Felicitas Rose
Das Haus mit den grünen Fensterläden
Felicitas Rose

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7.

Einmal bekam sie auch die »Heidehexe« zu Gesicht. Frau Ernstine schnitt Gras auf der Hansohmwiese und wurde durch ein krankes, häßliches Lachen dicht neben ihr erschreckt. »Ist es denn einmal wahr?« krächzte die Alte. »Hat er dich fortgeschickt, der stolze Schmiedemeister? Hat's der schöne Tetje, mein lieber Sohn, zu arg getrieben? Ni wohr, das tut kein gut, jetzt Gras zu schneiden, wenn man doch in die Stadt auf 'n roten Plüschsofa rumlag? Un wo geiht dat nu mien lüttjen Tetje? Oha, wat heww ik Bangnis nah em!«

Ernstine brachte keinen Laut heraus. Sie vermochte es nicht, diesem Bündel Elend zu sagen, daß Tetje Detleffsen schlechter und gemeiner sei als je, und daß er für ein paar Wochen im Gefängnis sitze. Ihr graute auch davor, daran zu denken, daß er wohl bald entlassen würde, und dann vielleicht seinen Weg in die Heide nähme, zur Mutter – zu ihr. –

»Noch ümmer so stolz?« tönte es wimmernd neben ihr. »Wie kriegt man dich blot einmal klein? Un nich mol 'n Antwurt krieg ich? Un war doch binah dien Swigermudder west! Un mein einzigen Tetje hast du geslagen ... Aber wenn he kümmt, dann maken wi den Verspruch fertig, un denn wird he richtig din drütten Mann, un din Jung wird dann ehrlich un heißt Detleffsen. Oha, was 'n Spaß! Drei Nams: »Hansohm, Hartmann, Detleffsen!« – Frau Ernstine hatte ihr Grasbündel genommen und war heimgehastet. Das Lachen der Alten gellte ihr nach.

Berlin, Friedrichsgracht, in der alten Erbschmiede. 24. Juli 19..

Du liebe Mutter, ich sitze in dem Zimmer, in dem ich damals lag, als ich verwundet war, und du mich pflegtest, zusammen mit dem lieben Vater. Er kommt jetzt so selten in das Haus mit den grünen Fensterläden. Seine Losung heißt Arbeit. Aber Ruhe kennt er gar nicht mehr, und deshalb lasse ich ihn ungern allein, sondern mache meine Schularbeiten an Großvaters altem Sekretär. Dann legt Vater doch manchmal den Hammer aus der Hand und kommt an meinen Platz, und läßt sich auch manchmal was erklären, was wir in der Schule haben. Das ist seltsam, wo er doch so viel klüger ist als ich. Wir verstehen uns gut, du liebe Mutter. Manchmal sieht er mich an, als wollte er mir auf den Grund der Seele sehen. Da ist's wohl gut, daß ich ihm frei den Blick zurückgeben kann. Freilich sagt er nie mehr »alter Lorbaß« zu mir, und das ist doch sehr schade. Denn ich bin schon bedenklich an seine Größe heran und habe mich auch auseinandergetan. Die Mitschüler nennen mich »Jumbo«, das ist der neue Elefant im Zoo. Dein Gruß ist zu mir gekommen. Wenn es auch nur ein Zettel war, weniger als eine Postkarte, so war es doch mehr, als ein langer Brief, und ich gelobe Dir, daß ich Gott vor Augen und im Herzen haben will, und daß ich mich hüten will in die Sünde zu willigen und auch nichts tun wider Gottes Gebot. Unsere Klasse ist nicht fromm, Du liebe Mutter, aber es sind prächtige Kerle unter den Kameraden. Wir lassen uns mit Religion zufrieden. Nur wenn einer mal kommt und hänselt mich, weil sie wissen, daß wir bei Vater noch zu Tisch beten, den boxe ich nieder. Oder auch Jiu-Jitsu, das ist eine besondere Art, ihn zu zwingen das Maul zu halten. Aber nun kommt etwas sehr Schönes, Du liebe Mutter. Und es ist so wunderbar, daß mir alles so glückt, dessen will ich sehr dankbar sein. Und wir sehen uns wieder – bald, Du liebe Mutter. Das ist kaum auszudenken schön. Nämlich – Dr. Wimmel würde rasend werden, wenn er wüßte, daß ich einen Satz mit nämlich anfange – also das war so: dieser Strolch Detleffsen läßt und läßt mich nicht in Frieden, es macht mich ganz krank. Und Vater wird immer verbitterter. Da kam Vater heute noch vor der Schule an mein Bett, und sagte mir, daß er mich in dem großen Missionsort H. anmelden wolle. Da hätte ich Dich in der Nähe, und es wäre dort ein ganz vorzügliches Gymnasium. Dort könnte ich unbehelligt mein Abitur machen und auch nicht abgelenkt werden von Berlin. Die liebe Frau Oberst von Denso hat wieder alles geregelt, daß ich dort ankommen kann, weil doch ihr Vater ein hochangesehener Heidjer war. Du liebe Mutter, als Vater mir alles bestimmte, kamen mir unmännliche Tränen, und ich bat: »Vater, wir gehören zusammen!« Da meinte er, ob ich das so genau wisse, und ich rief: »Tausendmal ja!« Aber er war ganz blaß und sagte dann schroff: »Ich bin kein guter Mentor mehr für Dich.« Es ist ja wahr, Vater ist sehr ungleichmäßig, und ich kann mir doch selbst das Zeugnis geben, daß ich alles tue, was ich ihm an den Augen absehen kann. Ich glaube sicher, daß er krank ist. Du liebe Mutter –, nein, ich kann Dich nicht immer wieder bitten doch herzukommen. Es muß etwas ungeheuer Schweres zwischen Euch beiden stehen, das nur Gott selbst fortschieben kann. Wenn alles in Fluß ist, und ich hier fortgehe, dann will ich von jedem Berliner Stein und jedem Hause Abschied nehmen, nur von jemand kann ich's nicht, und das ist die Erdmuthe von Denso. Ich weiß nicht, wie das kommt. Aber ich muß vergessen, daß es überhaupt auf der Welt ist, dies wunderliche Ding, sonst kann ich nicht weg von hier. Nun hat dein großer Jumbo mit Dir geschwatzt wie ein Waschweib, aber paß auf, wenn ich dann komme, und Dich Sonntags besuche, dann rede ich wieder keinen Ton, und Du auch nicht, Mutter. Und wir sitzen wie die Ölgötzen nebeneinander und tun so, als ob wir uns spinnefeind wären. So sind wir. Und ich hab das von Dir. Deshalb müssen wir inwendig genau wissen, daß wir uns hoch wert sind, Du liebe Mutter. Dann bleiben wir beide up ewig ungedeelt, wie ihr Heidjer das so schön sagt. Sei mir nur immer fein gesund, und grüße die Großeltern. Dr. Wimmel ist mir wie ein Freund, und deshalb ist es auch gut, daß ich von hier fortkomme, denn die Mitschüler mögen es nicht, wenn man gut mit den Paukern steht. In H. brauche ich ja keinen Freund, denn ich habe Dich.

Ich bin Dein treuer Sohn Bernhard.

Dann dauerte es doch noch ein paar Monate, bis der junge Riese vor seiner Mutter stand. Und er schaute und schaute und wollte nicht weich werden, und mußte sich doch abwenden und sich obendrein heftig schneuzen. Denn in Mutters schmalem Gesicht, das auch nicht eine Spur von Rundung mehr zeigte, brannten die Augen, wie solche tun, die viel geweint haben. – Und merkwürdig sah Mutter aus, immer wieder mußte er sie betrachten ...

Großvater Hansohm sah mit befriedigtem Stolz auf seinen Enkel. »Dscha – so kümmt dat«, meinte er bedächtig. »Denn läuft dat in de grote Stadt un schnackt dumm Tüg vun Heimweh un son Kram, un denn, denn läuft dat doch wedder t'rück in de Heide, wo noch Anstand un Respeck un Dissiplin ehr Hüsung haben. So is dat, so kümmt dat. Na sett di dal un iß!« Und Bernhard aß sich durch den ganzen, glückseligen Sonntag hindurch, den er bei der Mutter verleben durfte, und setzte die Oltchens in Erstaunen, wenn er von der Schule erzählte, und wieviel man dort lernen konnte. »Belern di vor allen Dingen up 'n Ehrenmann, mien Sähn, allens annere is Schiet«, sagte Vadder Hansohm und qualmte heftig seinen Knaster. –

Ehe sich Bernhard wieder auf sein Rad schwang, um am Sonntag abend nach H. zurückzufahren, fragte er Frau Ernstine, ob sie ihn ein Stück begleiten wolle. »Den letzten Gruß habe ich dann von dir, Mutter, und nachher kann mich niemand mehr anreden.«

Wie sie das beglückte! Sie wurde ordentlich ein bißchen rot vor Freude. Bis an die Gabelung des Weges ging sie mit. Dann begann das Moor, und hinter dem letzten Hügel, der mit Birken, Tannen und Wacholdern bestanden war, stand das Haus der »Heidehexe «. Sie bogen rechts ab, dort ragte etwas abseits vom Wege hochauf eine herrliche Kiefer, um die sich eine Menge halbmannshohe Wacholder gruppierten. Davor, am leicht geöffneten Eingang zu dem schönen Baume lag ein erhöhtes kleines Fleckchen Heide, recht wie ein wunderliebliches Blumenkissen. »Mutter, Mutter, ich hab's gefunden«, jubelte Bernhard. »Mit Dr. Wimmel war ich in der Kunstausstellung, da stand dies Bild, Mutter – o wie ist das Bild schön, und wie trifft es die Natur!« Der Jungbursch stand eine Weile ganz versunken in Andacht. »Dr. Wimmel kennt den großen Könner, der das Bild malte. Und er sagte zu mir: ›Hartmann, der Baum steht in ihrer Heideheimat, suchen Sie ihn mal.‹ Und nun hab ich ihn gefunden!« Träumerisch redete der Bursch laut vor sich hin:

Wie ein Kranz von ernsten Wächtern
stehn Wacholder in der Heide,
hochauf ragt in ihrer Mitten
einer Kiefer dunkles Grün.
Wild verästelt, sturmgeboren
singt von Kampf sie nur und Leid,
raunt, wie sie gebebt, gelitten,
und doch wieder aufrecht, kühn
nie den stolzen Mut verloren ...
Reich gesegnet ward ihr Blühn.

»Du närrischer Jung«, lachte leise die Mutter, »willst gar dichten? Ganz blaß und kalt bist du geworden.«

»Das fliegt so an, das Dichten, Mutter, wenn man so Schönes sieht. Die rote Heide mit ihrem Kraut und ihren Bäumen muß Gott ganz besonders lieb haben. – Aber du – Mutter, bist wohl viel blasser und kälter als ich, Mutter, was ficht dich an? Bist ungut? Ist dir weh? Komm, setz dich. Ganz warm ist die Heide von der Sonne, lehn dich an mich. So, so!«

Er stützte die plötzlich Hinfällige, in deren weißes Gesicht jetzt die Farbe wiederkehrte. »Das ist nichts Schlimmes, mein Bernhardjung – dat geiht un kümmt umschichtig. Aber du mußt jetzt eilen – laß mich noch ein Weilchen ruhn, dann kann ich leicht wieder heimgehen.«

»Mutter, kann ich dich allein lassen? Soll ich dich nicht lieber nach Hause bringen?«

»Ei, wirklich nein. Du mußt ja pünktlich im Alumnat sein. Das war ja noch schöner, wollt deine Mutter dich aufhalten.«

Sie drängte ihn liebevoll, und er bestieg sein Rad und jagte davon, nicht ohne ihr zuzuwinken, so lange er konnte, bis eine Biegung des Weges sie seinen Blicken entzog. –

»Das is ja 'ne würkliche Liebschaft zwischen euch zwei.«

Tetje Detleffsen trat aus dem Dickicht der Kiefer zu der tief Erschrockenen. Sie wollte an ihm vorbeihasten, aber er hielt sie zurück. Doch war sein ganzes Gehaben scheuer als sonst. Er sah sich prüfend um, ob niemand in der Nähe sei, aber um diese Abendstunde war gerade der Weg menschenleer. –

»Siehst blaß und elend aus, alter Schatz, seit du deinen Scharmanten verlassen hast. Weißt auch, daß der stolze Schmiedemeister recht lütt un kaduck geworden is? Dem Gespött hast ihn preisgegeben, oha oha, Junge Junge, dat hatt mi heil Spaß bröcht.«

»Über den Schmiedemeister Hartmann wird kein Ein spotten«, entgegnete sie finster, »an den Aufrechten reicht kein Spott ran.«

»Süh mal süh! Ümmer noch verliebt in ihn. Is schon so. Euch Weiber kann man prügeln un scheel ansehn un verjagen, ihr seid wie Pechpflaster.«

»An wem hast solche Weisheit erprobt?«

»An dir nich, Ernstine, das muß wahr sein. Du warst ümmer 'ne Besondere. Un deshalb dacht ich, du würdest fix un fertig sein mit dem Schubjack, dem Hartmann ...«

»Nimm den Namen meines Mannes nich in deinen Mund«, rief Ernstine laut und heftig. Da preßte er seine schmutzige Hand auf ihre Lippen.

»Red' nich so laut. Ist ja sonst nich dein Art.« Wieder sah er sich scheu nach allen Seiten um. »Ik bün äwer froh, daß du überhaupt mit mi redst. Komm, sett di 'n beten dal. Hier unner de Kiefer. Wi hebbt uns veel to vertelln.«

Sie hatte sich von ihm freigemacht. »Nich dat ich wüßt«, sagte sie ebenso laut wie vorher. Aber sie fühlte, daß ihr wieder sehr ungut wurde.

»Dor kümmt de Landjäger!« Sie atmete erleichtert auf. Mit einem derben Fluch war Tetje Detleffsen von ihrer Seite entwichen, und steckte sich geschmeidig in einen Wacholderbusch, der ihm wohl schon öfters als Schutzhütte gedient hatte. Da lief sie wie gejagt, und hastete an dem Wächter des Gesetzes vorbei, der auf munterem Gaul die Heide durchstreifte. Er grüßte befremdet, da war sie auch schon vorüber. »Was ist aus der schönen Hansohm geworden?« kopfschüttelte er, indem er sein Pferd verhielt und ihr nachschaute. »Sie wankt wie eine alte Frau. Ist höchstens vierzig. Blaß, schmal, hohläugig. Na, mi geiht's nix an. Hüh, vorwärts, mein alter Scheck.«

Die alten Hansohms saßen geruhlich vor ihrer Postille und warteten auf ihre Tochter, um dann das Haus zu verschließen, und die Döntche aufzusuchen.

»Alter – du büst grad so all den ganzen Dag, as wullst mi wat seggen. Is nich so? Dat wier doch woll dat irste Mol, dat du Angst vor din Olsch hettst.«

Seiner kurzen Pfeife entstiegen mächtige Wolken.

»Is scho rech, is scho rech«, murmelte er zwischen den Zähnen. Und dann riß er mit einem Ruck die Pfeife aus dem Munde. »Mudding rück mol näger an mich ran. Un dann will ik di wat ins Ohr seggen.«

»Willst du Brüjam spelen up dien olen Däg?«

»Ne, ne – Großvadder will ik spelen. Hör zu.« Er hub an zu flüstern:

»Weetst, wat ik glöw, Mudding? Unse Ernstine geht auf schweren Füßen ...«

Die alte Frau erschrak heftig. »Un det schall ik nich bemerkt hebben?« fragte sie flüsternd zurück. »Un bün doch 'n Wiw? Un bünn de Mutter...«

Da kam just Frau Ernstine in den Pesel, und grüßte hastig und sank schwer atmend auf die Ofenbank.

»Jesus. Ernstine! Bist krank? Wat fehlt dir? Solls din ol Mudder ni weeten?«

Da lehnte die Matte ihren Kopf an die Brust der Alten. »Mutter, mir fehlt nichts und fehlt alles. Mein Mann fehlt mir. Und arm bin ich, und reich über alles Begreifen. Mutter, ich trag ein Kind unter dem Herzen. Vom liebsten Manne. Und er ist nicht bei mir.« –

Im Haus mit den grünen Fensterläden, die grau aussehen, Oktober 19..

Geehrte Frau Ernstine!

Großje ist krank. Das kommt von der Sonne, die nicht da ist. Und es wird immer dunkler. Ich könnte auch schon schließen mit diesem Briefe, denn es ist alles so einerlei. Und ich hab Sie doch so gebeten, aber Sie kommen ja nicht. Deshalb schreibe ich auch nicht »liebe Frau Ernstine«, sondern nur »geehrte«. Aber ich muß noch weiter schreiben. Großje sagt: »in ihrem Auftrag«, weil sie bettlägerig ist. Frau Peters von nebenan besorgt aber alles furchtbar prachtvoll, deshalb brauchen Sie sich nicht zu bemühen. Ich muß nun noch schreiben, daß die »liebe, teure und hochwerte Erbschmiede«, so hat mir Großje gesagt, abgebrannt ist bis auf den letzten Stein. Viele, viele Feuerwehren waren da, und ein Haus daneben ist auch noch mit runter. Mein Beschützer ist hierhergezogen, aber er sieht erbärmlich aus. Irgendein Untier hat ein Schwefelholz angesteckt und Petroleum drüber gegossen, weshalb es auch roch. Es ist sehr traurig. Bitte, grüßen Sie nicht Ihren Sohn Bernhard von mir, denn er hat mir nicht mal ade gesagt. Als Gymnasiast müßte er das wissen. Es ist alles dunkel geworden.

Ich bin die Erdmuthe von Denso.

Der Oktobersturm brauste über die Heide und der Regen strömte wolkenbruchartig herunter. Im Wohnpesel von Hansohms war es gemütlich bei der grünbeschirmten Lampe, dazu knisterte das Holzfeuer in dem riesigen Kachelofen, um welchen herum die Hausbank lief. Auf ihr lag die behaglich spinnende, weiße Katze. Duftender Wacholder und der Tabak aus Vadder Hansohms Pfeife stritten sich um die Vormacht. Mudder Hansohm las die bewegliche Geschichte vom verlorenen Sohn, dabei klapperte aber das Strickzeug in ihren Händen. Es war seit immer ihr Wort: »Schandewert, wer nicht stricken kann und lesen zugleich.« – Ernstine nähte kleinwinzige Sachen. Das wunderliche Herz in ihrer Brust wollte immer einmal stöhnen vor Bangnis und wieder aufjauchzen in Lust. Aber sie kämpfte tapfer gegen die Bangnis, und träumte sich in eine zage Hoffnung hinein. Heute war ein Brief von ihr in den kleinen Postkasten gesteckt worden, von dem man nie recht wußte, wann er eigentlich geleert wurde. Zu unerträglich langen, schlaflosen Nächten hatte sie sich gesagt, daß dieser Brief geschrieben werden mußte an den Vater ihres Kindes, wollte sie das Angeborene nicht rechtlos machen. – Und dann wurde es doch kein Brief, sondern nur wieder ein schmaler Zettel:

»Deine treue Frau tut dir kund, daß Gott ihr ein Kind schenken will.

Ernstine.«

Nach dem Schreiben dieser Worte war eine große, schöne Ruhe über sie gekommen. Ein völliges Sichgeben in Gottes Hand. »Ist Er für mich, wer kann wider mich sein?« Und nun wollte sie warten, geduldig und still, ob diese Nachricht an ein Vaterherz klopfen würde. Um es dann zu öffnen für eine unendliche Liebe. –

Draußen scharrten Schritte an der Hauspforte, und dann tappten Hände an der Stubentür und schienen den Drücker nicht zu finden in der Finsternis des Hausflures. Ernstine erhob sich, um nachzusehen. Es war der Landjäger, der triefend und sturmgepeitscht vor ihr stand. »Guten Abend, junge Frau. Draußen tanzen die Heidehexen und Werwölfe über die braune Unendlichkeit«, sagte er schaudernd. »Haben Sie einen Lappen für meinen Schecken? Ich hab ihn draußen angebunden und möcht ihn trockenreiben.«

»Da draußen bei dem Hexensabbath nützt wohl das Trockenreiben nichts«, entgegente sie gelassen. »Aber auf der großen Diele ist Platz die Menge, kommen Sie.«

Sie entnahm einer Truhe eine Pferdedecke und verschiedene Tücher und band das Pferd los, das mit tiefgebeugtem Kopf an der Haustür stand. Als sie es in die erwärmte Diele brachte, durch welche das große Ofenrohr des Wohnpesels lief, rief der Landjäger lachend: »Das wird dir guttun, ol Fründ. Und der plötzlich wie in den Erdboden verschwundene Strolch, auf den wir fahnden, wird hoffentlich in der Heide tüchtig durchgewaschen werden. Frau Hartmann, ich komme nachher, und trockne mich selbst an ihrem Ofen. Aber zuerst erbarmt sich der Gerechte seines Viehes.«

Nach einer knappen halben Stunde saßen sie alle um den runden, sandgescheuerten Tisch und vor dem Landjäger stand eine bauchige Tasse mit duftendem Kaffeepunsch. »Den macht Ihnen niemand nach, Mudder Hansohm, der hält die ganze Welt und außerdem Leib und Seele zusammen.«

»Mit Maßen, mit Maßen«, meinte die alte Frau bedächtig. »Ik bün gor nich fors Supen. Äwer wenn man so durchs Meer geschwommen kümmt, wie Sie, Herr Landjäger, denn muß er upgemüntert werden. Wen haben Sie denn upt Korn genommen?«

»Den Tetje Detleffsen. – Der spelunkt hier wieder mal rum, und soll scharf beobachtet werden. Habe ihn aber noch nicht zu Gesicht gekriegt. Neulich schien mir's so, da begegnete mir aber dann Frau Hartmann, die hätt ihn ja sehen müssen. Heute wieder. Aber jedesmal verschwindet er reinweg vor meinen Augen. Was der Halunke uns schon für Schwierigkeiten gemacht hat!«

Wie seine Nadelstiche empfand Frau Ernstine die Schilderung. Aber um die Welt hätte sie keinen Fingerzeig geben können. Schlecht schien es ihr und feige. Besonders da bei dem Detleffsen ja doch nur Landstreicherei, Verleumdung, Nächtigen und Rauchen in Scheunen und gelegentlicher Raub von Feldfrüchten zu ahnden waren. Sollten ihn laufen lassen, den Vagabunden, im Gefängnis wurde er nur immer schlechter und verbissener. Ernstine stichelte an ihrer Arbeit, ohne aufzusehen. Dennoch fühlte sie die Blicke des Landjägers und ihrer Eltern schwer und forschend auf sich ruhn. Ein winziges Hemdchen entstand unter ihrer rührigen Hand. »Heilige Arbeit«, dachte sie. »Ach wenn doch gute Reden sie begleiteten.« So aber war sie wie gehetzt und kam nimmer los von dem Strolch, dem sie vor zwanzig Jahren den reinen Mund geboten hatte. –

Nachdem der Landjäger gestärkt und erwärmt samt seinem Roß davongetrabt war, zog Vadder Hansohm plötzlich mit raschem Griff Ernstines Hand an sich. »Tochter«, raunte er leise, »kannst mir vorm Herrgott schwören, daß du aber auch gornix mit dem Kerl zu tun hast, auf den die Schergen da pirschen? Aber auch gornix???«

Aufschrie die gequälte Frau. »Ich schwöre nicht, Vater. Soll ich denn nimmer zur Ruh kommen? Nich mol mien Öllern trugen ehr eigen Fleisch un Blut? Un sollten doch beide Händ ins Füer leggen för mi.«

»Dat do ik, dat do ik«, weinte die alte Mutter.

»Ne, Mudder, dat hast ni dohn. Vorhin dine Blicke, die hebben mi brennt as höllisch Füer. Jetzt warte ich noch zwei Tage. Wenn mein Mann, Peter Hartmann, mir nich antwort't, und keine Fürsorg zeigt für sein Weib und sein ungebornes Kind, dann geh ich hin, wo mich niemand kennt. Dann sind mir meine Nächsten gestorben.«

»Und dein Jung, der Bernhard?« fragte Vadder Hansohm scharf.

»Den wird Gott schützen. Ich häng' mich nicht als Stein an ihn, den er nich erschleppen kann.« Krank und verfallen sah sie aus. Lautauf weinte Mutter Hansohm. – Ernstine schritt in die Heide hinaus. Nur Luft wollte sie haben, reine Heideluft für sich und das Werdende. Der Sturm hatte sich gelegt, der Regen war versiegt und Vollmond leuchtete tröstlich am Himmel. Hell schien er auf das nahe Hünengrab unter der uralten Eiche, der einzigen weit herum. Nur bis dorthin wollte sie gehen, es war immer ihr Ziel gewesen, wenn Unrast sie trieb. Hinter ihr kamen Schritte, gleichmäßig tappten sie und schlichen auch wieder leise, als wollten sie nicht gehört werden. Sie drehte sich nicht um. Ein Stoßgebet tat sie: »Herrgott, laß es den ewigen Juden sein, der Rast sucht, aber schick mir nicht den Detleffsen!« Am Hünengrabe löste sie ihr dickes, wollnes Umschlagtuch und legte es auf den Stein. Dann setzte sie sich mit gesenktem Kopf und faltete die Hände. – – –

»Ernstine!«

»Jesus! – Mein! Mein Peter Hartmann!!!«

Und dann wurde es ganz still um sie und zwischen ihnen. Der Schmiedemeister hatte sich neben sie gesetzt und seinen Arm fest um die zitternde Frau gelegt. Erst nach geraumer Zeit bewegten sich seine Lippen. »Du! Du! Ich hab dich wieder!«

»Ja. Hast meinen Brief bekommen? Und deine Schmiede ist tot? Du Armer! Wie magst du trauern!«

»Ja, Ernstine. Das Leid, das ich schluckte, hatte mich krank gemacht, das Glück trieb mich her ...«

»Das Glück? So freust dich, Peter Hartmann?«

Urgewaltig kam ein Laut aus seiner Kehle. Mit starken Armen hob er sein Weib hoch: »So halt ich dich und mein Kind. Und daß du zuerst mit mir um die Schmiede trauerst, zeigt, wie wert du bist.«

Er hatte sie sacht niedergelassen. »Bin ich dir willkommen, mein Liebes? Ich hab dich lange warten lassen ...«

»Beinahe zu lange, Peter Hartmann. Geduldig bin ich nicht. Beinahe hättst du mich nicht mehr vorgefunden.«

»Wie versteh ich das? Ernstine Hartmann wird ihrem Peter nimmer untreu.«

»Also hast mich falsch verstanden. Du scheinst nur mit dem Blut zu rechnen. Das weiß ich schon zu regieren. Aber dein größter Feind ist mein Stolz, Peter Hartmann ... Mein Stolz ist kein Trotz und kein Mißtrauen, du mußt anfangen ihn zu respektieren – Jesus – sonst wird all das wiederkommen, was uns getrennt hat ...«

»Ernstine, es wird nicht wiederkommen.« Er zog sie an sich. »Ich weiß jetzt, was ich beinahe verloren hätte ... Ich hab nach anderm Maßstab gerechnet. Meinte immer, eine Frau sei wie die andere. Und hätte doch nur sinnen müssen, wie ich meine seltene Besondere mir wieder hole.«

»Du bist lieb, mein Peter. Und ich bin voll Glück. Denn ich spür's, du hast den Glauben an mich wiedergefunden – von selbst. Nicht durch Beteuern von mir, nicht durch andere ... Ist's so?«

»Ein kleinwinzig anderes war aber doch Ursach«, lachte er nun glücklich. – »Herrgott, wie das ist, wenn plötzlich so ein Ruf kommt! Durch die Liebste! Die Liebste! Und nun hab ich 'n Erben für meine Schmiede, Ernstine!« – – –

»Still, still, du großer Junge! Was sagst da! Noch is das Lütte nich geboren. – – Außerdem hast du gar keine Schmiede ... Und wenn's 'ne Deern wird?«

»Wird schon nich, wird schon nich! Und ich fang gleich an zu bauen. Denk nur, ich kann den Platz kriegen neben uns. Dicht ans Haus mit den grünen Fensterläden kommt die neue Schmiede. Und der Jung soll Ernst heißen – nach dir, gelt Ernstine?«

Hand in Hand gingen die beiden ins Heidehaus der Hansohms.

»Vater und Mutter«, rief hell der Schmied. »Einmal habt ihr mich warten lassen vor eurer Kammertür. Verschlossen war sie, wie eure Herzen. Aber nun müßt ihr mich reinlassen. Jetzt hab ich 'n Fürsprecher. 'n richtigen kleenen Berliner ...«

»Swiegersähn, verred nix. Er soll irst einer werden. Aber kumm man rin, wi hebben all lang luert up den Vadder von uns' nigen Enkel. –«

Das wurden nun schöne Plauderstunden in dem alten Bauernhof, und die Alten taten ihren Groll ab wie ein lästiges Kleid, und mühten sich in ehrlicher Freude um den stattlichen Schwiegersohn, der ihre Tochter so gütig umhegte. Wie wohl ihnen das sanfte Leuchten in Ernstines Augen tat! Sie wußten, jetzt wurde die Frau gesund, und ein ganz neues Leben würde beginnen.

»Vadder«, sagte Frau Hansohm lebhaft zu ihrem Mann, »wir dürfen ok nich en Spirken mehr gegen den Swiegersähn uptrumpfen. Gut to maken hebbt wi. Hörst? Wi Heidjers sünn ok keen Engels.«

Das war ein starker Ausdruck von der Greisin, und der alte Mann war auch nicht von der Richtigkeit überzeugt. Aber er setzte doch den »Ausländer« wieder in sämtliche Rechte ein.

Schmiedemeister Hartmann kämpfte tapfer gegen die Unrast an, die ihn doch bald in dem dämmerigen Wohnpesel befiel, an dessen niedriger Tür er sich regelmäßig den Kopf stieß, wenn er rasch und lebhaft eintrat. Auch die langatmige Bedächtigkeit in der Sprache der Alten lag seiner Art nicht, und Ernstine fühlte, wie er sobald als möglich nach Berlin zurückverlangte.

»Ja, ja, du Wilder, das soll auch geschehen, aber gelt, das siehst ein, daß ich den Alten nicht gleich aufkündige, sobald sich der Junge nur blicken läßt.«

»Das jeht mir nun jlatt ein, wenn du mich den Jungen nennst bei meinen sechsundfünfzig. Aber dat hilft allens nichts. Ernstine, wann kommst mit?«

Sie wurden der Antwort durch die alten Hansohms selbst enthoben. »Mien Dochter, wann wullt ji reisen? Jetzt bist du 'ne rechte Hartmann, denn du trägst den Erben. Jetzt hörst du nach Berlin. Richt' alles zusammen, wir stören euch nicht. Un mi dücht, zur Tauf kommen wi Olen nach den Moloch angereist – da beißt die Maus kein' Faden ab.«

Lautes Freuen oder gar Zärtlichkeiten sind nicht Heidjerart. »Vadder, dat ward di nich vergeten von üs«, sagte Ernstine mit verhaltener Stimme. Und dann zog der Schmiedemeister sein Weib über die Schwelle in den Grasgarten hinaus und in die weite Heide hinein.

Wie sollte er ihr zart beibringen, was schwer auf seinem Herzen lag; daß ihr verkommener Landsmann, dem sie ja doch wohl einmal auf ihre herbe Art gut gewesen war, und der an dem nun überwundenen schweren Zerwürfnis die Urschuld trug, daß Tetje Detleffsen die Erbschmiede eingeäschert hatte. Man hatte die Beweise und war ihm auf den Fersen.

»Nur Zeit gewinnen«, dachte Peter Hartmann. »Ich grober Schmied bin solch Tolpatsch und kann mit meinem Bericht das größte Unheil an Weib und Kind anrichten.« – »Weißt du, Ernstine«, begann er, – »nur mal aufjauchzen – ganz laut, das muß der Mensch, wenn er aus lauter Bangen in die frohe Gewißheit kommt. Herrgott, wer hätt' gedacht, daß die Alten so verständig sind!«

»So schrei doch nur los, du wunderlicher Mensch«, lachte Ernstine, »in Berlin könntest es nicht, aber die weite Heide kann's vertragen.«

Und nun brach erstmal ein jubelnder Schrei mit elementarer Kraft hervor.

»Jesus!« rief Ernstine unmittelbar danach, denn ein Stein kam irgendwoher geflogen und sauste gerade an der Schläfe des Schmiedemeisters vorbei, schrammte sie und fiel zur Erde.

Peter Hartmann stand verdutzt und fühlte nach seiner Stirn. »Es ist nichts, Ernstine«, sagte er und wischte das Blut ab. In dem Augenblick taumelte er auch, weil ein geschmeidiger Körper an ihm förmlich hinauf lief und ihn durch die Plötzlichkeit zu Fall brachte. Ein Messer blitzte auf, aber die starke Schmiedefaust faßte den Arm des Angreifers mit gewaltigem Griff und lähmte dessen Hand. Das Messer fiel ins Heidekraut. »Festhalten! Festhalten!« rief der Landjäger dem Schmiedemeister zu – »haben wir dich endlich. Brandstifter!«

»Noch nicht«, knirschte Tetje Detleffsen, und biß Peter Hartmann so tierhaft in die rechte Hand, daß dieser mit einem Aufschrei den Angreifer losließ. Und nun begann eine Jagd auf Tod und Leben. Tetje Detleffsen lief trotz seines heruntergekommenen Körpers wie ein gut trainierter Renner, und der stattliche, schon etwas behäbige Schmied hatte Mühe, ihm nachzukommen. Besonders der ungewohnte Heideboden behinderte ihn stark. Denn quer durch die braune Weite ging der Lauf. Der Landjäger war dem Flüchtling schon ziemlich dicht auf den Fersen. Mit einemmal schrie er gellend auf: »Zurück! Das Moor! Das Moor!« Aber Tetje Detleffsen lief eilends weiter. »Du kriegst mich nicht, Landjäger«, keuchte er, »und ich kenn' die Heide besser als du ...« Es war sein letztes Wort. Er kannte wohl doch das tückische Moor nicht gut genug. Er sank. Sank so unheimlich rasch, daß ihm der Landjäger nicht mehr zu Hilfe kommen konnte; obwohl er sich über alle Vorsicht weit hinauswagte und Peter Hartmann ihm wacker beistand.

Erschüttert erhob sich der Schmied vom Erdboden, auf dem er lang ausgestreckt gelegen und versucht hatte, noch die Hand des Versinkenden zu erfassen.

»Herrgott, hilf du ihm!« sagte er laut.

Der Landjäger war heftig erregt. »Gerade an dieser Stelle ist Menschenhilfe umsonst.« Er legte die Hand an die Mütze und Hartmann nahm die seine ab. Ernst standen sich die beiden Männer gegenüber.

»Herr Hartmann, kehren Sie um; Sie bluten heftig. Und wir können hier nichts tun. Dort steht die Hütte der alten Mutter Detleffsen. Will sehen, ob ich ihr die Botschaft verständlich machen kann; sie ist in letzter Zeit wirrer denn je. Der Schuft hat sie auf dem Gewissen. Kommen Sie mit, Herr Hartmann, es ist eine Sache von fünf Minuten. Elend und käseweiß sehen Sie aus. Dort werden Sie sich mal setzen und ausruhen können. Geben Sie mir Ihren Arm, ich führe Sie.«

»Solch Schwächling bin ich nicht«, meinte Hartmann zögernd. »Und ich fürchte, meine Frau ängstigt sich um mich. Sie hat die schreckliche Jagd angesehen, aber nicht den Ausgang.«

»Ich lege Wert auf Ihre Gegenwart«, sagte der Landjäger ernst.

»Das ist etwas anderes.«

Mutter Detleffsen machte einen blöden Eindruck, als sie die beiden empfing. »Hi hi, feine junge Herren kommen zu mir. Ein Prinz und ein Offizier. Aber nich mein Tetje. He kümmt nich to sin Moder.«

Peter Hartmann setzte sich gleich an der Tür auf einen wackligen Stuhl. Tief erschüttert von dem Erlebten.

»Frau Detleffsen, ich bringe schlechte Nachricht, es tut mir aufrichtig leid ... Hören Sie mich auch, Frau Detleffsen?« fragte der Landjäger laut und dringend.

»Ich höre alles, was mir ein hoher Offizier sagt: Schlechte Nachrichten? In meinem Leben hab ich noch keine schlechte Nachricht gehört ... Nur immer Gutes von mein süßen Tetje.«

»Ihr Sohn ist – – Ertrunken ist er, Frau Detleffsen ...«

»Ja, trinken tat er immer gern«, lachte die Alte sorglos. »Die Frau Ernstine Hartmann hat ihn mal geschlagen«, flüsterte sie jetzt zutraulich. »Mitten ins Gesicht. Und hat nichts von ihm wissen wollen mehr, weil er – – na wie so junge Leut sind. Büschen hitzig war er, und sie die herbe Hansohm. Herb wie Schlehen. Den Schlag mußt er vertrinken, sonst hätt' es ihn umgebracht. Aber das ist schon hundert Jahre her. Hundert Jahre hab ich für ihn gelogen. Ümmer so bei klein bracht ich's unter die Leute, lauter schlechts Zeug von der Ernstin. Erstunken und erlogen war alles. Und hier – hier steht die Strafe. Aber ich tat's ja für mein Kind, mein Tetje. Wissen Sie, Herr Prinz, ich bin eine Mutter ...«

Sie riß das alte Gebetbuch vom Sims und schlug es auf. Und wies mit dem dürren Zeigefinger auf die Buchstaben und sprach doch alles auswendig mit heiserer Stimme: »Und Gott wird den züchtigen, der Lug und Schande von seinen Mitmenschen sagt. Amen.«

»Sie haben gemein gehandelt, Frau Detleffsen«, rief der Schmiedemeister entsetzt. Seine Wunde schmerzte erbärmlich, als ob Gift darin wäre, und Herz und Gewissen schlugen ihm heftig.

»Ja, gemein war sie, die Ernstine«, krächzte die Alte. »Wie konnt sie mein klein Tetje slagen. Arm, klein Stackel! Nun hat sie den Schlagetot, den großen. Der kann nimmer so zärtlich sein, wie mein Tetje.«

»Es ist gut, Frau Detleffsen«, sagte der Landjäger, »und Sie wissen nun, daß ihr Tetje tot ist ...«

Die Alte lachte überlaut. »Wie einmal spaßig der Herr Offizier is. Wie oft ham's schon die Leute gesagt: ›Dein Tetje is tot.‹ Weiß schon, er is zu fein für düsse Welt. Aber ümmer rappelt er sich wieder auf. Ja, und nun warte ich, bis er kommt oder schreibt. Wissen Sie, Herr Offizier, ich kann ja nicht eher sterben, ach und wo gern würd ich heimgehn zu meinem guten Mann.«

Sie wimmerte leise. War aber gleich wieder obenauf. »Schönen Dank für die spaßige Nachricht. Junge – Junge, wie wird mein süßen Tetje lachen, wenn er das hört.« Dann kümmerte sie sich nicht mehr um die beiden.

»Da muß der Doktor her und der Pastor«, sagte leise der Landjäger. »Wir beiden haben hier nichts mehr zu suchen.«

Als Peter Hartmann wieder in den Wohnpesel der alten Hansohms trat, fand er seine Ernstine weinend vor. Das war er an der Starken nicht gewohnt. Sie lehnte sich schluchzend an ihn: »Daß du nur wieder da bist! Beinahe gestorben bin ich vor Angst.«

Fest hielt er sie an sich gepreßt. »Heiliger Gott, Ernstine! Du sollst nie wieder über mich weinen! Was bist du für eine Frau! Was hast du gelitten! Und ich hab dich allein gelassen? Hab mich mit meinem blöden, eingebildeten Stolz rumgeschlagen, der keinen Grund hatte. Ernstine, du kannst mir nie vergeben ... Oder du bist'n leibhaftiger Engel ...« Hartmann war außer sich. Sie strich sacht über sein Haar und da berührte sie die blutende Wunde. »Was ist das?« schrie sie auf. »Ein Andenken an Tetje Detleffsen. Er ist tot, Ernstine.«

»So kann er dir nichts mehr tun«, sagte sie schwer atmend. – »Sonst hatte ich Mitleid mit jedem, der durchs dunkle Tor mußte – aber dieser Mensch ..«

»Red' nicht weiter, Tochter«, wehrte Mudder Hansohm. »Nur gute Gedanken darfst jetzt denken, wo du dein Kind trägst. Es ist die einzigst Zeit, da das Weib dem Herrgott ganz nahe ist. Weißt das nicht, Tochter?«

»Ja, ich weiß. Und ich will. – Aber den Detleffsen nicht zu richten, oder ihm gar vergeben zu sollen, ist schwere Forderung ...«

»Hast nicht gehört, daß dich dein Peter einen Engel nannte?«

»Zu Unrecht, zu Unrecht«, wehrte sie hastig. »Ich bin nur eine Heidjerin mit Trotz und Haß im Herzen ...«

»Und viel, viel Liebe«, sagte Peter Hartmann still. Er küßte sie. »Ich will sie verdienen, Ernstine ...«

»Wer ist nun der Engel?« fragte sie. »Und wir reden und reden, aber niemand verbindet deine Wunde ... Um meinetwillen hast sie dir geholt.«

Sie ging an das große »Schapp« und holte altes Leinen, die Mutter zupfte das alte Linnen. Auf weiche Streifen wurde der »Heidjerbalsam« gestrichen. Das ging alles den Frauen rasch von der Hand. Trotz seines Sträubens mußte sich dann der regelrecht Verbundene auf das Kanapee legen. Das Sträuben half auch nichts gegen den Schlaf, der ihn förmlich überfiel. – Draußen ritt der Landjäger vorbei. Er klopfte ans Fenster und winkte die beiden Alten zu sich hinaus. Ernstine blieb und hielt Wache bei ihrem wunden Gatten.


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