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Wie gut ich sie kenne, die Häuser Unter den Linden, als ob jedes von ihnen seine Geschichte mir erzählt hätte, die eigene und die der Leute, die darin gewohnt haben. Fast ein Menschenalter lang bin ich an ihnen vorbeigegangen, in guten und bösen Tagen, habe mir ihre Physiognomie eingeprägt und an ihren Schicksalen in gewisser Weise teilgenommen, habe altertümliche Paläste mit weiten, öden Räumen gesehen, wo jetzt schimmernde Cafés und glänzende Restaurants sind, und wiederum verwitterte Gebäude des vorigen Jahrhunderts, wo jetzt stattliche Paläste sich erheben. Ich habe sie, sowohl ihre Bewohner als ihre Bestimmung, wechseln sehen und alle diese Wandlungen als Beobachter mit ihnen durchgemacht. In viele derselben, ja in die meisten bin ich während dieser langen Zeit persönlich gekommen; in einigen habe ich eine Gastfreundschaft genossen, deren Andenken die Gastgeber überlebt hat, in anderen die Bekanntschaft bedeutender Männer und schöner Frauen gemacht, die beide nicht mehr sind, und in einem viele, viele Stunden verbracht, welche zu den lehrreichsten, wenn nicht zu den angenehmsten meiner jüngeren Jahre zählen. Das Haus existiert nicht mehr; es stand da, wo jetzt der Eingang zur Passage sich öffnet, und es war das Haus Nr. 23. Obwohl lange verschwunden, sehe ich es noch deutlich vor mir mit seinen gelben Wänden und vielen Fenstern, langgestreckt, zwei Stockwerke hoch, die Türe beständig offen, der Flur dunkel, die hölzernen Treppenstufen ausgetreten – kein sehr wohnliches oder einladendes Haus. Im Erdgeschoß war ein kleiner Zigarrenladen, im zweiten Stock ein Restaurant, das nur noch wenig frequentiert ward, und ein Ballsaal, in dem nicht gerade die beste Gesellschaft von Berlin tanzte. Der erste Stock beherbergte die Redaktion des »Bazar«, jener Frauenzeitung, welche damals auf der Höhe ihres Ansehens und ihrer Abonnenten stand; ich glaube, sie hatte deren über eine Viertelmillion. Ich redigierte den belletristischen Teil. Niemals aus meiner Erinnerung werden diese Bazartage schwinden. Sie fingen an mit großen Illusionen. Dieses unbekannte Publikum von einigen Hunderttausenden, und die Mehrheit von ihnen Frauen, junge Frauen natürlich, geistreiche, schöne Frauen – das gab meiner Phantasie wundersamen Spielraum und lockte sie wie zu weiten Fernen. Ich entsinne mich noch der ersten Enttäuschung, als eine Korrespondentin, die nach ihren zierlichen Briefen ich mir nicht reizend genug ausmalen konnte, nun eines Tages persönlich erschien – ein ältliches Fräulein, welches mich plötzlich auch in bezug auf ihre Schwestern in Apoll mit einigem Zweifel erfüllte. Mich hatte ferner der Gedanke gelockt, daß dieses Weltblatt, – wie wir es mit Vorliebe nannten – einen Einfluß besitzen und ausüben müsse, welcher seiner ungeheuren Verbreitung entsprach. Ich wußte damals noch nicht, daß Plato nur zwölf Leser gehabt, daß diese zwölf aber »das Salz der Erde« und die geistigen Beherrscher der Menschheit gewesen. Und dennoch war die Arbeit nicht ganz verloren. Ich sammelte Erfahrungen, unerläßlich für denjenigen, der sich zu größeren und ernsteren Aufgaben vorbereitet. Denn das »Redigieren« war nun einmal mein Los und meine Wahl. Schon auf dem Gymnasium zu Rinteln gab ich ein Blättchen heraus, welches, auf großen Bogen sauber geschrieben, allwöchentlich einmal erschien und im Kreise der Mitschüler bei Kaffee und Kuchen verlesen ward. Ich glaube, daß ich diesen Eifer für alles, was Zeitungen und Zeitschriften heißt, von meinem Vater geerbt habe, der auch kein Blatt liegen sehen konnte, ohne darnach zu greifen. Später, in London, ward ich nicht müde, die »Reviews« und »Magazines« zu studieren, und ich kehrte nach Deutschland zurück mit dem lebhaften Wunsch, etwas Ähnliches zu schaffen. Ich unternahm es, und es mißlang. Diese Schul- und Lehrjahre des »Bazar« aber förderten mich auf meiner Bahn. Was bisher eine nebelhafte Vorstellung gewesen, ward jetzt zur greifbaren und nicht selten harten Wirklichkeit für mich; ich lernte vor allem mich bescheiden, lernte um des Zweckes willen meine Person unterordnen, lernte Neigungen unterdrücken und Abneigungen überwinden, lernte Rücksichten nehmen und Empfindlichkeiten schonen, um etwas erreichen zu können, was über diesen beiden stand, und übte mich in der schweren Kunst, zwischen den Ansprüchen der Mitarbeiter und denen der Leser zu vermitteln, um sie zusammen nach dem beabsichtigten Ziele hinzuleiten. Es war kein besonders hohes Ziel für diesmal, aber es war doch eins – eine Zwischenstation, der ich mit dem Gefühle der Befreiung den Rücken kehrte, ohne darum zu vergessen, was ich ihr schuldete.
Diese persönlichen Erinnerungen sind es nicht allein, ja sie sind es nicht einmal hauptsächlich, welche das Haus Nr. 23 Unter den Linden mir denkwürdig machten, solange es stand, und nun, wo die Passage, Castans Panoptikon, Läden und ein beständig hin- und herflutender Menschenstrom an seiner Stelle sind, mir das Verschwundene, längst Hingegangene wieder zurückrufen. Oft, an stillen Abenden, wenn es mir über einem Manuskripte spät geworden, wenn die Redaktion leer und ich allein war, in diesen schwach erhellten, langen und niedrigen Zimmern mit den zahllosen Fenstern und Türen, dann begann es in der Einsamkeit lebendig zu werden – die Türen bewegten sich, vor den Fenstern, von denen aus ich die Linden dreimal grün werden und dreimal ihr Laub verlieren sah, drängten sich die Menschen, um gleichfalls hinauszuschauen; Stimmen riefen, mit einem eigentümlich zitternden, schwachen Ton; kleine Glocken schellten, und Gläser klangen mit einem Kichern dazwischen, wie in seiner Fröhlichkeit erstickt – Schleppen rauschten durch den Gang, und Roben von schwerer Seide knisterten auf den Treppen – waren es die mit allerlei Stoff bekleideten Modellpuppen der Hinterzimmer, welche verhext hier plötzlich umherwandelten und mir einen Besuch abstatten wollten in der Redaktion des »Bazar«? Die Gemächer füllten sich, immer größer wurde die Menge der bunten Gruppen, alle in den schönen Trachten des vorigen Jahrhunderts; es waren Kavaliere darunter im Hofkostüm und Fürsten mit dem Stern auf der Brust, ein Maskenzug, wie ich noch niemals einen gesehen, endlos, an mir vorübergehend, immer mehr und immer neue, Männer mit einem verschmitzten Lächeln um die Lippen, Frauen mit einer süßen Melancholie des Blickes, stolze Figuren im Hermelin und im Purpur, in Atlas und Brokat, mit Gold und mit Tressen, mit Puder und Schminke, mit Zopf und hoher Frisur – und nun auf einmal mitten in diesem Gedränge, welches Eile zu haben schien, zwei Gestalten, welche zögern, stillstehen, zurückbleiben, während alle anderen wie die Schatten dahinschweben, untersinken, in nichts zerfließen – zwei Gestalten, der Ewigkeit angehörend und trotzdem uns gegenwärtig, als ob sie noch unter uns wären –, ein Jüngling der eine, schön wie der junge Morgen, heiter, sieghaft, übersprudelnd in der Fülle seiner Kraft; ein Mann der andre, weit noch von der natürlichen Grenze des Lebens und doch schon gebeugt, hochgewachsen, hager, mit einem feinen, blassen, durchgeistigten Gesicht und einem Paar wehmutumflorter Augen, in welche zu blicken das Herz zu Tränen bewegt – der eine am Anfang einer langen, sonnigen, glorreichen Zukunft, der andere am Ende eines allzukurzen Erdenwallens und beide von jenen, die nur sterben, um unsterblich zu sein: Goethe in seinem dreißigsten Lebensjahr und Schiller ein Jahr vor seinem Tode.
Nein, dies ist keine Phantasie; verschwunden sind all die ungezählten andren, die mit ihnen gekommen, diese beiden aber sind geblieben, und dies hier, dies Haus Nr. 23 Unter den Linden, war der alte berühmte Gasthof »Zur Sonne«, den meine Leser nun schon kennen. Er traf am 15. Mai 1778 hier ein, der junge Goethe, in Begleitung seines Herzogs, und teilte acht Tage, bis zum 23. Mai, zwischen Berlin und Potsdam, wo er auch den großen König sah, ohne jedoch ihm näherzukommen. Es war das erste Mal und das einzige, daß Goethe Berlin sah. Er sah es mit den »großen, hellen Augen, in denen der ganze Goethe strahlte«, wie die Tochter der Karschin (nachmals Frau von Klecke) an Gleim schrieb. Es war der Goethe, der den »Götz von Berlichingen« und den Werther geschrieben und auch in Berlin Tausende von Herzen hingerissen und gewonnen hatte. Er bewunderte »die Pracht der Königstadt und Leben und Ordnung und Überfluß, das nicht wäre ohne die tausend und tausend Menschen, bereit, für sie geopfert zu werden«. Er hat niemals in seinen jungen Jahren Gefallen an Berlin gefunden; ja, er war gegen dasselbe mit einem mächtigen Vorurteil erfüllt. Noch aus Leipzig schreibt er (Oktober 1766) über einen Jugendfreund an seine Schwester: »Er wird in Berlin schon zugestutzt werden, und ich befürchte, vielleicht nur zu sehr, denn ich glaube, es ist jetzo in ganz Europa kein so gottloser Ort als die Residenz des Königs in Preußen.« Berlin, nachmals die Wiege seines Weltruhms, war jetzt der Sitz seiner Gegner. Friedrich selbst mit seiner erlauchten Hand schrieb gegen den Dichter des »Götz«. Ramler und Nicolai waren seine Freunde nicht, und Mendelssohn, wiewohl er ihn schätzte, besuchte Goethe nicht, wahrscheinlich wegen der nahen Beziehungen desselben zu diesen beiden. Dagegen war er zweimal in der Malerwerkstatt Chodowieckis; vor allen Künstlern, die das Zeitalter Friedrichs verherrlichten, verehrte Goethe »über die Maßen« diesen, der das alltägliche Leben so reizend nachzubilden verstand. Der Weg war kurz von der »Sonne« zu ihm und ganz in der Nachbarschaft: nur noch ein Stückchen Linden hinauf und dann durch die Charlottenstraße, rechts. Hier, »im oberen Teil der Behrenstraße, nicht weit vom Opernhausplatz«, wohnte Chodowiecki, wie es in der gleichzeitigen Ausgabe von Nicolais Berlin, in dem Verzeichnis »Jetztlebender Künstler, Maler« etc. heißt (Seite 1014). Das Haus, welches heut an dieser Stelle der Behrenstraße steht und die Nr. 31 trägt, ist, dem palaisartigen Gebäude der Diskontogesellschaft gegenüber, gleichfalls einer von unsren modernen Bankierpalästen aus dem Anfang der siebziger Jahre, und eine sehr traurige Geschichte von stolzen Hoffnungen, in früher Morgenstunde jäh zertrümmert, verknüpft sich mit seinen ersten Tagen. Friedlicher, freundlicher als jetzt, wo die Behrenstraße bis über den Opernhausplatz hinaus fast ganz die Straße der großen Banken und Bankiers geworden, sah es hier aus im vorigen Jahrhundert, als stille, kleine Häuser hier waren mit stillen, kleinen Gärten. Ein solches Haus mit einem Gärtchen dahinter, in welchem »zwei schöne Birnbäume« standen, war auch das Chodowieckis. In demselben hatte der Meister, kurz vor Goethes Ankunft, sich jenes behagliche Heim geschaffen (1777), dessen Ausstattung und Einrichtung wir in seinem »Cabinet du Peintre« und neuerdings in dem Hintergrunde zu Paul Meyerheims wundervollem lebensgroßen, für Chodowieckis Vaterstadt Danzig gemalten Porträt wiedererkennen. So wie Meyerheim ihn darstellt, mag Goethe den jovialen Fünfziger bei der Arbeit gesehen haben, im großgeblümten Schlafrock, über dem mit Malergerät bedeckten Tisch, den Grabstichel in der Hand; und so, nach dem ersten Besuch vom 16., kam er, vier Tage später, ein zweites Mal hierher, diesmal begleitet von seinem Herzog, wie es im Tagebuche heißt: »20. zu Chodowiecki mit .« Eine Gedenktafel schmückt jetzt das Haus mit folgender Inschrift: »Hier wohnte Daniel Chodowiecki von 1777 bis zu seinem Tode am 7. Februar 1801. Seinem Andenken die Stadt Berlin, 1885« – und ich muß sagen, daß es mir weniger schmerzlich ist, diesem Hause vorüberzugehen, seitdem aufs neue die Namen Chodowieckis und Goethes darüber schweben. Auch die Karschin hat er besucht in einem Häuschen, das, von Linden beschattet, nahe am Hackeschen Markt in einer geräumigen Vorstadt am Tore lag, dem heutigen dicht bevölkerten Spandauer Revier; Dankbarkeit und Herzensgüte hatten ihn dahin geführt, zu der vom Glücke gerade nicht verwöhnten Frau, »geb. Dürrbachin«, welche ihm, nachdem sie ihn in seinem Wirtshause verfehlt, ein Gedicht gesandt mit langen und kurzen Zeilen, großen und kleinen Anfangsbuchstaben, ohne Orthographie und Interpunktion: »am göthe zu Berlin Monttags den 18. May 1778«. Für ihn, den Götterliebling, gab es damals keinen Zwang; er gehorchte dem Impuls seines großen und edlen Herzens. Ein gewisser Burrmann, Kandidat der Gottesgelahrtheit, ein bescheidener Mann, damals Redakteur an der »Spenerschen Zeitung« und sonst der Nachwelt unbekannt, hatte ihm einmal nach Weimar in herzlich verehrender Weise geschrieben. Bei diesem, während seines Berliner Aufenthalts, tritt eines Morgens Goethe herein. Burrmann kennt ihn nicht. Als Goethe sich genannt, wirft der Kandidat der Theologie sich auf den Boden und wälzt sich wie ein Kind darauf herum. Auf Goethes Frage, was er habe, gibt jener zur Antwort: »Ich kann meine Freude über Sie nicht besser ausdrücken.« Worauf Goethe: »Nun, dann will ich mich auch zu ihnen legen.« Und so lagen sie beide auf den Dielen des Zimmers.
Ovationen anderer Art wurden Schiller bereitet, als er sechsundzwanzig Jahre später, im Mai 1804, hierherkam. Es existiert noch eine Karte des hiesigen Fremden-Meldeamts, auf welcher es heißt: »Angekommene Fremde: Den 2. Mai Herr von Schiller, Hofrat, kommt von Leipzig, logiert Unter den Linden.« Das Wirtshaus »Zur Sonne« hatte damals seinen Namen schon gegen den moderneren »Russischer Hof« vertauscht; und so steht es auch in der »Vossischen Zeitung« vom 3. Mai. Doch war es noch immer dasselbe Haus. Man weiß, daß die Absicht bestand, Schiller dauernd oder wenigstens regelmäßig für einen Teil des Jahres an Berlin zu fesseln, als Geschichtslehrer des Kronprinzen und mit einem Sitz in der Akademie, vielleicht auch schon mit einem Hinblick auf die künftig zu begründende Universität; man weiß aber auch, daß die Verhandlungen resultatlos verliefen. Schillers Ansprüche waren nicht groß – zweitausend Taler jährlich – man bedenke: sechstausend Mark, und diese Summe zu nennen, erlaubt ihm noch nicht einmal die Bescheidenheit, wie er sagt. Schiller scheint sich mit dem Gedanken einer Übersiedelung schon ganz vertraut gemacht zu haben; Berlin gefällt ihm. »Es ist dort eine große persönliche Freiheit«, schreibt er an Körner, »und eine Ungezwungenheit im bürgerlichen Leben.« Frau von Schiller, die den Gemahl auf dieser Reise begleitet, will ihn in seinen Entschlüssen nicht stören; aber sie weint fast vor Freude, als sie Thüringens erste Bergspitze wieder erblickt. »Ich wäre recht unglücklich in Berlin gewesen«, schreibt sie an Fritz von Stein, als der Plan sich längst zerschlagen (9. Dezember 1804). »Die Natur dort hätte mich zur Verzweiflung gebracht.« Aber die Tage, die sie in Berlin verbrachten, vom 1. bis 17. Mai, waren dennoch Festtage für beide – und ach, ihre letzten! Die Königin empfing ihn; die Freunde, alte und neue, Hufeland, der große Mediziner, im Jahre 1798 als Leibarzt des Königs von Jena hierher berufen, Fichte, der Philosoph, Woltmann, der Historiker, Zelter, der Musiker, die führenden Männer des damaligen Berlin und seine geistreichen Frauen umringten ihn. Die Daten in Schillers Kalender zeigen, wie besetzt er war, mittags und abends, mit Oper, Schauspiel und Konzert vorher und nachher. Allen voran in den Veranstaltungen glänzender Gastlichkeit ging der Direktor des Königlichen Nationaltheaters, Iffland. Altersgenossen diese beiden, waren sie Kameraden gewesen in der Mannheimer Zeit, den Tagen der »Räuber« und des »Fiesko«. Seitdem hatte Schiller die Höhen des Ruhms erstiegen, und Iffland, obgleich sein Los in dieser Hinsicht bescheidener gefallen, war dennoch, nicht unverdient, zu einer ansehnlichen Reputation, zu Wohlstand und Einfluß gelangt. Er hatte als Schauspieler seine Triumphe gefeiert, hatte Stücke der mittleren Gattung verfaßt, welche seinen Namen noch heut in Ehren lebendig erhalten, und war nunmehr, in amtlicher Stellung, ein vermöglicher Bürger Berlins geworden. Er besaß ein Haus in der Potsdamer Straße, die man sich freilich nicht wie heute denken muß, mit einem hohen Gebäude dicht neben dem anderen, mit Läden in unabsehbarer Reihe, mit vielem Lärm, Menschengedräng und Pferdebahngeklingel, sondern als eine stille Straße von vorstädtischem Charakter, »Straße nach Potsdam« genannt und in der Tat halb noch Landstraße, mit kleinen Häusern, durch weite Zwischenräume getrennt und von Gärten umgeben, so wie wir selber sie noch vor etwa fünfundzwanzig Jahren gekannt haben. Dieses Haus Ifflands, in welchem vor ihm Fleck gewohnt hatte, steht nicht mehr; an seiner Stelle, Nr. 13, ragt jetzt ein schmaler, hoher Bau von allermodernster Art; doch das Haus nebenan, Nr. 12, Friedrichs Hotel und Restaurant, mit seinem wohlgepflegten, aber bejahrten Äußeren und seinen gemütlichen, aber niedrigen Stuben innen, seinen dunklen Treppen und langen Gängen, in denen es sich nichtsdestoweniger ganz behaglich wandelt, mag uns einen Begriff geben von den bequemen Verhältnissen, in welchen zu Anfang des Jahrhunderts Leute wie Iffland lebten. Immer aber mit dem beginnenden Frühling siedelte er nach dem Tiergarten über, in ein Landhaus, auf jenem ausgedehnten Terrain gelegen, auf welchem neuerdings, Tiergartenstraße 29 und 29a, zwei Größen der Berliner Finanzwelt sich Paläste gebaut haben. Vor ihnen, auf einem sanft ansteigenden Hügel, der immer mit dem schönsten Grün bedeckt war, stand hier eine Villa mit weißen Säulen und einer Loggia, zur guten Jahreszeit stets mit einem reichen Blumenflor erfüllt, der sich gar lieblich abhob von dem braunroten, mit pompejanischen Wandmalereien bedeckten Hintergrund. Es war einer der hübschesten Anblicke in dieser damals noch entlegenen Gegend des Tiergartens. Verschwunden ist jetzt die Villa, verschwunden der Hügel, und wir wissen nicht, ob dies alles genau so zu Ifflands Zeiten gewesen. Vielleicht gibt uns die nebenan stehende, noch ganz in ihrer ursprünglichen Gestalt erhaltene Villa (Nr. 28) ein getreueres Bild davon. In ihr wohnte lang der gute Nachbar (von 1803 bis 1814) und, wie er sich selbst in der zum Gedächtnis des hundertjährigen Geburtstages dargebrachten Festschrift (1859) nennt, »einer von den wenigen, die noch von Ifflands näheren Freunden am Leben sind«: »der alte Duncker«, Haupt der bekannten Berliner Familie, Mitbegründer und bis an sein Ende, 1869, Chef der großen Buchhändlerfirma Duncker und Humblot, die seitdem nach Leipzig übergesiedelt ist. Zwischen den modernen Bauten rechts und links liegt diese Villa wie mitten in einer blühenden Wildnis und gleicht, hinter den uralten, hohen Bäumen und mächtigen Palmengewächsen fast versteckt, mit den Spuren eines vorübergerauschten Jahrhunderts an ihren gelben Mauern, einem Zauberschlößchen, in das man die schönsten Märchen hineinträumen kann. So mag auch die Villa gewesen sein, von der Schillers Gemahlin in ihrem Entzücken ausrief: »ein Ideal von Gartenwohnung«; und hier, im Monat Mai, als die Nachtigallen schlugen, die auch heute noch den Tiergarten lieben, gab Iffland dem Freunde das opulente Mahl, zu welchem alle Berühmtheiten Berlins sich versammelten. Schwerlich hätte Schiller es ihm erwidern können in seinem kleinen Dichterhäuschen zu Weimar, welches dennoch die Nachwelt nicht aufhören wird, mit Rührung und Liebe zu betrachten. Er war gekommen, um, schon im Hinblick auf seine zahlreiche Familie, hier eine Verbesserung seiner Lage zu suchen; sie ward ihm nicht zuteil, und was auch, für den kurzen Rest seines Lebens, wäre damit gewonnen gewesen? Von der Freundschaft Goethes bis zuletzt umgeben und von der Munificenz Carl Augusts so viel als möglich entschädigt, war ihm beschieden, nicht in diesem Berlin, wo die wachsende Flut der Großstadt so rasch eine Spur der Vergangenheit nach der anderen hinwegspült, sondern an der Stätte zu sterben, die heut eines unserer nationalen Heiligtümer geworden. Aber die Wahrheit ist, daß Iffland sich nicht mit der Uneigennützigkeit und Wärme, die man von ihm wohl erwartet hätte, für den Plan verwandte. Diese Dinge spielen in Briefen und Aktenstücken, die spät erst aus unserem Staatsarchiv ans Tageslicht gezogen worden sind, und bestätigen in merkwürdiger Weise die Worte E. T. A. Hoffmanns, eines feinen Beobachters, der den Personen und Dingen zeitlich noch nahegestanden: »Iffland«, sagt er, »dem die Trauerspiele Schillers, die sich damals trotz allen Widerstrebens hauptsächlich durch den großen Fleck Bahn gebrochen hatten, eigentlich in tiefster Seele ein Greuel waren, Iffland, der – durfte er es auch nicht wagen, mit seiner innersten Meinung hervorzutreten – doch irgendwo drucken ließ, Trauerspiele mit großen geschichtlichen Akten und einer großen Personenzahl wären das Verderbnis der Theater« etc. Schiller, so wollen wir annehmen, hat nichts mehr davon erfahren. Denn Iffland, trotz seiner Meinung über »Trauerspiele mit großen geschichtlichen Akten und einer großen Personenzahl«, hatte getan, was kein kluger Theaterdirektor in ähnlichem Falle versäumen wird: während der Anwesenheit Schillers in Berlin wurden hintereinander, in rascher Reihenfolge fünfmal Stücke von ihm aufgeführt. In der »Vossischen Zeitung« vom 3. Mai, die seine Ankunft meldet, finden wir unter der Rubrik des Königlichen Nationaltheaters: »Heute: Die Räuber. Morgen: Die Braut von Messina«. Weiter, in der Nummer vom 8. Mai, lesen wir folgendes: »Königliches Nationaltheater. Den 4. Mai: Die Braut von Messina, Trauerspiel in vier Aufzügen von Schiller. – Der Dichter, der Berlin zum ersten Mal besucht, war bei der Vorstellung gegenwärtig. Bei seinem Eintritt in die Loge ward er mit allgemeinem Beifall empfangen; freudiger Zuruf hieß ihn herzlich willkommen und wiederholte sich so lange und so laut, bis die Musik begann, welche der Vorstellung vorangeht. So ehrenvoll hat das Publikum seine rege Empfindung für das große Genie ausgesprochen, dem es der höheren Freuden so manche verdankt. Schillers Ankunft hat überhaupt ein lebhaftes allgemeines Interesse erregt, welches auf Achtung und Dankbarkeit begründet ist.« Auch die »Spenersche Zeitung« ihrerseits (in der Nummer vom 8. Mai, denn damals, wo die Zeitungen nur dreimal wöchentlich erschienen, ging die Berichterstattung langsam und beschränkte sich auf wenige Zeilen) bestätigt die dem Dichter dargebrachte Huldigung, fügt aber hinzu: »Vermutlich war es unwillkürliche Folge seiner Gegenwart, daß in der Darstellung einiger Rollen anfangs ein gewisser Zwang, eine Spannung bemerklich war.«
Am Sonnabend, 5. Mai, war die »Jungfrau von Orleans« gegeben worden, und sie ward am 12. Mai wiederholt. Es war die Zeit, wo der politische Teil der Blätter voll war von den Verhandlungen des französischen Senats über Napoleons Erhebung zum Kaiser der Franzosen. Mit Bezug darauf heißt es in einer Besprechung jener Aufführung (»Vossische Zeitung« vom 15. Mai): »Schon mancher mag eine kostbare Reise zu einer Kaiserkrönung gemacht haben, ohne so viel Befriedigung für Aug und Ohr zu finden, als ihm heute der Krönungszug für weit billigeren Preis gewährte.« Die Darstellerin der Titelrolle, Madame Meyer, wurde bei dieser Gelegenheit also gefeiert (»Vossische Zeitung«, 10. Mai):
O helft, ihr himmlischen Kamönen,
Dem schwächsten von Apollos Söhnen,
Der einer Meyern Loblied singt.
O Meyern! stets wirst du bewundert,
Und von Jahrhundert zu Jahrhundert
Der Brennen Hauptstadt unvergeßlich sein!
»Der Brennen Hauptstadt« – das ist Berlin. Man bemerkt, daß das noch im Stile Ramlers ist. Zu jener Zeit brachte die »Vossische Zeitung« in jeder Nummer ein Rätsel; das vom 15. Mai, welchem ein ziemlich schwaches Gedicht: »An Herrn von Schiller« vorangeht, lautet:
Rätsel.
A. Deutschlands Dichter, so wie ich vernommen,
Ist seit gestern Abend in Berlin.
B. Sie verzeihen – A. Gern verziehn!
B. Deutschlands Psycholog ist gestern angekommen,
C. Mit Erlaubnis, Deutschlands Tragiker
Kam von Leipzig gestern Abend an.
D. 's ist doch seltsam! Und mir sagte wer,
Gestern sei Deutschlands Historiker
In der SonneHieraus erhellt, daß das »Hotel de Russie«, Nr. 23 Unter den Linden, damals im Volksmunde noch die »Sonne« hieß. abgetreten.
E. Meine Herren, anstatt zu streiten, täten
Sie, dünkt mich, weit besser dran,
Wenn ein jeder seinen Mann
Nennen wollte. A.B.C.D. ...
Diese Verse, man wird es einräumen müssen, sind nicht sehr schön, noch sind sie besonders geistreich; aber sie zeigen doch, zusammen mit allem anderen, welche Bewegung Schillers Anwesenheit hervorrief. Es waren Festtage nicht nur für ihn, sie waren es auch für Berlin und die Berliner, abschließend am 14. Mai mit der Aufführung von »Wallensteins Tod«, in welchem Iffland den Wallenstein spielte.
Wie nun aber erschien Schiller den Berlinern, die jetzt ihn unter sich und ganz in der Nähe sahen? Entsprach sein Äußeres, sein Wesen dem Bilde, welches man sich von ihm, dem Dichter der Jugend, gemacht? Man verglich ihn mit Goethe, der oft in einem Kreis tüchtiger Männer und strebender Jünglinge an einem Abend, den sie vielleicht ihr ganzes Leben lang ersehnt hatten, nichts anderes von sich hören ließ als ein gedehntes »Ei – ja!« oder »So?« oder »Hm!« oder im besten Falle ein »Das läßt sich hören!« Schiller war eingehender, und seine Persönlichkeit, wenn nicht imposant wie die des Zeus von Weimar, wirkte durch Sympathie. Über seinem Antlitz, seinem Blick, wenn er schwieg, lag es wie ein leichter Flor der Wehmut, und sein Kopf war ein wenig geneigt. »Er war«, sagte Henriette Herz, die ihn hier, im Mai 1804, zum ersten und zum letzten Male sah, »von hohem Wuchse; das Profil des oberen Teiles des Gesichtes war sehr edel; man hat das seine, wenn man das seiner Tochter, der Frau von Gleichen, ins Männliche übersetzt. Aber seine bleiche Farbe und das rötliche Haar störten einigermaßen den Eindruck. Belebten sich jedoch im Laufe der Unterhaltung seine Züge, überflog dann ein leichtes Rot seine Wangen und erhöhete sich der Glanz seines blauen Auges, so war es unmöglich, irgend etwas Störendes in seiner äußeren Erscheinung zu finden.« Aber man hatte sich ihn in seiner Ausdrucksweise feuriger, in seinen Reden rückhaltloser gedacht. »Ich meinte«, fährt Henriette Herz fort, »er müsse so im Laufe eines Gesprächs etwa wie sein Posa in der berühmten Szene mit König Philipp sprechen.« Sie hatte sich getäuscht; zu ihrem Erstaunen stellte Schiller sich in seiner Unterhaltung als ein sehr lebenskluger Mann dar, der namentlich höchst vorsichtig in seinen Äußerungen über Personen war, wenn er irgend glauben durfte, Anstoß zu erregen. Freilich war er ein kluger Mann, der nicht umsonst durch die harte Schule des Lebens gegangen war und durch Prüfungen jeglicher Art; von seiner ersten Bedrängnis an, deren Zeuge noch Iffland gewesen, bis zu diesen Tagen der höchsten Ehren niemals ganz frei, weder von körperlichen Leiden noch von des Daseins gemeiner Sorge. Vornehm hat er es getragen, aber auch rechnen gelernt, um durchzukommen. Gar zu gern hätten die Berliner Schillers Urteil über ihr Theater gehört, auf welches sie sehr stolz waren. Er sprach seine Meinung auch aus, aber in einem Brief an Körner: »Musik und Theater bieten mancherlei Genüsse an, obgleich beide das nicht leisten, was sie kosten.« Vergebens, ihn zu einer Äußerung über die Darstellerin der Thekla im Wallenstein zu veranlassen, in bezug auf welche das ganze intelligente Publikum Berlins in zwei Lager geteilt war. Aus Schiller war nichts herauszubringen. Von seiner Gemahlin aber erfuhr man, daß ihm die Darstellung der Rolle gar nicht behagt habe. Keine Spur von Sentimentalität, Empfindsamkeit war in diesem Manne, vielmehr die volle Schärfe des Kritikers, welche, durch die hinreißende Gewalt seines Pathos verhüllt, von der Menge nicht wahrgenommen wird. Aber in der Richtung seiner Jugenddramen, in dem schlagenden Dialog auch seiner spätesten noch, kommt sie mittelbar, in den Votivtafeln, in seinem Anteil an den Xenien, in seinen philosophischen Schriften, seinen mündlichen und brieflichen Aussprüchen unmittelbar zum Vorschein.Dieser Auffassung hat zuerst Scherer in der knappen schönen Sentenz Ausdruck gegeben: »Goethe wurzelt in der Idylle, Schiller in der Satire.« Literaturgeschichte, S. 582. Über die Berliner wollte Schiller sich nicht äußern; aber als in einer Unterhaltung mit Henriette Herz die Rede kam auf Frau von Staël, welche in Jena in einem wegen eines Spuks anrüchigen Hause gewohnt und sich etwas damit wußte, daß während ihres Aufenthaltes sie nichts davon gemerkt habe, da rief er: »Freilich, hätte denn selber ein Geselle Satans mit der zu schaffen haben mögen?«
Einmal auch war Schiller beim Prinzen Louis Ferdinand zu Gast – er, dieser Prinz, trotz der Romantik, die sich mit seinem Namen verknüpft, und obwohl eine lebensfrohe, doch im Grund eine ernste Natur und wie von der Ahnung eines großen Schicksals ergriffen, wenn er frühe schon (in einem Brief an Pauline Wiesel) ausruft: »Sprich doch nicht von Amüsieren! Ich kenne nichts Trivialeres als diesen Ausdruck – Kinder, Hofdamen und Fähnriche amüsieren sich, aber ein Mann, dessen Verstand sich beschäftigen, der denken, fühlen, genießen kann, der amüsiert sich nicht.« – »(5. Mai.) Beim Prinzen Louis Ferdinand gegessen«, heißt es in Schillers Tagebuch. Den Berlinern ist das Haus des Prinzen, nicht hundert Schritte von den Linden, dem heutigen Zentralbahnhof in der Friedrichstraße gegenüber, noch wohlbekannt. Von all den alten Häusern, ehemals königliche Gebäude, die hier herum in der Friedrichstraße stehen und von denen – leider! – eines nach dem anderen vor unseren Augen fällt, ist dieses das hübscheste. Es führt die Nummer 103 und ist gegenwärtig ein Geschäftshaus mit zehn Läden im Erdgeschoß, und ich weiß nicht wie vielen außerdem. In dem weitläufigen Hof, zu des Prinzen Zeit ein großer Garten, der bis an die Spree reichte, sind mehrere Fabriken und eine Druckerei. Doch ein kleines, idyllisches Fleckchen ist hier übriggeblieben zwischen den haushohen Wänden, Schornsteinen und schnurrenden Maschinen, ein traulicher Winkel, mitten in der großen Friedrichstraße von Berlin, und doch so weit von ihr entfernt und so still und poetisch wie die Zeit, wo »Paul et Virginie« die Welt zuerst entzückte – ein Stückchen Gartenland mit ein paar alten Fliederbäumen, die jedesmal im Mai wieder knospen, und einer bejahrten Borkenhütte mit spitzem Dach, nach dem Muster von Bernardin de St. Pierres »Chaumière indienne«, nur daß jetzt Kaninchen darin sitzen. Drei tiefe Bogenfenster des ehemaligen Palais schauen wehmutsvoll in diesen Rest der Vergangenheit hinunter, und der Name des Prinzen lebt noch im Munde der Leute, die hier wohnen. Wie aus einer Verzauberung kehrt man in die Friedrichstraße zurück, und gern, wenn es in diesem betäubenden Durcheinander und Gewühl von Fuhrwerken, Pferden und Menschen möglich wäre, bliebe man einen Augenblick stehen vor diesem langgestreckten Hause, welches Schinkel gebaut, und dessen edle Linien immer noch erkennbar sind. Gern hinter einem jener siebzehn Fenster über dem niedrigen Entresol dächte man sich diese beiden, den Helden und den Dichter, denen es bestimmt war, so bald und so kurz nacheinander zu sterben.
Übers Jahr, als der Mai wieder kam, am Sonnabend, dem 18. Mai – so lange hatte die Nachricht gebraucht, um von Weimar hierher zu gelangenDie »Vossische Zeitung« hatte sie jedoch schon zwei Tage früher. – las man in der »Spenerschen Zeitung«: »Schiller ist nicht mehr! – Nach einem neuntägigen Krankenlager starb er am 9. d. M. an einem Nerven- und Brustfieber; er hinterläßt seine Witwe mit vier unmündigen Kindern«. – Am 22. Mai ward die »Jungfrau von Orleans« im Königlichen Nationaltheater aufgeführt. »Viele der Zuschauer«, heißt es in der »Spenerschen Zeitung« vom 25. Mai, »schienen von dem Gedanken getroffen, daß Schiller uns nun kein Meisterwerk mehr liefert, und feierliche Rührung begleitete den Beifall, den man dem ersten Werke, das seit der traurigen Nachricht erschien, zollte.« Die »Vossische Zeitung« (desselben Datums) erzählt, »am Schlusse dieses in seiner ganzen Pracht, Schönheit und Begeisterung gegebenen Stückes«, als Johanna niedersank, die Worte sprach: »Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!«, als die Fahnen sich über sie herabsenkten und eine lange feierliche Stille Bühne und Haus erfüllte, da sei der langsam herunterrollende Vorhang, der diese Trauerszenen in seine Nacht habe verhüllen wollen, plötzlich, durch das Reißen eines Seiles, schräg hängengeblieben. Unbeweglich um Johannas Leiche habe die Gruppe gestanden, als ob es eine Gruppe gewesen um Schillers Aschenkrug. Aber auch die drei schwebenden Figuren auf dem Vorhang seien wie in ihrem Fluge gehemmt, wie voneinander getrennt erschienen, und es habe dieser Allegorien nicht bedurft, um zu klagen, daß Thalia und Polyhymnia ihre Schwester Melpomene, die tragische Muse, »vielleicht auf lange Zeit, vielleicht auf immer verloren« habe. Viele, viele Jahre, mehr als achtzig, sind seitdem verflossen. Auf dem Gendarmenmarkt, an derselben Stelle, wo vormals das französische Komödienhaus Friedrichs des Großen, nach seinem Tode das erste Königliche deutsche Theater Berlins, stand, steht jetzt das Denkmal Schillers. Hervorgegangen aus der mächtigen Bewegung des Jahres 1859, jener überwältigenden Kundgebung des Einheitsgefühls, welches – so dicht vor den Ereignissen des Jahres 1866 und 1870 – in der Schillerfeier seinen begeisterten Ausdruck fand, wird es auch der fernsten Zukunft noch sagen, daß es die nationale Dichtung war, welche der politischen Wiedergeburt unseres Volkes den Boden bereitet hat.
Zwei solch illustre Gäste, wie Goethe und Schiller, hat das Haus Unter den Linden Nr. 23 nicht wieder gesehen. Aber das Zeichen der »Sonne« stand noch lange über seiner Tür, und sie hat, in den zwanziger Jahren, auch Heine noch geleuchtet, obwohl er schwerlich gewußt, was sie zu bedeuten habe. Denn der Gasthof existierte nicht mehr; in seinen Räumen befand sich jetzt das berühmte Jagorsche Restaurant. »Jagor!« ruft er aus. »Eine Sonne steht über dieser Paradiesespforte. Treffendes Symbol! Welche Gefühle erregt diese Sonne in dem Magen eines Gourmands! ... Kniet nieder, ihr modernen Peruaner, hier wohnt – Jagor!« Und das will etwas sagen; denn eine fine lame ist Heinrich Heine immer gewesen, wenn auch grade kein großer Trinker. – Zum letzten Mal erwähnt in Verbindung mit einer Zelebrität finde ich dieses Restaurant in den Memoiren von Beust, welcher aus der Zeit seines Aufenthaltes in Berlin im Sommer 1848 vermerkt, daß man, um sich bei Tisch zu orientieren, zu Jagor gegangen sei, wo man immer die Minister habe treffen können. Dann aber muß der Glanz der »Sonne« rasch verloschen sein. Minister verkehrten in diesem Hause nicht mehr, als ich es kennenlernte. Das kann ich versichern.
Heine hat die Linden sehr geliebt. Er hat sie sogar einmal ausdrücklich besungen:
Ja, Freund, hier unter den Linden
Kannst Du Dein Herz erbaun,
Hier kannst Du beisammen finden
Die allerschönsten Fraun.
Das Gedicht ist nicht hervorragend. Es ist ein wenig commonplace, so wie jeder es hätte machen können, ohne gerade Heine zu sein; was dieser wohl auch gefunden haben mag. Denn er hat es in keine seiner Sammlungen aufgenommen. Viel kurzweiliger ist das andere, das mit den Worten: »Ich wollt, ich wär der liebe Gott« anfängt, aber so bös nicht gemeint ist, wie man sich bald überzeugen kann, wenn man weiter liest, welche Wunder er verrichten will. Als er es verfaßte, dieses Gedicht, da wohnte Heine selbst Unter den Linden, in dem Hause Nr. 24, dicht neben Jagor. »Meine Wohnung«, schreibt er, »liegt zwischen lauter Fürsten- und Ministerhotels« – (was übrigens, wie man sieht, mehr dichterische Lizenz als genaue Wahrheit ist). Das Haus steht heute noch, in seinem Äußern unverändert, wie es damals gewesen sein mag, ein Haus aus der friderizianischen Zeit, zweistöckig, behäbig anzusehen, die gelben Wände mit Stuckzierat, Girlanden im Geschmack des vorigen Jahrhunderts; aber in dem tiefen Hof, in welchen man durch eine stets geöffnete Einfahrt blicken kann, von hohen Hintergebäuden umgeben, lagern allerlei Kisten und Fässer, die auf etwas sehr Gutes schließen lassen, und im Erdgeschoß des Vorderhauses sind die Läden von Gerold. – »Gerold Unter den Linden«, jeder Berliner weiß, was das zu bedeuten hat: Zigarren, Wein, Kaffee, Tee, Zucker und sonst noch viel angenehme Dinge. Kein Wunder daher, daß in diesem Hause Heine solche Gedanken kamen:
Die Pflastersteine auf der Straß,
Die sollen jetzt sich spalten,
Und eine Auster, frisch und klar,
Soll jeder Stein enthalten.
Ein Regen von Zitronensaft
Soll tauig sie begießen,
Und in den Straßengössen soll
Der beste Rheinwein fließen.
Wie freuen die Berliner sich,
Sie gehen schon ans Fressen;
Die Herren von dem Landgericht,
Die saufen aus den Gössen.
Wie freuen die Poeten sich
Bei solchem Götterfraße!
Die Leutnants und die Fähnderichs,
Die lecken ab die Straße.
Die Poeten hätten sich's schon gefallen lassen, und auch mit den Herren vom Landgericht ging es noch; aber mit den Leutnants und den Fähnrichs war es doch eine andere Sache, die scheinen den Spaß übel vermerkt zu haben, und es ist Tatsache, daß Heine, nachdem das ominöse Gedicht in Berlin bekannt geworden, für gut befand, sich bei seinem Vetter, Hermann Schiff, zu verstecken. Schiff, ein höchst origineller Kauz, der sehr viel Talent und noch mehr Pech auf Erden gehabt, Verfasser des in seiner Art klassischen Büchleins von »Schief-Levinche mit seiner Kalle«, welches – noch nicht einmal unter seinem wahren Namen, sondern pseudonym erschienen – von denen, die es verstanden, nicht gelesen, und von denen, die es gelesen, nicht verstanden worden ist, hielt sich mit Heine zusammen »studierenshalber« in Berlin auf und wohnte, wie dieser, nur ein paar Nummern weiter, gleichfalls Unter den Linden, in dem ehemals Schlesingerschen Haus an der Ecke der Lindengasse, von deren Existenz wohl nur wenige wissen, obwohl Tausende täglich daran vorbeigehen: einem Sackgäßchen zwischen dem Hôtel du Nord und ebendiesem Hause, das längst das alte nicht mehr ist. Doch ich erinnere mich seiner noch sehr wohl, der breiten Steintreppen, die zu demselben hinanführten, der berühmten Musikalienhandlung im hohen Parterre und ihres Chefs, des gemütlichsten und freundlichsten aller alten Herren und Junggesellen, bei dem ich so manchmal in seinen komfortablen Räumen gesessen, wenn er mir seine reiche Sammlung von Autographen zeigte, bei jedem Blatt mir eine amüsante Geschichte oder Anekdote erzählend – die amüsantesten von Heine selbst, »dem Schlingel«, wie er sagte. Denn er hatte ihn noch persönlich, in seinen jüngeren Jahren, gekannt und durfte sich's darum erlauben. Hier nun, in diesem Haus, aber etwas höher; in einem Dachstübchen, wohnte Schiff, der den Vetter bei sich vor dem Zorn der Leutnants und der Fähnderichs beschirmte, bis dieser entweder sich gelegt oder Heine sich überzeugt hatte, daß er niemals vorhanden gewesen. Es muß während dieser »wohnungslosen Zeit« gewesen sein, daß er – 24. Dezember 1822 – in einem Brief an Immermann das Postskript hinzugefügt: »Adresse: H. H. aus Düsseldorf, beim Universitätspedellen zu erfragen«. Denn das Gedicht war im Herbste genannten Jahres in dem »Westteutschen Musenalmanach für 1823« erschienen und aus diesem erst in eine Berliner Zeitung übergegangen, welche, in der Jostyschen Konditorei ausliegend, den ganzen Spektakel verursacht hatte. Ebenso scheint, daß der Exodus nicht aus dem Unglückshaus Unter den Linden vor sich gegangen, in welchem übrigens auch der »Ratcliff« geschrieben worden, »in den letzten drei Tagen des Januars 1822,Vorrede zur dritten Aufl. der »Neuen Gedichte« (Werke, Bd. XVI, S. 7. – Heine gab irrtümlich das Jahr 1821 an; im Januar 1821 war Heine noch in Göttingen). als das Sonnenlicht mit einem gewissen lauwarmen Wohlwollen die schneebedeckten Dächer und die traurig entlaubten Bäume beglänzte«, sondern aus einem, Mauerstraße Nr. 51, welches heut über der breiten Bogentür mit der Inschrift: »Rum-, Sprit- und Liqueurfabrik« geschmückt ist und auch wohl damals schon gerade kein Palais gewesen sein wird, wiewohl Heine von seinem Logis rühmt, daß es »mit rotseidenen Gardinen behangen« war. In einem der »Berliner Briefe«, vom 7. Juni 1822, heißt es nämlich: »Ich bemerke Ihnen bei dieser Gelegenheit, daß ich dort (Nr. 24 Unter den Linden) ausgezogen bin.« Es ist ein ganz altmodisches Haus, dieses in der Mauerstraße, heute noch, einstöckig, mit niedrigen Dachkämmerchen darüber; aber wenn auch damals schon in der Tür der Wirtsstube sich zuweilen ein so schmuckes Mamsellchen mit weißer Schürze gezeigt hat, wie man es gegenwärtig im Vorübergehen manchmal erblickt, so will ich nicht verschwören, daß nicht eines jener Lieder an »Verschiedene«, deren Adressen verlorengegangen sind, an sie gerichtet war. Denn Heine liebte die Veränderung. Viermal während dieser beiden Jahre seines ersten Berliner Aufenthaltes (Februar 1821 bis Frühling 1823) hat er das Quartier gewechselt, und, nur der Vollständigkeit halber, sei noch erwähnt, daß er zuerst, als er hierherkam, drei Treppen hoch in dem Hause Behrenstraße Nr. 71 wohnte, demselben, welches heut zum Ministerium der geistlichen Angelegenheiten gehört – dem allerpassendsten für den, der wenige Jahre später in den Nordseehymnen Berlin als die »fromme Stadt« besang:
Wo der Sand und der Glauben blüht,
Und der heiligen Sprea geduldiges Wasser
Die Seelen wäscht und den Tee verdünnt.
Heines letzte Wohnung (seit Januar 1823), also die, in welche er zog, nachdem er die traurige Erfahrung mit dem Lied vom lieben Gott gemacht, war in der Taubenstraße Nr. 32. Diese Adresse gibt er seinem Freunde Christian Sethe an in einem Briefe vom 21. Januar 1823,Über H. Heine. – Ein Brief an den Buchhändler Dümmler vom 5. Januar 1823, in welchem ihm Heine den Verlag seiner »Tragödien« nebst »lyrischem Intermezzo« anbietet, trägt dieselbe Wohnungsangabe. in welchem es heißt: »Krank, isoliert, angefeindet und unfähig, das Leben zu genießen, so leb ich hier. Ich schreibe jetzt fast gar nichts und brauche Sturzbäder. Freunde hab ich fast gar keine jetzt hier; ein Rudel Schurken haben sich auf alle mögliche Weise bestrebt, mich zu verderben ... auch höhern Ortes bin ich schon hinlänglich angeschwärzt.« Ob Heine damals gewußt und, wenn er es gewußt, nicht einigen Trost darin gefunden hat, daß das Haus ihm gerade gegenüber dasjenige war, welches, in einer ähnlichen Gemütsverfassung, siebzig Jahre früher, während der letzten und schlimmsten seiner Berliner Tage, den Herrn von Voltaire beherbergte? Hier, in diesem Hause, Taubenstraße Nr. 17, wohnte Voltaire, nachdem er in hoffnungslosem Zerwürfnis mit seinem vormaligen Gönner und Gastfreund das Appartement im Königlichen Schloß verlassen hatte, bei dem Hofrat Francheville zur Miete, bis zum 25. März 1753, wo er Berlin für immer verließ; und von hier aus konnte er sehen, wie seine »Histoire du Docteur Akakia« auf Befehl Friedrichs des Großen öffentlich und von Henkershand auf dem benachbarten Gendarmenmarkt verbrannt wurde. Das Haus, ursprünglich ein kurfürstliches Jagdschloß aus der Zeit, wo dies alles Forst und Tiergarten war, hatte bis zuletzt, noch in seinem hohen Alter und Verfall, sich ein gewisses aristokratisches Ansehen bewahrt; es lag etwas erhöht über einer Freitreppe mit schöngeschmiedetem Gitter, und zwischen den reichornamentierten Fenstern des ersten Stocks waren Nischen und Säulen. Also hab ich es noch gekannt, bis es im April 1874 niedergerissen ward. Jetzt stehen hüben und drüben kolossale, meinungslose Neubauten, und nichts erinnert mehr an das Haus, in welchem der Witzigste der Franzosen, noch an das, in welchem der Witzigste der Deutschen bittre Betrachtungen anstellten über das Los der Schriftsteller in Berlin. –
Intakt dagegen steht noch, wenige Schritte von hier, das Haus, in welchem ein andrer wohnte, der gleichfalls Anspruch darauf machte, sehr witzig zu sein, und es in der Tat auch war: Heines großer Rivale, Ludwig Börne. »Me voilà«, schreibt er am 18. Februar 1828, »ausgepackt und eingerichtet in meinem Privatlogis. Friedrichstraße Nr. 131.« Das Haus, zwischen Behrenstraße und Linden, nicht weit vom Ausgang der heutigen Passage, gehört noch immer den Logiers, und bis vor wenigen Jahren befand sich auch im Erdgeschoß desselben die nunmehr eingegangene Logiersche Buchhandlung. Börne, der als Jüngling im Hause der Frau Henriette Herz stürmisch unglückliche Jahre verlebt, war jetzt zu kurzem Besuch nach Berlin gekommen und sah seine alte Liebe wieder. »Ich habe sie in ihrem Sommer gesehen«, ruft er aus, – »eine Juno!« Fünfundzwanzig Jahre waren seitdem vergangen; die Herz, wiewohl man die Spuren ihrer Schönheit noch erkannte, hatte die Sechzig lang überschritten, und Börne war ein berühmter Mann geworden. Doch auch Heine hatte von sich hören lassen. Wenn er, in seiner Berliner Zeit, sich nach den Linden begeben wollte, so führte sein Weg ihn durch die große Friedrichstraße – deren Betrachtung ihm »die Idee der Unendlichkeit« veranschaulichte – dem Hause vorüber, in welchem fünf Jahre später Börne sitzen und schreiben sollte: »Wissen Sie, daß die Reisebilder hier nicht sonderlich gefallen? Man findet sie ungezogen, oft schmutzig. Die Varnhagen ist sehr aufgebracht, daß er sie ihr dediziert, ohne ihre Erlaubnis. Da findet man die Werke eines gewissen andern Schriftstellers ganz anders. Man lobt deren sittlichen Ton, und deren Feinheit, und deren Witz, und deren Scharfsinn, und deren Menge, und deren musterhafte Schreibart ...« Es ist ein bißchen viel auf einmal; es geht einem fast der Atem aus bei der Aufzählung all dieser Tugenden. Sie hatten beide keine geringe Meinung von sich, diese zwei nachmals Unversöhnlichen, und Börne hat gewiß nicht unrecht, wenn er von Heine sagt: »Dieser liebenswürdige Schriftsteller spricht von der Liebe bei Gelegenheit Kants, von Frauenhemden bei Gelegenheit des Christentums und von sich selber bei jeder Gelegenheit.«Schriften, Bd. VII, S. 257. Die Stelle ist französisch, in einem für den »Réformateur« geschriebenen Artikel. Doch ich muß gestehen, lieber als das anonyme Selbstlob des einen hör ich, wenn der andre frei hinausjubelt in alle Welt:
Ich bin ein deutscher Dichter,
Bekannt im deutschen Land;
Nennt man die besten Namen,
So wird auch der meine genannt.
Es ist eben der Unterschied zwischen dem »Talent« und dem »Charakter«, im Sinne des Atta Troll. Der Charakter wird Börne für immer bleiben; aber sein Witz hat etwas Gemachtes und heute schon Überlebtes. »Hier wird stark gewitzt«, heißt es in dem angeführten Brief, »und ich witze auch, Gott weiß, wie oft den Tag.« – Daheim, »im Hause des Buchhändlers Logier«, erzählt Gutzkow von ihm, »traf man ihn nur in dicke Tabakswolken eingehüllt, im langen Schlafrock und ein rotes Jakobinerkäppchen auf dem Haupte.« Börne selbst schreibt darüber an seine Freundin: »Sie haben recht, mich mit dem Rauchen zu necken. Ach! wie geht es mir darin so schlimm, ach! wie bin ich so zahm geworden! ... Meine Wirtin, die neben meinem Zimmer wohnt, ließ mich schon einige Male bitten, ich möchte doch nicht so viel rauchen, der Rauch zöge in ihre Stube. Ich ließ ihr antworten: Das könne ich nicht ändern, und sie möge die Spalten der Türe verstopfen.« Aber es scheint nicht, daß man sich dabei beruhigt habe. Gutzkow berichtet weiter: »Herr Logier bat ihn, unter diesen Umständen auf die Ehre, ihn länger in seinem Hause zu haben, verzichten zu dürfen.« Welchen Verlauf die Sache genommen, würde jetzt schwer zu ermitteln sein.
Wir wissen nur, daß abermals fünf Jahre später, in demselben Haus und demselben Zimmer ein zwanzigjähriger junger Mann gewohnt, gleichfalls ein gewaltiger Raucher, wenn er auch, selbst damals schon, kein Jakobinermützchen getragen haben wird, nämlich der Studiosus juris – Otto von Bismarck, der künftige Fürst-Reichskanzler. Er wohnte hier mit dem ihm befreundeten Motley, dem nachmaligen großen amerikanischen Historiker, als beide, Herbst 1833, von Göttingen nach Berlin gegangen waren. »Wir lebten daselbst«, dies sind Bismarcks eigne Worte, »im innigsten Verkehr miteinander, indem wir unsre Mahlzeiten und unsre Übungen gemeinschaftlich hielten ... Unser treuer Gefährte war Graf Alexander von Keyserling aus Kurland, welcher seither als Botaniker berühmt geworden ist ... Das letzte Mal sah ich ihn (Motley) im Jahre 1872 in Varzin bei der Feier meiner silbernen Hochzeit.«
Wie seltsam doch der Zufall spielen kann, und welch eine Verkettung der Namen, indem wir nicht weiter gehen als von der Taubenstraße bis zu den Linden: Voltaire, Heine, Börne, Bismarck ...
Unter den Berliner Notabilitäten, welche Heine zuweilen im Café Royal sah – Jagor gegenüber, auf der andren Seite der Linden, Nr. 44, da wo jetzt Arnims Hôtel ist –, zeigt er uns einen, »dort am Tisch das kleine bewegliche Männchen mit den ewig vibrierenden Gesichtsmuskeln, mit den possierlichen und doch unheimlichen Gesten ... Das ist der Kammergerichtsrat Hoffmann, der den Kater Murr geschrieben.« Hoffmann, unser unvergeßlicher E. T. A. Hoffmann, stand damals in seinem sechsundvierzigsten Jahr, welches er nicht lange überleben sollte. Der Brief Heines ist vom 26. Januar 1822 datiert, und am 24. Juli starb jener. Ein Zug innerer Verwandtschaft zog den jungen Poeten zu dem älteren, dessen Erzählungen sich ganz im Reich einer ergreifenden, vorwiegend düstren Phantastik bewegen. Von Heine war damals noch nichts erschienen als der Band Gedichte (Berlin, Dezember 1821), in deren »Traumbildern« er uns gewissermaßen auch seine »Phantasiestücke in Callots Manier« gibt und die, wenn an irgendeinen, an Hoffmann anklingen. Später hat der Gräberspuk und Mitternachtsgraus in Heines Dichtung sich zu lieblicher Elfen- und Blumenpoesie verfeinert, märchenhaft schimmernd von den bläulichen Sternen und irrenden Lichtern der Sommernacht, und der finstre Humor reift zur Ironie. Doch ihr Boden bleibt immer die Romantik, der als ein merkwürdiger Seitensproß E. T. A. Hoffmann entwachsen ist. »Der Teufel kann so teuflisches Zeug nicht schreiben«, sagt Heine von den Schriften Hoffmanns. Für uns Berliner haben sie noch eine andre Bedeutung: das alte Berlin lebt in ihren Blättern. Nicht das des nüchternen Alltags, sondern eines, das unheimlich phosphoresziert, von seltsamen Gestalten erfüllt und dennoch wirklich ist in all seiner Unwirklichkeit; so wie er selber, der abwechselnd ein kleiner Beamter und Musikdirektor an Wanderbühnen war, ein Komponist, ein Schriftsteller, ein Maler und ein Genie in allen Dingen, und dennoch, trotz der Legende, die sich um sein abenteuerliches Leben gewoben, zuletzt ein guter Berliner Kammergerichtsrat geworden und als solcher verstorben ist. Sein Bild hat sich dem Gedächtnis der Berliner tief eingeprägt und wird daraus so bald nicht verschwinden. Er ist ein Stück jenes Berlins, welches nunmehr fast ganz dahingegangen; aber wir brauchen nur an ihn zu denken, so steht es wieder vor uns, wie er es gesehen hat mit dem gespenstisch blickenden Auge, welchem dennoch keine von den gewöhnlichen Realitäten entging, nur daß eine jede von seinem Licht etwas annahm.
Er hat in dem Eckhause der Charlotten- und Taubenstraße Nr. 31 gewohnt, den älteren Berlinern hauptsächlich wegen der Konditorei bekannt, welche von ihnen noch immer die Meyersche genannt wird, obwohl sie längst den Besitzer gewechselt hat, und deren Eingang sich im Erdgeschoß zwischen den beiden Straßen öffnet. Ein stattliches Haus dieses, und von beträchtlichem Umfange mit seinen beiden Fronten, seinem quadernartigen Bewurf, seinen Kränzen von Stuck und steinernen Reliefs, seinen Balkonen und seinem Vorbau, drei Stock hoch, die Fenster im oberen etwas niedriger als die anderen und bogenförmig – ein Haus voll von Erinnerungen selbst für uns, die Generation, die nach Hoffmann kam. Sind diese Räume, welche das Gebäude nach der Charlottenstraße hin abschließen, nicht mit dem Andenken an »Schubert« verbunden, einen jovialen Wirt aus den fünfziger und sechziger Jahren, auch durch seine »Kompositionen« berühmt, aber Kompositionen von Schlummerpunsch und Likören; und wird nicht, indem wir diesen Namen aussprechen, eine ganze Tafelrunde fröhlicher Gäste wieder lebendig, welche hier Abend für Abend beisammensaßen und von denen nun, gleich dem Wirte selber, kein einziger mehr unter uns weilt – Eduard Hildebrandt und Gustav Richter, Ernst Dohm, der hier mit seinem schwarzen Fischbeinstöckchen zwischen den Knien manchmal noch vor dem Schlummerpunsch schlummerte, George Hiltl und sein Schwager Berndal – Maler, Schauspieler, Schriftsteller, alle dahin –, aber ihre Schatten scheinen noch um die liebgewordene Stätte zu huschen. »Nach hundert Jahren mag man es als eine Merkwürdigkeit zeigen«, sagt schon Ludwig Rellstab im Texte zu der krausen Federzeichnung, in welcher E. T. A. Hoffmann dieses Haus für alle Zeiten unzweifelhaft festgestellt hat. »Taubenstraße Nr. 31« steht am Rande des wunderlichen Blattes geschrieben, welches, wenn wir noch keinen Begriff davon hätten, wie die Wirklichkeiten des Tages sich auf dem »Zauberspiegel« dieses Kopfes malten, uns einen solchen geben würde. »Draußen vor dem Fenster war das Gewühl des Markts und der Straßen, des Theaters und der Weinhäuser; aus diesem fing er alles auf und zeigte es in scharfen, eckigen Linien. Ihr könnt euch nur die Wohnung an der Tauben- und Charlottenstraßen-Ecke, wo jetzt unten der Konditor wohnt, ansehen – droben an dem Eckfenster hing der Spiegel.« Und eine Fülle von Gesichtern und Gesichten quirlt auf und durcheinander, klimperkleine Figuren, und eine jede doch mit den getreuen Zügen des Originals, auch in der Karikatur noch erkennbar, zahllose Gruppen, deutlich gesondert und alle miteinander im Zusammenhang, die Straßen genau bezeichnet, die »das alte, romantische Land« von Berlin umgrenzen – Tauben-, Charlotten-, Jäger-, Markgrafenstraße, Gendarmenmarkt – die Gebäude mit wenigen Strichen hingeworfen, das Schauspielhaus, die beiden Kirchen, die Restaurationen, die Weinstuben – diese vor allem dem Herzen Hoffmanns teuer – und da, wo Kenntnis oder Interesse nicht mehr hinreicht, die »Wohnungen unbekannter Leute«. Doch auch dieser Nebel hat seine Sterne – die Italiener! Sie sind freilich nur »Materialisten«; aber wie ganz anders in jener Zeit, die selbst des Leibes gemeine Nahrung mit einem poetischen Schimmer verklärt! Ah, man muß einmal den Duft solcher Läden, von Südfrüchten, Öl, Käse, Wurst und allerlei Gesalzenem durcheinander gemischt, in den Städten Italiens, in den engen Gassen Veronas oder Genuas geatmet haben, um zu wissen, was gut ist. Und das war es, was diese Italiener nach Berlin brachten. Noch heut, wo wir das unterdes fast obsolet gewordene Wort auf alten Ladenschildern erblicken, weckt es angenehme Erinnerungen an erlesene Leckerbissen und versteckte Hinterstübchen, an Sala Tarone, den »Hofitaliener« Friedrichs des Großen und an »das Land, wo die Zitronen blühn«. Wieviel ärmer, trivialer ist unser Leben geworden, trotz der Rundreisebilletts nach Rom und Neapel! »Italienische Warenhandlung Moretti – Extrafeiner Rum« an der Ecke der Französischen Straße und »Austern, Kaviar, Italienischer Salat bei Thiermann« (denn auch solche Italiener gab es) an der Ecke der Jägerstraße – das war besser; denn es war für die Kenner. Und wer hat auch Venedig – »o herrliches Venedig!« – treuer geschildert, italienisches Leben, italienische Dichtung und italienische Musik inniger empfunden als er, der Dichter von »Doge und Dogaresse«, der niemals in Italien war, außer bei Moretti und Thiermann? Das Haus und der Laden des letzteren, wenn auch unter anderem Namen, hat sich an der identischen Stelle noch erhalten, mit einem altmodischen Treppchen davor und einem kleinen Schild, auf welchem man wie eine wehmütige Reminiszenz: »Colonial- und Italiener Waren« liest.
So korrekt und richtig in seinem Capriccio hat Hoffmann alles angegeben; keine topographische Aufnahme, kein Plan von Berlin hätte mehr tun können. Und dennoch welch ein toller Spuk überall! Auf den Türmen der französischen und der deutschen Kirche hocken die Gnomengestalten zweier Glöckner, Kobolde mit großer Perücke und langen Nasen, das edle Roß auf dem Schauspielhaus hat sich in ein Ungetüm verwandelt, das auf den Hinterbeinen steht, fabelhafte Tiere, ein Hund, ein Strauß, ein Löwe, spazieren ringsumher und »ein Vogel im Fluge« steigt darüber auf, eine wunderbare Rose blüht mitten in der Luft und ein »Rauchfaß Nr. 1« wirbelt seine Wolken dem Vogel nach – seltsame Fratzen grinsen aus den Ecken, die Choristen singen, das Ballett tanzt und die Theateruhr zeigt auf zwölf – Mitternacht. Nun ist die Stunde, wo die Visionen aus den Trinkstuben aufsteigen – »in der alten Pracht« –, aber nicht wie Tiecks »mondbeglänzte Zaubernacht«, sondern in der handgreiflichen Realität langer Speisezettel und noch längerer Weinkarten – und der Wundermann selbst ist da, Tieck, Ludwig Tieck, einst der Herrscher im Reiche der Romantik, er selbst ein Berliner Kind und geboren in der Roßstraße Nr. 1, jetzt ein wohlbeleibter Herr mit einem Regenschirm und neben ihm Brentano, spindeldürr, fast durchsichtig, den Hut tief in die Stirne gedrückt. Auch der Schlemihl ist da, der Peter, in seinem kurzen Röckchen, mit dem Tabaksbeutel und der Botanisiertrommel genau das Ebenbild Chamissos – und hier ist Hoffmanns Feder und vielleicht auch seine Seele, so voll, daß ein tüchtiger Tintenfleck – »ein Klecks« schreibt er zur Erklärung daneben – auf die Stelle fällt, wo des Vaterlandslosen Schatten hätte sein sollen. Und hier endlich ist er in eigner Person, der Herr Kammergerichtsrat, sein Profil mit der feinen, aber gebogenen und stark vorspringenden Nase, dem mit den Augenbrauen fast zusammengewachsenen Haar und gegen die Mundwinkel gezogenen Backenbart, gleich einem spitzwinkligen Dreieck, das Kammergericht weit oben; im fernsten Hintergrund, aber ihm dicht gegenüber und den Qualm seiner langen Tabakspfeife ihm vergnüglich ins Gesicht blasend, der »Schauspieler Devrient«, Ludwig, der Größte dieser Dynastie von Großen, mit hohen Vatermördern und Zügen voll Bonhomie – und in jeder Weinstube des Quartiers kehrt dieses par nobile fratum wieder, als ob es allgegenwärtig wäre: bei »Lutter und Wegner«, wo noch ihr Geist umgeht und man sich einbilden kann, daß dieselben Wände herniederblicken auf dieselben Tische, dieselben Stühle; »bei Schoner«, heute Rähmel, einem gleichfalls noch immer sehr beliebten Lokal, an der Markgrafen- und Taubenstraßen-Ecke, dem Schauspielhaus querüber. Hier aber, im Musentempel, während sein bester Schauspieler zecht in den alten Häusern, die heute noch an ihn erinnern, sehen wir den Grafen Brühl, den Intendanten in Hoftracht, mit dem Galadegen, wie er händeringend einen Haufen anstürmender Dichter beschwört, seinen Kapellmeister Weber jedoch – denn im damaligen Berlin gediehen die Kunst und die Künstler! – ein rundliches Männchen mit Schmerbauch und langer Weste, schwebend über einem ungeheuren Beefsteak, mit einem Glase Madeira links, einem Glase Chambertin rechts und dem kleinen Johannes Kreisler mit untergeschlagenen Armen daneben.
Das war Hoffmanns Berlin, und »so wohnte der Teufelskerl! Hier ist die Ecke – schaut hier unten rechts auf mein Blatt, hier, wo eben der Baron von Fouqué vorbeifährt. Er kommt gerade aus Neunhausen, seiner Burg bei Rathenow. Hei! Wie der wackre Recke dahinjagt! ... Fahr zu, Knappe! Aber fahre mir nicht durch die Gemüseweiber, denn ich sehe das Äpfelweib meines Lieblings, des Studenten Anselmus, dazwischen sitzen« ... Aber sie jagt unaufhaltsam dahin, die Karosse, die den Ritter Undinens mit wehendem Helmbusch davonträgt – hinterher kommt noch ein genialer Gassenjunge, der in der romantischen Schule seine »angenehmsten Jugendjahre verlebt und zuletzt den Schulmeister geprügelt« hat (Heine, Vorrede zum »Atta Troll«) – dann aber ist es aus, und es gibt keine Romantik mehr, weder in der Literatur noch auf dem Gendarmenmarkt. Sogar die Gemüseweiber sind von letzterem verschwunden; und von allen Bestien, mit welchen Hoffmann ihn einst bevölkert, existiert nur eine noch, der Löwe nämlich, aber der ist aus Papiermaché, und er stößt jedesmal ein fürchterliches Gebrüll aus, wenn dort, in dem turmgekrönten Palast an der Ecke der Charlotten- und Französischen Straße, dem »Löwenbräu«, ein neues Faß angestochen wird. Mit dem Biere scheint die Welt lauter geworden zu sein. Unsre Väter und Vorväter, welche Wein tranken (und zwar sehr vielen und »extrafeinen Rum« obendrein), taten es stiller; und stiller und traulicher war es hier in dieser Gegend, als er noch dort oben hauste, an »des Vetters Eckfenster«, welches er in der Erzählung gleichen Namens – es war eine seiner letzten – verewigt hat.
»Es ist nötig zu sagen, daß mein Vetter« – der Vetter war Hoffmann selbst – »ziemlich hoch in kleinen, niedrigen Zimmern wohnt. Das ist nun Schriftsteller- und Dichtersitte. Was tut die niedrige Stubendecke? Die Phantasie fliegt hoch empor und baut sich ein hohes, lustiges Gewölbe bis in den blauen, glänzenden Himmel hinein ... Dabei liegt aber meines Vetters Logis in dem schönsten Teile der Hauptstadt, nämlich auf dem großen Markte, der von Prachtgebäuden umschlossen ist und in dessen Mitte das kolossal und genial gedachte Theatergebäude prangt. Es ist ein Eckhaus, was mein Vetter bewohnt, und aus dem Fenster eines kleinen Kabinetts übersieht er mit einem Blick das ganze Panorama des grandiosen Platzes.« Der Platz ist der Gendarmenmarkt und das Theatergebäude das Königliche Schauspielhaus; und nun beschreibt Hoffmann das bunte Treiben eines Markttages mit seinen Buden und Ständen, Verkäufern und Verkäuferinnen, Köchinnen und Damen, so wie wir es alle noch gekannt, bevor die Markthallen es in sich aufgenommen und zum besten Teil unserer Beobachtung entzogen haben. Aber der Vetter ist nicht mehr derselbe: die Krankheit, von der er nicht genesen wird, fesselt ihn an das Eckfenster. »Vetter!« sprach er eines Tages zu mir, mit einem Ton, der mich erschreckte, »Vetter, mit mir ist es aus! Ich komme mir vor wie jener alte, vom Wahnsinn zerrüttete Maler, der tagelang vor einer in den Rahmen gespannten, grundierten Leinwand saß und allen, die zu ihm kamen, die mannigfachen Schönheiten des reichen, herrlichen Gemäldes anpries, das er soeben vollendet – ich geb's auf, das wirkende, schaffende Leben ...« Der Erzähler – denn das Ganze wird in Form eines Dialogs gegeben – versucht den Vetter zu trösten; der aber erwidert: »Dieser Markt ist auch jetzt ein treues Abbild des ewig wechselnden Lebens. Rege Tätigkeit, das Bedürfnis des Augenblicks, trieb die Menschenmassen zusammen, in wenigen Augenblicken ist alles verödet, die Stimmen, welche im wirren Getöse durcheinanderströmten, sind verklungen, und jede verlassene Stelle spricht das schauerliche: Es war! nur zu lebhaft aus.« – Es schlug ein Uhr; der Erzähler weist nach dem am Bettschirm befestigten Blatt, indem er sich dem Vetter an die Brust wirft und ihn heftig an sich drückt. »Ja, Vetter!« rief er mit einer Stimme, die mein Innerstes durchdrang und es mit herzzerschneidender Wehmut erfüllte, »ja Vetter: – Et si male nunc, non olim sic erit!« – Armer Vetter! ...
War er ein andrer oder nicht vielmehr in seinem innersten Wesen und einigermaßen in seinem Äußern derselbe schon, als er sich noch unter diese Menschen mischte? Denn nicht menschenscheu war er, im Gegenteil; aber eine Mitternachtsnatur, die bei den Freunden, in den frohen Gesellschaften und nicht selten im Rausch eine Zuflucht sucht, wie geängstete Kinder, die den Kopf im Schoße der Mutter bergen. Ein leidender, schmerzhaft gespannter Zug ist in seinem Gesicht. Er findet sich auf all seinen Porträts; er findet sich in dem berühmten Bilde bei Lutter und Wegner. Heine deutet ihn an in der kurzen Schilderung, die wir mitgeteilt, und Hoffmann selber bestätigt ihn mit den traurigen Worten dicht vor seinem frühen Tode, daß er unter der Last seiner Einbildungskraft zusammengebrochen sei. So genau kennt er sich, daß es oft ist, als ob er Furcht vor sich selber habe. Den Schatten, den sein eignes Ich wirft, bringt er gleichsam zum Leben und betrachtet ihn mit einer grausamen Kälte, Mit einem gewissen bittren Humor spricht er von dem »sechsten Sinne«, der ihm verliehen worden, von der Gabe nämlich, »an jeder Erscheinung, sei es Person, Tat oder Begebenheit, sogleich dasjenige Exzentrische zu schauen, zu dem wir in unsrem gewöhnlichen Leben keine Gleichung finden«. Er findet Ähnlichkeit zwischen sich und der Fledermaus, die nur im Finstern sieht, bei Licht aber, geblendet umherflatternd, vergeblich gegen die Decke fliegt. Für ihn ist immer Geisterstunde. Mit scharfem Blick dringt er in das, was dem blöderen Auge dunkel ist, und bemerkt an jeder Kreatur den Fleck, wo das Spiel des Dämonischen, das Unerklärte, das Unerklärliche beginnt, auch in dem allertrivialsten Dasein.
Seine Leidenschaft ist es, allein durch die Straßen zu wandeln, die begegnenden Gestalten zu betrachten, »ja, wohl manchem in Gedanken das Horoskop zu stellen«. Tagelang läuft er hinter ihm unbekannten Personen her, »die irgend etwas Verwunderliches in Gang, Kleidung, Ton, Blick haben«. Er fühlt sich im beständigen Rapport mit dem Übersinnlichen, dem geheimnisvollen Walten von Naturkräften, die wir nur unvollkommen erkennen, und mehr noch als er die Geisterwelt, verfolgt die Geisterwelt ihn. Sie quält, foltert und neckt ihn, sie macht ihn abwechselnd selig und mehr als einmal physisch krank. Sie vertritt ihm den Weg am hellen Mittag in diesem vernünftigen Hegelschen Berlin; sie geht ihm nach durch den Lärm der Königstraße zu den wenigen noch übrigen Resten des Mittelalters in der Gegend des zerfallenden Rathauses; sie läßt ihn in der Grünstraße – »ich sage in der Grünstraße« – einen geheimnisvollen Rosen- und Nelkenduft verspüren und verhext ihm den fashionablen Sammelplatz »des höheren Publikums«, die Linden. Man könnte Hoffmann den Vater des »Berliner Romans« nennen, dessen Spur später, als man Berlin »die Hauptstadt«, den Tiergarten »den Park«, die Spree »den Fluß« und die Regentenstraße (nach einer darin befindlichen Fontäne) »die Springbrunnenstraße« nannte, sich in Allgemeinheiten verlor, bis er in unseren Tagen wieder aufgelebt ist, freilich in Anlehnung eher an französische Vorbilder als an diesen echt deutschen Schriftsteller, welcher, merkwürdig genug, heute noch von den Franzosen vielleicht nicht mehr geschätzt, sicher aber mehr gelesen wird als von seinen eigenen Landsleuten. »Du hattest«, läßt er einen der Erzähler im »Fragment aus dem Leben dreier Freunde« sagen, »bestimmten Anlaß, die Szene nach Berlin zu verlegen und Straßen und Plätze zu nennen. Im allgemeinen ist es aber auch meines Bedünkens gar nicht übel, den Schauplatz genau zu bezeichnen. Außer dem, daß das Ganze dadurch einen Schein von historischer Wahrheit erhält, der einer trägen Phantasie aufhilft, so gewinnt es auch, zumal für den, der mit dem als Schauplatz genannten Orte bekannt ist, ungemein an Lebendigkeit und Frische.« Mit diesen Worten spricht Hoffmann deutlich die Theorie seines Romans aus, die ganz ebenso den neuesten Erzeugnissen dieser Gattung wieder zugrunde liegt. Der Berliner Roman ist damit auf den richtigen Weg zurückgekehrt, den ihm, vor zwei Menschenaltern schon, Hoffmann gewiesen. Aber wie sehr ist dieser seinen Nachfolgern in der Kunst der Lokalschilderung überlegen! Er bezeichnet nicht nur, er zeichnet und trifft mit unfehlbarer Treue. Visionär, hat er doch für die Bestimmtheit der Dinge den sichersten Griff und Ausdruck; er überzeugt durch den Gegensatz: von der Festigkeit des Hintergrundes borgt die Magie seiner ruhelosen Erfindung den Schein einer Existenz, welche der gemeinen Wirklichkeit widerspricht und doch untrennbar mit ihr verknüpft ist. Nirgends, in keiner seiner Erzählungen, zeigt diese Kunst, durch die Behandlung des Gegenständlichen das Wesenlose körperhaft zu machen, sich bewunderungswürdiger als in der Geschichte des »Öden Hauses« Unter den Linden. Er nennt diesmal die Linden nicht mit Namen, noch gibt er (aus naheliegenden Gründen) die Nummer des Hauses an. Aber unverkennbar trotzdem ist sie, »die mit herrlichen Prachtgebäuden eingeschlossene Allee, welche nach dem ***er Tor führt«; und ebenso das Haus. »Als noch keines der Prachtgebäude existierte, die jetzt unsere Straße zieren, stand dies Haus, wie man mir erzählt hat, schon in seiner jetzigen Gestalt da, und seit der Zeit wurde es nur gerade von dem gänzlichen Verfall gesichert.« Von »zwei hohen, schönen Gebäuden eingeklemmt«, liegt es und scheint unbewohnt; die Fenster sind verhängt, die Tür ist geschlossen. Aber schreckhafte Gebilde schweben aus seinen Mauern hervor; ein unheimlicher Anblick bei Tage, belebt es sich in der Nacht. Dann hört man das Geheul eines »Höllenhundes«, und herzzerreißende Jammertöne schneiden dem einsam Vorübergehenden durch Mark und Bein: das Gewimmer einer Irrsinnigen, einer ehemals berückenden Schönheit, die nach einer Vergangenheit voll Schuld und Irrtum, fern von ihren gräflichen Verwandten, durch einen steinalten, steinharten Kastellan, ein grauenhaftes Wesen voll Bosheit und Schadenfreude, gefangengehalten wird. Auf eine wunderliche, durch Geisterspuk und Zauberspiegel, Magnetismus und Sympathie vermittelte Weise greift nun das Geschick der wahnwitzigen Greisin in das des Erzählers, welchen erst der Tod der Unglücklichen von dem Banne erlöst. Zeitgenossen, die jung waren, als Hoffmann dieses »Nachtstück« schrieb, haben das »öde Haus« noch wohl gekannt, und einer derselben, ein Achtzigjähriger heut, ein Überlebender jenes Berlins, das uns heute so fern liegt – einer der wenigen, vielleicht der letzte, der teilgenommen an den Symposien bei Lutter und Wegner und jetzt, noch rüstig in seinem hohen Alter, den ruhmvollen Abend seines Lebens in demselben, durch so viele Erinnerungen geweihten Gebäude zubringt: Dieser hat mir das »öde Haus«, wie es zu Hoffmanns Zeiten war, und das dürre verwitterte Männlein im kaffeebraunen Rock, den Verwalter mit Haarbeutel und Puder, und den Hund, der Makronen fraß und wie ein Mensch weinte, mit solcher Lebendigkeit geschildert, daß es mir eiskalt über den Rücken lief. Das »öde Haus« ist längst verschwunden; ein anderes steht nun an seiner Stelle, das unterdessen auch schon wieder alt und grau geworden, und eines der merkwürdigsten ist, welches ich jemals gesehen. Es ist das Haus Nr. 9 Unter den Linden, das mit dem Durchgang nach der Kleinen Mauerstraße. Das Haus in dieser Gestalt hat Hoffmann nicht mehr gekannt, denn der Durchbruch fand erst Ende der zwanziger Jahre statt; aber noch immer haftet etwas an diesem seltsamen Gebäude, was mir dasselbe vor allen Häusern Unter den Linden interessant macht. Immer noch wendet es seine »farblosen Mauern« dieser elegantesten von Berlins Straßen zu, von »zwei hohen, schönen Gebäuden eingeklemmt«, die zu beiden Seiten es überragen – mit einem winzig kleinen Balkon, der in keinem rechten Verhältnis zu seiner Breite steht, mit Fenstern, die zwar nicht mehr »zum Teil mit Papier verklebt« sind, aber etwas Verschlafenes haben, wie von einem Traum, aus dem man schwer erwacht, und »mit einem Torweg, der an der Seite angebracht, zugleich zur Haustüre dient«. Jetzt rollen immerfort die Wagen, welche von der Behrenstraße nach den Linden kommen oder von den Linden nach der Behrenstraße gehen, durch diesen Torweg und erfüllen das Haus mit einem beständigen Gepolter. In dem Hof, jetzt die Kleine Mauerstraße, wohnen allerlei Leute, von denen allein die Haarkräusler und Barbiere die seßhaften zu sein scheinen, während in den übrigen Läden, wo gestern Filzpantoffeln und Herrenhüte waren, heute Öldruckbilder und Makartsträuße sind. Über dem spitzen, steilen Dach scheint am hohen Mittag die Sonne hier herein; kommt man aber in einer späteren Stunde, wenn die beginnende Dämmerung um die halbrunden Vorbauten und bedeckten Galerien webt und jeder Schritt von den Bohlen dumpf widerhallt, steigt man die Stufen empor, die bis an die Seitentür nach dem Durchgang reichen, und begibt sich in das Innere, das dunkel und winklig ist, mit schmalen gewundenen Treppen und weißen Glastüren: dann ist man für einen Augenblick wieder mitten in der Hoffmannschen Romantik, sucht nach dem Flur, der mit alten, bunten Tapeten behängt ist, und würde sich nicht wundern, wenn nun ein Saal in altertümlicher Pracht, mit vergoldeten Möbeln und japanischen Gefäßen sich öffnete, hell von vielen Kerzen und durchduftet von starkem Räucherwerk, aus dessen blauen Nebelwolken eine wundersam schöne Frauengestalt in reichen Kleidern hervorleuchtet. Aber die Phantasmagorie schwindet, wie sie gekommen: Wir treten in ein paar ganz gewöhnliche Restaurationszimmer, und im Abendlicht, welches von den Linden her durch die Fenster dringt, sehen wir an den Tischen flotte Jünglinge beim Skat oder Sechsundsechzig und etliche junge Damen, welche, wenn sie diesen Gästen Bier kredenzt haben, sich zu ihnen setzen und ihnen zutraulich in die Karten schauen.
Die zwei hohen, schönen Gebäude, von welchen Hoffmann spricht, haben sich auch sehr verändert in der langen Zeit; das eine jedoch, Nr. 8, »dessen prachtvoll eingerichteter Laden« dicht an das »öde Haus« anstieß und in der Geschichte desselben eine so wichtige Rolle spielte, haben wir alle noch wohl gekannt: Es war die berühmte Fuchssche Konditorei, deren »leuchtender Spiegelladen«, wie Hoffmann ihn schildert, den Berlinern der älteren Generation noch erinnerlich sein wird. Er war, in jener bescheideneren Zeit, eine Sehenswürdigkeit dieser Stadt. »Wunderschön ist dort alles dekoriert, überall Spiegel, Blumen, Marzipanfiguren, Vergoldungen, kurz die ausgezeichnetste Eleganz«, sagt Heine; »doch«, fügt er hinzu, »ich esse keine Spiegel und seidenen Gardinen.« Er war es, in diesem Punkte, von Hamburg und selbst von Göttingen her besser gewöhnt. »Man muß schon«, heißt es in einer Beschreibung dieses Lokals zwanzig Jahre später, »wenn ein Provinziale die Hauptstadt besucht, ihn hierherführen, um ihn in Bewunderung über einen solchen Luxus zu versetzen. Die Wände des einen Zimmers sind durchgängig Spiegelglas. Ein anderes Zimmer ist ganz im Geschmacke eines Schweizerhauses eingerichtet worden« und so weiter. So war Fuchs in den vierziger Jahren, und so hab ich diese Konditorei noch in den fünfzigern gesehen, während meines ersten Aufenthaltes in Berlin. Als ich nach mehrjähriger Abwesenheit wiederkehrte, war sie verschwunden. Aber noch heute kann ich an dem unterdessen durchaus anders gewordenen Hause Nr. 8 Unter den Linden nicht vorübergehen, ohne daß eine ganze Skala von Erinnerungen in mir anklingt. Ich entsinne mich des Tages zur Winterzeit, als ich zuerst in diese Konditorei kam, geblendet von den Spiegelscheiben, dem Schweizerhaus und nicht am wenigsten der – Weihnachtsausstellung. Dies war auch ein Vergnügen, das man heute nicht mehr kennt, aber eines, das man damals nicht hätte missen mögen, ebensowenig wie die Weihnachtstransparente mit dem begleitenden Gesang des unsichtbar aufgestellten Domchors. Unschuldige Freuden des altvaterischen Berlins, über welche der Strom eines neuen Lebens unbarmherzig hinweggerauscht ist. Man ist heute nicht mehr so naiv und empfindsam. Damals aber, wie feierlich gestimmt verließ man die Akademie, wie heiter angeregt die Konditorei! Was sich darin ausgestellt fand, waren freilich nur Zuckerpüppchen; aber sie bedeuteten etwas, sie hatten eine Meinung.
Illustrierte Zeitungen und Witzblätter im heutigen Sinne gab es noch nicht in jenen glücklicheren Tagen; und da der Mensch im allgemeinen und der Berliner im besonderen derart gemacht ist, daß er ein wenig von allem wissen und ein wenig über alles herziehen, lachen und spotten will – in allen Ehren, versteht sich! –, so mußte man sich zu helfen wissen und half sich, indem man das Amt des Zensors dem Konditor übertrug. Dieser, ein schlauer Mann und der die Dinge zu nehmen verstand, war es, der in seiner weißen Schürze und Zipfelmütze die Ereignisse des Jahres beleuchtete und »den Abdruck seiner Gestalt« gleichsam, um mit Hamlet zu reden, auf den Weihnachtsausstellungen den Berlinern zeigte. Hier zum Beispiel bei Fuchs sah man einmal im Jahre 1822 den schönen Feramors und die holdselige Lalla Rookh, den dicken Faddladin und das ganze Gefolge, hundertundfünfzig kleine Personen, alle von Zucker, glitzernd und schimmernd in orientalischer Pracht – Nachbildungen der »tableaux vivants« aus Thomas Moores Modegedicht, welche von wirklichen Prinzen und Prinzessinnen zu Ehren des russischen Großfürsten und nachmals großmächtigen Kaisers Nicolaus im Königlichen Schlosse gestellt worden waren, begleitet von der pompösen Musik des Ritters Spontini, der, als guter Wirt, nachher die Oper »Nurmahal« daraus gemacht hat. Unbeschreiblich war der Zudrang der Berliner, die mit zärtlicher Teilnahme für zwei Groschen Kurant an diesem Abglanz des Hofes sich weideten; und unter ihnen H. Heine, der damals noch, ein loyaler junger Mann, nicht nur die hübschen Berlinerinnen, wenn sie himmelhoch aufjauchzten: »Ne, des is schene«, sondern auch die allerhöchsten und höchsten Herrschaften, ihre Pferde und sogar den Ritter Spontini bewunderte. Gab es indessen keine dergleichen Haupt- und Staatsaktionen zu verzeichnen, so begnügte sich der Zuckerbäcker mit den Vorkommnissen des Alltags. »Es wird ein Bild aus dem Leben gegriffen, ein öffentlicher Ort, ein bekanntes Lokalereignis durch kleine Figuren von fünf bis sechs Zoll Größe dargestellt ... Einige haben auch mechanische Vorstellungen mit beweglichen Figuren. Ein Konditor hatte den Ausgang aus dem Theater nach Beendigung des Stückes, ein zweiter die Eisbahn in dem Tiergarten« etc. Zuweilen auch erlaubte man sich den Witz (denn, bemerkt der Verfasser, »in Berlin heißt alles Witz«), stadtbekannte Persönlichkeiten zu karikieren, und einer dieser Unglücklichen, so berichtet unser Autor weiter, als er auf eine solche Weise sich ausgestellt sah, kaufte sein Bildnis, um es den Blicken der Menge zu entziehen. Am anderen Tage war es wieder da, und er kaufte dasselbe noch einmal. Als es aber auch am dritten und vierten Tag erschien, da gab er es auf; er merkte nun wohl, daß seine Mittel nicht ausreichen würden, den ganzen Vorrat anzukaufen. Aber die Sache war ruchbar geworden, und jeder wollte nun solch ein Püppchen besitzen, so daß der Konditor das beste, sein Original aber das schlechteste Geschäft machte. »Vorher lachte man über sein Bild, jetzt aber über ihn selbst«, schließt unser Gewährsmann. So harmlos war man damals in Berlin! Aber der »Kladderadatsch« hat die Weihnachtsausstellung getötet, und was ich von derselben in den ersten fünfziger Jahren noch gesehen habe, war ein letztes Aufflackern vor dem Verscheiden, ohne daß irgendein charakteristischer Zug mir erinnerlich geblieben wäre. Dagegen haben zwei oder drei Begegnungen diese Konditorei mir unvergeßlich gemacht.
Oft an den Nachmittagen traf ich hier einen damals etwa vierzigjährigen Mann von feiner, untersetzter Gestalt, von feinen Sitten und feinem Urteil. Er war der erste Berufsschriftsteller, mit dem ich in persönliche Beziehung kam, und der erste, der mir in jenen Tagen des Anfangs, wo man sich so leicht über alles hinaussetzt, einen würdigen Begriff von diesem Berufe gab. Verfasser zweier episch-lyrischer Dichtungen, des »Victor« und des »Hohen Liedes«, die bei der Jugend von 1848 außerordentlich gezündet, hatte er seitdem die gelehrte Laufbahn aufgegeben, um sich ganz der Literatur zu widmen; und seine Kritiken in der »National-Zeitung« über Bücher, über Bilder und besonders über das Theater gehörten zu dem Besten, was in den Jahren geschrieben ward, als die Journalistik eben eine Macht zu werden begann. Im innersten Herzen ein Poet und eben darum so warm für jede poetische Schönheit, dabei maßvoll und streng, von hohen Anforderungen mehr noch für sich als für andere vielleicht, immer träumend von neuen Gedichten, die er niemals geschrieben, übte seine Kritik einen großen und heilsamen Einfluß. Wer weiß, ob die Besorgnis, den eigenen Maßstäben nicht zu genügen, dem Dichter nicht die Lippen schloß? Je mehr er der zeitgenössischen Produktion durch Lob und Tadel sich förderlich erwies, desto weiter ward er gleichsam der eigenen entrückt, bis eines Tages in den ersten sechziger Jahren uns die Nachricht überraschte, daß Herr von Hülsen den gefürchteten »T«-Kritiker der damaligen Oppositionszeitung als Dramaturgen in die Verwaltung der Königlichen Schauspiele berufen habe. Hier, in den feierlichen Räumen der Generalintendantur, entschwand Titus Ulrich seinen alten Freunden allmählich; aber heute noch, wo er nach abermals fünfundzwanzig Jahren ehrenvoller Tätigkeit auch diesen Posten verlassen hat, seh ich ihn vor mir wie damals in der Konditorei von Fuchs Unter den Linden. Ich entsinne mich noch des Augenblicks und der Erregung, die mich ergriff, als er hier eines Tages mir seinen Freund Karl Beck vorstellte, der, um einige Jahre jünger als Titus Ulrich, damals auf der Höhe seines Schaffens und seines Ruhmes stand. Von zartem Körperbau, mit hellem Aug und Haar, glich Beck keineswegs dem Bilde des feurigen Sängers der Freiheit im ungarischen Schnürenrock, welches ich einmal vor einer Ausgabe seiner Gedichte gesehen und unter welchem ich mir seitdem den Landsmann Lenaus, den Dichter des »Janko«, der »Nächte«, der »Lieder vom armen Mann« vorgestellt hatte. Diese Gedichte, die sämtlich vor das Jahr 1848 fallen, waren von einer mächtigen Wirkung gewesen und hatten ihrem Verfasser das Martyrium des politisch Verfolgten eingebracht, welches, in der Stimmung jener Tage, für unzertrennlich galt vom echten Dichterruhm. In dieser doppelten Glorie, den Traditionen meiner Jugend gemäß, erschien mir Karl Beck, als er Anfang der fünfziger Jahre zu Besuch in Berlin und ein gefeierter Gast war. Langsam jedoch, von Jahr zu Jahr mehr, verblaßte der eine Glanz mit dem anderen; als er nicht lange nach 1866 wiederkam, da sah ich fast einen Gebrochenen, und als er 1879 starb, war er ein halb schon Vergessener. So kurz ist das Gedächtnis der Menschen oder so stark vielmehr und unwiderstehlich der Zug der Zeit. Wer an sie, wer an ihren Geist anknüpft, der muß es sich gefallen lassen, mit der Welle zu steigen und mit ihr zu sinken. Es mag für den Moment ein lohnendes, aber es wird für die Dauer immer ein fruchtloses Bemühen sein, dem Zeitgeist einen Ausdruck geben zu wollen – er hat nichts Bleibendes an sich, er lebt und er stirbt mit seiner Generation. Denn:
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Die Welt von 1866 und 1870 verstand die von 1848 nicht mehr; Becks ältere Gedichte, von so hinreißender Gewalt für diese, hatten ihren Zauber für jene verloren, und die neuen, die spärlich, in weiten Abständen noch hinzukamen, irrten wie suchend umher, ohne Boden zu finden. Es ist wirklich, als ob das verhängnisvolle Jahr die Grenzscheide bilde. Wir freilich, in der Dämmerung zwischen den Zeiten, konnten kein deutliches Bewußtsein haben, weder von dem, was darin untergehen, noch von dem, was sich daraus emporringen sollte. Viel später erst, im Rückblick, ist uns alles klar geworden.
Da geschah's auch einmal in jenen Tagen und bei Fuchs, daß der ältere Freund mir einen Mann zeigte, der in dem, nach Art eines Schweizerhäuschens eingerichteten Zimmer der Konditorei saß, dicht an der Tür. Er war unter einer großen Zeitung gleichsam verborgen, doch so, daß ich ihn von der Seite sehen konnte: die kurze, gedrungene Statur, das markige Gesicht, die mächtig hohe Stirn, die treuherzigen Augen, die Nase, der Mund stark ausgebildet, aber edel geformt, und Wangen, Kinn und Lippen von einem stattlichen Vollbart umrahmt. »Soll ich Sie ihm vorstellen?« fragte der Freund, »er ist ein Schweizer und heißt Gottfried Keller.« – Indem ich dies schreibe, sieht von der Wand herab sein Porträt, das Antlitz eines guten, ehrlichen Mannes, in welches zu blicken wohltut, als ob es einem die Versicherung von etwas Beständigem und Zuverlässigem gäbe. Der Ruhm hat keinen Zug darin verändert; älter geworden ist auch er, aber im innersten Wesen immer noch derselbe wie vor vierunddreißig Jahren, als ich ihm unter der Türe von Fuchs' Konditorei zum ersten Male die Hand gab. Er war ein Unberühmter damals, fast noch ein Unbekannter; aber in dem nämlichen Jahr, 1854, erschien sein »Grüner Heinrich«, und »Die Leute von Seldwyla« folgten zwei Jahre später; und wenn nicht alsbald die Welt, so wußte doch nun derjenige Teil derselben, der in solchen Dingen den Ausschlag gibt, wer Gottfried Keller sei. Viele Jahre vergingen; die Fuchs'sche Konditorei war von der Erde verschwunden und die kleine Keller-Gemeinde längst zu einer Universalkirche der deutschen Literatur geworden. Da gab die Begründung der »Deutschen Rundschau« den Anlaß einer erneuten Verbindung, welche nicht mehr unterbrochen worden ist: Was Keller seitdem geschaffen, das steht in den Blättern dieser Zeitschrift verzeichnet: die »Züricher Novellen«, »Das Sinngedicht«, »Martin Salander« sind ihr schönster Ehrenschmuck geworden, und mir bedeuten sie fast noch mehr. Mir erscheinen sie, wenn mein eigenes persönliches Empfinden hier in Betracht kommen darf, als Denkmale jener derben, in sich geschlossenen, ein wenig rauhen Schweizernatur, die nicht um den Beifall der Menge buhlt, aber, fest an der Vergangenheit hängend, keinen Gewinn so hoch schätzt, »als daß sie Treu erzeigen und Freundschaft halten kann«. Kein Mann der vielen Worte, schweigsam, einsilbig, mit etwas Granitnem gleich seinen Bergen und schwer in Fluß zu bringen. Aber manchmal, im Zwiegespräch, wie geht dieses Herz auf, und wie strömt die Rede dann aus den halb nur geöffneten Lippen, als ob sie noch immer Widerstand leisten wollten! »Es hat mich immer gekränkt«, sagt »der grüne Heinrich« einmal, »weil es keinen größeren Plauderer gibt als mich, wenn ich zutraulich bin. Ich habe aber bemerkt, daß viele Menschen, welche das große Wort führen, aus denen nie klug werden, welche ihretwegen nie zu Wort kommen; sie fassen dann ein ungünstiges Vorurteil sobald sie mit Schwatzen fertig sind und es still geworden ist.« In seinen Meinungen über Personen bestimmt, kritisiert er scharf und kurz, aber nicht bösartig, meist mehr kaustisch; und wiewohl seit einem Menschenalter auf die heimatliche Stadt am Zürichsee beschränkt, lebt er immerfort in den großen und allgemeinen Interessen der Gegenwart, wohl bewandert in all ihren Einzelheiten. Aber wenn man mit ihm durch die Straßen von Zürich wandert oder an den Ufern des Sees oder auf den benachbarten Höhen, dann fühlt man, wie fest er auf diesem Boden steht und wie seine Dichtung darin wurzelt. Einmal, an einem Sommernachmittag, als die Silberfirnen der fernen Alpen schon vom Niedergang der Sonne glühten und Vespergeläut aus der Stadt heraufklang, standen wir mit ihm auf dem Zürichberg; und öfter noch, in der Abenddämmerung, vor Großmünster und Lindenhof und in einer der altertümlich winkligen Gassen vor dem Hause Rüdigers von Manesse – dies alles die Schauplätze seiner »Züricher Novellen«. Und indem er langsam, ohne viel Aufhebens zu machen, von diesen Dingen sprach, mußte ich noch einmal des »Grünen Heinrichs« gedenken, daß, wie Ruhe in der Bewegung die Welt hält und den Mann macht, so auch hier (in der Dichtung) »nur Schlichtheit und Ehrlichkeit mitten in Glanz und Gestalten herrschen müssen, um etwas Poetisches oder, was gleichbedeutend ist, etwas Lebendiges und Vernünftiges hervorzubringen«.
So fand ich ihn, als ich ihn zum ersten Male wiedersah seit dem Begegnen in Berlin, unverändert, bis auf den ergrauenden Bart; und so schaut auf mich herab sein Bild, dessen geschnitzten Rahmen das Schweizerkreuz und ein welker Rosenstrauß schmücken.
Noch eine liebe Gabe bewahren wir von ihm: ein stimmungsvolles Blatt, welches eine Waldlandschaft darstellt und die Unterschrift: »Berlin 1855« trägt. Auf die Rückseite hat er folgende Verse geschrieben:
Dies trübe Bildchen ist vor dreiundzwanzig Jahren
Im einstigen Berlin mir durch den Kopf gefahren;
Mit Wasser wurd es dort auf dem Papier fixieret,
Von Frau Justinen nun dahin zurückgeführet,
Wo es entstand, vom regnerischen Zürichsee
Bis hin zur altberühmt- und wasserreichen Spree.
Auf Wellen fähret so, ein Niederschlag der Welle,
Des Lebens Abbild hin, die blöde Aquarelle.
Zürich, 29. August 1878.
Gottfr. Keller.
Reminiszenz einer Reihe von Regentagen, die wir dennoch, in der Nähe des verehrten Mannes, froh verlebten, zeigen auch diese Zeilen, daß das Andenken Berlins bei Keller nicht erloschen ist. Er hat ihm mehrere Gedichte gewidmet, so das vom Tegelsee, den er besucht, wenn ihn das Weh nach der Heimat ergreift; so das von der Polkakirche, dem Weihnachtsmarkt, der Biermamsell, deren Witz noch eher angeht als ihr bayrisch Bier; so das vom Sonntag –
Fernhin watet in dem Sande
Staubaufregendes Volk Berlins –,
so das schönste von allen, »Berliner Pfingsten«, wo der Dichter von drei rüstigen Weibern drei frischgewaschene Mädchensommerkleider an Stangen über die Straße tragen sieht – wahrscheinlich aus dem »Leinen- und Wäschegeschäft von J. W. Tietz« im Hause der Mohrenstraße Nr. 6, in welchem der Dichter damals wohnte.
Lustig blies der Wind, der Schuft,
Falbeln auf und Büste;
Und mit frischer Morgenluft
Füllten sich die Brüste;
Und ich sang, als ich gesehn
Ferne sie entschweben:
Auf und laßt die Fahnen wehn,
Lustig ist das Leben!
Es waren fünf der wichtigsten Jahre seiner Entwicklung, 1850 bis 1855, welche Keller, von der Malerei zur Literatur übergehend, in Berlin zugebracht hat. Hier, an der Dreifaltigkeitskirche, dem heutigen Kaiserhof gegenüber, an dessen Stelle damals eine Apotheke stand, in dem Hause Kanonier- und Mohrenstraßenecke Nr. 6, noch heut ein altmodischer Bau, wie er Keller gefallen haben mag, mit Bogenfenstern und allerlei seltsamem Zierat an den Wänden (jetzt aber leider ohne das Leinen- und Wäschegeschäft), hat er den »Grünen Heinrich« vollendet, und in einem andern stillen Winkel, der nunmehr verschwunden ist, dem »Bauhof«, zwischen Dorotheenstraße und Kupfergraben, einen Teil seiner »Leute von Seldwyla« geschrieben; hier aber auch Anregungen empfangen, die heute noch in ihm nachwirken. Bevor er nach Berlin ging und immer nachher hat Keller eine Brille getragen; in Berlin nicht – »vielleicht aus Eitelkeit nicht«, meinte er bei unserem jüngsten Zusammensein lächelnd in seiner eigentümlich kurzen Weise, »und daher mag es wohl auch kommen, daß ich in Berlin nichts gesehen habe«, was indessen nicht buchstäblich zu nehmen ist. Man braucht diese Saite nur zu berühren, und sie beginnt zu klingen. Das Leben »im einstigen Berlin«, wie Keller von dem sagt, das er gekannt, war – wenn in jeder andren Hinsicht dürftiger, kümmerlicher als das heutige – doch von einer stärkeren literarischen Atmosphäre. Man hat viel über die ästhetischen Tees jener Tage mit ihren durchsichtigen Butterbroten – und welches Brot und welche Butter! – gespottet; aber die Literatur stand sich dabei doch besser als bei den opulenten Diners, welche jetzt Mode sind.
Von größerer Bedeutung noch waren die Konditoreien, die man damals »Lesekonditoreien« nannte: die Sammelplätze des geistigen Lebens und von bestimmendem Einfluß auf die öffentliche Meinung. Allen gemeinsam waren die großen Tassen, anzusehen wie die Bowlen oder die Kübel, und die beiden neusilbernen Kannen, aus deren einer der Kaffee, aus deren anderer die Milch in unversiegbaren Strömen floß. In jeder sonstigen Hinsicht hatte jede von ihnen ihren besonderen Charakter und ihre Spezialität. Spargnapani schräg über, auf der Nordseite der Linden, war die Konditorei der literarischen und mehr noch der Gelehrtenwelt; hier, außer den unentbehrlichsten Tagesblättern, hatte man die kritischen Journale jener Zeit, und diese waren die begehrteren. Aber man mußte früh kommen am Montagmorgen, wenn man statt der sehnlich erwarteten neuen Nummern nicht die zerlesenen der vorigen Woche finden wollte. Denn die Konkurrenz war groß und die List, mit der einer dem anderen den Vorsprung abzugewinnen suchte, noch größer. Das kleine Regal, welches alle diese Schätze barg, war stets belagert, und man betrachtete jeden, der davorstand, als seinen persönlichen Feind. Man wußte genau, mit wem man im einzelnen Falle den Kampf aufzunehmen habe, zum Beispiel wegen des Londoner »Athenaeum« oder Prutzschen »Museum«; und hatte man das Unglück, eine Minute später einzutreffen als er, so mußte man sich damit begnügen, den Sieger nicht mehr aus dem Auge zu lassen. Und es waren keine freundlichen Blicke, die man ihm zuwarf. Heute noch, wenn ich einen solchen, sonst durchaus harmlosen Manne begegne, der unterdes sein gesetztes Alter erreicht hat wie ich selber, überkommt mich etwas von der Ungeduld der Jugend, und ich möchte ihn – doch nein! ich will nicht sagen, zu welch bösen Gedanken man sich hinreißen ließ, wenn man bei Spargnapani wartend saß. Denn sie waren gründliche Leser, diese Herren, und Stunde nach Stunde verrann, bis endlich sie das letzte Blatt umgeschlagen und nun – o schrecklichste der Enttäuschungen! – wenn man sich auf seine schwer errungene Beute zu stürzen dachte, der weißgeschürzte Kellner dazwischentrat mit den kühlen Worten: »Bitte, das Journal ist schon bestellt.« Es ist gut, daß damals die Zeit billiger war in Berlin als heute; ich würde sonst ein kleines Vermögen mit dem »Athenaeum« allein verloren haben. Aber diese Zeitschriften, die nur alle Wochen kamen, waren nichts gegen die Zeitungen, die jeden Tag erschienen. Dort galt Verschlagenheit und Geduld, hier aber galt die nackte Gewalt und das Faustrecht. Niemals, in allen meinen juristischen Kollegien, ist mir das Savignysche Recht des Besitzes so klar geworden wie in diesen Konditoreien. Denn hier saßen die Leute auf den Zeitungen, die sie lesen wollten, nachdem sie ihre Tasse Kaffee getrunken oder ihr Stück Kuchen gegessen hatten. Es gab kein anderes Mittel, sich dieselben zu sichern. Einige waren auch da, die noch weitergingen: Sie hatten zwei Zeitungen vor sich, die sie lasen, und zwei Zeitungen, die sie lesen wollten, unter den Armen und zwischen den Knien, und sie hüteten diesen ihren Raub mit der Wildheit des Tigers, weswegen sie »Zeitungstiger« hießen. Jede dieser Konditoreien hatte ihren Zeitungstiger, und sie waren gefürchtete Menschen. Sanft aber und gütig, stets mit einem verbindlichen Lächeln um die Lippen, waltete hinter dem Ladentische Herr Spargnapani seines Amtes; auch er einer von den klugen Graubündnern, die, von ihren Bergen herabgestiegen, zu Rang und Reichtum gelangten in der edlen Kunst der Zuckerbäckerei. Die Welt ist nüchterner oder substantieller geworden seitdem, und Herr Spargnapani, der nach der Natur seines Metiers nur mit dem Idealismus rechnen konnte, hat sich zurückgezogen. Seine Konditorei hat sich in eines der elegantesten Restaurants verwandelt, und wer jetzt die glänzenden Räume betritt, wird sie nicht wiedererkennen. Aber es ist die Frage trotzdem, ob wir nicht glücklicher und froher waren in den Tagen des »Athenaeum« und des dünnen Kaffees als in diesen der Austern und des Champagners, wiewohl ich auch gegen sie nichts sagen will. Denn sie sind beide vortrefflich bei Dressel, nur ein wenig teuer.
Von der andern Konditorei, welche nach der Dynastie Stehely genannt wurde, ist nicht einmal soviel als das Lokal übriggeblieben. Sie war die Konditorei der Journalisten und Politiker und lag dem Gendarmenmarkt gegenüber, an dem Teil der Charlottenstraße, welcher in den letzten zehn Jahren bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet worden ist. Nur der König Salomo, mit dem biblischen Talar bekleidet, mit Krone und Halskette, lange Zeit das Wahrzeichen dieser Gegend, ist wieder aufgerichtet worden an dem unterdes neu erstandenen Prachtbau der einst so bescheidenen König-Salomo-Apotheke. Doch von der Beletage, vor welcher er ehemals in aller Bequemlichkeit residiert, ist er nun hinaufgerückt bis hoch über den vierten Stock, in eine Art Türmchen über dem Dach, wo man den alten Freund kaum noch erkennen kann; und auch sein gülden Gewand hat sich unterdes in eintöniges Braun verwandelt, als ob der arme König noch einmal erkennen solle, daß »alles eitel«. Dicht nebenan war die Stehelysche Konditorei, bis im Jahre 1876 auch sie geschlossen und das Haus abgerissen ward.
Ihre Glanzzeit lag jenseits meiner eigenen Erinnerung; ja, sie begann in einem Lokal, welches nicht einmal mit dem von mir noch gekannten identisch war, übrigens nicht weit davon entfernt, an der Ecke der Jägerstraße. Hier in dieser alten Konditorei sah E. T. A. Hoffmann – denn wo könnte man im ehemaligen Berlin gehen, ohne seinem Schatten zu begegnen? – silberne Löffel tanzen und die Kaffeekannen ein Ave Maria beten; und hier karikierte Heine den Herrn von Raumer. Der Umzug in die späteren Räume fand 1839 oder 1840 statt; und auch sie waren gewissermaßen schon durch ihre Vergangenheit geweiht. Es hatte sich in Stehelys Konditorei die Tradition erhalten, und sie wurde bis zuletzt geglaubt, daß in dem, was nachmals unter dem Namen der »roten Stube« berühmt war, einst Wolfgang Amadeus Mozart logiert habe, bei jenem Besuche Berlins im Winter 1790, wo König Friedrich Wilhelm II. dem Komponisten des »Don Juan« die Stelle des Kapellmeisters an seinem Opernhaus anbot mit einem Gehalt von 3000 Talern. Worauf Mozart, der als Kaiserlicher Kammerkomponist nicht mehr als 800 Gulden bezog, mit seinem echt österreichischen Herzen und Wiener Akzent geantwortet haben soll: »Kann ich meinen guten Kaiser verlassen?« Sie starben beide bald, der Kaiser Joseph noch in demselben Winter, Mozart im folgenden Jahr, und das Ganze mag eine Sage sein, die sich vielleicht hier, in dem Bereiche von E. T. A. Hoffmanns Phantasiestücken, lokalisiert – in diesem Umkreis, wo »Ritter Gluck« ihm im Jahre 1809 begegnet und er jener Aufführung des »Don Juan« beigewohnt hat, die er selber als »eine fabelhafte Begebenheit« bezeichnet. Doch, als ob etwas von diesem Geiste der alten Stätte geblieben sei: man fand bei Stehely stets eine Fülle musikalischer Zeitschriften, namentlich die Schumannschen, so daß man sich wirklich manchmal wie im Bann der »Kreisleriana« fühlte mit den Wolken des Rauchzimmers nebenan, in denen sich die verwandten Erscheinungen Callot-Hoffmanns und Robert Schumanns zu grüßen schienen. Ein schärferer Wind freilich hatte hier einmal geweht; hier in der »roten Stube« – wie gut ich sie noch gekannt, denn immer wieder aufs neue wurde sie rot tapeziert – war das Lager und Hauptquartier der »Vormärzlichen« und gleichsam das Rütli des jungen Deutschlands gewesen; von hier aus hatten die »Rheinische Zeitung« und die »Hallischen Jahrbücher« ihr schweres Geschütz und die liberalen Blätter der Provinz und des deutschen »Auslandes« ihre Korrespondenzen bezogen; diese Wände sahen sie, die zwischen einer Revolution und der anderen, der von 1830 und der von 1848, aufflatterten wie die Sturmvögel, unruhige Geister, einst Bundesgenossen, deren Wege nachmals weit auseinandergingen, Karl Gutzkow und Theodor Mundt, Ludwig Buhl, Max Stirner, Edgar und Bruno Bauer – »Politik allein, so schnattern sie laut, und essen Baisers bei Stehely« – wie es in einer Parabase der »Politischen Wochenstube« von Robert Prutz heißt. Hier, in dem nämlichen Jahre 1848, ward von Zabel, Rutenberg und Mügge die »National-Zeitung« gegründet; hier aber auch, beim Kaffee des Nachmittags oder beim Eiergrog des Abends (für welche beide Getränke Stehely berühmt war) konnte man die Professoren Lachmann, Dirichlet und Dove sehen. Die Zeiten und der Ton in Stehelys Konditorei waren ruhiger geworden, als ich zuerst dahin kam; und ich brauche nur die Augen zu schließen, so stehen die drei Stüblein wieder vor mir, wie sie damals waren, und ich sehe noch einmal die Gestalten, die darin zu meiner Zeit umherwandelten.
Ich sehe den alten Munk, den Reporter der »Spenerschen Zeitung« – beide lange tot, der Reporter und die Zeitung. Der alte Munk war eigentlich immer in Stehelys Konditorei; wann man auch kam, man traf ihn, morgens, mittags und abends, umhergehend, aus einem Zimmer in das andere, hinhorchend auf jedes Gespräch, dankbar für jede Neuigkeit, die man ihm erzählte. »Wir werden die Notiz morgen geben«, sagte er, sein Taschenbuch hervorziehend und ruhig, immer im Gehen, schreibend. Aber wenn der Morgen kam, so war die Notiz entweder nicht da oder in einer solchen Verkürzung, daß man sie zwischen den anderen kaum herausfinden konnte. »Mein Redakteur ist ein ungerechter Mensch«, hätte der Arme mit Schmock in Freytags »Journalisten« sagen dürfen, »er streicht alles Gewöhnliche und läßt mir nur die Brillanten stehen. Aber wie kann ich schreiben lauter Brillantes die Zeile für fünf Pfennige?« Es ist tröstlich zu erfahren, daß ihm schließlich ein Stammgast noch ein kleines Kapital vermachte, dessen Zinsen ihn für den Ausfall dessen entschädigt haben mag, was der »ungerechte Mensch«, der Redakteur, ihm gestrichen. Da war ferner der alte Pfuel, der General, der einst in seinen jungen Jahren der Freund und Stubengenoß von Heinrich von Kleist, dann in Wien lange Zeit mit Theodor Körner zusammen, dann, nach dem Einzug der Alliierten, Kommandant von Paris und zuletzt, im September 1848, Kriegsminister und Ministerpräsident in Berlin gewesen – jetzt, in seinem hohen Alter, ein Achtziger, das frisch gerötete Gesicht und die freie Stirn von weißem Haar umwallt wie von einer Mähne, liebenswürdig, heiter, gesprächig, immer noch jünglingshaft, wenn er von der Vergangenheit sprach, eine lebendige Chronik der Zeit. Da traf ich auch einige von den Männern wieder, die ich in London als politische Flüchtlinge kennengelernt an dem dürftigen Tische des Exils in St. Martin's Lane und die nun zurückgekehrt waren mit Beginn der »neuen Ära«. Damals, in dieser politischen Frühlingszeit, trat einmal ein Mann zu mir, den ich zuvor in Stehelys Konditorei nicht gesehen – ein angehender Fünfziger, kurz, stämmig, gedrungen, von behaglicher Figur, das Bild blühender Gesundheit und geistiger Kraft, mit braunen, sich kräuselndem Haar und hellen, graublauen Augen voll Glanz und gewinnender Freundlichkeit. »Ich bin der Auerbach«, sagte er, indem er mir seine Rechte entgegenstreckte. Wie ich sie mit beiden Händen drückte! Denn die Verehrung für Berthold Auerbach war eine von den Traditionen meines Elternhauses; schon auf der Schulbank hatte ich ein Gedicht an ihn gemacht. Aber er bemerkte sogleich, und ich verhehlte ihm nicht, daß ich ihn mir ganz anders vorgestellt hatte. »Lassen Sie mich Ihnen erzählen«, rief er, »was der Unland gesagt hat. Der Auerbach ist ein klein's schwarz' Männle, hat er gesagt, aber er gleicht dene Würzburger Boxbeutelflaschen. Die sind auch klein und schwarz; aber es ist halt was drin.« Er lachte gutmütig, und ich lachte mit ihm und habe später gefunden, je mehr ich ihm freundschaftlich näherkam, daß das, was man Auerbachs Eitelkeit nannte, in seinen guten Jahren, den Jahren seines eigentlichen Schaffens, harmlos war wie die Freude eines Kindes. – So zieht ein ganzes Stück Vergangenheit, und kein geringes, an mir vorüber, wenn ich an Stehely denke. Hier ging es nicht feierlich her wie bei Spargnapani, wo jeder nicht nur seine Zeitung, sondern auch seine Ruhe haben wollte, um kein Wort zu verlieren: Hier bei Stehely vielmehr herrschte ein ungezwungenes Benehmen; die Bekannten fanden sich täglich an denselben Tischen zusammen, und die Meinungen wurden ausgetauscht. In allen Ereignissen, seitdem es in Berlin ein öffentliches Leben gab, hat Stehely seine Rolle gespielt, und das Schauspielhaus gegenüber war sehr aufmerksam auf das Urteil, das die Habitués dieser Konditorei fällten. Wie manchen bedeutenden Gespräches kann ich mich noch entsinnen aus dem Rauchzimmerchen, welches hinten hinaus lag, sein spärliches Licht vom Hofe empfing und stets mit einer dicken Luft erfüllt war, die nach Kaffee, Zeitungen und Tabak roch. Belletristik, mit Ausnahme des »Beobachters an der Spree«, den ich vor seinem Hinscheiden auch noch bei Stehely kennenlernte, kam niemals in diese Räume. Die politische Presse dagegen war ziemlich vollständig vertreten; doch auch das begehrteste Blatt immer nur in einem Exemplar, und ich erinnere mich, welche Sensation es machte, als es eines Tages hieß: »Bei Stehelys wird die ›National-Zeitung‹ in zwei Exemplaren gehalten!« Die beiden Brüder, Stepani geheißen, Inhaber des Geschäfts, der ältere brünett, untersetzt, von ernster, schweigsamer Gemütsart, der jüngere schlank, blond, munter und beide in lange weiße Schürzen gekleidet, gingen ab und zu, bedienten ihre Gäste und benutzten jeden Augenblick, um sich hinter den Ladentisch zurückzuziehen und ihre vaterländische Zeitung zu lesen, die im besten Romaunsch, der Sprache der Rhätischen Alpen, verfaßt war. Denn auch sie stammten aus dem Engadin; und der jüngere derselben ist einem von den alten Besuchern – Exzellenz von Loeper, dessen Namen in diesem Zusammenhange nicht unerwähnt bleiben darf –, als »Stehely« schon lange nicht mehr war, vor zwei Jahren in Samaden wieder begegnet, wo der ehemalige Konditor vom Gendarmenmarkt sich der Heimat und eines gesegneten Alters erfreute.
Die dritte Konditorei von Renommée war die Jostysche An der Stechbahn: die Konditorei der höheren Beamten und Militärs, namentlich der pensionierten, und dies wohl auch der Grund, weshalb wir Jüngeren sie wenig aufsuchten. Erinnerlich ist sie mir auch nur wegen eines schönen alten Mannes, der täglich hier um die Mittagsstunde zu treffen war in Begleitung einer Dame, die nicht eben alt, doch auch nicht aussah, als ob sie jemals jung gewesen: des Herrn von Varnhagen und seiner Nichte Ludmilla Assing. Es war ein wunderliches Paar, wenn sie so mitsammen über die Straße schritten; er, der hohe, kräftige, breitschultrige Greis mit dem feinen Diplomatenkopf, und sie, die kleine, bewegliche Person, deren ganzer Körper zitterte, wenn sie sprach. Sie war von einer unendlichen Güte gegen ihre Freunde, stets zu helfen bereit und im höchsten Grade selbstlos; mir sind nur gute Züge von ihr bekannt: was sie in Irrtümer verstrickt, will ich hier weder erklären noch entschuldigen. Damals war sie noch weit davon entfernt und unzertrennlich von ihrem Onkel, dem sie in der Tat unentbehrlich geworden war. Ein- oder zweimal bin ich mit ihnen in Jostys Konditorei gewesen. In diesen Kreis von alten Offizieren, alle mit grauen Schnurrbärten und alle noch überlebende Zeugen der großen Zeit von Deutschlands Erhebung, paßte Varnhagen vortrefflich hinein, den ich niemals, auch unter seinen Büchern und an seinem Schreibtisch nicht, ohne das schwarz-weiße Band mit dem eisernen Kreuz im Knopfloch gesehen habe. Wir, die wir unsern Patriotismus einzig an der Geschichte der Befreiungskriege genährt hatten, blickten mit einer Art von Ehrfurcht zu diesen Männern von fast schon historischem Charakter auf; kein Wunder aber auch, daß, festhaltend an den alten Ideen von 1813, sie selber oder doch viele von ihnen sich in Widerspruch fühlten mit dem neueren Militärgeist, der allem, was »Zivil« hieß, so schroff gegenüberstand. Sie hatten den Bürger, ohne welchen der vaterländische Boden niemals frei, die Schlachten nicht gewonnen worden wären, anders kennengelernt und achteten seine Rechte. Was aus Varnhagens Nachlaß durch seine Nichte veröffentlicht ward, das war der Ausdruck dieser und zahlreicher anderer Kreise von Malkontenten, die darum noch lange keine Demokraten waren. Aus dieser Stimmung des unterdrückten Mißbehagens, der schweigenden Opposition beurteilt, wird man weniger hart gegen das Andenken Varnhagens sein dürfen, der, wenn er sprach, nur von wenigen gehört, und wenn er schrieb, erst nach seinem Tode gelesen sein wollte. – Die Stechbahn ist lange dahin; aber die Jostysche Konditorei lebt noch oder ist vielmehr wieder aufgelebt in einem neuen Lokal vor dem Potsdamer Tor, und neue Menschen bewegen sich darin; aber das Sonnenlicht bei Tage und das elektrische Licht bei Nacht fällt noch immer auf die alten Wandgemälde König Friedrich Wilhelms III. und König Friedrich Wilhelms IV. in voller Uniform, welche einst das Etablissement an der Stechbahn schmückten.
Eine der wenigen Konditoreien des älteren Berlins, welche nicht nur ihren Namen, sondern auch ihren Platz behauptet haben, ist die Kranzlersche, heute noch in ihrem Äußern und ganzen Wesen unverändert, wie ich sie gekannt habe, solange ich denken kann – von einer gewissen etwas abgeblaßten Vornehmheit, gleich altem Geschlechtsadel, den Emporkömmlinge ringsum durch Reichtum, Lärm und bunte Pracht zu verdunkeln streben. »Kranzlers Ecke« – welch ein Zauber lag einst in diesem Wort! Es war der Inbegriff und Auszug gleichsam von allem, was elegant und nach der Mode, von allem, was es für den Berliner täglich wieder Neues und für den Fremden Verlockendes gab in Berlin, die Quintessenz und fine fleur der Linden. Das Charakteristische von Kranzler war, daß man nicht in der Konditorei, sondern vor derselben auf der schmalen Erhöhung saß oder stand oder an dem Gitter lehnte. Man kam nicht hierher, um Zeitungen zu lesen; und außer der Kreuzzeitung, der Spenerschen, dem Staatsanzeiger und dem Militärwochenblatt gab es auch nur wenig davon. Man kam hierher, um sich einmal den Luxus des Eisessens und Nichtstuns zu gönnen, um zu lorgnettieren und Zigaretten zu rauchen; denn auch die Zigaretten hatten damals noch etwas Fremdartiges und Distinguiertes. Das Schauspiel des Flanierens, ein ungewohntes in dem arbeitssamen Berlin jener Tage, bot sich einzig an Kranzlers Ecke, welche nachmals, zehn, zwanzig Jahre später die Bewunderung der Welt erregten und den Dank ihres Vaterlandes gewannen. Mit Stolz blicken wir heut auf den preußischen Offizier, das Muster ebenso sehr der Tapferkeit und Mannszucht, als des ritterlichen Anstandes und höflichen Betragens. Damals, in dem unklaren Gefühl eines Tatendranges, dem nirgends Aussicht auf Befriedigung ward, in einer schiefen Stellung allem gegenüber, was nicht Militär war, gefielen sie sich in dem Ton einer durch nichts gerechtfertigten Überhebung, die jedoch in der Tat nur die Maske der inneren Verstimmung, der Unbefriedigung war. Was ihnen fehlte, war die Gelegenheit, sich zu zeigen, der Krieg, der Erfolg; und alles dies haben sie seitdem in reichstem Maße gehabt. Seitdem aber auch lungern sie nicht mehr an Kranzlers Ecke; sie haben andere, würdigere Felder der Tätigkeit gefunden, und wir gestehen mit Vergnügen, daß es, abgesehen von ihrer militärischen und wissenschaftlichen Tüchtigkeit, keine liebenswürdigeren, feingebildeteren Männer gibt als die preußischen Offiziere, bis zum jüngsten Leutnant hinunter. Man frage doch nur unsere Damen, wer ihnen auf dem Trottoir ausweicht oder im Pferdebahnwagen Platz macht. Ich will nichts gegen unsere bürgerliche Jugend sagen; aber in der Schule der Höflichkeit könnte sie viel von den Offizieren lernen, und nicht nur, wenn es sich um junge, schöne Damen handelt. Was diese betrifft, so will ich nicht behaupten, daß für sie der Gardeleutnant nicht derselbe geblieben, der er einst an Kranzlers Ecke war; aber sie hat sich geändert, die Ecke. Von beiden Seiten, Linden und Friedrichstraße, flutet jetzt ein solcher Menschen- und Wagenstrom um sie her, daß der Übergang, wenn auch aus anderen Gründen, gefährlich ist, und nicht für junge Damen allein. Von Flanieren, von Lorgnettieren keine Rede mehr – denn wer auch vermöchte nur einen Augenblick stillezustehen in dieser immerwährenden, ungeheueren Bewegung? Aber sie sieht sich nicht übel an, wenn man an einem der Fenster im Innern der Konditorei Platz genommen hat; wenn aus der Tiefe der Friedrichstraße Militärmusik heraufklingt und die Wachtparade mitten in diesem Menschengewühl im Frühlingssonnenschein vorüberzieht nach dem Königlichen Palais, während weit unten im Schatten zwischen den hohen Giebeln und reich ornamentierten Fronten der Zentralhotelgegend auf mächtigem Viadukt ein Zug der Stadtbahn dahingleitet. Altes und neues Berlin – welch eine Kluft scheint sie zu scheiden, und wie nahe berühren sie sich doch in diesen letzten, übriggebliebenen Winkeln! Es sind immer noch dieselben Räume, doch ein anderes, bescheideneres Publikum verkehrt jetzt darin. Der würdige Paterfamilias führt am Sonntag seine Gemahlin und Tochter hierher; der behäbige Berliner Bürger, wenn er mit seiner Alten Unter die Linden kommt, traktiert sich und sie in dieser Konditorei mit Eisbaisers und Likören; hier und dort ein Beamter in gesetzten Jahren, der sein Pastetchen verzehrt, und zuweilen ein paar des Handelstands beflissene Jünglinge, die doch auch einmal sehen wollen, wie es bei Kranzler hergeht – in summa keine sehr amüsante Gesellschaft, aber eine ruhige, diskrete. Kranzler hat auch darin etwas von seinen alten konservativen Gewohnheiten bewahrt, daß man in den Zimmern nicht rauchen darf.
Wenn man Tabaksqualm und Lärm, Wandgemälde, vergoldete Plafonds, Spiegelscheiben, Kristallkronen, Glühlicht, Springbrunnen, Palmengruppen und Hunderte von Menschen haben will, so braucht man sich nur wenige Schritte weiter in das Café Bauer zu bemühen. Noch sind es keine fünfzehn Jahre, daß ich in einer Parallele zwischen »Wien und Berlin« das dortige Café unserer Konditorei als etwas durchaus Fremdes gegenüberstellte. Diese kurze Zeit indessen hat genügt, uns mit der Institution bekannt zu machen und mehr als das. Wir haben jetzt unsere Wiener Cafés überall, in jedem Stadtteil, fast in jeder Straße, wohin wir blicken. Wir haben ihn jetzt, den behaglichen Luxus, der nicht viel kostet, aber auch nicht viel einbringt; den guten Kaffee, Zeitungen so viel wir wollen. Die trefflichen Engadiner, die gleichsam im Gefolge von Friedrichs des Großen Siegeseinzügen einst nach Berlin kamen, haben, als die vernünftigen Männer, die sie sind, die Konkurrenz aufgegeben und sich zur Ruhe gesetzt. Das Wiener Café hat die Konditorei vollständig verdrängt; aber ich fürchte, mit ihr auch ein gut Stück alten Berliner Lebens.
Zur Seite der Linden, wenn man durch eine der kleineren Nebenstraßen, Schadowstraße oder Neustädtische Kirchgasse geht, kommt man in eine Gegend, welche mehr noch als irgendeine ringsum die Spuren ihrer zweihundertjährigen Vergangenheit zeigt. Nicht auf den ersten Blick; denn glänzender, mehr von den Veränderungen der jüngsten Zeit ergriffen und verschönert, stärker von den beständig zunehmenden Massen des Geschäfts- und Fremdenverkehrs durchflutet, ist wohl kein Straßengeviert gleichen Umfangs in ganz Berlin als dieses zwischen der Großen Friedrich- und der Neuen Wilhelmstraße, zwischen Linden und Spree. Hier, wenn irgendwo, hat man auf einem verhältnismäßig engen Raume zusammen alles das, was unsere Stadt in unglaublich kurzer Zeit so völlig umgestaltet, und nirgends bewunderungswürdiger als in eben diesem Revier, bis vor wenigen Jahren eines der stillsten von Berlin und, trotz der Nähe der Linden, wie weit ab von dem Treiben der Welt. Wer Ruhe suchte, konnte sie hier finden in diesen Straßen von kleinstädtischem Ansehen, wo die Kinder vor den Türen ihrer Eltern spielten und ihre fröhlichen Stimmen fast die einzigen waren, die man vernahm; in diesen einstöckigen Häusern, deren Bewohner ein Nachbargefühl miteinander verband; in dem schattigen Umkreise des Gotteshauses, der Kirche, von Dorothea, der guten Kurfürstin, A. D. 1678 gegründet und nach ihr die Dorotheenstädtische genannt, wie der ganze Stadtteil, die Dorotheenstadt, die nachmals, um die Kirche herum, entstand. Im Frieden der Kirche wuchs er langsam empor und dehnte sich allmählich aus, aber nicht weiter, als das Geläut ihrer Morgen- und Abendglocken klang, bis zum Ufer der Spree, deren Sand und Morast sich in Gärten verwandelten. Ein Geist der Beschaulichkeit und des Nachdenkens ruhte lang auf dieser Gegend, und die Musen liebten sie. Namen von unsterblichem Klange sind mit ihr verbunden. Mehr als ein jugendliches Gemüt erfüllte sich in ihr mit den ersten Eindrücken des Lebens, um es später, in den Tagen der Reife, künstlerisch nachzubilden; und manch ein Werk, welches der Wissenschaft zum Ruhm oder der Literatur zur Zierde gereicht, ließe sich wohl in seinen Anfängen zurückverfolgen bis zu den bescheidenen Studentenwohnungen der Mittel- und Dorotheenstraße, wie sie vormals waren.
Heute, wo hier am Stadtbahnhof der Friedrichstraße, dem turbulentesten und gedrängtesten unserer Stadt, dem eigentlichen Knotenpunkt ihres Bahnsystems, sich einige von den Monstrehotels nach amerikanischem Muster erheben, deren Fronten die Länge mehrerer Straßen beherrschen, hat dieser Charakter sich beträchtlich geändert; aber gänzlich verschwunden ist er darum nicht. Hunderte von Zügen sausen und rasseln im Laufe eines Tages von fünf zu fünf Minuten und oft in noch kürzeren Zwischenräumen über diesen Straßen hin und her, und in ihnen, von dieser ungeheueren Bewegung erfaßt und getrieben, rollen die Wagen und ziehen die Menschen wie Meeresfluten, welche scheinbar keinen Anfang und kein Ende haben. Aber mitten in dieser Rast- und Ruhelosigkeit hat sich doch noch hier und dort, in einem geschützten Eckchen, etwas erhalten, was die Züge der alten Zeit bewahrt; und diesen Dingen der Vergangenheit nachzugehen, in dem ungeheueren Strom und Strudel der vorwärts drängenden Zeit, die kein Erbarmen kennt und aller Pietät Hohn spricht, plötzlich dem Rest eines anderen Jahrhunderts zu begegnen und nun, im Alten noch befangen, ebenso plötzlich überrascht zu werden durch die Großartigkeit und Schönheit des Neuen, das eine dicht neben dem andern und alles im Zusammenhange das Bild einer Entwicklung, wie sie dem Auge sichtbar nicht leicht zum zweiten Male sich zeigt: das ist ein Reiz für mich, der immer wieder mit derselben Stärke wirkt und um so mehr hier, in der wohlbekannten Gegend. Immer noch, in der Mittelstraße unter den hohen Häusern mit reichverzierten Fassaden, Säulenaufgängen, marmornen Stufen und vergoldeten Balkonen, duckt sich solch ein anspruchsloses Wesen, das uns an die Zeit der Jugend erinnert, wo wir ein Pianino nicht über die Treppe bringen konnten, sondern an Stricken durch das Fenster heraufwinden mußten. Immer noch, in der Dorotheenstraße zwischen den modernen Palästen, sieht man eine oder zwei jener behäbigen Wirtschaften, deren tiefe Höfe hinter der breiten Einfahrt sich einer auf den andern öffnen, mit einem Fuder Heu darin oder einem Leiermann oder einem ausgespannten Seil, an welchem Wäsche zum Trocknen hängt. Hier auch sind zwei Gebäude, durch ihr Alter ehrwürdig wie durch ihre Bestimmung, kirchliche Stiftungen, diese hier, das Dom-Leibrentenhaus aus der Zeit Friedrichs des Großen, das andre, das Reformierte Prediger- und Witwenhaus, ernst und in sich gekehrt, verschlossen den Eitelkeiten, ungerührt von den Rufen des Tages, mit einem Schatten von Grau gelagert über den Mauern noch weiter zurückreichend, bis in die Tage der Kurfürstin Dorothea, trotz der Inschrift: »A. D. 1773.« Dieses Haus, gleich dem anderen daneben dem Domkapitel oder Domkirchenkollegium gehörig, bietet einer Anzahl Witwen verdienter Prediger einen letzten Aufenthalt. Seine Stifter waren der Kurfürstliche Ober-Steuereinnehmer Peter Cautius und seine Frau Katharina geborne Crellius. Die Anstalt wurde später von der Generalin de Veyne, einer Tochter der Stifterin aus zweiter Ehe, erweitert und erhielt dann, respektive 1773, den Namen der »Cautius de Veyneschen«, welchen sie heute noch, mit der Jahreszahl 1773 führt.Ich verdanke diese Notiz einer freundlichen Mitteilung des verdienten preußischen Geschichtsschreibers, Herrn Prof. Dr. William Pierson. Vgl. auch Lisco, Das wohlthätige Berlin, S. 61 ff. – Weltlicher in seiner äußeren Erscheinung, wiewohl sich jetzt die Mysterien der Freimaurerei dahinter bergen, älter zugleich und mit seinen zierlichen, charakteristischen Formen noch ganz lebendig zu den Sinnen sprechend, ist der mittlere Pavillon der Loge Royal York, welcher als ein Stück für sich erhalten blieb mit dem neuerlichen Umbau der Flügel. Er ist eines der feinsten Werke Schlüters aus dem Jahre 1712. Entstanden vor dem Zeitalter des Rokoko, zeigt dieser anmutige Bau doch schon Spuren des Übergangs zu dem Stile, der vor allem auf malerische Wirkung berechnet ist. Seltsam, fremdartig nimmt er sich jetzt aus unter seiner neuen Umgebung. Aber man muß bedenken, daß er nicht in einer Straße gedacht war, sondern als Landhaus in einem Garten. Ursprünglich unter dem Großen Kurfürsten ein Schiffsbauplatz und von einem Schiffskapitän bewohnt, war das Grundstück von Friedrich III., nachmals erstem König von Preußen, seinem Erzieher, dem um Land und Dynastie wohlverdienten und hochangesehenen, aber – es wäre schwer zu glauben, wenn neuere Forschung es nicht erwiesen – vor allem durch den unversöhnlichen Haß der »philosophischen Königin« verfolgten und gestürzten Präsidenten von Danckelmann geschenkt worden und nach diesem, als er in die lange Verbannung ging, aus welcher erst Friedrich Wilhelm I. bei seinem Regierungsantritt den schwergeprüften Greis zurückrief, an den Oberhofmeister von Kameke gekommen. Für diesen neuen Besitzer schuf der große Baumeister der ersten königlichen Zeit, der seinerseits, damals auch schon in Ungnade gefallen, einem tragischen Geschick entgegenging, dieses heitere Schlößchen, welches den Zeitgenossen als »ein überaus nettes, nach der neuesten Baukunst errichtetes Lusthaus galt«. So steht, durch ein Stückchen Vordergarten von der Straße getrennt, der Pavillon heute noch mit den geschweiften Linien und phantastischem Zierat seiner Fassade, dem mannigfachen Schnörkelwerk seiner tiefen Fenster und den mythologischen Figuren seiner Dachbrüstung als das Denkmal einer vergangenen Zeit, welche ihre unverschuldeten Schicksale und ihre zu späten Gerechtigkeiten hatte wie die unsere, sowohl in der Politik wie in der Kunst; und wem es vergönnt war, über die Schwelle dieses Heiligtums zu treten, der wird sich jenes hohen, feierlich anmutenden, achteckigen Saales erinnern, von dessen Wänden Schlüters kostbare Stuckreliefs, die vier Weltteile darstellend, herabschauen – das letzte Vermächtnis eines mächtigen, in der Fülle seiner Kraft gebrochenen Geistes. Aber fast scheint es, als habe diese Stätte, so heiter in ihren äußerlichen Formen und so ernst in ihrem Lebensgehalt, dadurch entsühnt werden sollen, daß, nach so vielen Wechselfällen, hier vor nun schon mehr denn hundert Jahren eine jener Vereinigungen ihr Heim gefunden hat, deren Kern und eigentliches Wesen, unter dem Gewand einer von geheimnisvollen Zeremonien umgebenen Geselligkeit, das Wohltun und die Nächstenliebe. Gestiftet im Jahre 1752 von einigen Freimaurern französischer Abkunft und genannt im Jahre 1764 nach dem in ihr aufgenommenen Herzoge von York, Bruder König Georgs III. von England, ist die Loge Royal York de l'amitié, neben der großen Landesloge zu den drei Weltkugeln vom Jahre 1740, jetzt in Neu-Kölln auf dem ehemals Splittgerberschen Grundstück, die zweite dem Alter nach in Berlin und seit dem Jahre 1779 im Besitze dieses Hauses, dessen Räume fortan nur noch Arbeit im Dienst einer erleuchteten Menschlichkeit und brüderliche Feste gesehen haben.
Das gesellige Leben des vorigen Jahrhunderts bewegte sich mehr als das unsere in solch geschlossenen Räumen und Kreisen, und die beliebteste Form dafür scheint, von den Logen abgesehen, die der »Ressource« gewesen zu sein. Es muß deren eine Menge gegeben haben. Der »Schattenriß von Berlin« (1788) erläutert die Ressourcen als »eine andere Art von Tabagien, wo aber nur einer gewissen Anzahl von Honoratioren, die eine geschlossene Gesellschaft ausmachen, der Zutritt verstattet wird; auch wird daselbst besserer Tobak geraucht, und der Ton der Unterhaltung zeigt, daß die Mitglieder sich mehr fühlen als diejenigen, die in den kleineren Tabagien keinen so guten Tobak rauchen«. Ein späterer Reisender, 1798, merkt an, daß ein Fremder, wenn er einmal eingeführt worden, immer freien Zutritt habe. Von diesen Ressourcen haben sich meines Wissens zwei nur noch erhalten: die »Zur Unterhaltung« in der Oranienburger Straße, die sogenannte Therbusch'sche, und die in unserer Gegend, die sogenannte »Ressource von 1794« in der Schadowstraße, der Loge Royal York in der Dorotheenstraße quer gegenüber. Auf dem alten Platze steht jetzt ein neuer palastartiger Renaissancebau, der an der Giebelfront in Gold die Zahlen »1794-1873« trägt und in welchem, wie ich annehmen darf, nicht nur »besserer Tobak« geraucht, sondern auch in jedem Betracht eine solide Geselligkeit gepflegt wird.
Gänzlich verschwunden dagegen ist ein anderes altes Haus, das in derselben Dorotheenstraße, dicht neben der Loge Royal York, an der Ecke der Neustädtischen Kirchstraße lang in Ehren gestanden, eine milde Stiftung fremdländischen Ursprungs, die Maison d'Orange. Der französischen Kolonie zugewiesen und gleich dieser innig verwachsen mit dem Berliner Leben, das aus der Mischung so verschiedener Elemente seinen Charakter und die gesteigerte Kraft seines Wachstums empfing, erinnerte dieses Haus durch seinen Namen an den Oranier, König Wilhelm III. von England, der es im Anfang des vorigen Jahrhunderts erwarb und seinen aus der Orange vertriebenen protestantischen Untertanen als ihr erstes Eigentum in der fremden Stadt übergab. Hier fanden ihre Kranken Aufnahme, hier ward an ihre Armen Brot verteilt. Opfer seiner Politik, welche der drohenden Weltherrschaft Ludwigs XIV. den tödlichen Stoß beibrachte, hat Wilhelm III. dieses Häufleins nicht vergessen, als es dort eine Zuflucht suchte, wo schon so vielen, von Frankreichs Unduldsamkeit Verfolgten Aufnahme gewährt worden war. Er hat nicht aufgehört, sich als »ihr rechtmäßiger Oberherr« zu betrachten, der auch in den Brandenburgischen Staaten für sie sorgte; und immer seitdem, als die fleißigen Gärtnerfamilien der Orange sich längst unter uns eingebürgert, der Oranienstraße ihren Namen gegeben und den Boden ihrer neuen Heimat mit den schönsten Blumen geschmückt hatten, ist die Oberaufsicht über die Maison d'Orange von dem jeweiligen großbritannischen Gesandten in Berlin geübt worden. So hat es, uns allen wohlbekannt, fast einhundertundachtzig Jahre lang den alten Platz behauptet, bis es eines Tages, vor kurzer Zeit, nicht mehr war. Wer es heute wiedersehen will, der muß eine weite Wanderung machen, in den äußersten Westen unserer Stadt. Dort, der Weichbildgrenze nicht mehr fern, ist eine kleine Straße, die Ulmenstraße genannt. Dunkle Bäume beschatten sie, stille, vornehme Häuser, mit Bildwerken geschmückt, liegen in den Gärten. Hierher dringt der Lärm der Weltstadt nicht; selten begegnet man einem Menschen, seltener einem Wagen. Es ist so stille hier, daß man kein Geräusch vernimmt außer zuweilen dem des Windes im Laub oder dem einer ordnenden Hand zwischen den Blumen. Und hier, am Ende dieses Idylls von einer Straße, steht ein gelber Backsteinbau, ganz im zierlichen Villenstil, einstöckig, ruhig und abgeschlossen wie die anderen, und an der Front in Goldbuchstaben: »Maison d'Orange«. Hier wird sie sobald nichts mehr vertreiben, die zu guten Berlinern gewordenen Nachkommen derer, die einst Obst pflanzten und Blumen zogen in den sonnigeren Gefilden der Orange.
Ähnlich wie jetzt uns dieses freundliche Villenterrain erscheint, mag zu ihrer Zeit den Leuten am Anfang des vorigen Jahrhunderts der Streifen Landes erschienen sein, der, zwischen Linden und Spree, gleichfalls das Ende der damaligen Stadt bezeichnete. Die Häuser lagen auch hier in Gärten; Bäume, von denen einige sich noch erhalten, standen in den Straßen, und diese waren kürzer, als sie heute sind. Obwohl die Linden sich längst über sie hinaus erstreckten, führte doch jenseits der Kleinen Wall-, der heutigen Schadowstraße, keine mehr hierher. Die Dorotheenstraße war damals wirklich noch die »letzte Straße«, wie wir abwechselnd mit »Hintergasse« sie genannt finden, und ebenso war, in der Mitte zwischen der letzten Straße und den Linden, die Mittelstraße, was ihr Name sagte. Die Dorotheenstraße, welche diese Bezeichnung zum ehrenvollen Gedächtnis an die Begründerin der Dorotheenstadt erst 1822 erhielt, hatte nicht entfernt ihre heutige Länge. Nicht weiter als zur Friedrichstraße reichte sie gen Osten, und wo sie sich westwärts nunmehr breit und vornehm nach dem Tiergarten öffnet, war sie sackgassenartig gesperrt. Keine Neue Wilhelmstraße damals, keine Marschallbrücke. Von den Linden her sperrte das sogenannte Pontonhaus den Weg, von König Friedrich Wilhelm I. 1736 erbaut und zur Aufbewahrung von Schiffbrücken bestimmt. Zu Friedrichs II. Zeit ward es als Holzmagazin der Artillerie benutzt, erstreckte sich aber mit seinen Höfen immer noch bis an die Spree, dem Schiffbauerdamm gegenüber. Wo sich in diesen Höfen Artilleriewerkstätten und ein Militärkrankenhaus befanden, erhebt sich gegenwärtig die neue Kriegsakademie; und wo heute die beiden Paläste des physiologischen und physikalischen Instituts stehen, in deren einem unser großer Physiologe du Bois-Reymond, in deren anderem unser großer Physiker von Helmholtz residieren, da stand ein Schlachthaus, und immer noch nach diesem heißt ein kleiner Durchgang die Schlachthausgasse, welche hinter jenen Gebäuden am chemischen Laboratorium und technologischen Institut vorbei nach der Spree führt. Über diese vermittelte den spärlichen Verkehr mit dem jenseitigen Ufer, dem Schiffbauerdamm, ein hölzerner Steg, eine sogenannte Laufbrücke. Sonst gab es hier, noch zu Nicolais Zeit, keine Häuser mehr, sondern nur Gärten von der letzten Straße her und sumpfigen Wiesengrund an der Spree. Zwischen beiden, den Gärten und den Wiesen, zog sich ein schmaler Damm, welcher sich des angenehmen Namens »Katzenstieg« erfreute, während der ganze Strich bis zum Wasser hinab mit dem nicht minder schönen des »Moderlochs« geziert war. Ein üppiger Sumpfblumenflor gedieh hier im Sommer, und Schlittschuhläufer tummelten sich darauf im Winter; während der Katzenstieg des Nachts an beiden Seiten mit einer Gattertür abgeschlossen ward. So war es hier vor hundert Jahren; und heute? Wo das Moderloch war, da wölbt sich nun das Glasdach über dem Bahnhof der Friedrichstraße; wo das eine Gattertor des Katzenstiegs sich schloß, da steht das Centralhôtel, und wo das andere sich schloß, steht das Continentalhôtel, dessen linker, an die Dorotheenstraße gelehnter Flügel zugleich die Stelle bezeichnet, wo die Maison d'Orange gestanden. Der Katzenstieg selber aber, zwischen dem Bahnhof und den Hotels, hat sich in die Georgenstraße verwandelt, so genannt nach einem verdienten Bürger, Mitglied der französischen Kolonie, Benjamin George, der hier gegen Ende des vorigen und im Anfang dieses Jahrhunderts die ersten Häuser baute und dessen Andenken man noch mehr ehren würde, wenn man seinen Namen richtig aussprechen wollte – was indessen nicht geschieht.
Aber wenn man zwischen jenen kolossalen Gebäuden hindurch und zur Spree hinabschreitet, wird man noch etwas von dem amphibienhaften Charakter, der hier ehemals herrschte, wiedererkennen. Es ist nicht ganz mehr die unberührte Gegend des vorigen Jahrhunderts; das unsrige dringt schon von allen Seiten herein. Aber in einem gemessenen Tempo, zögernd, als ob es den früheren Besitzer einen Augenblick noch in der Täuschung seines Rechtes erhalten wolle. Kein gewaltsames Ringen, wie wir es meist in Berlin wahrnehmen, sondern ein letztes Verweilen und stilles Verschwinden. Auf holperigem Pfade, hier ein Stück ausgetretenen Rasenbodens, dort ein Stück schlechtgepflasterten Sandes, wandert man den Fluß entlang, über welchem majestätisch der eiserne Trajekt der Stadtbahn sich spannt; unten gehen Kähne, von hart arbeitenden Männern an Stangen mühsam fortgeschoben, oben gleitet, leicht und graziös, in kühn geschwungener Linie, Zug um Zug dahin, mit der Dampfwolke hinter sich. Bretterzäune, Baugründe mit Schutthaufen, Lagerplätze mit Balken – sind es Reste von alten Häusern oder Anfänge von neuen? Sanft, am Ende des Weidendammes, senkt der Abhang, auf welchem noch ein paar Weiden stehen, sich zum ruhig fließenden Wasser, und drüben, am Schiffbauerdamm, noch immer die Gegend der Segelmacher und sogenannten »Hamburger Läden«, liegen ein paar Schiffe. Man würde sich nicht wundern, wenn einem, in Federhut und Pluderhosen, der alte Schiffskapitän begegnete, der hier zu des Großen Kurfürsten Zeit vor Anker gegangen ist. Noch nicken über einer Mauer die Bäume seines Gartens – uralte Bäume jetzt, mit hohen Wipfeln und dichten Kronen, im letzten der Gärten, der hier geblieben: dem der Loge Royal York. Hinter demselben, in einem geschützten Winkel, wie verlorene Gestalten der dahingegangenen Zeit, sitzen ein paar Marktweiber, auch sie vielleicht die letzten ihres Stammes. Denn nun, sobald man um diese Ecke biegt, verwandelt sich wie durch einen Zauberschlag das Bild – aus einem Gewirr von Häusern und Kähnen und Schornsteinen erhebt sich fern im Dufte des Mittags eine steinerne Masse, die mächtig zwischen dem feinen Gitterwerk des Gerüstes emporwächst: das neue Reichstagsgebäude, von der krönenden Viktoria der Siegessäule goldschimmernd überragt; und hier, dicht vor uns, öffnet sich ein hohes Portal, das Tor einer unserer Markthallen. Gar lieblich und herzstärkend vermischen sich die kräftigen Gerüche von allerlei Grünem mit denen der Blumen, des frischen Obstes und vieler anderen guten Dinge sowohl des festen Landes als der See. Unter den luftigen Wölbungen mit all den Herrlichkeiten, aufgehäuft zu beiden Seiten der Halle, geht der Blick vom Ufer der Spree hinaus durch die Schadowstraße bis zu den Alleen und Palästen der Linden, welche das unvergleichlich schöne, vom Leben des Tages erfüllte Panorama schließen; und nicht der Große Kurfürst selber, noch sein Enkel, der biedere Friedrich Wilhelm, dürften uns tadeln, wenn wir, mit aller Reverenz für ihre Zeit, hier ein Wort auch zum Lobe der unseren sagen wollten.