt, um seiner jagenden Gedanken Herr zu werden. Mit tief gefurchter Stirn sah er auf das lachende Land und spürte nichts von dem pfingstlichen Frühlingstreiben ringsumher.
»Ja, nun müssen Sie lachen, Herr Schmied«, rief Erdmuthe wichtig, »nun bringe ich Ihnen Frau Ernstine, es ist ja greulich so allein, wenn niemand lieb mit einem ist.«
Und sie gab der verdutzten Frau einen kleinen liebevollen Stoß, so daß sie sich wohl oder übel auf die Bank setzen mußte. Dann flocht sie ihnen beide Hände ineinander, rief auch den Widerstrebenden ein aufmunterndes »Festhalten, festhalten« zu. Und nun pflückte sie eifrig an dem Salatbeet. Ganz still saßen die beiden Hartmanns.
»Hast mir nichts zu sagen, Ernstine?« fragte der Schmiedemeister grollend, aber die Hand ließ er nicht los.
»Nein! Ich kann dich nur bitten, Peter, auch nicht zu fragen. Vom Schmutzkübel hab' ich dir gestern freiwillig erzählt, und du hast mich in deine gache Lieb hineingerissen, wolltest gar nicht hören und nicht warten. Das hab' ich dir zutiefst gedankt, denn Vertrauen muß sein zwischen rechten Eheleuten. Und eine einzigste Frage wäre schon eine Beleidigung für mich.« –
Er schwieg. Es arbeitete mächtig in ihm, man sah es an seinem Gesicht, in dem jede Muskel zuckte. Aber er faßte jetzt mit festem Griffe die Frauenhand und legte noch die Rechte darüber, daß sie wie ein Vogel im Nest geborgen war. Endlich sagte er mit schwerem Atem: »Wir wollen die kleene Erdmuthe nich enttäuschen. Vorhin, da wär ich noch nich so weit gewesen, aber wenn einem so die lebendige Lieb begegnet ... 's is ja lächerlich, aber ich muß deine Hand behalten, Ernstine. Zieh sie nich fort, das könnt das Muthchen traurig machen. Gleich muß sie kommen ...«
»Du lieber, großer Mensch!« sagte Ernstine leise, »du hast wohl guten Kampf gekämpft ... Aber wollt's Gott, du kenntest deine Ernstine besser, daß gar kein Kampf notwendig gewesen war.«
Und nun tönte die Kinderstimme: »Fertig! Nun dürft ihr kommen. Ihr habt ja gar nichts gesagt, ihr wart so leise. Wenn ich so 'ne große Freude hab' und mit Großje Hand in Hand sitz, muß ich immer Radau machen.« Da lachte der Schmiedemeister laut und fröhlich auf, und lachen, das verstand er. »Geh' Muthchen, nu mach auch noch den Bernhard froh. Dich hat der liebe Gott an der Hand ... Du findest schon das rechte Wort.«
»Ja, das find' ich!« lachte das Kind glücklich, und es schwenkte seinen Korb mit dem würzigen Salat und rief schallend: »Bernhard! Book-Weeten-Pannkoken!« Da schoß der Jungbursch von der Giebelstube, in die er sich grollend verzogen, hinunter, und nahm dem Kinde den Korb ab und sagte ganz sanft: »Wir können nach Tisch wieder zusammen in die Heide gehen.« –
Als sie dann so recht beschaulich in dem rotbraunen Kraut lagen, räusperte sich Bernhard mehrmals und kam endlich zögernd mit dem Satz heraus: »Ich möchte dich wohl was fragen.«
»Zu satt«, war die kurze Antwort, zu der sich Erdmuthe aufschwang. Da verstummte der Jungbursch wieder für lange Zeit. Er hatte einen Ameisenhaufen entdeckt, und das Rennen, Heben, Tragen und Bauen der Tierlein fesselte ihn so, daß er seine Frage, die ihm erst brennend genug erschienen war, vergaß.
»Du mußt nicht böse sein, Bernhard«, sagte das Stimmlein neben ihm. »Du hast wenig gegessen, ich habe gezählt. Fünf Bookweetenpannkoken und ich zehn. Eigentlich werde ich ja nun bald elf Jahr alt. Aber ich konnte die Zahl nicht zwingen.« –
»Du bist das Närrischste, was mir je vorgekommen ist. Und wenn du so fortmachst, dann kannst du ja später mal fünfzig Pfannkuchen essen. Eine völlig verfressene Großmutter.«
»Igittigitt. Wie du so sprechen kannst. Nein, ich will wie Großje werden. So zart und schlank. Sie sagt, man hätte früher immer auf Taille sehen müssen.«
»Ja, das tu du man mit zehn Bookweetenpannkoken.«
»Hör jetzt auf. Mir wird schlecht. Aber was wolltest du mich vorher fragen?«
»Ja, das war also so ...«
In diesem Augenblick schoß Erdmuthe in die Höhe und lief dann mit jammervollem Gesicht hinter das Haus. Und Bernhard vertiefte sich wieder in den Ameisenbau. Das schlug in sein Zukunftsfach. Und bei diesem Bau gelobte er sich: So fleißig wollte er sein, wie die Ameisen. Ja, und wie die Bienen, deren Summen die ganze Luft erfüllte. Wie sie es wichtig hatten, wie sie Honig sammelten! Jeden Morgen durfte er von der vorjährigen Ernte essen, so viel er nur wollte, und die frische Grasbutter strich er sich dick darunter auf das Roggenbrot. Aber um rechten Fleiß zu sehen, dazu brauchte man nicht erst die Heide aufzusuchen. Den fand man erst recht in Berlin, in seinem fleißigen Berlin, darin er geboren und aufgewachsen war. – Hei, war das ein Rennen und Jagen früh, wenn er zur Schule mußte! Und wie die Sirenen heulten auf den großen Werkstätten. Die lockten nicht wie die Stimmen der Heide, die schrien zur Arbeit. Eigentlich hatte er schon Heimweh. Trotzdem die Mutter mit hier war, und der Oheim, der neue Vater, von dem er so viel hielt. Und das Kind. Ja, das närrische Lebewesen war auch da. – – Eben kam es ziemlich matt, wie es schien, aber doch fröhlich herzugelaufen: »Ich hab mich tüchtig übergeben ...«, und sie sang gleich hinterher mit der Heidelerchenstimme: »... dir Land voll Lieb und Leben, mein teures Vaterland ...« Und Bernhard fiel mit einem sehr klangvollen Tenor ein; es war prächtig. –
»Ja, nun ist mir wieder ganz wohl und erleichtert. Aber du darfst jetzt mehrere Monate nicht das Wort aussprechen – du weißt schon, das, was wir heute aßen ..., aber ich will dir jetzt gern antworten.«
»Ach so – na ja – die Unterhaltung ist schwierig mit der Erdmuthe, und ich hatte längst andere Gedanken. Aber – rück mal näher her, das große, gelbe Huhn dort braucht nicht zu hören, was ich wissen will. Erdmuthe, wirst du es aushalten können in Moabit? So zwischen all dem Volk, das dich gar nicht versteht. Und, was viel schrecklicher ist, du verstehst es auch nicht – – ich hab´s wohl gesehen, wie froh du bist und richtig aufatmest, wenn du von der Straße heimkommst in eure vornehmen Stuben, wo die Ahnen mit die Ordens hängen.«
»Mit den Orden hängen sie ...«
»Ja meinetwegen auch. Und siehst du – ich habe diese Nacht gedacht, ich werde doch am Ende Schmiedegeselle ..., denn wenn immer mehr abbröckeln, die das Volk verstehen, dann steht es nachher allein da ...«
Der scheue Junge hätte vielleicht nicht so zu der Elfjährigen gesprochen, aber das Kind hatte die Augen groß zu ihm aufgeschlagen, und man sah, es verarbeitete jedes Wort, das er sprach.
»Und der Brief von deinem Großvater?« fragte Erdmuthe. »Der Testamentsbrief? Wie furchtbar muß es sein, so einen langen Brief schreiben zu müssen! Besonders wenn man schon halb tot ist. Und nun soll das alles umsonst sein? Wenn du Abitur machst und gutes Deutsch lernst, kannst du doch noch viel besser mit dem Volk reden ...«
Es war wieder geraume Zeit still zwischen ihnen ...
»Erdmuthe ...!«
»Ja?«
»Ich habe so Heimweh nach Berlin ...«
Da weinte das Kind plötzlich. »Ich schon lange«, schluchzte es. »Ich wollt's ja nur nicht merken lassen. Und nur deshalb aß ich die vielen ... du weißt schon ... Bernhard –. Sieht es aber nicht schrecklich undankbar aus, wenn wir heute nachmittag wieder heimreisen?«
»Heute nachmittag? Was denkst du – der Zug geht ja schon gleich. Aber – übermorgen ...?«
»Und was wird dann noch deine Mutter sagen? Und der Herr Schmiedemeister, und die seelensguten Großeltern?«
»Ausbaldowern müssen wir. Wie der Kundschafter Tamalituha den Wigwam umschleichen ...« Bernhard war ganz aufgeregt.
»Du bist ein ganz anderer Junge geworden«, staunte Erdmuthe. »Das hat aber wirklich die Heide gemacht, Großje hat doch immer recht. Und nun lauf zum Wigwam und frage die Squaw!«
So kam es, daß der Schmiedemeister, als jetzt eben sein Schatten über die Kinder fiel, in zwei erschrockene und verlegene Augenpaare sah, und als er ziemlich bedrückt und viel leiser als sonst sagte: »Ich muß Euch etwas sehr Betrübliches mitteilen – Kinder, ich halt's hier nicht aus, so schön es ist, ich möcht warrafftch morgen in unser liebes, altes, fürchterlich lautes Berlin zurück ...«, so kam es und so erlebte er's, daß ihm die Erdmuthe von Denso einfach um den Hals flog. Und der Bernhard stamerte dummes Zeug und war wie unklug ..., da lief er auch schon davon.
»Wohin, Bernhard?«
»Er umschleicht den Wigwam und verhört die Squaw«, sagte Erdmuthe ruhig. Da faßte er fest die Hand des Kindes: »Ihr habt zulange in der Heidesonne gesessen.«
»Jawohl, Herr Schmied. Und da haben wir so Heimweh nach Berlin gekriegt.«
»Gott sei Dank!«
Und »Gott sei Dank« rief auch Frau Ernstine. Mit ganz leuchtenden Augen sah sie wieder ihren Mann an. »Peter, wie ist's nur möglich! Berlin ist doch laut und staubig und heiß und erdrückend – Peter ... wie kommt's? Ich hatte dich und meinen Jungen und hab mich rein ›zersehnt‹ nach – der Berliner Luft.«
»Un du willst'n Heidjer sind?« rief Peter Hartmann froh bis ins Herz hinein. »Aber die Alten! Wenn wir's nur schon gesagt hätten!«
Vom Mansardengaststübchen herunter kam Erdmuthe gegangen. Langsam und gewichtig. Sie schleppte ihr Köfferchen, das für vierzehn Tage Kleider, Wäsche, Schuhe, Schul- und andere Bücher enthielt. »Kind, willst du schon zur Bahn? Es hat wohl noch 'n paar Tage Zeit ...«
»Ich will es Großvadder un Großmudder sagen, daß wir reisen. Nur damit sie's glauben, bracht' ich gleich den Koffer mit ...«
»Du kleener Patrouillenführer, denn mach' nur dein Sach' gut!«
Die Älteren schlichen die Stiege hoch und das Kind polterte, durch den Koffer gehindert, etwas laut in den Wohnpesel. Da saßen die Alten Hand in Hand auf dem roßhaarenen Kanapee. Durch die kleinen Fensterscheiben fiel die Abendsonne und wob einen leuchtenden Schein um die beiden weißen Köpfe. Die Postille lag vor ihnen, sie hatten still ihren Abendsegen gelesen.
»Du mein!« rief der alte Hansohm erstaunt. And Großmutter fragte: »Wohen schall de Reis' gohn?«
Erdmuthe sah in die freundlichen tiefen Heidjeraugen und es wurde ihr wunderlich ums junge Herz.
»Wullst du denn wech?« fragte Großmutter erschrocken.
»Ik dacht, du wullst bi mi bliwen, Lüttjes, wullst gorni wedder furt – hest dat ni seggt...? In de Heide, da gilt noch Handslag un Wort.« –
Da war auch schon der Koffer wieder geöffnet, und Hemden, Kleider, Schuhe, Strümpfe, Unterhöschen, Schlüpfer und Zopfbänder flogen durch die Luft und verteilten sich auf dem sandbestreuten Fußboden. »Ich bleibe«, sagten die bebenden Kinderlippen, »ich – ich – – verlasse Euch nicht. Ich hatte nur so Heimweh nach Berlin – – Großje ist so allein ...«
»Da muß der Schwiegersohn her«, sagte der Alte bedächtig und verließ den Raum. Großmudder aber hielt das Muthchen in den Armen: »Büs jo 'n ganzen leewen Keerl, min Söten, äwer dat nehm ik ni an. Die Großje hettst du alleen to Hus – bat 's 'n Grund, 'n vollwichtgen. 'n andern Grund giwwt dat ok nich. De Heid is streng, mien lüttje Deern. Wem se Gastfründschaft gifft, de möt dankbor sin – sünst rächt se sik – –.« Das letzte sprach Großmutter wie zu sich selbst, und setzte dann heftig hinzu: »Du büst dankbar, mien Söten, jo dat büst du.«
Das Kind Erdmuthe stieg sehr langsam wieder in ihre kleine Mansarde zurück. Der Schmiedemeister schämte sich etwas, daß er den »lüttjen Patrouillenführer« vorgeschickt hatte, er kam gleich mit Frau Ernstine wieder zu ihr. Da saß die Kleine und weinte.
»Ich bin ja gar nicht dankbar – – o was tu ich nur, was tu ich nur ...« Es war weiter nichts aus ihr herauszubekommen. Peter Hartmann wollte nun gleich herunter und seinen Entschluß mitteilen, aber da drängte sich Bernhard eilig an ihn heran: »Vater, Großvadding ist in meine Stube gekommen, und hat gesehen, daß ich packe ... Vater, ich glaub' das gibt ein Gewitter ...«
»Gewitter reinigt«, sagte der Schmied sorglos, »aber es is ja nix zum reinigen. Die Alten werden doch keinen Rechtsfall aus unserm raschen Entschluß machen? Das war gefehlt. Ich bin gern mein eigener Herr.«
Aber als sie zum Abendbrot sehr pünktlich in die große Diele traten, da »hing etwas in der Luft«. Der alte Hansohm hatte sein Gottestischkleid angezogen und es sah beinahe so aus, als wollte er eine Gerichtssitzung halten. Auch Großmudding hatte eine schwarzseidene Schürze umgebunden.
»Na, ji beiden öllern, wo geiht?« fragte Peter Hartmann, »ümmer noch god to Weg?« Er wollte durch sein Plattdütsch beweisen, daß er nichts Böses im Schilde führe. Aber der alte Heidjer machte einen schmalen Mund und antwortete nicht auf die Erkundigung.
»Ik denk, wi bliwen mol all bistahn, ehvor wi uns dal setten un dat däglich Vrot mitnanner breken. Giww mi Antwurt, Swiegersähn, wat dat bedüd, dat de lüttje Deern ehr Tüg inpackt un ebenso din Sähn, de Bernhard ...!«
»Die Kinners werden zusammen ausrücken wollen. Wie's die Ernstine und ich in Berlin gemacht haben!« lachte der Schmied etwas unfrei.
»Solch' Schluderwörters paßt nicht vor Kinners«, verwies ihn der Alte streng. »Mich dünkt, du has dich up Stuns vergeten, Schwiegersähn.«
Dem schwoll schon die Ader auf der Stirn. »Bei aller schuldigen Ehrfurcht, Vater Hansohm – hast du's nich auch eben getan? Vor den Kindern darfst mir sowas nich sagen. Mir hängt das Hemd nich mehr hinten aus der Büx...«
Mutter Hansohm sprang hastig auf und scheuchte die beiden Kinder aus dem Pesel, wie sie es wohl mit ihren Hühnern machte, wenn sie mal unverhofft sich auf den Frühstückstisch verflogen hatten: »Ksch, ksch, geht mol gliks rut, äwer macht fixing to.«
»Leb wohl, Bernhard!« sagte draußen das Kind ganz vernichtet, »ich muß hier bleiben, ich hab das versprochen, und ein Soldatenkind bricht nicht sein Wort. – Ich wünsch dir ein gutes Abitur und werde immer den Daumen halten, daß du schöne Kirchen baust ...«
»Du bist verrückt.«
»Meinst du, Bernhard? Aber es wird schon wahr sein, denn früher hättest du nie so was zu mir gesagt.«
Und drinnen ging das Gewitter weiter. »Ich eracht es als ein Unehr, was ihr uns antun wollt«, sagte der alte Heidjer mit sehr erhobener Stimme. Das ganze Dörp wiest jetzt mit de Fingern up uns. Vierzehn Däg habt's bleiben wollen un nach sechsen reißt ji ut as Schafledder. Wo fehlt's bi üs? Wat wullt ji hebben?«
»Vadding, beruhig dich doch«, bat Ernstine. »Ji kennt jo Berlin nich. Uns fehlt de stramme Arbeit. Wi sin dor inspunnt, as de Gaul in'n Göpel.«
»Peter Hartmann, machst du di selbst ton Knecht in dein bluteigen Gewes'? Hast 'ne Herrensmiede un 'n Sack vull Geld un willst Gaul in 'n Göpel speelen? Knechtsgedanken!«
Da reckte sich der Schmied hochauf. »Ich mein, es sind Herrngedanken. Wenn der Meister nich freiwillig Gaul in Göpel spielt ... Knechte wollen Beispiel haben. Vadding, wach doch auf! Ich sag's ehrlich raus: Mir fehlt die Arbeit. In der Heide zu liegen, das is nix für mich –. Und der Ernstine fehlt die Arbeit, denn hier is doch Mutter noch voll rüstig, und dem Bernhard fehlt so allerhand. Der will lernen und vorwärts kommen. Dazu hilft ihm Berlin ...«
»Mit Haut un Haar hat se euch – de grote Stadt, de Moloch, de sin eigen Kinner upfreet –«, sagte der alte Heidjer zornig. »Wer nich ausruhn kann, hier in de rote Blust von de Heid, wo man dem Herrgott ganz nah is, der verdient de Ewigkeit nich, in der er ausrasten muß.« Und er wandte sich vom gedeckten Tisch fort nach dem Schlafpesel. »Na, denn gaht man hen ...«
»Gleich?? Vater!« rief der Schmiedemeister mit roter Stirn.
»Worum nich?« kam die Antwort, und die Tür schloß sich hinter dem Alten.
»Mudder, um Gottswilln – wat seggst du dortau? Dat 's jo 'n Barg um nix – um nix«, rief Ernstine.
»Ik hür to mien Mann!« sagte die alte Frau still. Und ging ihm nach.
Beide Hände schlug Ernstine Hartmann vor ihr Gesicht. Sie weinte nicht, aber sie konnte es nicht ertragen, daß ihr Mann den Kampf sah, den sie kämpfte und der in ihren verzerrten Zügen zu sehen sein mußte. Als sie die Hände sinken ließ, war sie ganz Ruhe und Beherrschung. »So ist die Heide! So sind die Heidjer. Und glaub mir, Peter, ich bin wie sie. Nein, ganz ist das nicht richtig – ich war wie sie. Meine Ehe mit deinem Bruder Bernhard war ein einziges Heimweh nach der Heide. Die war herb und rein und stark und treu. All das war dein Bruder nicht. Aber du – Peter Hartmann, du bist es.« Sie beugte ihren Kopf mit den schweren Flechten tief auf seine Hände. Die lagen gefaltet auf der sandgescheuerten Tischplatte, an der sich der Schmied niedergelassen hatte. »Peter, deine Lieb und meine Lieb haben mich völlig gewandelt – ich versteh jetzt erst die Ruth in der Bibel, wie sie sagen kann: ›Wo du hingehst, da will ich auch hingehn, dein Gott ist mein Gott!‹«
»Ernstine!« rief der Schmied erschüttert. Nicht, was sie sagte, rührte ihn so stark – wie sie es sagte, und daß sie überhaupt ihr tiefstes Empfinden vor ihm aussprach – die herbe, verschlossene Ernstine ...
»Du bist mein liebes Weib. Ein Geschenk hast mir ebend gemacht – du – – ein großes Geschenk. – – Erinner' mich dran, sollt ich's je vergessen. Aber was nun?«
»Das hast du zu bestimmen, Peter Hartmann.« Er stand auf und reckte sich. »So bestimm ich, daß wir morgen reisen. Ich lechz' nicht nach Lärm und Vergnügen, ich verlang nach meiner Arbeit.«
»Wie denkst aber über ein ›Behüt Gott‹, Peter?«
»Da denk ich just wie du. So lang steh ich vor der Kammertür, bis sie hereinrufen. Ich bitt dich, Ernstine – – es sind doch die Eltern. – Wenn auch meine Fuffzig auf dem Rücken keine Pappenstiele sind – – ich kenn doch 's vierte Gebot.«
»Bist eben 'n ganzen Echten.« Ernstine legte ihre Arme um seinen Hals.