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Im Jahr 1930 wurde in London ein Buch herausgegeben, worin ein Universitätsprofessor erzählte, er habe seine Zuhörer gefragt, ob unter ihnen noch einer an Gott glaube?
»Nein,« antworteten alle die jungen Männer und die jungen Mädchen.
»Und haben Sie nicht den Wunsch, einen solchen Glauben zu haben?« fragte der Professor.
»Nein,« antworteten sie wieder.
Immerhin äußerte ein junges Mädchen einen leisen Wunsch in dieser Richtung. Aber da fielen alle die andern über sie her und riefen: »Das ist nur so, weil Sie eine zarte Gesundheit haben! Gesunde Menschen brauchen keine Religion.«
*
Im Herbst desselben Jahres wurde in den Vereinigten Staaten in einer viel gelesenen Monatschrift von einem wohlbekannten Journalisten ein Aufsatz gedruckt, der anfing: »Sie treffen hier mit einem der einsamsten und unglücklichsten Menschen der Welt zusammen – ich meine, den Menschen, der nicht an Gott glaubt.«
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Wo immer man auf dieser unserer Welt hinkommen mag, besonders in den Ländern, die man zu den christlichen zählt, wird man das Echo dieses selben Unglaubens hören, sei es der fröhliche, sorglose Unglaube junger Leute, die die große Reise ins Leben hinein erst antreten, oder sei es die Traurigkeit eines vorgeschrittenen Alters, das anfängt, sich ernstliche Sorgen über das Ende dieser Reise zu machen.
Und wer in vielen Ländern diesen Unglauben hat aussprechen hören, wird allmählich denken: Ist nicht dies im Grunde genommen die Ursache der fieberhaften Unruhe unseres Zeitalters? Liegt darin nicht der Grund für die wilde Jagd nach Vergnügen und Geld, für die Verzweiflung, wenn Geld oder Vergnügen oder das Lob der Mitmenschen nicht erreicht werden – ebenso wie für die traurige Überdrüssigkeit, wenn sie erlangt sind?
In jenem Artikel in »The American Magazine«, auf den ich eben Bezug genommen habe, gab der Verfasser immerhin zu: »Ich erkenne ein von Gesetzen regiertes Weltall an, und die Tatsache, daß Gesetze da sind, setzt einen Gesetzgeber voraus. Hier ist also das Dasein eines höchsten Willens klar.«
Nun, diese Feststellung – daß die Logik der Dinge ein logisches Prinzip voraussetzt – ist ungefähr dieselbe, die von Aristoteles aufgestellt wurde, wenn er, mit einem Anflug von trockenem Humor, der in den Schriften dieses großen Denkers nur selten zu finden ist, bemerkt: »Diese Welt macht tatsächlich nicht den Eindruck einer schlecht komponierten Tragödie.«
Nach einem Fragment, das uns in den Schriften Ciceros erhalten ist, hat derselbe griechische Denker folgende Annahme ausgesprochen: Denken wir uns Menschen, die ihr ganzes Leben lang unter der Erde gewohnt und also niemals die Sonne oder die Wunder der Sternenwelt gesehen hätten; denken wir uns, diese Menschen würden plötzlich ins Freie gelangen und die ganze Schönheit sehen, die sich dem Auge durch den Himmel, das Meer und die Erde darbietet; denken wir uns, wie sie die seltsame Regelmäßigkeit der Erscheinungen des Himmelsgewölbes beobachten – »wahrlich, wenn sie das alles sehen, müssen sie glauben, daß es Götter gibt«!
Hier haben wir denselben Gedankengang, der zweitausend Jahre später von Voltaire ausgedrückt wurde, wenn er sagt, er könne keine Uhr betrachten, ohne das Dasein eines Uhrmachers anzunehmen.
Die moderne Wissenschaft hat eine wichtige Tatsache entdeckt: in den Gesetzen, die die Bewegungen der Sterne regieren, ist eine auffallende Übereinstimmung mit den Bewegungen der Atome bemerkbar. Jedes Atom von den Billionen und Billionen, aus denen unsere Welt besteht, ist ein Sonnensystem im kleinen: sein Mittelpunkt ist ein Kern, um den herum die Elektronen als Satelliten kreisen.
Betrachten wir dieses allgemein scheinende Gesetz der Natur, daß jedes Ding einen Mittelpunkt hat, um den herum es sich bewegt, – selbst die Sonnen bewegen sich ja um eine zentrale Sonne – muß es uns dann nicht als wahrscheinlich vorkommen, daß es auch in der Welt des Geistes eine zentrale Macht gibt, die die Seelen durch Anziehung leitet?
So wie Aristoteles sagt: »Das Weltall wird durch eine ewige Anziehung zu der Gottheit hin regiert.«
In der Tat sind wir ebenso berechtigt, hinter den wunderbaren Gesetzen des Weltalls das Dasein einer höchsten Weisheit anzunehmen, wie die Wissenschaft das Dasein jenes unsichtbaren und unwägbaren Äthers und der ebenso unbeweisbaren Atome annimmt.
Wir können das Dasein des Äthers nicht beweisen, geben die Physiker zu, wir müssen aber die Hypothese seiner Existenz annehmen, weil es eine große Menge Phänomene gibt, die wir sonst nicht erklären könnten.
Physiker, die zugeben, daß der Äther eine unbewiesene aber notwendige Hypothese sei, haben wohl kaum das Recht, gegen die Theorie von einem Gott einen Einspruch zu erheben, da dies doch eine Möglichkeit gibt, die wunderbaren Erscheinungen des Weltalls einigermaßen zu erklären.
»Der Mensch ist ein Mikrokosmos,« sagten die alten Philosophen. Die Atome, aus denen sein Körper aufgebaut ist, sind von derselben Gesetzlichkeit, wie die, welche die Sterne bilden; die Kräfte, die um die Vorherrschaft der Menschenseele kämpfen, sind dieselben, deren Kämpfe miteinander die Entwicklung der Welt hervorbringen; die geistige Flamme, die der Kern des Menschenwesens ist, rührt von dem Urfeuer der Welten her. Und in einer Ahnung seiner eigenen Verbindung mit diesem riesigen Universum hat der Mensch seit Urzeiten es selbstverständlich gefunden, daß demnach wie sein Leib von einer Seele, so das Weltall von einer Weltseele, einer Gottheit regiert wird.
Die Stoiker und auch andere Denker haben Gott als die Weltseele betrachtet, die das Weltall als Äther durchdringe; für sie ist Gott in allem innewohnend – immanent.
Andere Gedankensysteme erklären die Gottheit über den Dingen stehend – transzendent.
Wieder andere sehen die Gottheit zugleich immanent und transzendent, zugleich Seele des Weltalls und doch über sie erhaben.
Wenn die zuletzt angeführte Ansicht für unser Denken am meisten annehmbar erscheint, so mag dies wohl herkommen von ihrer Verknüpfung mit der Idee, daß der Mensch ein Mikrokosmos sei.
Der Mensch – Geist, Seele und Körper – wäre dann als das Seitenstück zu jener Dreiheit – Gott, Weltseele, Materie – zu betrachten, in jeder Dreiheit der höchste Teil den Trieb empfindend, die niederen Teile zu durchdringen, um sie dadurch zu erhöhen.
Der Agnostiker in »The American Magazine« ist, wie angedeutet, viel zu gescheit, die oben dargelegten Forderungen der Logik zu übersehen; er sagt sogar: »Aus Mangel an einem besseren Namen bin ich vollkommen bereit, ihn, den höchsten Willen, Gott zu nennen, und ich nenne ihn auch Gott.«
Doch fügt er hinzu: »Aber es ist mir gänzlich unmöglich, die Idee eines persönlichen Gottes zu fassen.«
Hierin werden sich ihm gewiß viele Menschen der heutigen Zeit anschließen. Es gibt Tausende und aber Tausende, die erklären: »Wir können nicht an einen persönlichen Gott glauben.«
Ein solcher Ausdruck bedeutet indes in den meisten Fällen nur ein Verwerfen des vermenschlichten Gottes, jener Gottesidee, die noch von vielen einfachen Gemütern festgehalten wird; die Idee eines weißbärtigen Mannes, der hoch droben über den Sternen auf einem goldenen Throne sitzt.
Zwischen dem Anthropomorphismus – das heißt: sich Gott als ein fast menschliches Wesen vorstellen, wenn auch unermeßlich größer, – und dem Pantheismus – das heißt: sich Gott als die große immanente Kraft in der Natur vorstellen, die sich aber niemals ihrer selbst bewußt wird außer im Menschen – zwischen den Extremen dieser beiden Anschauungen hat die Menschheit von jeher hin und her geschwankt.
Bisweilen sind beide Extreme von derselben Persönlichkeit zum Ausdruck gebracht worden – so in zwei verschiedenen Aussprüchen eines großen, schwermütigen Dichters des alten Griechenlands:
»O sage mir, wie Gott denn zu erkennen ist,
Der alles sieht, von niemand doch gesehen wird!«
Diesen Versen, wo Euripides um ein sichtbares Bild ringt, steht jener vollkommen pantheistische Ausdruck desselben Dichters gegenüber:
»Und emporschauend zum Äther und zum Himmel
Halte diese für Gott!«
Allem nach, werden viele denken, scheint der Anthropomorphismus das ganz notwendige Ergebnis jedes Glaubens an einen persönlichen Gott zu sein. Vor ein paar Jahren wurde in Amerika ein Schauspiel, »Green Pastures« genannt, aufgeführt, in welchem der naiven religiösen Auffassung der Neger in einer halb grotesken, halb rührenden Weise Ausdruck gegeben wurde. »Da haben wir,« meinten etliche, »den indirekten Beweis dafür, daß es intelligenten Menschen des heutigen Tages unmöglich ist, an einen persönlichen Gott zu glauben.«
Es ist wahr, in jeder menschlichen Seele wohnt ein Bedürfnis, sich jede Idee augenfällig vorzustellen. Selbst bei denen, die den Versuch, sich eine greifbare Vorstellung von dem Unsichtbaren zu machen, als eine Gotteslästerung empfinden, wird gleichzeitig eine geheime Neigung zu derartigen Phantasiegebilden lauern, wenn auch unsere Phantasiegebilde von den eben angeführten kindlichen Vorstellungen weit abweichen. Wir werden die Notwendigkeit, diese Neigung zu bekämpfen, beständig in uns fühlen. Wir werden manchmal über die Unmöglichkeit, dieses Verlangen zu unterdrücken, fast verzweifeln – bis wir uns klar machen, daß das beständige Hin- und Herschwanken zwischen Anthropomorphismus und Pantheismus der menschlichen Seele ein ebenso ewiges Gesetz ist, wie die wechselnde Ebbe und Flut des Ozeans.
Immer werden wir ringen, das zu verstehen, was niemals ganz von uns verstanden werden kann; immer müssen wir versuchen, uns das vorzustellen, was nicht vorstellbar ist.
*
In dem langen Streit zwischen Anthropomorphismus und Pantheismus, der in der Geschichte der Menschheit wie in der Seele jeder denkenden Persönlichkeit ohne Ende ist, sind die christlichen Kirchen immer eifrig bemüht gewesen, gegen den Pantheismus als die große Gefahr anzukämpfen. Von einem historischen Gesichtspunkt aus ist dies erklärlich, denn in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche war der Neuplatonismus mit seiner Neigung zum Pantheismus ihr gefährlichster Feind. In unserer Zeit aber sollten die Kirchen vielleicht klugerweise mehr vor dem entgegengesetzten Extrem auf der Hut sein. Eine allgemein überwiegende Neigung zum Anthropomorphismus hat der Christenheit unberechenbaren Schaden gebracht; ihm ist tatsächlich ein großer Teil des modernen Unglaubens zuzuschreiben.
Hinsichtlich der Berechtigung des Ausdrucks »ein persönlicher Gott« möge hier festgestellt werden, daß das, was in philosophischen Ausdrücken eine Persönlichkeit ausmacht, ist: Verstand, Wille und Bewußtsein. Verstand und Wille sind – wie sogar unser schwermütiger Agnostiker in der amerikanischen Zeitschrift zugibt – durch die wunderbaren Gesetze des Weltalls klar dargelegt. In Beziehung auf das Bewußtsein hat es Philosophen gegeben – wie z. B. Eduard von Hartmann – die das Dasein eines Bewußtseins im höchsten Wesen leugneten. Aber es gibt einen gesunden alten Grundsatz in der lateinischen Sprache: »Effectus nequit superare causam« – »der Erfolg kann die Ursache nicht übertreffen«.
Wenn Millionen und Millionen der von der höchsten Macht hervorgehenden Wesen Bewußtsein besitzen, scheint es in der Tat zu unlogisch, ihrem Schöpfer Bewußtsein abstreiten zu wollen.
Um auf den angeführten Artikel in der amerikanischen Zeitschrift zurückzukommen, so ist es indes nicht jener allgemeine, oft so sehr naiv ausgedrückte Anthropomorphismus, der den Autor dazu bringt, sich als »einen Menschen ohne Gott« zu fühlen. Er teilt uns den wirklichen Grund mit: »Daß ein höchstes Wesen, das mit dem unendlich Vielen, was in Zeit und Raum vorgeht, beschäftigt ist, sein Tun unterbrechen könnte, um sein Ohr meinen Gebeten und Anliegen, sowie den privaten Angelegenheiten von Millionen mir ähnlicher Atome zu leihen, das erscheint mir als eine vollkommene Ungereimtheit.«
Eine schwierige Frage! Wirklich, es ist leichter, an alle Wunder zu glauben, die je berichtet worden sind, nicht allein an die in der Bibel, sondern auch an alle Taten der Heiligen – vielleicht an alle Mythen aller Mythologien – als an einen unendlichen Gott zu glauben, der den Gedanken jedes Herzens sein Ohr leiht.
Das ist der Stein des Anstoßes für viele Seelen.
Und doch, wenn wir eine solche Idee für eine Ungereimtheit erklären, dann vergessen wir die Vielfältigkeit unseres eigenen Wesens.
Moderne Biologen sind geneigt, den menschlichen Organismus als eine Gemeinschaft von unzähligen verschiedenen Einheiten zu betrachten; ihrer Meinung nach sind nicht nur das Herz, die Lunge, die Nieren, die Drüsen usw. besondere Wesen, von denen jedes mit einem eigenen Leben begabt ist, sondern es soll selbst jedes von allen den Millionen Atomen, aus denen diese Organe aufgebaut sind, gewissermaßen als einzelnes, unabhängiges Wesen betrachtet werden. Selbst wir, die wir nicht Biologen sind, merken ja, daß in unserem Körper viele verschiedene Tätigkeiten gleichzeitig vor sich gehen: das Atmen, der Herzschlag, die Verdauung, die Blutzirkulation usw. Und welch ein Gewimmel von Gedanken kann gleichzeitig im Verlauf von wenigen Sekunden in unseren Seelen herrschen!
Ganz ruhig im Grase liegend, können wir zu den ziehenden Wolken aufschauen, dem Summen der Bienen lauschen, das wohlige Wehen des Sommerwinds spüren, den Duft von Blumen und Kräutern riechen – und doch kann gleichzeitig unsere Einbildungskraft nach weit entfernten Orten, in längst vergangene Zeiten schweifen und da Hunderte von Menschen und Tausende von Ereignissen betrachten.
Die Tatsache, daß es besonders begabte Persönlichkeiten gibt, die fähig sind, zu ein und derselben Zeit Briefe an mehrere Personen zu diktieren, zeigt treffend die menschlichen Möglichkeiten, gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen hin tätig zu sein.
Gewiß kann uns diese Mannigfaltigkeit unserer eigenen Fähigkeiten nicht die unermeßlich große Erfassungsmöglichkeit eines Gottes, der nicht allein den Lauf von Millionen von Sternen, sondern auch die Gedanken jeder menschlichen Seele kennt, verständlich machen. Immerhin könnten wir uns doch die Möglichkeit vorstellen, daß er, um unsere Gebete anzuhören, nicht wie der angeführte Schriftsteller es nennt, »sein Tun unterbrechen« müßte.
Eine höchste Macht, die die Gesetze des Weltalls gibt und durchführt, muß überall, wo diese Gesetze wirken, als gegenwärtig betrachtet werden. Deshalb muß sie nicht nur in jedem Stern, sondern auch in jedem Atom anwesend sein. Demzufolge müssen wir sie auch als von jedem unserer Gedanken bewußt annehmen. Wir müssen voraussetzen, daß sie die Millionen von Gedanken, die von Millionen sehnsüchtiger Herzen emporsteigen, kennt.
Wahrscheinlich wird kein Wesen jemals ein Wesen von größerem Maßstab, als das seinige, ganz begreifen.
Wir könnten uns eine Zusammenkunft jener Mikroben vorstellen, von denen Millionen in unserem Innern leben, und von denen, wie uns gesagt ist, sechstausend auf einer Nadelspitze sitzen können – und zwar ganz bequem! – wir können uns vorstellen, daß eine von diesen Mikroben – eine ziemlich gescheite Mikrobe – an die Zuhörerschaft eine Ansprache hält und sagt: »Meine Damen und Herren, ich hoffe, es ist niemand unter uns, der noch an dem veralteten Begriff von einem Herrn So und So festhält, der durch seinen Willen diese unsere ungeheure Welt regiere, diese großen roten Flüsse, in die wir uns öfters hineinwerfen, diese mächtigen Gebirge dort, aus denen ein beständiges, regelmäßiges Dröhnen erschallt, diese hohen Gewölbe über unsern Köpfen. Die lächerliche Annahme von dem Dasein eines Herrn So und So, der, millionenmal größer als wir selbst, diese weite Welt regieren soll – ich hoffe, ihr seid euch klar darüber, daß es einer denkenden modernen Mikrobe unwürdig ist, an solch einen Unsinn zu glauben.«
Unser Unvermögen zu verstehen – das bedeutet doch nicht, die alte verhängnisvolle Regel befolgen zu müssen, unseren Verstand in den Glauben gefangen zu geben.
Wir sind einfach in der Lage eines Gelehrten, der eine Tatsache vor sich hat und versucht, sie in Einklang mit andern Tatsachen, sie mit den Gesehen, die er kennt, in Übereinstimmung zu bringen. Wenn es dem Gelehrten nicht gelingt, diese Verbindung festzustellen, so läßt ihn das nicht an der Aufgabe überhaupt verzweifeln, noch weniger wird er die Tatsache, von der er ausgegangen ist, leugnen wollen.
»– – – meine Gebete und Anliegen, sowie die privaten Angelegenheiten von Millionen mir ähnlicher Atome – – –«
Dieser Begriff von dem oben angeführten Schriftsteller über den Sinn des Gebets ist recht allgemein. Eine Gabe, eine Hilfe in unseren Schwierigkeiten zu erbitten, das werden die meisten Menschen als den selbstverständlichen Inhalt des Gebets zur Gottheit betrachten.
Es gibt Worte, die für immer den Klang einer veralteten Meinung haben. So das Wort Gebet, das seinen Ursprung in den alten Zeiten hat, als die Menschen glaubten, der Geruch von verbranntem Fleisch und das Hersagen unterwürfiger Sprüche würden gewisse mächtige, unsichtbare Wesen, die fähig wären, ihren Anbetern wertvolle Gaben zu verleihen, freundlich und versöhnlich stimmen.
Es ist kein Wunder, daß einige moderne Denker absichtlich das Wort Gebet vermeiden und dafür den Ausdruck Konzentration gebrauchen.
Konzentration, das bedeutet das Fernhalten, für einige Augenblicke wenigstens, jedes unnützen schweifenden Gedankens; es bedeutet, in die tiefsten Tiefen des eigenen Geistes versenkt zu sein, um da dem Ewigen zu begegnen, von dem wir ausgegangen sind.
Nicht dadurch, daß wir ihn anrufen, wird Gott unser liebender Vater. Gott ist immer Liebe. Da er uns aber Freiheit verliehen hat, so zwingt er uns seine Gaben nicht auf. Er erlaubt der Menschheit, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Deshalb vollbringt er keine »Wunder« im gewöhnlichen Sinne des Worts. Sein Weltall wird von ewigen Gesetzen regiert, die er selbst nicht übertritt.
Aber es gibt doch etwas, das außerhalb aller Gesetze – über allen Gesetzen steht.
Ein Mensch, der Gott sucht und der seinen Gott findet, wird von dieser Begegnung mit der Kraft über alle Kräfte einen überströmenden Reichtum erfahren, der sein Leben und seine Arbeit befruchtet.
Die Wahrheit jener alten Mythe vom Riesen Antaeus, der jedesmal neue Kraft erlangte, so oft er die Mutter Erde berührte, haben wir alle erfahren, die wir die Natur lieben, wenn wir uns in den Anblick von Blumen und Bäumen und blauen Weiten versenken.
So fließt uns auch, indem wir mit der höchsten Harmonie in Verbindung kommen, neues Glück, neue Kraft zu.
Die Seele dem Sonnenschein Gottes öffnen, das ist der wahre Sinn des Gebets.
Wie aber die Erde durch Nebel und Wolken, die aus ihr selbst aufsteigen, der Wonne und des Glanzes der Sonne beraubt wird, so werden auch wir, die bekümmerten Kinder der Erde, durch Trübsinn, Mutlosigkeit und Sorgen von dem Segen der Liebe Gottes ausgeschlossen.
Es mag eine Anstrengung, eine lange intensive Anstrengung sein, die schwermütigen, die bittern, die selbstsüchtigen Gedanken zu überwinden. Aber wenn unser Kampf ausdauernd ist, wird er nicht umsonst sein. Denn wenn schließlich die Wolken sich zerstreuen und wir die Verbindung mit der Sonne geistigen Lebens wieder erlangt haben, wird auch unsere Seele mit neuem Licht erfüllt.
Und durch diese Zuteilung von neuem Leben und neuer Kraft werden wir fähig, das zu tun, was wir vorher nicht tun konnten; wir werden fähig, unsere Kümmernisse zu tragen, unsere Kämpfe auszufechten und die Arbeit, die wir als Pflicht empfinden, zu tun.
Wer sich in die Betrachtung des Höchsten versenkt, wird nicht an kleinliche, persönliche Bittgebete denken können. Er wird sich eins mit Gott fühlen, eins mit der Menschheit; er wird also nur für das allgemeine Wohl beten, nur um vermehrte Kraft und Möglichkeiten, seinen Brüdern zu helfen.
Und so wird es sich als göttlich wahr erweisen, das Wort: »Bittet, so wird euch gegeben.«
William James, der berühmte amerikanische Philosoph, hat in einem seiner Werke ausgesprochen, daß es dem modernen Menschen leichter fallen würde, an Pluralismus – die Vorstellung von einer Anzahl intelligenter kosmischer Kräfte – zu glauben, als den Glauben an einen einzigen Gott anzunehmen.
Gewiß hat William James recht darin, daß dies dem menschlichen Denken verhältnismäßig leichter falle, als der Glaube an einen das ganze Weltall regierenden Gott.
Aber etwas ist da, das anscheinend weder William James noch andere moderne Pluralisten in Betrachtung gezogen haben: wenn es mehrere Götter gibt, dann werden sie höchstwahrscheinlich zu Zeiten miteinander im Streite liegen. Wo immer wir in unserer Welt hinschauen, sehen wir Streit und Wetteifer; warum sollte es zwischen den gewaltigen Mächten, die an der Weltregierung teilhaben, anders sein?
Die alten polytheistischen Religionen umgehen diese Folgerung, indem sie einen Vater und höchsten Richter der Götter voraussetzen, der die Macht hat, die Streitigkeiten zu schlichten. So ist es in der griechischen und römischen Religion, so auch in der alten germanischen.
Der moderne Pluralismus setzt keine höchste Weisheit voraus.
Aber wo ist in diesem Falle die Befriedigung für die Sehnsucht unserer Herzen?
Ist nicht dies das tiefste Bedürfnis unserer Herzen: sich in diesem unermeßlichen Weltall daheim zu fühlen?
Wie sollten wir uns aber daheim fühlen können, wenn wir nicht von dem Dasein eines höchsten Wesens überzeugt sind, eines Wesens, das unsere Kämpfe und unsere Schmerzen nicht kalt mit ansieht, sondern mit uns so fühlt wie ein Vater mit seinen Kindern?
Seit Jahrtausenden ist dies das sehnsüchtige Verlangen der Menschheit. Lange ehe der christliche Glaube in der Welt gepredigt wurde, haben sich danach die Menschen gesehnt. Ich will darauf verzichten, einige der schönen Aussprüche anzuführen, die darauf hinzielend bei Seneca, Epiktet und Marcus Aurelius zu finden sind; denn obgleich die Geschichtsforscher einstimmig die alte Legende von einer Begegnung Senecas mit Paulus verwerfen, mag doch eine Möglichkeit vorhanden sein, daß der römische Staatsmann etwas vom christlichen Glauben gehört habe. Zur Zeit Senecas gab es jedenfalls in Rom viele Christen, und er war ein Mann, der mit vielerlei Leuten zusammentraf. Auch kann kein Zweifel darüber herrschen, daß die andern soeben genannten Philosophen – der Sklave und der Kaiser – von Seneca beeinflußt waren. Deshalb beschränke ich mich darauf, auf einen Dichter hinzuweisen, der etwa tausend Jahre vor Seneca gelebt hat. Homer sagt, indem er von Zeus spricht: Wenn wir einem armen, hilfesuchenden fremden Menschen begegnen, so sollten wir wissen, daß dieser Mensch uns von Gott, dem Vater der Menschen, zugeschickt ist, der verlangt, daß wir diesem hilflosen Unbekannten helfen.
*
In mancher Hinsicht ist es freilich für uns moderne Menschen schwerer als für die Zeitgenossen Homers, an eine immer wohlwollende Gesinnung des höchsten Wesens zu glauben.
Wir wissen mehr von dem Elend der Menschheit. Wir kennen die Geschichte tausendjährigen Leidens. Wir lesen jeden Tag die Nachrichten von Unglücksfällen und Greueln in vielen Ländern. Und es gibt viele, die in den heutigen Tagen die alte Frage aufstellen: »Wie könnte Gott barmherzig und auch allmächtig sein, wenn er all dies Unglück zuläßt?«
Was wird darunter verstanden, wenn es heißt, Gott sei allmächtig?
Deutet das Wort an, daß Gott uns ohne Leiden stark machen könnte und geduldig, so wie es das in richtiger Weise ertragene Leiden bewirkt?
Höchstwahrscheinlich nicht. Nur dadurch, daß uns Gott einen freien Willen gestattet hat mit der Möglichkeit der Wahl und auch der Möglichkeit der falschen Wahl können wir stark werden. Nur so konnte jene große Verschiedenheit entstehen, jene unendliche Differenzierung, die die Welt so reich macht.
Ein von Bischof Barnes in Birmingham zitierter Biologe hat kürzlich hervorgehoben, bis zu welchem Grad Schmerzempfindlichkeit mit einer höheren Entwicklung verbunden sei. Die niederen Tiere – Würmer und ähnliche – scheinen kein Schmerzgefühl zu haben. Die höheren Tiere haben eine Schmerzempfindlichkeit, die der höheren Stufe in der Skala der Entwicklung entspricht; bei weitem hat doch keines dasselbe Leidensvermögen wie der Mensch.
Was bedeutet das, vom Gesichtspunkt des Biologen aus gesehen? Anscheinend, daß die Natur, je wertvoller ein Leben ist, um so mehr darauf bedacht sei, es zu erhalten. Denn Schmerz bedeutet Warnung: Achtung, hier ist etwas, das für dein Leben eine Bedrohung ist, oder später eine werden kann!
Und gerade so, wie körperlicher Schmerz eine Warnung bedeutet, ist es auch bei Seelenangst und geistigem Kummer. Sie bedeuten: Nimm dich in acht! Du bist weit weggekommen von dem Gemütszustand, der für den Menschen der natürliche sein sollte: von dem Gefühl der Harmonie mit dem Weltall.
Wenn der Allmächtige, ohne daß wir die Richtung unserer Seele ändern, – ohne daß wir sie in Einklang mit Gottes Willen bringen –, das Gefühl von Angst und Sorge, den immer zitternden Ton von Traurigkeit in unserer Seele wegnehmen würde, dann würde er ebensowenig barmherzig handeln, wie ein Arzt, der den Schmerz seines Kranken durch künstliche Mittel mildert, obgleich er weiß, daß dieser keine wirkliche Hilfe für seine Leiden sucht, solange ihm Betäubungsmittel gegeben werden.
Überdies wird ein Mensch, der gewohnt ist, auf sich selbst zu achten, sich darüber klar werden, daß Leiden aus den tiefsten Quellen seines Wesens verborgene Kräfte hervorruft.
»Das Leiden wird das Beste in uns erwecken,« sagten die alten Stoiker.
Und Goethe:
»Wer nie sein Brot mit Tränen aß …
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.«
Sogar ein Skeptiker wie Anatole France sagt:
»Dem Leiden verdanken wir alle unsere Tugenden.«
Und Shelley spricht von den Dichtern:
»Im Leiden lernen sie, was sie in Liedern lehren.«
Im Einklang mit diesem Ausspruch eines Dichterfürsten steht eine alte Rune von einem Sänger der nordischen Wälder.
»Aus dem Leide wird das Lied geboren«,
heißt es in der Kalevala, dem alten finnischen Epos.
»Immer sind es Menschen, die viel gelitten haben, die andern zu Hilfe und großem Trost gewesen sind,« schrieb Frommel.
Und wieder Goethe deutet in der Zueignung zum Faust auf die nahe Verwandtschaft des Dichtens mit dem Leiden hin:
»Mein Leid ertönt der unbekannten Menge.«
*
Einmal bin ich mit einem englischen Missionar zusammengetroffen, der in China arbeitete; er erzählte mir von zwei Chinesen, die während einer Christenverfolgung zwischen zwei Pfählen aufgehängt waren und gemartert wurden. Schließlich hielten ihre Peiniger sie für tot und verließen sie. Aber sie waren nicht tot; und als sie einige Stunden später von ihren Glaubensbrüdern befreit wurden, teilten sie ihnen mit, was sie während dieser Stunden größter Schmerzen erlebt hatten. Ganz plötzlich waren alle beide von Freude und Frohlocken erfüllt gewesen. »Niemals vorher,« sagten sie, »haben wir eine solche Erhebung erlebt. Jetzt wissen wir wirklich, daß der Mensch von dem Geist Gottes ganz erfüllt werden kann.«
Haben wohl jene Männer die grausamen Schmerzen, denen sie unterworfen wurden, bedauert?
Ich glaube nicht. Und ich denke, einstmals, wenn wir auf unser Erdendasein zurückblicken, werden wir feststellen, daß uns unsere bittersten Leiden zum größten Segen geworden sind.
Es hat Zeiten gegeben, wo Theologen umfangreiche Abhandlungen darüber schrieben: Wie es möglich sei, daß Gott in vollkommener Seligkeit leben könne, obgleich die Kinder dieser Erde mit Leiden beladen seien, obgleich im Totenreiche unzählige Seelen wehklagten?
Und die Antwort auf diese Fragen war meist eine Darlegung, daß diese Klagen – wie die Jammerrufe der Opfer in Phalaris' glühendem ehernem Stier – in den Ohren des Allerhöchsten und seiner himmlischen Scharen zu einer Harmonie verschmelzen würden.
Und die Herzen der Menschen wurden kühl bei dem Gedanken an diesen immer glücklichen Gott, dem auch die Leiden anderer eine Vermehrung seiner Seligkeit brachten.
Andere dagegen haben anderes gesagt. »Gott leidet mehr als irgend sonst jemand,« sagte ein großer schwedischer Mystiker, die Baronin Lucie Lagerbielke, »er leidet am tiefsten durch all die Sünde, all den Jammer dieser Erde – dieses ungeheuren Weltalls.«
Solche Worte wirken auf uns wie ein plötzlicher Schmerz und eine plötzliche Freude. Schmerz, weil uns mit einem Male klar wird, wie wir mit unsern Fehlern, unserer Mangelhaftigkeit seine Leiden vermehrt haben – Freude, weil wir uns ihm plötzlich nähergerückt fühlen als je vorher.
Und mit blitzartiger Klarheit fühlen wir: So ist es! So muß es sein! Wenn Gott Liebe ist, dann muß er auch leiden. Denn in diesem wunderbaren Weltall ist ein solcher Zusammenhang, daß wenn einer leidet, alle mitleiden müssen. Selbst solche, die im tiefsten Innern Seligkeit haben, müssen trotzdem durch die Leiden der andern leiden.
Denn zwei Dinge sind von dem Wesen der Liebe unzertrennlich – Sehnsucht, zu helfen, Schmerz, wenn Hilfe nicht geleistet werden kann.
Doch über der Zeit stehend muß indes Gott auch die höchste Freude empfinden, weil er weiß, zu welch wunderbarer Glückseligkeit sich seine Schöpfung vorwärts kämpft.
Noch schwieriger ist das Problem vom Bösen.
Ein großer dänischer Denker schrieb einmal etwas, das eine auffallende Ähnlichkeit hat mit den oben von einem Biologen angeführten Worten, daß die Schmerzempfindlichkeit ein Zeichen höherer Entwicklung sei: Kierkegaard schrieb, das tiefe Bewußtsein der eigenen Sündhaftigkeit sei ein Zeichen von Seelenadel. Und das aufstachelnde Gefühl von dem, was wir sein sollten, aber nicht sind, würde um so stärker wachsen, je schmerzhafter wir uns unserer Mangelhaftigkeit bewußt wären.
Diogenes, der alte griechische Denker (dessen Philosophie tatsächlich einen viel tieferen Sinn hatte, als die landläufigen derben Anekdoten über ihn andeuten), der in seiner Jugend ein Falschmünzer gewesen war und, als dies entdeckt wurde, aus seiner Vaterstadt flüchten mußte, dessen Lebensauffassung aber durch das Unglück vertieft wurde, antwortete, als ihm einmal jemand in Athen sein in der Jugend begangenes Verbrechen vorwarf: »Es war doch dieses, was mich zu einem Philosophen machte.«
Daß Zeno, der Vater des Stoizismus, dem Schicksal dafür dankte, daß er Schiffbruch erlitten und dadurch arm wurde, weil dies ihn auf den Weg der Philosophie brachte – das können wir verstehen. Aber Diogenes – dankte er dem Schicksal dafür, daß er einstmals auf verbrecherischen Wegen gewandelt war? War in seinem Innern – seltsam vermischt mit der Reue und der Scham, die er ohne Zweifel empfand – eine Wahrnehmung von Gewinn? Nach den oben von ihm angeführten Worten scheint es so. Wie durch eine Krankheit in der Muschel eine schöne Perle entstehen kann, so waren bei ihm aus seinen Leiden, aus der nagenden Erinnerung an sein Verbrechen neue tiefe Gedanken erwachsen.
Hier wird sich indes bei den meisten von uns ein heftiger Widerspruch erheben. Wie, sollte denn die Macht, die die Schicksale der Menschen lenkt, das Böse als eine notwendige Kraft der Entwicklung betrachten? Ist es nicht Gotteslästerung, das vorauszusetzen? Ist nicht Gott der Allheilige? Sollte in ihm, der das Licht ist, etwas wie Finsternis wohnen?
Unendlich schwierige Fragen. Kaum könnte gesagt werden, sie seien von Augustin befriedigend geklärt worden durch seinen Ausspruch: »Das Böse ist nur negativ, es ist nur ein Mangel des Guten.«
Es gab und gibt allerdings Religionen, die die Ansicht zu vertreten scheinen, daß der Begriff das Böse in gewissem Maße als von Gott ausgehend betrachtet werden müsse.
In der Mythologie der alten Skandinavier wird gesagt, Loke, der Gott des Feuers, habe ursprünglich unter den Göttern des Lichts gelebt. Wir könnten uns denken, daß die alten Nordländer, nachdem sie die furchtbar zerstörende Macht des Feuers erfahren hatten, daraus folgerten, der Gott Loke sei ein Feind der wohlwollenden Götter geworden. Jedenfalls wurde Loke als der Gott des Bösen betrachtet, aber es wurde doch die Erinnerung daran festgehalten, daß er der Eidbruder von Wotan gewesen sei.
Einige der Gnostiker lehrten: Der Erstgeborne Gottes sei Luzifer, der Engel des Wissens; die zweite Emanation des Allerhöchsten sei Christus, die Verkörperung der Liebe. »Zwillingspaar der Götter«, so wurden sie von einigen Gnostikern genannt. Wenn Luzifer, von Hoffart aufgebläht, fiel und in seinen Fall unzählige Seelen mit hineinzog, nahm Christus es auf sich, die Gefallenen zu retten. Und wenn in einer fernen Zeit seine Liebe den Haß und Hochmut seines finstern Bruders überwunden haben wird, dann hat die Entwicklung dieser Welt ihr Ziel erreicht.
Zwei Dinge sind jedem denkenden Menschen einleuchtend:
Erstens: es gibt ein Prinzip der Ordnung, der Gesetzmäßigkeit, das das Weltall durchdringt, und das sich in den Gesetzen zeigt, die die Bahn der Sterne und den Kreislauf der Atome regieren.
Dieses Prinzip der Ordnung ist von jedem Volk als ein Gott personifiziert und angebetet worden.
Zweitens: Es gibt in unserem Weltall auch ein innewohnendes Element des Kampfes; einen niemals endenden Streit zwischen verschiedenen Gattungen und verschiedenen Individuen, eine auf jedem Gebiet sich zeigende Neigung zum Zerfallen.
Auch dieses Prinzip des Kampfes, der Zerstörung ist von vielen Völkern personifiziert. Manchmal als ein dem Gott der Ordnung und des Lebens beinahe gleichwertiger Gott, wie in der Mythologie der Hindu, die – die Tatsache anerkennend, daß aus dem Verfall neues Leben erwachse – Shiva, dem Gott der Zerstörung, Parvatis, die Göttin der Liebe, als Gattin gab.
In der alten persischen Religion – oder wenigstens in einem ihrer Zweige – wurde gelehrt, daß Ahura Mazda und Ahriman, die kämpfenden Vertreter von Licht und Finsternis, alle beide von dem höchsten Gott ausgegangen seien.
Vielleicht hat in Anlehnung an diesen Begriff der Parsen Aristoteles, der feste Anhänger an die Gotteinigkeit, geschrieben: »Wer zwei Prinzipien annimmt, muß auch ein drittes, über den Gegensätzen stehendes, annehmen.«
»Was heißt du mich gut? Niemand ist gut, denn der einige Gott.«
Wer hat sich nicht über diese Worte Jesu verwundert? Wer wäre nicht geneigt, zu denken, Christus sei vielleicht noch mehr durchaus gut gewesen, als Gott selbst? Denn in dem Schöpfer der Welt scheint doch das enthalten zu sein, was einige der alten Mystiker eine »glänzende Dunkelheit« genannt haben –, was eine unvermeidliche Annahme ist, wenn er diese Welt geschaffen hat. Aber Christus, ist er nicht allein aus göttlicher Güte hervorgegangen, während Luzifer, der Gegner, eben aus dem Schatten entstanden ist?
Mußte Gott, um diese Welt unendlicher Vielseitigkeit, unbegreiflichen Reichtums schaffen zu können, mußte er, der All-Einige, da in sein eigenes Wesen die Idee vom Kampf aufnehmen? Mußte er in sein Licht den Schatten hereinlassen? In seine unendliche Barmherzigkeit auch Zorn? In seine erhabene Ruhe eine ewige Unruhe?
Wenn es so ist, wenn deshalb um unseretwillen Gott seine vollkommene Seligkeit opfern mußte, dann liegt wahrlich Wahrheit in der Lehre, daß Gott sich selbst für die Menschen geopfert habe – obschon nicht in dem Sinne, wie die Orthodoxie lehrt.
»Der Sohn kann nichts von ihm selber tun, sondern was er siehet den Vater tun,« sagte der Menschensohn.
Des Sohnes große Tat der Barmherzigkeit, war sie eine Wiederholung – in den Grenzen von Raum und Zeit und für die Menschen gewissermaßen verständlich – der Selbstaufopferung des Vaters jenseits von Raum, jenseits von Zeit?
Als Jakob Böhme, der große Mystiker des siebzehnten Jahrhunderts, das Problem des Bösen erklären wollte, sagte er, die Gottheit sei ursprünglich die »Ewige Stille« gewesen, die aber wie in einem geheimnisvollen Abgrund das Element der Finsternis, des Bösen, verborgen gehabt habe. Durch die Erschaffung der Welt sei dann die große Stille im Leben aufgebraust und Gott habe sich dadurch in reinen Geist verwandelt. Darum sei, wie Böhme lehrte, die Schöpfung mit der daraus hervorgehenden Erscheinung des Bösen eine Art notwendiger Reinigung für Gottes eigene Entwicklung gewesen.
Schelling: Obgleich das Dasein des Bösen habe erklärt werden müssen, habe es doch der Gottheit nicht zugeteilt werden können; von Böhme beeinflußt, behauptete er, das Böse sei aus einem dunkeln Urgrund, – der nicht Gott, aber doch in Gott war –, aufgestiegen. Nicht war es von Gott gewollt, daß das Böse in die Welt, die er erschaffen hatte, hineingekommen wäre; doch wäre es auch nicht gegen Gottes Willen geschehen; mit seiner Zulassung sei es aber da.
Wenn die Erschaffung der Welt für Gott eine Reinigung von einer ihm innewohnenden – oder vielleicht ihm angrenzenden – Finsternis bedeutete, muß dann nicht die ganze Entwicklung des Weltalls ein beständiges Werk der Reinigung umfassen? Ist es das, worauf der Apostel Paulus hindeutet, wenn er spricht: »Alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstet sich noch immerdar« und »das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes«?
Und ähnlich, mit einer etwas anderen Ansicht über jene unermeßlich große Frage, erklärt Schelling, die Gottheit sei die Einheit, in der die Gegensätze inbegriffen seien; durch den Kampf der widerstreitenden Elemente würden die in der Gottheit wohnenden Möglichkeiten verwirklicht.
»Kampf ist der Vater von allem,« sagt Heraklit, der vielleicht tiefste von allen griechischen Denkern.
Der Vater von allem ist Liebe, sagt Jesus Christus.
Vielleicht stehen diese beiden Aussprüche nicht in einem so unvereinbaren Widerspruch, wie es scheint.
Wenn wir davon ausgehen, daß die Menschheit nur durch Leiden und Kampf zu einer wunderbaren Zukunft gelangen kann; wenn wir uns klar machen, daß es auch für Gott selbst Leiden bedeutete, als er Welt und Menschheit schuf, dann muß es uns auch klar sein, daß der Schöpfer seine Schöpfung liebt, die Menschen liebt wie ein Vater, der unter den Drangsalen, denen seine Kinder unterworfen sind, selbst leidet.
Wird nicht dann als Antwort auf die Liebe Gottes unsere Liebe zu ihm hervorgehen?
Da ist der Kern aller wahren Religion! Da ist das Gesetz und die Propheten. Denn jene tiefen Worte Bernhards von Clairvaux werden sich jederzeit als Wahrheit erweisen: »Dem was wir lieben, werden wir ähnlich werden.«
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»Du sollst Gott lieben« – so sind wir gelehrt worden. Doch Liebe ward niemals auf Befehl geboren. Wenn man uns aber sagte: Gott, die Quelle des Lebens lieben, bedeutet ewige Jugend haben – dann würde uns eine fruchtbringende Wahrheit gelehrt werden.
Was ist es, was uns jung macht? Heißt es nicht, dem Leben mit dem unerschütterlichen Glauben entgegensehen, daß die Zukunft, was auch unsere gegenwärtigen Sorgen und Trübsale sein mögen, doch Glück für uns im Schoße habe?
Und was macht uns alt?
Ist es nicht, zurückschauend zu denken, daß der beste Teil unseres Lebens hinter uns liege?
Wer aber Gott von ganzem Herzen liebt, wird sich immer über die wunderbaren Wege freuen, auf denen Gott die Menschheit dem großen Ziel entgegenführt. Und überzeugt, daß die Liebe Gottes immer in ihm weiter wachsen wird, weiß er, daß der beste Teil seines Lebens immer noch vor ihm liegt.
Wie nötig ist es doch, Gott zu lieben, um imstande zu sein, seine Nebenmenschen zu lieben!
Wie viele Menschen gehen mit einem von Zorn vergifteten Gemüt umher, ohne zu begreifen, daß der Schaden, den sie sich selbst durch das Festhalten an finsteren Gedanken zufügen, bei weitem größer ist, als irgendein Schaden, den andere ihnen zufügen können.
Und doch – selbst wenn sie das verstünden, wären sie wohl je fähig, aus eigener Kraft aus dem niederdrückenden Kreis der Bitterkeit herauszukommen?
Was uns hilft, den Menschen zu vergeben, trotz all des Bösen, das sie uns angetan, ihnen Gutes zu wünschen, ist der Gedanke: In jeden von ihnen hat Gott einen Funken seines eigenen Wesens hineingelegt. Für jeden von ihnen nährt er eine Hoffnung: daß dieser Funke zu einer Flamme werde.
So muß unsere erste Pflicht sein: Gott zu helfen, diesen Funken zu einer Flamme wachsen zu lassen.
»Gottes Mitarbeiter mußt du sein,« sagt ein Wort in den heiligen Schriften der Parsen.
»Wer sich selbst kennt, kennt auch seinen Meister,« hat ein arabischer Mystiker gesagt.
Dieses Wort sagt, was alle Mystiker zu allen Zeiten gesagt haben: Wenn du den Ewigen kennen lernen willst, mußt du in die verborgenen Tiefen deines eigenen Wesens hinabsteigen – in jene geheimnisvollen Tiefen, wo die Seele allein mit ihrem Gott ist.
»Das ist das ewige Evangelium: daß der menschliche Geist mit Gott vereinigt werden muß,« schrieb Origenes.
Wahr ist es aber gewiß, was in dem Hermes Trismegistos gesagt wird: »Schwierig ist es, Gott kennen zu lernen, und auch, wer ihn kennt, vermag nicht einem anderen seine Kenntnis mitzuteilen.«
»Das ist das Todtraurige, daß die Seele des Menschen immer allein ist.« (J. P. Jacobsen.)
Wer hat nicht schon die Wahrheit dieses Ausspruchs erfahren! Wer hätte nicht dieses Gefühl innerer Verlassenheit empfunden, selbst im Zusammensein mit denen, die wir lieb haben und von denen wir uns auch geliebt wissen?
Wer aber glaubt und fühlt, daß Gott Liebe ist – der wird gleichzeitig jubelnd denken:
»Das ist das große unermeßliche Wunder: daß eine Menschenseele nie allein ist!«
Denn er weiß, daß gerade die Stelle in unserem Herzen, die eine schmerzhafte Leere zu sein scheint, die Stelle ist, wo wir Gott begegnen sollen.
Es gibt Menschen, die eine tiefe innere Überzeugung von der Gottheit haben. Wodurch? Sie können sie auf verschiedene Weise gewonnen haben, aber der stärkste Beweis für sie alle wird sicherlich die innere Erfahrung von einem neuen, aus geheimnisvollen Tiefen quellenden Leben sein, eine neue Freude, die nichts mit äußeren Umständen zu tun hat.
Dieses Leben, diese Freude kann in einer Sekunde oder allmählich entzündet werden. Aber wer sie in sich hat, weiß ganz gewiß, daß sie ewig ist.
Eine Sehnsucht des Herzens nach einem Raum jenseits von Wolken und Sternen, eine innere Gewißheit einer Barmherzigkeit, die Sterne und Seelen umfaßt – das ist es, was auch dem einfachsten Glauben eines einfachen Menschen etwas von Hoheit und Heiligkeit verleiht.
Aber das Fehlen dieser Gewißheit kann der begabtesten Persönlichkeit die Decke über ihrem Haupte niedrig machen.
Die Zeit liegt nicht weit hinter uns, in der es für einen intelligenten Menschen mit liberalen Ansichten fast nötig war, Gott zu leugnen. Jetzt sind sich doch die Menschen allmählich darüber klar geworden, daß das nichts mit Freisinnigkeit zu tun hat, ob wir glauben oder nicht glauben, daß das Weltall ein Zentrum hat. Und was die Intelligenz anbelangt – nun, es haben eben in diesen letzten hundert Jahren so viele bedeutende Gelehrte ihren Glauben an einen Schöpfer bekannt, daß es wirklich schwer fallen würde, diesen Glauben als ein Zeichen geistiger Schwäche anzusehen.
Der große Astronom I. R. Herschell schrieb: »Je mehr das Feld der Wissenschaft erweitert wird, um so zahlreicher und einwandfreier werden die Beweise für das ewige Dasein einer schöpferischen und allmächtigen Weisheit.«
Der berühmte dänische Physiker Örsted sagte: »Jede gründliche Erforschung der Natur führt zur Erkenntnis Gottes.«
Faraday, der bekannte Erforscher des Gebiets der Elektrizität, schrieb einmal: »Unsere Wissenschaft, die uns diese Dinge bekannt macht, wird uns dazu führen, an ihn, dessen Wunder sie sind, zu denken.«
Louis Pasteur: »Für den, der das Dasein der Unendlichkeit anerkennt – und niemand kann vermeiden, es zu tun – drängt sich in dieser Behauptung mehr von dem Übernatürlichen zusammen, als in allen Wundern aller Religionen zusammengedrängt ist. Wenn diese Vorstellung von unserer Seele Besitz ergreift, können wir nichts anderes tun, als die Knie beugen.« Und an einer andern Stelle: »Je tiefer ich die Natur erforsche, desto mehr bin ich von Erstaunen und Bewunderung über die Werke des Schöpfers hingerissen.«
Sir Charles Lyell, dessen Werke über erdgeschichtliche Wissenschaft epochemachend sind: »In welcher Richtung wir auch immer unsere Forschungen betreiben, überall begegnen wir den klarsten Beweisen von einer schöpferischen Intelligenz.«
Und Darwin, der von vielen für einen Atheisten gehalten wird: »Die Frage, ob es einen Schöpfer und Lenker des Weltalls gibt, ist von den größten Geistern, die jemals gelebt haben, bejaht worden.«
In einem andern Werk hat er gesagt, er könne den Ursprung des Lebens als nichts anderes auffassen, denn als das Ergebnis eines Willens, der die Welt regiert.
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In unserer Zeit der Unrast und des immer neuen Suchens, die wie das Morgengrauen einer neuen Epoche zu sein scheint, ist es in der Tat dringend notwendig, klar darzulegen, daß es ebenso logisch sei, an Gott zu glauben, als nicht an ihn zu glauben – ja wahrhaftig, daß es mehr logisch ist, an ihn zu glauben.
Nicht, daß Gottes Dasein jemals wissenschaftlich bewiesen werden könnte.
Aber wir dürfen es sagen, daß bei den meisten Menschen auf dem Grunde ihres Herzens der Wunsch wach ist, an eine weise und barmherzige Macht, die die Welt lenkt, zu glauben. Die Feststellung, daß der Glaube an Gott logischen Schlußfolgerungen eines modernen Intellekts nicht widerspricht, wird für manchen den Stein wegräumen, der eine frisch und lebendig sprudelnde Quelle verdeckt hat.
Trotzdem sollten wir die Schwierigkeit eines solchen Glaubens offen zugeben. Es ist schwierig, an ein höchstes Wesen, das das ganze Universum umschließt, zu glauben.
Aber es ist noch schwieriger, nicht daran zu glauben.
Gerade vom Standpunkt der Logik aus.
Welch einen großen Unterschied für unser ganzes Leben macht es aus, ob wir an Gott glauben oder nicht.
An ihn glauben, heißt überzeugt sein, daß die Kräfte in der Welt, die für das Gute wirken, schließlich siegen werden.
An ihn glauben, heißt wissen, daß unsere Anstrengungen, irgendeiner guten Sache zu dienen, nie nutzlos sein werden, selbst wenn sie dem Anscheine nach von keinem Erfolg begleitet sind. Geradeso wie der Regen, der auf eine Wüste fällt, verdunstet und sich aufs neue zu Wolken vereinigen wird, die dann nach andern Regionen hinwegziehen, wo Regen Wachstum bringt, so wird auf irgendeine geheimnisvolle Weise alles, was zum Wohl der Menschheit getan wird, dieser unserer Welt zum Segen werden.
Glauben an einen Gott, der der Ursprung von allem, das Ziel von allem ist, heißt: im tiefsten Grunde, selbst mitten unter Kämpfen und Sorgen, eine große Ruhe in sich tragen. Es heißt fühlen, selbst wenn Unglück in überwältigendem Maße auf mich eindringt: ich kann es dennoch tragen.
Nicht an eine herrschende, barmherzige Kraft glauben, das heißt, in diesem Weltall vaterlos, heimatlos sein. Das heißt im innersten Herzen starre Kälte fühlen. Das schließt die Überzeugung in sich, daß die Disharmonie, die wir, nur allzuoft, in unserem eigenen Wesen fühlen, sich als unüberwindlich erweist. Das heißt fühlen, daß unsere Seele, verletzt und in Stücke gerissen, niemals und nirgends Frieden finden wird.
Gott ist Liebe – nie wurde der Menschheit eine tiefere Welterklärung gegeben. Aus Liebe erschuf Gott die Welt; Liebe ist das grundlegende Gesetz, das er dem Weltall gegeben hat; darum gewinnen wir die innere Harmonie, die wir Glück nennen, nur, wenn wir aus freiem Willen als die Richtschnur unseres Lebens das Gesetz annehmen, das – grundlegend und unabhängig vom Zufall – im Weltall herrscht. Nur in dieser Weise können wir an der Kraft teilnehmen, die das Weltall durchdringt, an dem Glück, das der Grund und das Ziel des Daseins ist.
Wenn wir zu fernen glänzenden Sternen aufschauen, wenn wir einer vollkommenen Musik uns hingeben, dann kann es uns begegnen, daß wir wie eine Antwort auf ein stilles Gebet jene höchste Lebenshöhe empfinden, die in dem Wort Ausdruck findet: Gott lieben.
Und während einiger flüchtiger Sekunden wissen wir, was Glückseligkeit ist. Denn in demselben Augenblick, wo wir uns der tiefen heiligen Liebe zum Zentrum des Lebens bewußt werden, überflutet unser Herz eine Woge der Liebe zu dem ganzen Weltall. Und nun verstehen wir die Bedeutung des Wortes: »Das Reich Gottes ist inwendig in euch.«
Nun fühlen wir die Wahrheit dessen, was ein großer Dichter und Philosoph einmal schrieb: »Der innerste Kern der Schöpfung ist Glück.«
Da und dort finden sich in den Schriften inspirierter Menschen Aussprüche, die uns gleichsam eine Tür zu einem Reich voll strahlenden Lichtes öffnen. Da und dort hören wir Worte fallen, die uns das Geheimnis eines Herzens enthüllen. Da und dort erfassen wir einen Schimmer von der flammenden Liebe zu dem Allerhöchsten in einer Menschenseele. Und aus dieser Flamme heraus sprühen Funken.
Ein Funke sprüht auf, ein Feuer flammt, es leuchtet und glüht in unserem Herzen. Vielleicht nur auf wenige Sekunden. Doch nicht umsonst.
Es gibt viele, die den Gedanken, daß Liebe das grundlegende Gesetz dieser Welt sei, ganz entschieden verwerfen. »Es gibt da zuviel, was das Gegenteil bedeutet,« meinen sie.
Und doch, tatsächlich ist keine Macht in dieser Welt größer als die Liebe.
Wer Liebe hat, hat Macht über die Seelen. Nur wer die Menschen liebt, wird einen dauernden Einfluß auf sie haben. Denn in dieser unserer Welt, wo so viele den andern, mit denen sie zusammentreffen, alles nehmen möchten – indem sie deren Zeit, deren geistige Fähigkeit, deren Eigentum gern in Anspruch nehmen – da werden die Menschen es instinktiv empfinden, wenn sie einem Mitmenschen begegnen, der ihnen etwas geben will.
Wer Liebe hat, besitzt das größte Gut: Selbstüberwindung. Er ist imstande, die Bitterkeit und den Zorn zu bekämpfen, die durch die Ungerechtigkeit und die Grausamkeit der Menschen hervorgerufen werden. Diese finstere Bitterkeit, die mehr als alles andere die Glücksmöglichkeit eines Menschen schmälert, kann nur durch jene starke Liebe bekämpft werden, die einen Menschen über sich selbst und sein Schicksal hinaushebt, weil er das Leben und die Welt von dem unermeßlich strahlenden, warmen Licht göttlicher Gedanken erhellt sieht.
Deshalb hat ein Mensch, dem Liebe innewohnt, die Macht, sich selbst zu ändern, sein Leben umzuformen – ja, auch die ihn umgebende Welt umzugestalten.
Und wenn wir diese Macht der Liebe, zu schaffen und zu erneuern, sehen, dann empfinden wir: daß Gott Liebe ist – daß Liebe Gott ist.
Durch die Liebe Gottes sind alle lebenden Wesen geschaffen worden – die Liebe Gottes, der Atem Gottes durchdringt die Welt, erhält die Welt.
In ewiger Liebe zieht Gott die Menschen zu sich.
Eine Ahnung von der wunderbaren Kraft der Liebe liegt in dem Ausspruch des oben angeführten griechischen Denkers: »Die Welt wird von einer ewigen Anziehung zu Gott hin regiert.«
Gottes Liebe schwebt über der Welt, sucht überall eine Seele, die bereit wäre, sich ihr zu öffnen, sich ihr zu weihen, zu empfangen – – –
Und wo immer sich ein Herz findet, das sich den Strahlen von oben öffnet, da wird von diesem Herzen das Licht und die Kraft und die Liebe Gottes über die Welt hinstrahlen. Sie sind eins, diese drei, und durch sie wird die Welt gestaltet.
Wer sein Herz der göttlichen Liebe öffnet, der wird die Wahrheit der Worte des Propheten erfassen: »Gott, der Heilige ist in dir.« Er wird sich von der Kraft, die die Welt zusammenhält, durchbebt fühlen. Er wird sich mit der Menschheit, mit dem Weltall vereinigt wissen.
Er hat Göttlichkeit in seinem Herzen. Und er wird Gott ähnlich gemacht werden.
Die Durchdringung des menschlichen Geistes durch den göttlichen Geist – das ist das größte Wunder.