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Zu König Crösus von Lydien kam einst ein Mann, der entsühnt zu werden verlangte. Nachdem der König die gewöhnlichen Riten, die von Blutschuld befreien sollten, ausgeführt hatte, fragte er den Fremden nach seinem Namen und welches Verbrechen er begangen habe. Der Fremde sagte, er heiße Adrastos; er sei der Sohn eines andern Königs in Kleinasien und habe seinen Bruder unabsichtlich getötet. Von Schmerz und Gram erfüllt, habe ihn sein Vater aus Heimat und Vaterland vertrieben; deshalb irre er nun einsam und heimatlos umher.
Voller Mitleid lud König Crösus den Mann ein, als Gast in seinem Palast zu verweilen. Und Adrastos nahm die Einladung dankbar an. Doch zeigte er sich niemals bei den Festmahlen und Gesellschaften, die in des Königs Palast gefeiert wurden. Er sagte, für einen Mann, der eine so schwere Last zu tragen habe, zieme es sich nicht, an Festen teilzunehmen.
Eines Tages nun geschah es, daß König Crösus' ältester Sohn einen Eber jagen wollte, der seit längerer Zeit die Getreidefelder in der Nachbarschaft der Hauptstadt verwüstet hatte. Dieser Jüngling war die Freude und Hoffnung seines Vaters. Doch jetzt war der König besorgt um ihn, weil er mehrere Nächte nacheinander etwas von seinem Sohne geträumt hatte, das Böses für diesen zu bedeuten schien.
Der König sagte zu Adrastos: »Wenn du Dankbarkeit für mich empfindest, weil ich dir Heimat und Obdach gewährt habe, dann beweise sie jetzt, indem du meinen Sohn auf dieser Jagd begleitest und alles tust, was in deiner Macht steht, ihn zu beschützen.«
Adrastos erwiderte: »Mit meinem eigenen Leben werde ich, so es nötig ist, deinen Sohn beschützen.«
Die Jagd begann. In einem Wald stießen sie auf den Eber. Die Männer stellten sich in einem Halbkreis auf; alle warfen ihre Speere nach dem Eber. Aber Adrastos' Speer ging fehl und traf den Sohn des Königs Crösus.
Ein Bote kam zu dem König: »Dein Sohn ist tot – Adrastos' Speer ging fehl und hat ihn getötet.«
Außer sich vor Schmerz rief der König: »Ein Mann, der in solcher Weise Wohltaten vergilt, muß mit dem Tode gestraft werden!«
Eine Weile später kehrten die Jäger, des Königs Sohn auf ihren Speeren tragend, zurück. Hinter ihnen schritt Adrastos, das Haupt tief gebeugt. Er streckte die Hände aus und sagte: »Nimm mein Leben, König Crösus. Nimm es als Sühne. Nachdem ich dies verschuldet habe, will ich nicht länger leben.«
Als der König diese Verzweiflung sah, erweichte sich sein Herz, und er sagte: »Nicht du hast ihn getötet – das Schicksal war's.«
Dann wurde der Sohn des Königs begraben, und über seinem Leichnam wurde ein Hügel aufgeschichtet.
Am nächsten Morgen fand man einen Mann auf dem Hügel, der sich mit seinem eigenen Schwert umgebracht hatte. Es war Adrastos. Er hatte das Leben nicht mehr ertragen können.
Zweieinhalb Jahrtausende sind seit jenem Ereignis vergangen. Aber fühlen wir nicht noch immer etwas wie ein Echo – gleichsam durch die Jahrhunderte hindurch zitternd – des Leides, des schweren unverdienten Leides jenes Mannes?
*
Was uns die Geschichte des Adrastos in gedrängter Kürze darbietet – das Gefühl von der Ungerechtigkeit des Schicksals, dessen Schläge oft edelmütige, empfindsame Menschen am schwersten treffen – ist dasselbe, was sich uns bei vielen Ereignissen in dem menschlichen Leben einprägt. Und die empörte Frage steigt in uns auf: »Wie kann der Herr des Weltalls gerecht genannt werden, wenn er so viel Ungerechtigkeit zuläßt?«
In einem alten Buch erhabener Poesie, dem Buch Hiob, wo bittere Zweifel an der Gerechtigkeit des Lebens laut werden, ist die Antwort: »Der Allmächtige, der Unerforschliche besitzt nicht allein die Macht, sondern auch das Recht, das Schicksal der Menschen zu gestalten, wie es ihm gefällt. Es schickt sich nicht für den Menschen, mit Gott zu rechten.«
Einige Jahrhunderte später hat einer der größten Männer der Christenheit geschrieben: So wenig ein Gefäß aus Ton das Recht habe, den Töpfer zu fragen, warum es so oder so gemacht sei, ebensowenig habe ein Mensch das Recht, seinen Schöpfer zu fragen, warum er ihn so oder so geschaffen habe.
Es mag sein, daß zu der Zeit, wo das Buch Hiob niedergeschrieben wurde, und auch zu der Zeit, wo der Apostel Paulus seine Briefe verfaßte, die Fragen der Menschen mit solchen Reden zum Schweigen gebracht wurden. Gewiß ist aber, daß moderne Menschen sich solchen Vorschriften nicht unterwerfen werden. In unserer Zeit ist sich der Mensch seines Rechts und seiner Pflicht, sein »Warum« in jedem Bereich aufzustellen, bewußt.
Jetzt ist der Tag gekommen, wo der Mensch mit seinem Gott rechten will. Jetzt hat die Stunde geschlagen, wo der Ton den Töpfer fragt: »Warum hast du mich so gemacht?«
Denn wir fühlen: Es ist nicht genug, daß nach unserem Tode Gerechtigkeit über uns bestimmt; wir müßten auch bei unserer Geburt und während unserer Lebenszeit gerecht behandelt werden.
Aber wie kann ein Mensch sagen, er werde gerecht behandelt, wenn er in einer Atmosphäre von Verbrechen mit angeborenen Anlagen zum Bösen geboren wird?
Aus alten Zeiten her klingt es doch wie eine Antwort.
Schon längst, unter allen Völkern, hat es Menschen gegeben, die ihre Mitmenschen gelehrt haben: Dieses unser Leben ist nicht unser erstes auf der Welt; es wird auch nicht unser letztes sein. In vielen früheren Dasein haben wir unsere Fähigkeiten entwickelt – oder wir haben es unterlassen, sie zu entwickeln; in vielen Dasein haben wir uns eine Verantwortung zugezogen, für die wir Genugtuung leisten müssen.
Vor ungefähr zwanzig Jahren schrieb Harold Begbie, ein englischer Schriftsteller, daß unter heutigen primitiven Völkern der Glaube an Reinkarnation so gewöhnlich sei, daß es als seltene Ausnahme gilt, wenn dieser Glaube von einem jener Völker nicht angenommen wird. Diese Feststellung ist besonders deshalb bemerkenswert, weil der Autor selbst den eben genannten Glauben keineswegs teilte. Mr. Begbie meinte offenbar, diese Ansicht sei besonders den primitiven Rassen eigen. Vielleicht gibt es andere, die derselben Meinung sind. Es ist dann der Mühe wert, darauf hinzuweisen, daß wir in allen großen Zivilisationen zu allen Zeiten Beispiele für diesen Glauben finden – und sogar unter ihren hervorragendsten Männern.
Wie jedermann weiß, glauben die indischen Völker seit wenigstens drei Jahrtausenden an die Reinkarnation. Seit einer fast ebenso langen Zeit scheinen sich die Perser mit derselben Ansicht getragen zu haben.
Zeuge: der große Bundahesch, eine der heiligen Schriften des Parsismus, worin die Legende erzählt wird: In uralter Zeit fragte Ahura Mazda eine Schar Geister: »Seid ihr willig, in die Welt der Materie hinabzusteigen, um dort gegen Finsternis und Böses zu kämpfen?«
Die Geister antworteten: »Wir sind willig.«
Darauf kleidete Ahura Mazda sie in Materie und stellte sie auf die Erde.
Zu jener Zeit hatte der Kampf zwischen Licht und Finsternis noch nicht begonnen; er fing erst dreitausend Jahre später an. Ahura Mazda aber hatte ihn in seiner Allwissenheit vorausgesehen.
Natürlich konnte man nicht annehmen, daß jene Geister, die sich verpflichtet hatten, in Menschengestalt für das Licht zu kämpfen, dreitausend Jahre leben würden; deshalb müssen die alten Perser – wenn sie nicht glaubten, ihr Gott habe einen großen Fehler gemacht – sich vorgestellt haben, daß diese Geister wiedergeboren wurden, um für Ahura Mazda zu kämpfen, als der bedeutungsvolle Streit begann.
Auch in Ägypten glaubte man von alters her an die Reinkarnation. Zeuge: Herodot, der uns die Überzeugung mitteilt, daß Pythagoras seine Lehre von der Wiedergeburt in Ägypten gewonnen habe. Möglicherweise hat sich der alte griechische Geschichtschreiber in Beziehung auf Pythagoras geirrt – da dieser Philosoph, ehe er nach Ägypten kam, in verschiedenen Ländern studiert hatte –, aber was durch diesen Ausspruch festgestellt wird, ist, daß tatsächlich zu Herodots Zeit dieser Glaube bei den ägyptischen Priestern vorhanden war. Denn dem Geschichtschreiber aus Halikarnassos waren allem Anschein nach die ägyptischen priesterlichen Ansichten ganz geläufig. In Anbetracht des wohlbekannten Konservatismus der ägyptischen Priesterschaft kann nicht angenommen werden, daß dies ein Glaube war, der zu Herodots Zeit neu gewesen wäre; viel wahrscheinlicher war es eine seit undenklichen Zeiten feststehende Ansicht.
Alt war auch der Orphismus in Griechenland, von dessen Einfluß auf die griechischen Philosophen und Poeten wir viele Beispiele haben. Schon Hesiod scheint ein Anhänger des in Frage stehenden Glaubens gewesen zu sein. Und Plutarch führt einige Zeilen von Pindar an:
»Die bei Persephone weilen und sind verurteilt,
Zu sühnen Schulden von einst, sie müssen
Zur Erde zurück, wenn der Zeiten neun sind vergangen.«
Im »Menon« läßt Plato Sokrates sagen, daß es »außer den Priestern und Priesterinnen« viele Poeten gegeben habe, die Anhänger dieses Glaubens gewesen seien. – »Ja, in der Tat,« fügt er hinzu, »so viele von ihnen, die göttlich sind« – so viele, als von den Göttern inspiriert sind, meint er augenscheinlich. »Sie sagen,« fährt Sokrates fort, »die Seele des Menschen sei unsterblich und gehe manchmal von hier fort – was ›,sterben‹, genannt wird – und kehre manchmal wieder zurück.«
Auch bei den Römern fand sich dieser Glaube. Zeuge: Cicero, der in »Scipios Traum« sagt, daß die Seelen, die zu diesem Erdenleben geboren werden, früher auf Sternen gelebt hätten.
Ein Zeuge ist auch Vergil, der den Anchises zu Äneas sagen läßt, daß die Seelen, die er sich um den Fluß Lethe drängen sah, vom Schicksal verurteilt waren, aufs neue ins irdische Leben geboren zu werden; diese mußten notwendig Vergessenheit trinken, sonst wären sie nie dazu gebracht worden, in das Gefängnis des leiblichen Lebens zurückzukehren.
Auch bei Seneca und bei Varro finden sich Belege für diese Auffassung.
Bei den Hebräern – hier wahrscheinlich von den Griechen beeinflußt – war zu Josephus' Zeit dieser Glaube offenbar vorherrschend. Dieser Geschichtschreiber sagt uns, daß in dem Krieg gegen die Römer die jüdischen Männer, die er befehligte, und welche mit ihm in Jotapata belagert wurden, erklärten, sie würden sich lieber selber töten, als sich zu Gefangenen machen lassen, worauf Josephus, indem er versuchte, sie von diesem verzweifelten Entschluß abzubringen, sagte: »Wisset ihr nicht, daß die, welche dieses Leben in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen verlassen, einen sehr heiligen Platz im Paradies erhalten, von wo sie, nach einer gewissen Zeit, in reine Körper gesandt werden.«
Josephus sagt ferner, daß die Pharisäer lehrten, »alle Seelen seien unzerstörbar«, aber die Seelen der »guten Menschen« würden in andere Körper versetzt werden.
Josephus schrieb seine historischen Werke ungefähr achtzig Jahre nach dem Anfang unserer Zeitrechnung. Aber der Glaube der Wiedergeburt war offenbar unter den Juden schon etwa fünfzig Jahre früher weit verbreitet.
Als Jesus seine Jünger fragte: »Was sagen die Leute, daß des Menschen Sohn sei?« erhielt er die Antwort: »Etliche sagen, du seiest Johannes der Täufer, die andern, du seiest Elias; etliche, du seiest Jeremias oder der Propheten einer.«
Ferner: als die Jünger einen Blindgeborenen sahen, fragten sie Jesus: »Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er ist blind geboren?« Wenn man die Möglichkeit annimmt, daß er die angeborene Blindheit selbst herbeigeführt habe, so setzt das notwendig den Glauben an ein früheres Dasein voraus.
Auch die alten Skandinavier glaubten an die Wiedergeburt. In einem der Gesänge der Edda, worin die starke Liebe zwischen einem Helden und seiner Braut geschildert wird, heißt es, daß von diesen beiden allgemein angenommen wurde, sie seien zwei andere berühmte Liebende, die wiedergeboren seien. »Denn in den alten Zeiten,« sagt uns die Edda, »glaubten die Menschen an die Wiedergeburt.«
Und augenscheinlich haben sie das Rätsel einer starken und plötzlich empfundenen Sympathie so zu lösen gesucht, wie später der größte deutsche Dichter in seinem Gedicht an Lida:
»Ach, du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.«
Max Müller, der berühmte religionsgeschichtliche Forscher, schrieb über die Theorie der Reinkarnation: »Es gibt keinen andern Glauben, über den die großen Denker der Menschheit so einig sind.«
Und wirklich, eine glänzende Reihe von Philosophen – von Pythagoras, Empedokles, Sokrates und Plato bis zu Johannes Scotus Erigena, von Giordano Bruno bis zu Leibniz, Herder und Schopenhauer – hat diese Idee vertreten.
Und Voltaire, der große Spötter, der manchmal treffende Ausdrücke für ernste Wahrheiten fand, schrieb: »Es ist wahrlich nicht wunderbarer, zweimal als einmal geboren zu werden.«
Eine nicht weniger glänzende Reihe von Dichtern, die derselben Idee huldigten, kann hier angeführt werden.
In »Der Sturm«, das wunderbare letzte Meisterwerk von Shakespeare, spricht er von dem Leben des Menschen als »vom Schlaf umgürtet«, was anzudeuten scheint, daß diesem Leben ein Zustand des Unbewußtseins sowohl vorangehe als folge.
Calderon, der große Spanier, scheint auf denselben Glauben hinzuweisen in den schwermütigen Zeilen:
»Des Menschen größestes Verbrechen
Ist dies: daß er geboren ward.«
Goethe gab seiner Überzeugung Ausdruck, daß er tausend Leben gelebt habe, und ebenso seiner Hoffnung, noch tausendmal wiedergeboren zu werden. Und Schiller sprach dieselbe Ansicht aus.
Auch Victor Hugo, der größte französische Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, war ein Anhänger dieses Glaubens.
Ebenso drei berühmte englische Dichter desselben Jahrhunderts: Shelley, Wordsworth und Robert Browning.
Und in diesem Jahrhundert schrieb Maurice Maeterlinck: »Es hat niemals einen schöneren, gerechteren, reineren, sittlicheren, freudevolleren, tröstlicheren, ja in gewisser Hinsicht wahrscheinlicheren Glauben gegeben.«
*
Nun, wenn in allen alten Zivilisationen diese Idee festgehalten wurde, wenn in der Reihe großer europäischer Denker und Dichter so viele und so hervorragende Anhänger dieses Glaubens gewesen sind – wie kommt es dann, daß er unter den modernen gebildeten Menschen verhältnismäßig wenig verbreitet ist?
Die Tatsache, daß zwei von den oben angeführten Philosophen, Erigena und Giordano Bruno, als Ketzer verurteilt wurden, kann dieses Erlöschen einigermaßen erklären. Die katholische Kirche war allezeit ein entschiedener Feind der Lehre von der Wiedergeburt.
Warum? War es, weil die Kirche der Ansicht war, daß diese Idee der Lehre Christi widerspreche?
Dies hätte sie kaum behaupten können.
Die oben angeführte Frage über den Blindgeborenen stellten die Jünger zu einer Zeit, wo das Leben Christi auf Erden seinem Ende entgegenging, und ihr dadurch gezeigter Glauben an die Wiedergeburt wurde nicht von dem Meister berichtigt.
Jesus erhob nur Einspruch gegen die Annahme, die der Frage zugrunde lag, daß das Unglück eines Menschen uns berechtige, daraus auf das Maß seiner Sündhaftigkeit zu schließen.
Wir wissen so wenig voneinander. Manchmal halten wir einen Menschen für unglücklich, während dieser Mensch vielleicht glücklicher ist als ein anderer, der sehr erfolgreich zu sein scheint. Jedenfalls äußert sich Jesus weder bei dieser Gelegenheit noch sonstwo in den Evangelien gegen den Gedanken von der Wiedergeburt.
Welche Ansicht haben doch diejenigen von Jesus, der sich selbst »den Weg, die Wahrheit und das Leben« nennt, die annehmen, er hätte seinen Jüngern erlaubt, bis zum Schluß seines Lebens an einer falschen Ansicht über eine so wichtige Frage festzuhalten, ohne jemals einen Versuch zu machen, sie richtig zu stellen?
Übrigens ist es klar, daß Christus selbst in dieser Beziehung dieselbe Ansicht hatte, wie die von den Jüngern ausgesprochene. Er sagt von Johannes dem Täufer: »Und (so ihr's wollt annehmen) er ist Elias.« Einige haben versucht zu erklären, es sei damit nur gemeint: ein Mensch mit den geistigen Gaben des Elias. Aber das ist eine Verdrehung einer sehr klaren Feststellung.
Andere haben gemeint, diesem Ausspruch sei durch die Erscheinung auf dem Berge Tabor, wo Jesus mit Moses und Elias gesprochen haben soll, tatsächlich widersprochen. Zu jener Zeit aber war Johannes der Täufer tot, und es liegt nichts Unwahrscheinliches darin, daß die Persönlichkeit, die einmal als Elias und einmal als Johannes der Täufer auf Erden gelebt hatte, nachdem dieses zweite Leben zu Ende gegangen war, in der Gestalt seiner früheren Inkarnation erschienen sei. Überdies ist es bemerkenswert, daß gerade nach dem Ereignis auf Tabor Jesus von Johannes dem Täufer sagte: »Er ist Elias.«
Manche haben den Einwurf gemacht: Aber als Johannes der Täufer von dem Volke gefragt wurde, ob er Elias sei, antwortete er: »Nein, ich bin's nicht.« Und als er gefragt wurde, ob er »der Prophet« sei, das heißt der erwartete Vorläufer Christi, antwortete er auch mit nein. Johannes war aber offenbar einer jener seltenen Menschen, die entschieden jede Art von Lob zurückweisen. Außerdem ist es wohl möglich, daß er, wie die allermeisten Menschen, von seinen früheren Inkarnationen nichts wußte.
Jedenfalls haben wir hier zwei verschiedene Aussprüche von Johannes und Jesus. Der erste sagt: »Ich bin nicht Elias. Ich bin nicht der Prophet.« Der zweite sagt: »Er ist Elias, er ist der Prophet, ja mehr denn ein Prophet.« Es ist erlaubt, Jesus für den klarer Sehenden von den beiden zu halten.
Immerhin haben einige auf den Einwand des Nikodemus hingewiesen: »Kann ein Mensch auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?« als ein Zeugnis von der Abgeneigtheit der Juden, den Gedanken der Wiedergeburt anzunehmen.
Natürlich wird es Persönlichkeiten gegeben haben, die abgeneigt waren, diesen Glauben anzunehmen. Und unter diesen war vielleicht Nikodemus. Jedenfalls zeigt die Gegenrede Jesu: »Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht?« sehr deutlich, daß er dachte, dieses Mitglied von Sanhedrin zeige Unwissenheit, weil es anscheinend nicht wisse, daß ein Mensch wiedergeboren werden könne, ohne in seiner Mutter Leib zurückkehren zu müssen.
Es mag unentschieden bleiben, ob das, was Jesus bei dieser Gelegenheit vor Nikodemus' Einwand gesprochen hat, auf die Wiedergeburt hinzielte; es scheint eher, daß er damit die Erneuerung des Herzens meinte. Da aber der Einwand des Nikodemus diesen Gedanken vorbrachte, muß es als höchst wahrscheinlich betrachtet werden, daß sich die zuletzt angeführten Worte Jesu auch darauf beziehen.
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Darum erscheint es als wahrscheinlich, daß Origenes, der gelehrteste und geistreichste von den alten Kirchenvätern, recht hatte, wenn er behauptete, die Idee von der Wiedergeburt gehöre zu den Lehren, die Jesus zwar seine Jünger lehrte, aber nicht die Menge. Es ist gut denkbar, daß Jesus es nicht für nötig hielt, das der Volksmenge zu predigen, besonders weil sich der Gedanke von der Wiedergeburt anscheinend schon ziemlich verbreitet hatte. Es ist verständlich, wenn er die meisten Menschen jener Zeit für die großen Wahrheiten, die mit dieser Lehre verbunden sind, noch nicht für reif gehalten hat.
Aber in unserer Zeit, wo der Skeptizismus allgemein ist und wo man Aussprüche hören kann, wie: »Es ist unmöglich, an einen gerechten und barmherzigen Gott zu glauben, wenn man sieht, wie verschieden die Möglichkeiten der Menschen sind, nicht nur, was Glück, sondern auch was ein rechtschaffenes Leben betrifft« – in dieser Zeit kann die Lehre von der Wiedergeburt vielleicht eine große Mission haben. Sie kann fähig sein, viel Bitterkeit auszurotten, sie kann fähig sein, manch einer Seele den Glauben an Gott zu bringen.
In »Menon« zeigt uns Plato den Sokrates, wie er in einem Gespräch mit einem jungen Sklaven darzulegen versucht, daß Menschen schon früher gelebt hätten, ehe sie in dieses irdische Dasein geboren wurden. In diesem besonderen Fall könnte die Argumentierung des Philosophen nicht für unumstößlich erklärt werden, denn in der Reihenfolge seiner Fragen legt er dem Sklaven die Worte über die in Frage stehende Lösung der mathematischen Aufgabe beinahe in den Mund. Aber unanfechtbar ist der darunter liegende Gedankengang: daß eines Kindes rasche – oft wunderbar rasche – Auffassung verschiedener Ideen anzudeuten scheint, daß in seiner Seele schon gewisse Vorstellungen existieren und daß so das Erlernen neuer Dinge in Wirklichkeit ein Erwachen von Erinnerungen ist.
Die Entwicklung eines Kindes in seinen ersten Jahren ist immer eine Art Wunder. Es ist festgestellt worden, daß ein Kind von durchschnittlicher Begabung in seinem zweiten Jahr verhältnismäßig zehnmal soviel lernt, als ein Erwachsener in der gleichen Zeit lernen könnte. Diese Tatsache fällt uns indes wegen ihrer Allgemeinheit nicht besonders auf. Aber es gibt Fälle, wo wir unwillkürlich erstaunt sind und zum Nachdenken gezwungen werden, nämlich, wenn man uns von »Wunderkindern« und ihren Leistungen berichtet.
Einige wenige Beispiele von dem, was Wunderkinder geleistet haben, sollen hier berichtet werden:
Im Alter von drei Jahren spielte Mozart schon eigene Phantasien. Als er fünf Jahre alt war, kam eines Tages ein Freund seines Vaters in das elterliche Heim mit einem eben komponierten Konzert, das sie zusammen spielen wollten. Der Knabe bat eifrig, auch mitspielen zu dürfen. Er wurde ausgelacht; es schien wirklich unmöglich, daß ein so kleines Kind eine Komposition, die es nie vorher gehört hatte, prima vista spielen könnte. Schließlich wurde ihm erlaubt, einen Versuch zu machen. Und zum größten Erstaunen aller Anwesenden spielte er seinen Teil fehlerlos. Im Alter von sechs Jahren fand ihn sein Vater, wie er eben allerlei Kleckse auf einen Bogen Notenpapier schrieb. Als er gefragt wurde, was er denn da tue, lautete seine Antwort, er komponiere ein Konzert. Nachher durfte der Vater die Komposition sehen, und da stellte sich heraus, daß das Kind, ohne irgendwelchen Unterricht über die Harmoniegesetze gehabt zu haben, diese Gesetze geahnt und befolgt hatte.
Blaise Pascal wurde mit zwölf Jahren einmal von seinem Vater beim Zeichnen verschiedener geometrischer Figuren überrascht. Der Vater war der einzige Lehrer seines Sohnes gewesen und hatte ihm weder Stunden in Geometrie gegeben noch je mit ihm über Geometrie gesprochen. Deshalb fragte er erstaunt, was denn Blaise mit diesen Zeichnungen wolle? Der Junge sagte, er wolle zu beweisen versuchen, daß die drei Winkel eines Dreiecks immer genau dieselbe Größe hätten wie zwei rechte Winkel – was bekanntlich einer der Lehrsätze in der Geometrie von Euklid ist. Durch weitere Fragen stellte sich heraus, daß der Junge alle die ersten zweiunddreißig Lehrsätze des Euklid herausgefunden hatte, sowohl die Aufgaben wie die Beweise. Wie vollkommen frei von jeder Art geometrischem Unterricht er war, zeigte sich in der Tatsache, daß er nicht einmal die Ausdrücke Kreis und Linie kannte, sondern von Ringen und Strichen sprach.
Pico della Mirandola galt im Alter von zehn Jahren für den ersten Dichter und Redner des damaligen Italien.
Eine noch überraschendere Erscheinung war Heinrich Heinecken, geboren in Lübeck im achtzehnten Jahrhundert. Mit einem Jahr konnte er den historischen Inhalt der fünf Bücher Mose erzählen. Mit zwei Jahren kannte er das meiste der biblischen Geschichte, und ebenso bewandert war er in der damaligen Geographie. Mit drei Jahren konnte er lateinisch und französisch und war in der Weltgeschichte daheim. Die Kunst des Schreibens erlernte er in wenigen Tagen. Einmal wurde er von seinen Eltern an den dänischen Hof gebracht; da hielt er vor dem König eine feierliche lateinische Rede und zeigte seine Kenntnisse auch auf verschiedenen anderen Gebieten. Ehe er fünf Jahre erreicht hatte, starb er.
Ebenso erstaunlich ist die Geschichte von Sigismund von Praun, der im Jahr 1811 in Ungarn geboren war und im Alter von zwei Jahren über die hauptsächlichsten Ereignisse der Weltgeschichte Auskunft geben konnte. Er war auch ein musikalisches Wunderkind; mit drei Jahren trat er als Geiger in Konzerten auf, und zu gleicher Zeit zeigte er auffallende Gaben fürs Zeichnen.
Wilhelm von Ruysbroek, ein Franziskanermönch des dreizehnten Jahrhunderts, der einen wertvollen Bericht seiner Reisen in Asien hinterließ, erzählt uns, daß er einen chinesischen Knaben von drei Jahren getroffen habe, der lesen und schreiben und »verschiedene« Dinge konnte und verstand. Wenn man bedenkt, wie schwer es ist, alle die Tausende von chinesischen Schriftzeichen zu erlernen, begreift man, daß die Kunst dieses kleinen Jungen im Lesen und Schreiben ungeheuer mehr bedeutet, als irgendeine entsprechende Fähigkeit eines europäischen Kindes. W. von Ruysbroek wurde auch von einigen buddhistischen Mönchen mitgeteilt, daß dieser kleine Junge erklärt habe, er könne sich an drei frühere Inkarnationen erinnern.
Während der letzten Jahrzehnte wurde uns, sowohl in den europäischen als auch in den amerikanischen Zeitungen oftmals von Wunderkindern und ihren Leistungen berichtet. Da gab es ein sechsjähriges Mädchen, das ein Orchester dirigierte; da ein elfjähriges, das seinen dritten Roman veröffentlichte; es gab einen zwölfjährigen Künstler, der sich als ein tüchtiger Maler auswies. Und vor einigen Jahren wurde uns von einem kleinen vierjährigen asiatischen Jungen erzählt, der so tiefsinnige Reden hielt, daß die Leute in Indien überzeugt waren, er sei ein neuer Buddha.
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Die oben berichteten Beispiele von erstaunlich frühzeitigen Fähigkeiten können, vom Standpunkt der Entwicklung eines normalen Kindes aus betrachtet, für unerklärlich angesehen werden. Daher möge uns erlaubt sein, auf jene Lehre von Plato hinzuweisen: daß sich in jedem Individuum ein Bestand von Erinnerungen und Fähigkeiten befindet, so daß das meiste Lernen in Wirklichkeit ein Wieder-Lernen sei. Wir können jedenfalls berechtigt sein, dies als eine Hypothese festzuhalten, bis eine bessere Hypothese gefunden ist.
In der Geometrie wird manchmal die sogenannte Methode des indirekten Beweises angewendet. Man wird aufgefordert, anzunehmen, daß dies oder jenes nicht wahr sei, und dann wird einem gezeigt, welche widersinnigen Folgen daraus entstehen würden.
Nehmen wir an, diese Beweisführung würde auf die Lehre der Wiedergeburt angewendet. Nehmen wir an, sie würde bei einem Menschen angewendet, der glaubt, die Menschen seien von Gott geschaffen und hätten eine unsterbliche Seele.
Gut, dieser Mensch, der an einen bannherzigen Schöpfer, aber nicht an die Präexistenz der Seele glaubt, würde eine doppelte Widersinnigkeit behaupten.
1. Er behauptet, daß Gottes Schaffen einer unsterblichen Seele von dem Wunsch – oder der Leidenschaft – eines Mannes und einer Frau abhängen.
2. Er behauptet, daß ein Mensch, der von Anfang an böse Anlagen zeigt, von dem allgerechten Schöpfer als ein Verbrecher ausgegangen sei.
Auf diese beiden Annahmen wäre man berechtigt, hinzuzufügen: »Was vernunftwidrig wäre.«
Bekanntlich haben die theosophischen Gesellschaften viel für die Ausbreitung der Idee der Reinkarnation getan. Doch darf bezweifelt werden, ob gerade die theosophische Propaganda dieser Lehre nützlich gewesen ist. Es werden von theosophischer Seite her Vorstellungen über diese Idee dargelegt, die vielen abstoßend vorkommen; dieselben Vorstellungen werden aber als unzertrennlich von der Idee der Wiedergeburt gehalten, was zur Folge hat, daß viele der in Frage stehenden Idee gegenüber entschieden abgeneigt werden.
So wird von einem maßgebenden theosophischen Schriftsteller behauptet, daß die Zeit zwischen den einzelnen Inkarnationen eines Menschen »ungefähr 1800 Jahre betrage«.
Bedenkt man, wie relativ irdische Verhältnisse und Zeiten sind, wie groß der Unterschied der Länge der verschiedenen Menschenleben ist, so erscheint eine Feststellung der Zeit wie die vorhin zitierte einigermaßen lächerlich.
Ebenso wollen die Mitglieder der theosophischen Gesellschaften die Idee verkündigen, daß ein Mensch, der sittlich auf einer niedrigen Stufe steht, weniger Inkarnationen durchlebt habe, als eine Persönlichkeit von hochentwickeltem Charakter – eine Ansicht, die von Annie Besant in Dharma ausgesprochen wurde. Wenn wir einen Menschen sehen, der sich in irgendeiner Weise schwer vergangen hat, so müssen wir, behauptet Mrs. Besant, denken: Er ist ein jüngerer Bruder, der noch nicht so viele Inkarnationen für seine Entwicklung gehabt hat.
Soweit eine solche Annahme auf Nachsicht und Duldsamkeit hinzielt, ist sie ja achtungswert. Aber wenn man behauptet, ein Mensch, der die abscheulichsten Verbrechen begeht, sei nur jünger als wir – was anzudeuten scheint, daß wahrscheinlich wir alle eine Stufe hinter uns haben, wo wir solche Dinge verbrochen haben – so zeigt dies einen Mangel an Einsicht in die Tatsache, daß das Leben nicht immer Fortschritt, sondern manchmal Rückschritt ist.
Überdies ist solch eine Ansicht geeignet, das Gefühl der Verantwortlichkeit zu verringern. Wenn man denkt: Gut, es ist nicht mein Fehler, wenn ich jünger bin und weniger Gelegenheit zur Entwicklung gehabt habe als die meisten andern Menschen – dann wird man für die Reue, die zur Besserung führt, kaum empfänglich sein.
In anderen Beziehungen zeigen die theosophischen Führer auch manchmal einen gewissen Doktrinarismus. So, wenn Mrs. Besant in Dharma die indische Kasten-Einrichtung verteidigt, indem sie behauptet, daß die, so in der Sudra-Kaste geboren werden, Gehorsam und Pflichttreue lernen sollen; wenn sie diese Aufgaben gelernt hätten, würden sie in die Kaufmanns-Kaste wiedergeboren, um da Wirtschaftlichkeit und den Sinn für Sparsamkeit zu erlernen. Worauf diese selben Seelen in der Krieger- und der Brahminen-Kaste die Tugenden, die diesen Kasten eigen sind, lernen müßten.
Eine endlose Verschiedenheit, eine unendliche Vielfachheit in Beziehung auf Anlagen und Talente – das scheint das Gesetz des Lebens zu sein. Und wenn man den Zwang der Kasten-Einrichtung verteidigt, indem man behauptet, daß das Leben uns selbst in einige große Klassen verteile, in denen jeder in derselben Klasse dieselben Aufgaben habe – so ist das ein Gedanke, der nicht viel Aussicht hat, moderne Menschen zu überzeugen.
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Unter den indischen Völkern gibt es über die Wiedergeburt auch Annahmen, die von vielen Europäern als diesem Gedanken notwendig angehörend vorausgesetzt werden. Die Mehrzahl in Indien scheint zu denken, daß ein Mensch sofort nach seinem Tode in ein neues Leben auf dieser Erde hineingeboren werde. Sie scheinen auch zu glauben, daß Menschen ziemlich oft als Tiere wiedergeboren werden. Und sie denken, daß das, was einen Menschen von den endlosen Inkarnationen befreien könne, ein Verzicht auf den Lebenswillen sei, bei dem die Persönlichkeit ausgetilgt wird.
Aber intelligente Abendländer, die die Lehre von der Wiedergeburt annehmen, hegen meistens die Ansicht, daß der Seele zwischen zwei Inkarnationen Zeit genug gegeben werde, die Schlüsse aus dem eben vollendeten Leben zu ziehen. Und was eine Seele vor der unaufhörlichen Wiedergeburt rette, das sei, wie sie sagen, nicht der Verzicht auf Persönlichkeit, sondern das Opfer der Selbstsucht. Wer als das Ziel seines Lebens nicht sein eigenes Glück, sondern die Förderung des Glücks der Menschheit sieht – der ist ein Sieger in dem Kampf des Lebens, der ist von der Wiedergeburt befreit.
»Die beste Hilfe, die den Menschen gegeben werden kann, ist, sie zu lehren, Ursachen und Wirkungen in diesem Leben zu verstehen,« hat ein großer Lehrer einmal gesagt.
Wie traurig erscheint es uns, wenn ein junges, vielversprechendes Leben dahingerafft wird! Ein junger Gelehrter, dem keine Zeit vergönnt war, aus dem reichen Material, das er gesammelt hatte, seine Schlüsse zu ziehen – ein junger Dichter oder Künstler, der nie Gelegenheit bekam, der Menschheit die Schätze der Schönheit zu schenken, die seine reichen Gaben zu versprechen schienen.
Glauben wir aber, daß uns alle neue Leben erwarten, dann sind wir überzeugt, daß keine Arbeit umsonst ist, keine Gaben weggeworfen sind. Nichts, was wir zur Entwicklung unserer Fähigkeiten tun, ist wertlos. Eine Entwicklung, die hier erst begonnen hat, kann in einer andern Inkarnation reiche Früchte bringen.
Und wenn Sorgen und Kümmernisse kommen, dann wird gewiß der Gedanke an den Zusammenhang des Lebens eine Hilfe sein. Ganz besonders, wenn uns durch das Tun anderer Schweres trifft, denn dann steigt vielleicht Bitterkeit in uns auf. Aber Gedanken der Bitterkeit im Herzen nähren, das ist ebenso wie beständig Gift trinken.
Wenn wir den Zusammenhang zwischen den Leben verstehen – wenn wir es einsehen, daß Ursachen in dem einen Leben ihre Wirkungen in einem andern haben können, dann wird sich Ruhe in unsere Rastlosigkeit ergießen, dann sehen wir einen Sinn im Leiden, dann wird die dunkle Woge der Bitterkeit sich glätten. Denn wir denken: Die Menschen mögen ungerecht sein, aber das Leben ist niemals ungerecht.
Und glauben wir, daß alles, was wir tun, früher oder später seine Folgen für uns hat, wie warnend, wie ermahnend ist solch eine Überzeugung! Es gibt einen orientalischen Ausspruch: »Wer sein Messer in die Brust seines Nächsten stößt, stößt es in Wirklichkeit in sein eigenes Herz.«
In dem Gedanken, daß ein Leben dem andern folge, können wir wohl auch die Lösung einer der schwierigsten Fragen unseres irdischen Daseins finden: in der Tatsache, daß oft die edelsten Seelen am meisten leiden müssen.
Wenn die, welche eine hohe Entwicklung erreicht haben, von der Reinkarnation befreit sind, muß dann nicht in ihrem letzten Leben auf dieser Erde die Wiedervergeltung für alles, was in diesem oder in einem früheren Leben an Tat und Wort oder Gedanken noch nicht wiedervergolten worden ist, bis zum Tüttel erfüllt sein?
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William James sagt in seiner Schrift vom »Weiterleben der Menschen«: das, was ihn lange Zeit dem Glauben an ein Leben nach dem Tode zögernd gegenüberstehen ließ, wäre der Gedanke an die ungeheuren Scharen von Seelen, »jene unglaublich und unerträglich große Zahl von Wesen«, die auf dieser Erde gelebt haben und gestorben sind, gewesen.
Wenn es wirklich, wie Professor James anzunehmen scheint, viele gibt, die aus diesem Grunde dem Glauben an ein Weiterleben der Menschen zögernd gegenüberstehen, dann wird auch hier der Gedanke der Wiedergeburt eine Hilfe bringen. Diese »unerträglich große Zahl der Wesen« wird bedeutend verringert, wenn wir annehmen, daß die gleichen Seelen immer und immer wieder als Menschen auf diese Erde zurückkehren.
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Noch eine andere – und tiefere – Ungelöstheit, die durch die Idee der Wiedergeburt aufgehoben werden kann, ist die: Wie kommt es, daß die Menschheit in all den Jahrhunderten, die die Weltgeschichte kennt, in Beziehung auf die Ethik keine entschiedeneren Fortschritte gemacht hat?
Vor dem Weltkrieg hatten wir in dieser Beziehung noch mehr Illusionen – nachher können wir uns nicht mehr viel Täuschungen darüber hingeben.
Aber welch ein ungeheurer Mißerfolg ist dann die Menschheit! Was für ein herzzerreißender Fehlschlag ist dann die göttlich erhabene Tat der Barmherzigkeit des Menschensohns, der in diese Welt des Leids herabstieg, ohne, wie es scheinen will, fähig zu sein, die Menschheit wesentlich besser zu machen!
Hier kann der Gedanke von der Wiedergeburt einen Lichtschimmer in die niederdrückende Dunkelheit bringen.
Wenn die Seelen, die ihren Lauf vollendet haben, indem sie die Stufe erreichten, wo die Selbstsucht überwunden ist, nicht wiedergeboren zu werden brauchen, dann sind wohl in den vergangenen Jahrhunderten die besten für immer hinweggegangen. Dann müssen wir, die jetzt leben, im ganzen genommen, als ein Niederschlag betrachtet werden – der nur vielleicht mit einigen wenigen Seelen von höherer Entwicklung vermischt ist, mit solchen Seelen, die hierhergesandt wurden, um anderen zu helfen und sie zu leiten.
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Manchmal wird die Befürchtung ausgesprochen, daß der Gedanke von der Wiedergeburt die Menschen weniger dazu anreize, an ihrer eigenen Besserung zu arbeiten. Es wird gesagt, die Menschen könnten denken, sie hätten in folgenden Inkarnationen dazu Zeit genug. Wahrscheinlich ist nicht viel Grund zu dieser Furcht vorhanden. Wer an Reïnkarnation glaubt, der weiß, daß die ewige Gerechtigkeit dadurch, daß sie das Maß der Verschuldung abmißt, eine Strafe hat, sowohl für Unterlassungs- als für Tatsünden.
Immerhin kann die in Frage stehende Annahme für eine ernste Besserung nicht schädlicher sein als die Lehre, daß der Glaube, Christus sei für uns gestorben, alle unsere Sünden auslösche.
Es wird bisweilen eingewandt: »Aber wie steht es mit der Lehre der Evolution? Sie könnte doch mit der Lehre der Präexistenz nicht in Einklang gebracht werden?«
Gewiß könnte sie das, wenn man annimmt, daß die Entfremdung von Gott, der »Sündenfall«, etwas war, das vor der Erscheinung der Menschheit auf dieser Erde geschah. Und dies ist von vielen angenommen worden, ganz unabhängig von der hier in Frage stehenden Lehre.
Wenn diese Erde von der ewigen Weisheit als der Ort gewählt wurde, an den aufrührerische Seelen gebracht werden sollten, um durch Leiden und Drangsale zu lernen, daß die einzige Möglichkeit wirklichen Glücks darin bestehe, ihr Wesen in Harmonie mit dem Geist der Liebe und Macht und Weisheit, der das Weltall durchdringt, zu bringen, dann mußte diese Erde allmählich als eine Heimstätte für diese Seelen hergerichtet werden. Und ebensowenig als irgend ein denkender Mensch in den unbestreitbaren Darlegungen der Geologie, in Beziehung auf eine Entwicklung der Erde durch Millionen und aber Millionen Jahre hindurch, eine Verneinung der Lehre von einem Schöpfer sehen wird, ebensowenig ist es undenkbar, daß durch Millionen von Jahrhunderten hindurch tierische Organismen entwickelt worden wären, bis sie die Fähigkeit bekommen hätten, Vehikel vernünftiger Wesen zu sein.
Tatsächlich bekommt der Darwinismus nur durch die Hypothese von einer Inkarnation schon existierender Wesen seinen vollen Gehalt. Bis zum heutigen Tage gibt es mehrere hervorragende Wissenschaftler, die es ablehnen, diese Theorie bis zu ihren letzten Konsequenzen anzunehmen, weil sie den Schritt zwischen Tier und Mensch für zu groß halten und sich nicht mit der unsicheren Aussicht auf das einstmalige Auffinden einer Probe des fehlenden Glieds befriedigt erklären können. Von anderen Gliedern zwischen verschiedenen Stufen gibt es allerdings Proben zu Tausenden.
Wenn aber die Abstammungslehre durch die Lehre der Reinkarnation vervollständigt wird, dann erhält sie ein anderes Gesicht. Dann ist diese aufbrausende Woge der Evolution von einer andern Woge getroffen worden: jenem Sehnen von noch nicht inkarnierten Wesen, die dunkel fühlen, daß die Inkarnation zu ihrer Entwicklung notwendig ist.
In der nordischen Edda wird uns von den kalten Wogen des Nifelheims erzählt, die mit den feurigen Funken aus Muspelheim zusammenschmelzen. Aus der Vereinigung dieser beiden Ströme wurde die Welt und die Menschheit geboren. Wenn wir in Übereinstimmung mit einigen griechischen Philosophen die Materie als kalt, den Geist als Feuer betrachten und dann die Theorie von den beiden sich begegnenden Wogen annehmen – die der Evolution und der Inkarnation –, dann könnten wir sagen, daß in der alten nordischen Kunde eine Ahnung hervorschimmert von dem Anfang der menschlichen Welt.
Manche Menschen werden einwenden: »Wie viel schöner ist doch die christliche Lehre von der Vergebung, als diese Lehre von der Wiedervergeltung.«
Jawohl, die Lehre von der Vergebung, so wie sie in der orthodoxen Christenheit gepredigt wird – diese Lehre, daß unsere Sünden ganz weggewaschen, unsere Fehler und Verbrechen keinerlei Folgen mehr haben, sobald wir glauben, daß Christus für uns gelitten hat und für uns gestorben ist – dies kann gewiß eine schöne und bequeme Lehre für die sein, die es vorziehen, nicht für ihre Entwicklung zu arbeiten. Jedenfalls ist aber diese Lehre in Jesu eigener Unterweisung nicht enthalten. Er sagt, wenn der Menschensohn die Menschheit richten wird, wird er »einem jeglichen vergelten nach seinen Werken«.
Als eine Bestätigung der Lehre von einer Vergebung, die das Verbrechen und seine Folgen vollständig wegwascht, wird manchmal das Gleichnis vom verlorenen Sohn angeführt. Dabei werden aber gewisse Einzelheiten übersehen. Erstens: der verlorene Sohn hatte infolge seiner unverantwortlichen Leichtfertigkeit schon sehr viel gelitten. Zweitens: als er von seinem Vater mit großer väterlicher Zärtlichkeit aufgenommen wurde, ertönte doch nicht die Botschaft: Das Erbe, das du vergeudet hast, wird dir wieder zugeteilt werden. Zu dem älteren Sohn sagt der Vater: »Was mein ist, das ist dein,« aber er sagt es nicht zu dem zurückkehrenden. In diesem Falle wurden also die Folgen eines Lebens unverantwortlichen Genusses nicht ausgelöscht.
Vergebung – ja, das ist gewiß ein tiefes Wort, ein schönes Wort. Es enthält so viel, daß ein Mensch, welches Unrecht er auch immer begangen haben mag, sicher sein darf, daß der heiße Wunsch, seine Lebensweise zu ändern, das beständige Ringen nach Besserung, bei der Gottheit eine barmherzige Hilfe finden wird.
Marcus Aurelius schrieb einmal, es liege etwas Wunderbares in dem Gedanken: selbst wenn wir unsere Verbindung mit der Gottheit verloren hätten, so könnte diese Verbindung immer wieder hergestellt werden, wenn sich unsere Seele mit starkem, aufrichtigem Sehnen nach oben strecke. Hier ist derselbe Gedanke ausgedrückt, wie in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn.
Doch eine immer wiederkehrende Möglichkeit der Vergebung schließt nicht mit ein, daß die Folgen des Unrechttuns ausgelöscht seien.
Wenn wir über Zeit und Raum hinausschauen, wenn wir annehmen, daß unser Wesen aus einer unfaßbar fernen Zeit herstammt, daß unsere Pilgerfahrt auf eine unbegreiflich ferne Zukunft hinzielt – dann können wir uns wohl vernichtet fühlen. Aber an eine von ewiger Barmherzigkeit regierte Welt glauben, das bedeutet mit dem Wunsch erfüllt sein, von demselben Geist der Barmherzigkeit erwärmt und emporgehoben zu werden. Sich nach Licht sehnen, ist so viel, als mit Licht gefüllt zu werden, Vollkommenheit zu verlangen bedeutet, sich der Vollkommenheit nähern. Und ein geduldiges Kämpfen gegen das, was uns herunterzuziehen droht, – ein solcher Kampf wird nicht ohne Belohnung sein.
Zwei Wunder, hat ein berühmter Denker gesagt, werden uns immer aufs neue zum Nachdenken anregen: der gestirnte Himmel über uns und das moralische Gesetz in uns. Aus diesen zwei Wundern werden die stillen Fragen unserer Herzen geboren und genährt: Woher komme ich? Wohin gehe ich?
Die in leuchtender Majestät am Himmel wandernden Sterne – in derselben Bahn heute wie vor Millionen von Jahren – bringen Nachricht von ewigen Gesetzen, die dieselben sind in dem Fall eines Tropfens wie in der Bahn der Sonnen, in dem Wachstum des Samens wie in dem Umherwirbeln der Atome. Hieran erkennen wir, hieraus vermuten wir, wie alles verwandelt wird, aber nichts verschwindet, wie alles seinen Ursprung in der Nacht weit entfernter Äonen hat und sich dem Morgenlicht herannahender Zeitenräume entgegenstreckt. Und wir fragen: »Sollte ich allein, ich der Mensch, meinen Ursprung erst seit gestern haben? Sollte ich mein vollständiges Auslöschen schon morgen erwarten müssen?«
Und wieder: wenn wir über das in der Tiefe unseres Wesens ruhende andere Wunder – die Stimme, die in uns spricht – nachdenken, dann sagen wir: »Wenn ich, so schwach und unvollkommen wie ich bin, doch in meinem innersten Herzen das Verlangen nach Gerechtigkeit trage, wenn ich den Gedanken nicht ertragen kann, daß Gerechtigkeit letzten Endes nicht vollstreckt würde – muß dann nicht das ewige Gesetz, das die Welt regiert, gleich einem Feuer von brennendem Eifer sein?«
Wenn ein in den Weltenraum hinausgeschickter Ton Schwingungen in ungeheure Weiten sendet, muß dann nicht jede Tat, ob gut oder böse, Wogen aussenden, Folgen schaffen, Echo erwecken, die zu dem, der sie ausgesandt hat, wiederkehren?
Wenn sich Verschiedenheiten – erstaunlich große Verschiedenheiten – ganz von Anfang an bei Seelen finden, die in diese Welt eintreten, müssen nicht diese Seelen früher – in einem Leben nach dem andern – ihre Kämpfe verschieden ausgefochten haben, ihre Wege immer wieder anders gewandert sein, ihre Fähigkeiten anders als bisher sich entwickelt haben?
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»Jeder Mensch,« sagt Charles Wagner, »ist eine Erwartung Gottes.«
Wissen nicht wir alle in unserem innersten Herzen, daß wir Gottes Erwartungen nicht entsprechen, daß wir das nicht geworden sind, was wir hätten werden sollen, das nicht geleistet haben, was wir leisten sollten?
Dieses Gefühl der Unzufriedenheit mit uns selbst kann ein immerwährender Ansporn werden: das zu sühnen, was wir verbrochen, das wieder gut zu machen, was wir versäumt haben, zu dem vollwertigen Menschen heranzuwachsen, zu dem Gott uns bestimmt hat.
Aber schließlich gibt es nur eine einzige Bedingung, unter der die Unzufriedenheit mit uns selbst sich anspornend, anstatt abschwächend auswirken kann. Und diese Bedingung ist: daß wir wissen, wir haben Leben und Zeiten vor uns, wissen, daß unsere Seelen die Möglichkeit haben, der Harmonie, nach der wir uns in unserem Innern immer sehnen, weiter zuzustreben.
Einen Kampf weiterzuführen, der hoffnungslos zu sein scheint – das ist's, was wir nicht lange aushalten. Aber wenn wir an die Möglichkeit glauben, das höchste Ziel zu erreichen – mag es auch in noch so weiter Ferne sein – dann wird uns das nicht nur ein Trost in unseren Kümmernissen sein, sondern auch eine starke Hilfe in den Kämpfen des Lebens.