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I.
War nicht das ganze Leben Jesu ein Kampf gegen das Formenwesen und gegen die Neigung, in äußerlichen Dingen, in den Zeremonien, überhaupt im Kultischen etwas Verdienstliches zu sehen? Die Auflehnung gegen alle äußere Frömmigkeit, die selbst bei den Propheten des Alten Testaments flammenden Ausdruck erhielt – wie zum Beispiel in Jesajas Worten: »Höret des Herrn Wort – – Neumonde und Sabbate, da ihr zusammenkommt, Frevel und Festfeier mag ich nicht« – erhielt ihre feurige Fortsetzung in Jesu Kampf gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten – alle, die in den äußeren Sitten und Gewohnheiten etwas für die Religion Wichtiges erblickt haben.
Wenn man aber in unserer Zeit von einer Renaissance der Kirche redet, dann versteht man manchmal als ein wichtiges Moment darunter: vermehrte Pracht, erweiterte Zeremonien.
Als der römische Philosoph Celsus sein Buch gegen das Christentum schrieb, warf er unter anderem den Christen vor, daß sie keine Tempel, Altäre oder Bildnisse hätten, ja, daß sie sogar eine Abneigung gegen dergleichen hegten – eine Eigenschaft, die der römische Philosoph für gottlos hielt. Origenes, der einige Jahrzehnte später den Anklagen des Celsus entgegentrat, erhob indes gegen diese Feststellung keinen Einspruch. Origenes gibt ruhig zu, daß die Christen wirklich keine Tempel, Altäre und Bildnisse brauchten. Durch diese Feststellungen des Origenes ist eines unverkennbar deutlich: Selbst zweihundert Jahre nach Jesu Tod war sich die christliche Gemeinde wohl bewußt, daß die Predigten ihres Meisters Ermahnungen waren, eine innere Verbindung mit dem Vater zu suchen, die keine Vorschriften zu äußerlichem Gottesdienst einschließen.
Als die christliche Gemeinde sich zur Staatskirche entwickelt hatte, war sie sich indes bewußt geworden, daß viele Menschen durch äußere Pracht angezogen werden: durch Tempel und Bildnisse, Zeremonien und Prozessionen. Diese Entwicklung war aber nicht ohne Widersprüche vor sich gegangen; wir wissen, daß sich viele von den ersten Christen dem Bau von Kirchen widersetzten. Sie wiesen auf die damit verbundene Gefahr hin; sie sahen voraus, daß die Leute den Kirchenbesuch allmählich für etwas Wesentliches im christlichen Leben halten würden. Wir wissen, diese Befürchtung war nicht grundlos.
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Sogar diejenigen der heutigen Vertreter der Kirche, die zugeben, daß Ritus und Zeremonien von einem rein religiösen Standpunkt aus nicht von Bedeutung seien, erklären doch meistens, äußere Pracht und Zeremonien schadeten wenigstens nichts, denn sie brächten die Leute dazu, an das zu denken, was zur Religion gehört.
Doch, groß ist die Macht der Sprache über die Gedanken! Wenn sich die Menschen an das Wort »Gottesdienst« als den Begriff gewisser regelmäßiger Kulthandlungen gewöhnt haben, dann bilden sie sich ein – wenn auch oft nur in unklarer Weise – daß die Teilnahme an diesem Kult so viel als »Gott dienen« sei.
Im Neuen Testament finden sich zwei ernste Ermahnungen für Gottesdienst. Die eine von ihnen lautet: »Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Türe zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen.« Die zweite ist das Wort des Apostels, der sagt: »Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott dem Vater« sei, »die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt erhalten«. Diese Ermahnungen schließen Versammlungen zu allgemeiner Erbauung nicht aus. Aber die Kirche hat in verhängnisvoller Weise die Wichtigkeit solcher Versammlungen übertrieben.
Viele Menschen sind von einem unausrottbaren Verlangen besessen, kürzere Wege zu suchen, wenn der rechte Weg lang und schwierig scheint. Und der Weg der Reue und inneren Vertiefung ist schwierig und lang; aber zur Kirche oder Kapelle zu gehen, ist verhältnismäßig leicht. Sobald also die Geistlichen Kultus und Zeremonien für sehr wichtig erklären, sind die Leute versucht, ein Ersatzmittel da zu finden für den wahren Gottesdienst, der darin besteht: In unserem innersten Wesen den Weg zur Gottheit zu suchen, um von ihr Kraft zu erlangen, das Rechte zu tun.
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Es ist nicht nur der Katholizismus, der dem Kultus und den Zeremonien eine übertriebene Wichtigkeit beigemessen hat. Lange Zeit hindurch pflegten die protestantischen Kirchen solche Menschen, die dem Gottesdienst nicht regelmäßig anwohnten, mit Gefängnis oder körperlichen Züchtigungen zu bestrafen. Leute, die sechs Tage der Woche hart gearbeitet hatten, konnten also, wenn sie weit weg von der Kirche wohnten, nicht einmal am siebenten Tage der Ruhe pflegen.
Ganz langsam, Schritt für Schritt, hat die Kirche dieses Verfahren, die Leute zu zwingen, in die Kirche zu gehen, aufgeben müssen. Aber die Idee, daß äußerliche Dinge das geistliche Leben der Menschen beeinflussen können, hat sie durchaus nicht aufgegeben, was sich am besten darin zeigt, daß sie noch immer die sogenannten Sakramente: die Taufe und das heilige Abendmahl, als notwendige »Mittel zur Seligkeit« bezeichnet. Das Evangelium stellt fest, daß Jesus niemals taufte. Und er widersprach dem Begriff seiner Zeit, daß, »was durch den Mund eingeht«, für das geistliche Leben des Menschen irgendwie von Wichtigkeit sei. Aber die Kirche, die sich nach ihm nennt, erklärt sowohl Taufe als auch mit gewissen Zeremonien Brot essen und Wein trinken für notwendig zur ewigen Seligkeit.
In der oben erwähnten Abhandlung von Celsus gegen das Christentum lobt dieser römische Philosoph die Mysterien der griechisch-römischen Religion. Er deutet darauf hin, wie durch diese Mysterien die Seele Kraft und Trost erlange und der Kraft Gottes teilhaftig werde. Er hält daran fest, daß der Christenheit etwas Gleichwertiges dieser Art fehle. Origenes, der dem Celsus zugab, daß die Christen weder Tempel noch Altäre besäßen, stellt aber in seiner Erwiderung fest, daß seine Glaubensgenossen doch etwas den Mysterien der Heiden Entsprechendes besäßen, nämlich das Sakrament des heiligen Abendmahls.
II.
Die letzte Mahlzeit, an der Jesus teilnahm, war die Feier, die die Juden zum Andenken an ihre Flucht aus Ägypten eingeführt hatten. Er, dessen Lebenswerk es war, die Menschheit von schlimmeren Fesseln, als die der Knechtschaft in Ägypten zu befreien, sagt bei dieser letzten Mahlzeit zu seinen Jüngern, daß sie an ihn denken sollten, so oft sie hernach dieses Mahl feierten.
Oder meinte er: so oft sie zusammen zu Abend aßen? In dem Text ist das nicht ganz klar. Jedenfalls wäre es erklärlich, wenn schon bald nachher die Jünger die Gewohnheit angenommen hätten, auch bei jedem Abendessen einander gegenseitig an jene Worte zu erinnern, die der Herr bei dem letzten Mahle zu ihnen gesprochen hatte – obgleich keine solchen Hinweise in der Apostelgeschichte oder in den anderen Schriften des Neuen Testaments zu finden sind. Wenn nicht möglicherweise ein Ausdruck in Apostelgesch. 2, 46 so aufgefaßt werden sollte: »Und sie waren täglich und stets beieinander – – und brachen das Brot hin und her in den Häusern.«
In allen drei synoptischen Evangelien gibt es – auch in dem, was nachfolgt – Worte, die darauf hinweisen, daß das heilige Abendmahl als ein Erinnerungsmahl zu betrachten sei. So in Matthäi 26, 29: »Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, da ich's neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.« Bei Markus und Lukas finden sich fast buchstäblich dieselben Worte.
Aber neben diesem Begriff einer Gedächtnisfeier zeigt sich da auch noch ein anderer Gedankengang, der sich in den Worten ausspricht: »Nehmet, esset, das ist mein Leib. – Trinket alle daraus, das ist mein Blut.«
Im vierten Evangelium, in der Erzählung von der letzten Nacht Jesu, wird der Einsegnung des heiligen Abendmahls gar keiner Erwähnung getan; in einem vorhergehenden Kapitel aber (6, 51-56) ist berichtet, daß Jesus in der Synagoge zu Kapernaum predigte: »Ich bin das lebendige Brot vom Himmel kommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt … Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohns, und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben. Denn mein Fleisch ist die rechte Speise und mein Blut ist der rechte Trank. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm. Wie mich gesandt hat der lebendige Vater, und ich lebe um des Vaters willen, also wer mich isset, derselbige wird auch leben um meinetwillen.«
Es wäre schwer, leugnen zu wollen, daß dies symbolisch gesprochen ist, besonders da es eine wohlbekannte Tatsache ist, daß im Orient, wo eine symbolische Sprache sehr häufig ist, die Verbindung eines Jüngers mit den Lehrsätzen seines Lehrers oft mit einem Essen verglichen wird. Denn wie der Leib durch das ernährt wird, was er ißt, so wird der Geist des Jüngers durch den Unterricht, den er erhält, genährt. Manchmal scheint auch »essen« symbolisch zu bedeuten: sich nahe halten, wie im 1. Buch Mose gezeigt ist, wo die Verdammung der Schlange kundgegeben wird: »Erde sollst du essen«. Man kann sich kaum denken, daß die alten Hebräer in Beziehung auf die Natur und die Gewohnheiten der Tiere in ihrem Lande so unwissend gewesen wären, um wörtlich zu glauben, daß die Schlangen Erde äßen. Es gibt eine bekannte, in den Ruinen von Babylon gefundene alte Einritzung, die auf eine der Geschichten im 1. Buch Mose entsprechende Mythe hinzuzielen scheint, auf der eine auf ihrem Schwanz stehende Schlange dargestellt ist; es kann sein, daß man glaubte, diese Stellung der Cobra (oder der Uräus-Schlange der Ägypter), wenn sie angreift, sei für alle Schlangen die ursprünglich natürliche, bis sie als eine Strafe für irgend ein Verbrechen verurteilt worden seien, auf der Erde zu kriechen.
Die merkwürdige Tatsache nun, daß im vierten Evangelium diese Vorschriften Jesu, die die Einsetzung des Sakraments enthalten, nicht genannt sind, wird meistens als eine natürliche Folge erklärt, weil dieses Evangelium als eine Vervollständigung der drei ersten geschrieben worden sei. Gewiß ist kein Grund vorhanden, an der von Eusebius berichteten alten Überlieferung in Beziehung auf den Ursprung des vierten Evangeliums zu zweifeln: daß nämlich Johannes Markus' Erzählung des Lebens Jesu nicht befriedigend gefunden habe. Aber wenn man das Johannesevangelium auch hauptsächlich als eine Vervollständigung der synoptischen Evangelien betrachtet, so sind doch mehrere Stellen da, die zeigen, daß der Autor – oder die Autoren – nicht zögerten, Ereignisse und Aussprüche, die von den Synoptikern schon berichtet worden waren, zu wiederholen, wenn es als notwendig erachtet wurde, um das Bild des Menschensohnes lebendig zu machen. Und wenn Jesus wirklich in seiner letzten Nacht auf der Erde einen geheimnisvollen Akt von so großer Wichtigkeit für die Menschheit, wie die Kirche ihn haben möchte, einsetzte, wer hätte wohl eifriger gewesen sein sollen, davon zu berichten und Nachdruck darauf zu legen, als Johannes, der mystisch empfindende Inspirator des vierten Evangeliums?
Man mag einwenden: Dieselben Worte, die Jesus in der Synagoge zu Kapernaum gesprochen hat, können in der Nacht beim Abendmahl wiederholt worden sein; da aber das vierte Evangelium sie schon im sechsten Kapitel anführt, ist es ganz verständlich, daß es der Verfasser des Evangeliums nicht für nötig hielt, sie im dreizehnten Kapitel zu wiederholen. Gut, es ist indes eine Tatsache, daß niemals ein Autor weniger abgeneigt war, seine eigenen Worte zu wiederholen, als der Autor des vierten Evangeliums, was besonders im 14.-17. Kapitel in die Augen fallend ist. In der Tat, die Hypothese, daß das vierte Evangelium seinen Ursprung in der Verschmelzung von Aufzeichnungen einiger Jünger des Johannes hat, hat keine bessere Unterstützung als in jenen Kapiteln, wo das vierzehnte endigt mit: »Stehet auf und lasset uns von hinnen gehen!«, während das fünfzehnte, sechzehnte und siebzehnte trotzdem mit Jesu Abschiedsreden fortfahren. Wenn es verschiedene von einigen Jüngern des Johannes stammende Niederschriften gab, deren Berichte die letzten Ereignisse und die letzten Reden Jesu wiedergaben, dann ist es ganz begreiflich, daß bei der Verschmelzung dieser Schriften die Leute nicht gerne irgend etwas auslassen wollten, – selbst offenkundige Wiederholungen und ebenso offenkundig abweichende Zeitangaben – in Anbetracht der Wichtigkeit dieser Ereignisse und dieser Aussprüche.
Angesichts dieser Bereitschaft zu wiederholen, sowie dem augenscheinlichen Eifer, in dem Bericht über die letzte Nacht alles Wichtige festzuhalten, scheint die Tatsache, daß im vierten Evangelium der Bericht über das letzte Mahl und die Reden dabei ausgelassen sind, während dieselben Worte, als schon früher in der Synagoge zu Kapernaum gesprochen, angeführt sind, die Absicht anzudeuten, die Erzählung der Synoptiker zu berichtigen.
Oder kann es sein, daß zu der Zeit, wo das vierte Evangelium geschrieben wurde, diese Dinge in den synoptischen Evangelien noch nicht standen? Auch wenn die synoptischen Evangelien alle aus dem ersten Jahrhundert stammen – wie moderne Bibelforscher zu glauben geneigt sind – so existiert doch keine Abschrift von ihnen, die vor dem vierten Jahrhundert gemacht worden wäre, und wir wissen durch das, was Eusebius den Papias sagen läßt, – und auch, wie schon hervorgehoben wurde, durch das, was Hieronymus schreibt – daß es nicht wenige Abweichungen zwischen den verschiedenen Abschriften der biblischen Bücher gab. Vielleicht wurden die oben zitierten Aussprüche im sechsten Kapitel des vierten Evangeliums später in die synoptischen Evangelien aufgenommen, weil diese Worte für die Erzählung von dem heiligen Abendmahl besonders zutreffend schienen?
Harnack hat zwei Tatsachen hervorgehoben:
1. daß die Gnostiker die ersten waren, die die große Wichtigkeit des heiligen Abendmahls nachdrücklich geltend machten, indem sie behaupteten, daß den Teilnehmern daran ganz besonders wertvolle geistige Gaben zuteil würden, und
2. daß die Entwicklung der Idee von dem Sakrament durch heidnische religiöse Mysterien bedeutend beeinflußt worden sei.
In der Regel waren die Gnostiker, ehe sie Anhänger des Christentums wurden, Schüler der griechischen Philosophie und auch in gewisse Mysterien eingeweiht: in die Eleusischen oder die der Isis, des Mithra oder der Kybele. In diesen Mysterien wurden den Anbetern des Gottes heilige Mahlzeiten angeboten mit der Versicherung, daß ihnen dadurch der Leib des Gottes gegeben werde und daß sie durch dieses Essen Teilnehmer seiner Kraft, ja seines Lebens selbst würden, indem ihnen sogar Unsterblichkeit verliehen werde. Kein Wunder, wenn für die Gnostiker Hinweise auf ein heiliges Mahl, die sich in den Evangelien finden könnten, ganz besonders wichtig schienen. Vielleicht sind es Gnostiker gewesen, die sich eine Einfügung wie die eben angedeutete –, nämlich einige Verse aus dem sechsten Kapitel des vierten Evangeliums in die synoptischen Evangelien einzuschieben – unternommen haben.
Nun, die in Frage stehenden Worte, wie sie in der Synagoge zu Kapernaum gesprochen wurden, könnten sehr gut als symbolische erklärt werden; aber in einer solchen Verbindung wie in der Erzählung der Synoptiker – d. h. bei Gelegenheit einer wirklichen Mahlzeit und mit dem Ausspruch: » Das ist mein Leib, das ist mein Blut« – ist es unleugbar schwierig, solch eine Auslegung festzuhalten. Deshalb ist die oben dargestellte Hypothese – daß Verse vom sechsten Kapitel Johannes in die synoptischen Evangelien eingefügt worden seien, gerechtfertigt Es müßte hinzugefügt werden, daß eine gewisse Stütze für die Theorie von einer Einfügung in der Tatsache liegt, daß Lukas im zweiundzwanzigsten Kapitel zweimal vom Trinken des Weins spricht, nämlich zuerst im siebzehnten Vers: »Und er nahm den Kelch, dankte und sprach: Nehmet denselbigen und teilet ihn unter euch« (worauf im achtzehnten Vers der oben angeführte Ausspruch kommt, daß er nicht mehr trinken werde »von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes komme«), dann im zwanzigsten Vers: »desselbigengleichen auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach: Das ist der Kelch, das Neue Testament in meinem Blut, das für euch vergossen wird«., ja notwendig, durch die Tatsache, daß sonst ein auffallender Widerspruch zwischen zwei Worten Christi da wäre: nämlich 1. jenem Ausspruch, was durch den Mund eingehe, sei für das geistige Leben eines Menschen von keiner Bedeutung, und 2. der Aufrechterhaltung der großen Wichtigkeit des Essens und Trinkens in einem heiligen Mahle.
Wenn wir zu wählen haben zwischen zwei offenkundig einander widersprechenden Aussprüchen, die als von Jesu gesprochen festgehalten werden, dann ist es unser Recht und unsere Pflicht, zu fragen, welcher von ihnen mit seinem Geist und seiner Lehre mehr übereinstimme. In diesem Fall würde es zweifellos der sein, der die Möglichkeit, daß Essen und Trinken einen Einfluß auf das geistige Leben eines Menschen habe, ablehnt.
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Wenn wir sehen, mit welcher Überlegenheit Celsus dem Christentum seinen Mangel an Mysterien vorwirft; wenn wir sehen, mit welchem Eifer Origenes feststellt, daß die christliche Religion solcher nicht ermangelte, dann erhebt sich unwillkürlich der Gedanke, daß es sich hier um einen Fall von Ursache und Wirkung handelt. Da Griechen und Römer und Orientalen alle miteinander die Mysterien rühmten, von denen angenommen wurde, daß sie nach dem Tode ewige Seligkeit verleihen, mag dieses Rühmen die Christen allmählich dazu gebracht haben, dem Abendmahl immer größere Wichtigkeit beizulegen.
Es soll nicht geleugnet werden, daß ein symbolischer Akt fähig sein kann, Hingebung zu entzünden. Aber durch das Bestreben, ein Gedächtnismahl in etwas zu verwandeln, von dem man nicht glauben kann, daß Christus selbst darauf hingezielt habe, hat die Kirche für viele denkende Persönlichkeiten es unmöglich gemacht, an dem Sakrament teilzunehmen, weil es ihnen vorkäme, als ob eine solche Teilnahme Ansichten gutzuheißen bedeute, die sowohl dem menschlichen Verstand als auch dem Geist Christi fremd sind.
Und sicherlich hat die kirchliche Idee von dem heiligen Abendmahl mit seinem Anflug von Magie zu der Entfremdung moderner Menschen von der christlichen Religion beigetragen.
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Im vierten Jahrhundert schrieb Bischof Gregorius von Nyssa, er sei überzeugt, beim heiligen Abendmahl den »wirklichen Leib Jesu, seine Muskeln und Sehnen, ja sogar sein blondes Haar mit seinen Zähnen zu zerkauen und zu essen«. Einige Jahrhunderte später wurde ein französischer Bischof wegen seiner Weigerung, ähnliche Ausdrücke für das Geheimnis des heiligen Abendmahls anzuerkennen, als Ketzer verdammt.
Als Luther, im Gegensatz zu Zwingli und Calvin, daran festhielt, daß im heiligen Abendmahl das Brot den Leib Christi nicht allein meine, sondern wirklich sei, stimmte er tatsächlich mit der Ansicht des Bischofs Gregorius von Nyssa überein, selbst wenn er gezögert hätte, solche anstößige Ausdrücke wie jener zu gebrauchen.
I.
»Nie war eine Veränderung in der Kirche größer, als diejenige, welche Bischöfe und Älteste in Priester verwandelte,« schrieb Harnack in seiner großen Dogmengeschichte.
Und der gelehrte Kirchenhistoriker hebt hervor, wie für die ältere Christengemeinde die Worte des Apostels – daß sie ein »Priestervolk« sein sollten – buchstäbliche Wahrheit waren. Für jeden war Gott der Vater, für jeden war Christus der Heiland: man brauchte keine Priester als Vermittler zwischen Gott und der Gemeinde. Die Ältesten überwachten die Ordnung und die Disziplin, und die Aufgabe des Bischofs war ungefähr dieselbe wie die eines Diakonus, das heißt, er verwaltete das Gemeindevermögen und teilte an die Armen Almosen aus.
»Bis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts kann es (innerhalb der Christengemeinde) kaum einen Priester gegeben haben, denn es gab noch keine Altäre.« (Harnack.) Denn »Priestertum und Opfer bedingen sich gegenseitig«.
Groß und heilig ist ursprünglich der Gedanke des Opferbringens. Der Wille, sich für das allgemeine Gute aufzuopfern – für das Wohl und die Freude der andern das, was man an Wert besitzt, hinzugeben – dies ist die Krone aller Charakterentwicklung, das Ziel, dem unsere innere Sehnsucht zustrebt, das, wenn erreicht, die tiefe innere Harmonie verleiht, die Glück ist, ja mehr als Glück.
In den meisten Religionen aber wurde die Idee des Opferns zu einer Vorstellung, daß Gott – oder die Götter – ihre Freude an dem Geruch von Blut fanden, sowie an dem des Fleisches, das auf dem Altar verbrannte. Auch in Religionen von erhabenem Charakter schlich sich etwas von jener Vorstellung ein. So in die jüdische Religion. Im Buch der Richter, in der alten Geschichte über Micha, seinen Hausgötzen und seinen Leviten haben wir vielleicht den ältesten Bericht von jüdischen Riten und Opfern. Und es verrät sich da deutlich jene Auffassung von Religion als Magie, von der ein alter hellenischer Schauspieldichter, Menandros, spöttisch sagt:
»Und wenn der Mensch durch Cymbaltöne
Kann rufen einen Gott, wohin er will,
Dann ist der Mensch doch größer als der Gott.«
Ein jüdischer Gelehrter, der Rabbi Klein, hat es indes hervorgehoben, daß auch im Judentum die Priesterschaft keine ursprüngliche Einrichtung gewesen sei. Im zweiten Buch Mose 19, 6 sagt Mose zu dem Volke, daß sie »ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk« seien. »Priestertum und Opfer,« schreibt Klein, »erstanden aber unter den Juden als eine Folge der Berührung mit den Heiden, zuerst in Kanaan und dann in Babylon.«
Die hebräischen Propheten kämpften energisch gegen das Opferwesen; sie wurden auch meistens von den Priestern als Feinde betrachtet.
Christus führt die Worte des Propheten Hosea an: »Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer«; seine ablehnende Stellung gegen Opferwesen wie gegen jede Art von Formwesen ist ganz klar. Und die Einfachheit des ersten christlichen Kultus wird durch einen Bericht in Plinius' Briefen (im zweiten Jahrhundert) bezeugt.
Als aber der Kultus sich entwickelte und das heilige Abendmahl als eine Opfertat betrachtet wurde, in der sich der Opfertod Christi stets wiederholt, entstand auch unter den Christen ein Volk des Kultus. Die Ältesten, die Presbyter, wurden zu Priestern. Und die Bischöfe, deren Macht und Autorität immer größer geworden waren, wurden die Vorgesetzten der Priester.
»Gott ernennt die Bischöfe; deshalb ist es Gotteslästerung, Bischöfe zu tadeln,« schrieb Cyprianus im dritten Jahrhundert.
Die hierarchische Auffassung wurde zwar von Luther energisch bekämpft. In den Kirchen aber, die sich nach ihm nennen, ist jene Auffassung nicht ausgeschlossen.
Bis zum heutigen Tage wird, auch in protestantischen Kirchen, gepredigt, daß der Geistliche der Vermittler zwischen Gott und dem Menschen sei, daß seine Hand, auf das Haupt eines Menschen gelegt, den Heiligen Geist mitteile, und daß seine Worte die Macht hätten, Sündenvergebung zu gewähren, die auch im Himmel gültig sei. Vieles, was im Neuen Testament steht, wird kaum je von den Geistlichen angeführt, manche aber halten sich eifrig an die Worte über »Lösen von Sünden oder Behalten von Sünden«, die sicherlich erst später in das Evangelium eingefügt wurden, da sie in so sichtlichem Gegensatz zu der ganzen Lehre Christi stehen. Und es ist kühn, daran festzuhalten, daß das, was Jesus zu seinen Aposteln gesagt haben mag, auch für alle die Millionen von Geistlichen gelten sollte, die seitdem in den christlichen Kirchen gewirkt haben.
Das Gefühl von Macht ist für die meisten Menschen eine große Gefahr. Die Weltgeschichte lehrt es uns und zeigt es an vielen Beispielen. Die Überzeugung, kraft seines Amtes berufen zu sein, das Schicksal einer menschlichen Seele bis in die Ewigkeit bestimmen zu können, ist sicherlich in geistiger Hinsicht nicht vom Guten.
Vermutlich glauben sich auch die meisten Geistlichen in ihrem Innern gar nicht im Besitz einer solchen Autorität; doch gibt es gewiß auch solche, die es glauben. Und sie sind oft die lautesten auf dem Feld der Kirchenpolitik.
II.
Immerhin, da die Unterschiede in der Entwicklung der Menschen sehr groß sind, ist es notwendig und natürlich, daß auf jedem Feld die Fortgeschritteneren die lehren, die noch nicht so weit gekommen sind. Demzufolge ist es nicht unnotwendig, daß einige Menschen sich der Aufgabe widmen, ihre Mitmenschen auf dem religiösen Gebiet zu unterrichten und ihnen weiter zu helfen; auch muß es als natürlich betrachtet werden, daß solche Lehrer sich durch ihre Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Aber drei Dinge sind es, die die kirchliche Organisation, so wie sie jetzt in den meisten Ländern ist, in religiöser Hinsicht recht ungeeignet machen.
Erstens: das Recht, ein öffentlicher Verkünder Christi zu werden, wird fast ausschließlich durch das Studium für das Examen, also durch die Bekundung reiner Gedächtnisarbeit, erworben.
Kenntnisse sind zwar etwas Gutes, aber die wichtigste Erkenntnis wird nicht aus Büchern gewonnen, sie zeigt sich nicht in Prüfungen. Und Wissen ist in geistiger Hinsicht von wenig Wert, wenn es nicht mit Charaktereigenschaften verbunden ist, die nicht durch Examen offenbar werden können.
Zweitens: Wer immer das geistliche Gewand wählt, ist in der Regel für den Rest seines Lebens daran gebunden.
Theoretisch hat natürlich jeder Geistliche das Recht, auf sein Amt zu verzichten, falls er selbst sich ungeeignet für dieses Amt fühlt, oder falls seine Ansichten sich so geändert haben, daß er nicht mehr an das glaubt, was er zu predigen auf sich genommen hat. Aber in Wirklichkeit ist es in den meisten Fällen aus ökonomischen Gründen unmöglich für ihn, eine Änderung eintreten zu lassen. Auch wegen der Entrüstung, die ein solcher Schritt unter seinen Mitgeistlichen hervorrufen würde.
Ebensowenig kann eine Gemeinde einen Geistlichen, wenn er sich als untauglich erweist, loswerden, es sei denn, daß er sich irgendeinen groben Fehler würde zuschulden kommen lassen.
Drittens: Infolge der eben angeführten Verhältnisse – daß der Eintritt in das geistliche Amt durch das Tor der Examen geht, und der Austritt gewöhnlich durch den Tod – bildet die Geistlichkeit eine geschlossene Gesellschaft, die in der Regel von jenem »esprit de Corps« regiert wird, der in jedem Korps vorherrschend ist. Solch ein Korpsgeist neigt bekanntermaßen dazu, die Korpsmitglieder neuen Ideen gegenüber feindselig zu stimmen; er macht sie allem dem gegenüber wohlwollend gesinnt, was für den äußeren Nimbus und die ökonomischen Verhältnisse des Korps vorteilhaft ist. Die Gefahr der Übertreibung ist bei einem solchen Korpsgeist noch größer, wenn die Mitglieder die Idee nähren, daß sie, kraft ihres Amtes eine Art Heiligkeit besitzen, und der Nachteil dieses Geistes wird noch ernster, wenn es sich um Ideen handelt, die von größter Wichtigkeit für die Menschheit sind. Denn die Belange des Korps werden in der Tat sehr leicht mit den Belangen der Religion vermischt.
*
Es ist bisweilen darauf hingewiesen worden, daß in Wirklichkeit die Engherzigkeit und die Intoleranz in den freien Kirchen oft viel größer sind als in den Staatskirchen. Wenn der Prediger der freien Kirche Ansichten kundgibt, die den von der Gemeinde angenommenen entgegen sind, wird er in den meisten Fällen entlassen, während ein Prediger der Staatskirche, der das Dogma kritisiert, gewöhnlich seiner Stelle nicht verlustig geht.
Aber wodurch werden die freien Kirchen engherzig, wenn nicht dadurch, daß sie von der ganzen Auffassung, wie sie von der Staatskirche allmählich herausgearbeitet worden ist, beeinflußt sind? Wenn eine Frei-Kirchenbewegung jung und tatkräftig ist, steht sie in der Regel in bezug auf die Orthodoxie nicht ängstlich auf der Wacht. Wenn sie dann späterhin erstarrt und sogar noch dogmatischer wird als die Staatskirche, so kommt es daher, daß ihre Führer und Anhänger nicht weitblickend genug gewesen sind: sie erhoben Einwände gegen gewisse Züge in der Staatskirche, erkannten aber nicht, wie vollständig das Christi Geist entgegen ist in bezug auf Dinge, die zu schwierig sind, um endgültig vom menschlichen Verstand erfaßt zu werden, ein Bekenntnis zu verlangen.
Gewissermaßen muß es indes bei den Sekten – oder wenigstens bei einigen von ihnen – als ein Vorteil betrachtet werden, daß sie ihre Prediger nicht hauptsächlich in Rücksicht auf das Examenszeugnis wählen.
Jedenfalls aber würden alle beide, die Staatskirchen und die Sekten, gut daran tun, einige Hinweise des Neuen Testaments betreffend Versammlungen zu gegenseitiger Erbauung zu beachten. Wie sowohl in den Evangelien als auch in der Apostelgeschichte dargetan ist, waren Laien berechtigt – ja eingeladen – in den jüdischen Synagogen zu reden. Ebenso erfahren wir aus den Briefen des Apostels Paulus, daß in den ersten christlichen Gemeinden jedes Mitglied, wenn es sich veranlaßt fühlte, in einer Versammlung zu reden, das Recht dazu hatte, es zu tun. Diese Gewohnheit hatte allerdings auch ihre Nachteile, wie aus einigen Ermahnungen des Apostels Paulus zu ersehen ist; dasselbe ist auch in gewissen Sekten der Gegenwart, die diese Gewohnheit pflegen, festgestellt worden. Immer besteht dabei die Gefahr, daß die Leute einen plötzlichen Drang, zu reden, für eine göttliche Eingebung halten. Und meistens werden Leute, die jeglicher Selbstkritik bar sind, die eifrigsten Sprecher sein. Wie es aber auch immer in den ersten Gemeinden gewesen sein mag – und wie es vielleicht in Zukunft der Fall sein kann – offenbar finden sich heutzutage selten solche, die ohne Vorbereitung sprechen können, aber trotzdem etwas Wertvolles zutage fördern. Zweifellos gibt es indes Laien, die, wenn ihnen Zeit zur Vorbereitung gegeben wird, fähig sind, ab und zu ihren Mitmenschen etwas wirklich Wertvolles zu bieten. Eine größere Bereitwilligkeit, solche Laien anzunehmen, würde ohne Zweifel ein entschiedener Gewinn für die Kirchen und für die Sekten sein.
Es könnte immerhin sein, daß es bald nicht mehr nötig sein wird, zwischen dem System der Staatskirche und der Freikirche zu wählen.
Man kann sich gegen die Staatskirche ziemlich kritisch verhalten und doch die Kirchen lieben – das heißt die Gebäude aus Stein und Holz, die als eine Heimat für das ewige Sehnen des menschlichen Herzens errichtet wurden und die symbolisch die alte Ermahnung ausdrücken: »Die Herzen empor!«
Welche Schönheit liegt nicht in dem einfachsten ungeschmückten Tempel nur dadurch, daß Raum über uns ist. Wir sind gewohnt, in Zimmern zu leben, wo die Decke nur in einer kleinen Entfernung über unserem Kopf ist – ohne Zweifel eine für unser tägliches Leben praktische Einrichtung. Aber wenn wir in hohe Kirchengewölbe treten, dann werden wir daran erinnert, daß es eine höhere Luft gibt als die des täglichen Lebens, einen Raum jenseits des alltäglichen Denkens und Sorgens. Welche edle Schönheit liegt manchmal schon in den bogenförmigen Fenstern! Welch wundervolle Abstufungen in den alten Kreuzgewölben, wo der weiße Verputz allmählich nachgedunkelt ist.
»Gotteshäuser« werden die Kirchen genannt. Wie bedauerlich ist es aber, daß seit langem das Eine vergessen worden ist, daß so, wie der ewige Vater immer bereit ist, auf das Rufen der Menschen zu hören, so sollten auch die ihm errichteten Gebäude immer bereit sein, solche Menschen aufzunehmen, die sich nach Ruhe und einer erhabenen Schönheit sehnen.
Von Zeit zu Zeit ist über die Frage verhandelt worden: Warum sind die protestantischen Kirchen meistens geschlossen, ausgenommen bei den sogenannten Gottesdiensten? Die Antwort lautete immer: »Es ist eine Geldfrage. Wenn sie offen stehen, müssen sie warm gehalten und Leute angestellt werden, die die Besucher im Auge behalten.«
Aber es scheint doch sonst dem Kirchenvolk nicht besonders schwer zu fallen, das Geld zusammenzubringen für eine Sache, die ihnen am Herzen liegt. Wahrscheinlich ist die Geistlichkeit in dieser Beziehung nicht sehr eifrig gewesen. Die Ansicht, die in jenem Lager sehr oft vorherrscht, wird durch den folgenden Ausspruch bei einer öffentlichen Verhandlung gezeigt: »Es wäre möglich, daß die Kirchen dann als ›,Wärmestuben‹, benützt würden.«
Also, wenn ein armer, frierender Bettler in eine Kirche träte, nur um ein wenig Wärme in seinen erstarrenden Körper zu bekommen, so müßte dies als Entweihung betrachtet werden! Allerdings hat der Menschensohn unter den Taten, die den Barmherzigen sein Reich öffnen werden, nicht besonders »zu wärmen, die da frieren« genannt, denn er lebte in einem Klima, wo der Winterfrost nie so lange dauert, noch so streng ist, daß er als eines der großen Drangsale des Lebens betrachtet werde. Wenn er aber in einem nördlicheren Lande gelebt hätte, wo die Kälte ebenso schlimm sein kann wie der Hunger, hätte er vielleicht hinzugefügt: »Ich fror, und ihr habt mich nicht gewärmt.«
Man darf immerhin hoffen, daß eine Zeit kommt, wo die Kirchen eine bessere Verwendung haben als jetzt, dadurch, daß sie den ganzen Tag hindurch offenstehen, anstatt – wie es jetzt meist der Fall ist – nur einige Stunden des Tages, in denen sie von den meisten hart arbeitenden Menschen gar nicht besucht werden können. Nein, sie werden für alle offen stehen, die hineingehen wollen, sei es, um Wärme für den Leib oder Stille für die Seele zu suchen.
Du, der du verhältnismäßig wohlgestellt bist im Leben, hast du es je versucht, zu verstehen, was es heißt, ein Arbeiter zu sein, der den größten Teil des Tages in einer Fabrik mit rasselnden, dröhnenden Maschinen eingesperrt ist und nach der Tagesarbeit in eine Wohnung von ein oder zwei Zimmern zurückkehrt, wo sich vielleicht ein halbes Dutzend lärmender Kinder herumtummelt? Nicht einen Winkel haben, wo er Ruhe und Stille fände … Kannst du dir denken, was es für so einen Menschen bedeuten würde, einen Ort zu wissen, wo ihm Stille und Frieden geboten sind? Und obgleich wir hoffen, daß die Wohnungsverhältnisse des arbeitenden Volkes mit der Zeit verbessert werden, so wird es noch lange dauern, bis sie so geworden sind, daß sie einem müden Familienvater und einer abgearbeiteten Hausmutter in ihrem Heim einen Platz für die ersehnte Ruhe bieten.
Ich träume von einer Zukunft, wo die Gotteshäuser immer offen stehen:
Es ist Abend und es dämmert. Wir treten in eine Kirche. In der Mitte des Chors verbreitet eine Lampe einen milden Schein, dessen Farbe allein schon ein Gefühl des Ausruhens verleiht. In den Kirchenstühlen brennt da und dort auch eine Lampe; wer lesen will, setzt sich in eine dieser erleuchteten Bänke. Ich sehe jemand, der eben ein Buch aus seiner Tasche gezogen hat. Aber ab und zu läßt er es doch sinken, um auf die Stille ringsum zu lauschen.
Jemand tritt ein. Rasch tritt er zu dem Kirchendiener, der am Haupteingang sitzt. Er flüstert ein paar Worte und erhält ein zustimmendes Kopfnicken. Nun eilt er zur Orgel hinauf. Horch! Gewaltige Töne wie ferner Donner erfüllen die Kirche. Und dann – mit plötzlichem Übergang – werden sie weich und flüsternd wie das Säuseln des Windes im Sommerlaub, wie der Traum des Herzens in einem Augenblick überirdischer Wonne.
Hast du beobachtet, wie viel stärker eine Musik auf dich wirkt, wenn sie ganz unerwartet auf dich eindringt? Hier, wo sie wie eine himmlische Gabe über uns kommt, umwogt sie uns wie eine Sturmflut der Schönheit, selbst wenn der Ausübende – der junge Mann, der vorhin, als er auf der Straße ging, von dem plötzlichen Wunsche erfaßt wurde, lauschenden Seelen von der Musik mitzuteilen, die in ihm lebt – kein großer Künstler genannt werden könnte.
Jetzt hat er geendigt. Wieder herrscht Stille. Denn eine der wenigen Vorschriften, die es hier gibt, verbietet das Sprechen in der Kirche, ebenso wie im Lesezimmer einer Bibliothek. Es gibt so viele Orte, wo man sich unterhalten kann; hier aber ist der Ort, wohin man geht, um allein mit seiner Seele zu sein.
Jetzt tritt ein anderer auf und liest etwas vor. Vielleicht etwas aus den Schriften der großen Denker, vielleicht ein Gedicht, das ihm einen tiefen Eindruck gemacht hat.
Manchmal wird ein Vortrag gehalten. In diesen Vorträgen können verschiedene Fragen behandelt werden – kein Stoff ist verboten, ausgenommen solcher, gegen den sich unser Schönheits- und Anstandsgefühl als für diesen Ort ungeeignet auflehnen würde.
Und jetzt fragt jemand vom Chor aus, ob welche da seien, die gerne singen möchten?
Gewiß sind welche da! Eine Gruppe junger Leute ist bald versammelt – und wieder erfüllen Töne den hohen Raum und wecken das schlafende Echo zwischen den Säulen und Denkmälern.
Hast du gefühlt, wie leer die Luft wird, wenn Töne verstummen, wenn ein Lied verhallt? Wir erwachen wieder zu etwas Trockenem und Alltäglichem. Die Welt ist noch immer kalt und grau, obgleich wir es für einen Augenblick vergessen hatten. Aber wir, die wir unter der hohen Kirchendecke sitzen, haben kein solches Gefühl. Uns ist, als seien die Töne noch nicht verklungen, als schwebten sie noch da oben unter dem Kreuzgewölbe. Die Stille um uns her ist reicher geworden, weil unsere Seelen mit dieser Musik erfüllt worden sind.
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Das war in einer Kirche in einer Stadt. Aber wenn wir uns in eine ländliche Kirche begeben, eine, die mitten in einem Dorfe liegt, helleuchtend mit ihren geweißten Mauern und einem schlanken Turm, auch da werden wir finden, daß das Kirchengebäude viel Freude bereitet, seit die neue Ordnung eingeführt ist. Diese Kirche ist nicht den ganzen Tag offen – das hätte hier keinen Wert – aber sie ist am Abend und den ganzen Sonntag hindurch für jeden geöffnet.
Und die Leute kommen von nah und fern, Leute, die es sonst gar nicht gewohnt waren, in die Kirche zu gehen. Sie haben eingesehen, wie viel Gleichgewicht und Harmonie für die Seele nur allein dadurch gewonnen wird, daß man sich von erhabener Schönheit umgeben fühlt, in Stille oder in Wogen der Musik untertaucht oder in Worte der innigen Hingebung.
Ich denke mir, daß da jeden Sonntag etwas wie der jetzt gebräuchliche Gottesdienst stattfinden wird, obgleich man wahrscheinlich das Wort »Gottesdienst« vermeidet, weil man begriffen hat, welche Veranlassung zu verhängnisvollen Irrtümern dies Wort sein kann.
Ich denke mir auch, daß solche Stunden der Andacht meistens des Abends gehalten werden. »Jeder Tag – ein Leben«, schrieb einmal ein Philosoph; und das ist gewiß: in den Stunden des Morgens oder wenn die Sonne hoch am Himmel steht, zieht es uns hinaus in die Natur, oder wir sind von unserer Arbeit gefesselt, gerade wie wir in unseren kraftvollsten Jahren durch Vergnügungen gelockt und von dem Reiz der Arbeit gefangen genommen werden. Aber mit dem verschwindenden Tag verflüchtigen sich die kleinen Gedanken und größere steigen in uns auf – Gedanken über das, was jenseits dieser Welt verborgen liegt.
Man wird gut tun, sich in diesen Stunden der Andacht nicht an jenen Irrtum zu klammern: nämlich an die ständige Wiederholung von Worten, die an sich hoch und heilig sind, aber durch den immerwährenden Gebrauch ihren ganzen Einfluß auf die Seelen verloren haben.
Ich denke mir, daß die Stunden der Erbauung, wie jetzt auch, mit einem Orgelvortrag anfangen werden. Mit einem Werk von einem der großen Musiker. Dann liest irgend jemand vom Chor aus einige Verse aus dem Buch der Bücher vor. Aber nicht immer die bekanntesten und am öftesten gelesenen. Es gibt Schätze von erhabener Poesie, von tiefer Hingebung auch in den Teilen der Bibel, die verhältnismäßig wenig bekannt sind. Es folgt aber dem Vorlesen keine Auslegung. Man überläßt es den tönenden Worten selbst, unmittelbar auf die zuhörenden Seelen zu wirken.
Es folgt ein Chorgesang, und dann besteigt jemand die Kanzel. Unter keinen Umständen aber verlangen die Zuhörer das Unmögliche, daß jemand das ganze Jahr hindurch an jedem Sonntag eine neue niedergeschriebene und auswendig gelernte Abhandlung darbringe. Die Leute sind sich bewußt, daß nur ein hochbegabter Geist so oft etwas Wertvolles schaffen könnte. Aber die Weltliteratur hat Schätze an geistigem Reichtum, die den meisten wenig bekannt sind. Wer an den Sonntagen zu der Versammlung spricht, hat das Recht, etwas aus der Literatur zu wählen, das die Leute gern hören wollen.
Das heißt: etwas, das die Gedanken anregt. Und vor allem etwas, das sie mit Begeisterung erfüllt.
Denn sehnen wir uns denn nicht alle nach etwas, das in uns das heilige Feuer der Begeisterung anzünden kann?
Gleichen unsere Seelen nicht dem Holz, das auf eine Feuerstelle gelegt wird? In der Hauptsache besteht ja Holz aus dem, was wir Kohle nennen, und die Kohle hegt einen heftigen Wunsch, sich mit Sauerstoff zu verbinden. Gerade in der Luft, die das Holz umgibt, befindet sich auch Sauerstoff; nur scheint die Kohle nichts davon zu wissen. Sie schläft – gebunden, kalt, leblos.
Dann kommt ein Feuer in die Nähe.
Und plötzlich, durch die Berührung mit dem, was schon brennt, wird die schlafende Kohle zum Bewußtsein erweckt: Ja, das ist's, wonach ich mich innerlich gesehnt habe!
In aufflammender Freude eilt sie dem ersehnten Sauerstoff entgegen. Sie flammt, sie sprüht, sie brennt, sie glüht.
Und ehe sie verbrannt ist, hat sie frierenden, erstarrten Menschen Lebenskraft gespendet.
Begeisterung – das ist das Gefühl der Vereinigung mit den großen ewigen, schöpferischen Gedanken. Begeisterung – das ist, aus dem Glück und der Kraft, die durch das Weltall wogen, für sich selbst Kraft und Glück zu schöpfen.
Millionen und aber Millionen verbringen ihr Leben im Halbschlaf – sie wissen nicht, daß sie von mächtigen lebengebenden Strömen beständig umflossen sind. Aber ein brennendes Herz kann sie – ähnlich wie der Feuerbrand das Holz – zu dem Bewußtsein dieses Reichtums entzünden.
Begeisterung – das ist die wertvollste Gabe, die ein Mensch seinen Mitmenschen verleihen kann.
Denn in Augenblicken der Begeisterung lernen wir verstehen – wir ruhelosen, selbstsüchtigen, bekümmerten Seelen –, daß Glück »geben« ist, nicht »nehmen«.
Wir lernen verstehen, daß Macht »dienen« heißt, nicht »herrschen«.