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(Oktober 1883)
Auf dem Grundriß von 1778 war Berlin am Halleschen Tor zu Ende, und auf dem von 1831 führt das, was heute die großmächtige Belle-Alliance-Straße ist, den anspruchslosen Namen »Weg nach Tivoli«. Tivoli war ein berühmtes, nach Pariser Muster im Jahre 1829 angelegtes und genanntes Vergnügungslokal am Kreuzberg, da, wo gegenwärtig die Brauerei gleichen Namens liegt. Aber hier war nicht mehr Berlin, sondern »Umgegend von Berlin«; man fuhr nach Tivoli, wie man heute nach Tegel oder Pichelswerder fährt. Im Jahre 1842 hieß die Straße, welche bis dahin »Weg nach Tivoli« geheißen hatte, die »Tempelhofer Straße«: aber sie war, wie wir dem Buche von Fidicin (»Berlin, historisch und topographisch«, 1843) entnehmen, nur »in der Nähe der Stadt mit Häusern besetzt«. Die eigentliche Bebauung dieser Strecke, welche an Ausdehnung die Friedrichstadt übertrifft, fällt in die Periode von 1866–1875, und die Belle-Alliance-Straße, eine Geschäftsstraße voll regen Verkehrs, länger als die Linden und fast ebenso breit, bildet seitdem den Kern eines neuen Stadtteils mit vorstädtischem Charakter und sehr eigentümlich zusammengesetzter Bevölkerung. Gegen das Tempelhofer Feld ansteigend und zu beiden Seiten flankiert von den mäßigen Terrainerhöhungen, die man sich gefällt, den Tempelhofer Berg und den Kreuzberg zu nennen, macht sie mit ihren Bäumen, Kasernen, großen Läden und hohen Häusern einen sehr stattlichen Eindruck als die vornehmste dieses Quartiers. Aber man würde nicht vermuten, daß hinter ihr, am östlichen Abhange des Kreuzbergs, eine der reizendsten kleinen Straßen sich versteckt, und, wenn man den Eingang nicht kennt, sie nicht einmal finden. Hier ist nichts mehr von dem Lärm und der Arbeit der volkstümlichen Nachbarschaft. In aristokratischer Einsamkeit herrscht hier beschauliche Ruhe. Zierliche Häuser sind hier in schönen Gärten, ein Teich, auf welchem Schwäne schwimmen, ein kleiner Palast in den reinsten italienischen Formen, auf dessen Freitreppe man sich gern einen Kreis anmutiger Frauen, einen Scaliger, einen Medicäer dächte.
Zehn, zwanzig Schritte bringen uns wieder in die Wirklichkeit zurück, und zwar in eine, die auch ihre Überraschungen hat. Denn diese Vorstadt ist noch weit davon, vollständig ausgebaut zu sein, und hier kann man, wenn ich so sagen darf, Berlin wachsen sehen.
Namentlich die nähere Umgebung des Kreuzberges nach Norden und Westen hin bietet noch solch einen Anblick. Hier sind Trottoirs ohne Straßen und, was noch ärger ist, Straßen ohne Trottoirs, Holzplätze, Kohlenplätze, dann wieder ein einzelnes Haus, ein Baugerüst, ein Bretterzaun und ein Stück Eisenbahn, ganz voll ausrangierter Wagen. Nähert man sich von einer dieser Seiten, etwa unter den alten Pappeln und Häusern der Möckernstraße, dann sieht der Kreuzberg aus wie eine Düne am Meeresstrand, unten ganz weiß, oben spärlich begrünt – man meint, man müßte die Segelstangen vorüberziehender Schiffe erblicken unter dem milden, grauen Abendhimmel. Knaben spielen im Sande, auch ein Reiter auf schwerfällig sich fortbewegendem Rosse ist da und dunkle Vertiefungen und Schluchten. Stark und lau weht der Abendwind und macht die Täuschung noch vollständiger. Rechts ist die Fortsetzung der Kreuzbergstraße und der Sandweg mit den Weidenbäumen, der nach Schöneberg führt. Wie manchmal bin ich ihn gegangen vor vielen Jahren! Aber hier hat sich noch nichts geändert, hier ist alles noch, wie es war. Nur drei Freunde, drei gute Gesellen im Leben, die mit mir gingen, ruhen jetzt dort oben, nicht weit voneinander, auf dem Schöneberger Kirchhof, dessen Mauer sich über dem ansteigenden Felde zeigt. Hier sind auch noch die beiden altmodischen Tanzlokale, in welche beim Vorübergehen hineinzuschauen uns damals so viel Vergnügen machte: »Zum Türmchen« und »Zum alten Türmchen« – letzteres über dem Dach mit einem veritablen, grün angestrichenen Türmchen, das wie ein Taubenschlag aussieht und vielleicht auch einer sein mag. Wieder ist es Sonntagnachmittag. Wieder ist hier die Drehorgel und das Marionettentheater; es wird gekegelt und getrunken. Plötzlich höre ich jemanden rufen: »Naucke!« Ich achte nicht darauf. Da fragt ein zweiter einen dritten: »Haste Naucken nich jesehn?«, und ein vierter sagt: »Wo is Naucke?« Mein Gott, denke ich, wer mag der Mann sein, nach dem alle sich so teilnehmend erkundigen? Wer ist Naucke? Da steht vor dem Eingang »Zum alten Türmchen« ein kleiner Stillvergnügter, der sich fortwährend um sich selber dreht und dazu mit gerührter Stimme singt:
Naucke is nich mehr zu sehn,
Naucke is mich jar zu kleen.
Nun denn, so will ich mich darein ergeben; ich fürchte, mich zu blamieren, wenn ich weiter nach diesem interessanten Unbekannten forsche. Doch ein paar Tage später, beim Stralauer Fischzug und auf dem Erntefest im Schwarzen Adler zu Schöneberg – überall hör ich denselben Namen, überall ist Naucke, oder ist er vielmehr nicht; und ich überzeuge mich nun, daß es sich hier um eine jener Neckereien handelt, die oft so plötzlich, man weiß nicht woher, im Berliner Leben auftauchen. Vielleicht daß bei einer Landpartie eine liebende Gattin ihren Mann verloren hat, der sich des Namens Naucke erfreut. »Naucke!« ruft sie – »wo ist Naucke?« Ihr Schicksal erregt Teilnahme, man hilft ihr suchen, alle Bezirksgenossen schließen sich an – was anfänglich bitterer Ernst gewesen, wird allmählich fröhlicher Scherz, der Ruf wird populär, und lange noch, nachdem, so wollen wir hoffen, Frau Naucke ihren Mann wiedergefunden hat, klingt es durch ganz Berlin bis zum alten Türmchen in der Schöneberger Feldmark: »Wo ist Naucke?«
Von hier aus hat der Rücken des Kreuzbergs ganz den Heidecharakter, das heißt etwas Gras und viel Sand. Das Denkmal, welches früher auch im Sande stand, steht jetzt auf festem Unterbau, mit hohen, zinnengekrönten Mauern. Der Blick auf das unter einem violetten Abendhimmel flach daliegende Berlin imponiert nicht besonders: Man sieht Türme, Kuppeln, viele Häuser; man unterscheidet ganz in der Ferne die gegenüberliegenden Höhenzüge und weit weg links die Spandauer Heide und die Spandauer Forst; aber es gibt kein Bild, man hat nicht den Eindruck einer ungeheuren Stadt, in der Millionen Menschen wohnen. Nach der Seite von Tivoli hin sind viel dichte Laubmassen um den Hügel, und sie erwecken den Wunsch, dieses ganze, jetzt noch ziemlich öde Terrain in den Südpark umgeschaffen zu sehen, den man uns so lange schon verheißen und dem es in der Tat so mannigfache Vorzüge der Bodenformation entgegenbringt. Wer weiß, ein Wanderer, der nach mir kommt, wird ihn finden und beschreiben.
Die Berge von Berlin! Wer wird ernsthaft an sie glauben? Aber sie sind nun einmal da, und sie heißen so, wenn auch ein künftiges Geschlecht sie vielleicht nur noch an der etwas stärkeren Hebung oder Senkung der Straße erkennen mag wie beim Pfefferberg in der Schönhauser Allee. Hier indessen ist noch etwas von der alten Romantik; und wer vom Kreuzberg nieder- und über die Belle-Alliance-Straße hinweg den Tempelhofer Berg hinansteigt, der kann sich in die glückliche Vorzeit versetzt wähnen. Es ist dies auch noch ein rechtschaffener Sandhügel mit allen Attributen eines solchen. Bei jedem Schritte, den man vorwärts tut, sinkt man ein oder rutscht hinunter. Rechts, am Rande des Hügels, ist die berühmte Bock-Brauerei, links ist eine andere Brauerei und ein Hof mit vielen Tonnen, geradeaus ist eine Gruppe von Pappeln, eine Windmühle, eine Fabrik mit ein paar hohen Schornsteinen – und Berlin ist zu Ende. Dieses Haus dort drüben ist das letzte Haus von Berlin.
Aber unermeßlich gegen Südwesten, vom Tempelhofer Revier bis zur Luisenstadt, dehnt sich ein neues Berlin aus; und ich erinnere mich noch, daß ich dort im Sande des Köpenicker Feldes ging, wie ich hier im Sande der Tempelhofer Felder gehe. Jetzt sind überall Straßen – und was für Straßen, und was für ein beständiges Wogen der Menschen in ihnen! Welche Plätze, welche Brücken! Weit und luftig ist hier die Gegend am Johannistisch und am Urban, in dessen Nachbarschaft, auf die »Schlächterwiese« des Cottbuser Feldes – vor elf Jahren, im Sommer 1872, noch ein Rüben- und Kartoffelfeld – in jener Zeit der Wohnungsnot der Exodus der »Obdachlosen« stattfand, die sich hier Hütten bauten. Welch ein Anblick kann phantastischer sein als jetzt, wenn man in diesen neuen Gegenden, am Plan- und Waterloo-Ufer und der prächtigen Bärwaldbrücke vorbei, bis zum Kohlenufer wandelt, bei der einbrechenden Dunkelheit die Feuer der Gasfabriken, unter den alten Baumgruppen, am Wasser und im warmen Dunste des Sommerabends; oder, der Nacht und dem frischen Ostwind entgegen, an einem dunkelblauen Himmel, über einer Fläche, halb noch unbebautes Land und halb schon weißliches Häusermeer, als ob es Bergzüge wären oder Wolkenmassen, den Vollmond aufsteigen zu sehen, groß und golden? Oder sich in das Unbekannte Häusergewirr zu verlieren, in dem man sich nur nach der Richtung zu orientieren vermag, in das Dunkel von Straßen, von deren Namen und Existenz man bisher nichts gewußt und die doch alle regelrecht gebaut sind und in denen aus Bierlokalen und »Destillationen« überall das Spiel von Klavieren heraufklingt?
Zwischen den Kolossen mit vier oder fünf Stockwerken und unzähligen Fenstern, so daß man meint, fünfhundert Menschen müßten darin wohnen können, begegnet man hier zuweilen einem kleinen Bijou von Haus, einstöckig, traulich, nur für eine Familie – das Haus, welches ein Fabrikant dieser Gegend sich in der Nähe seiner Fabrik und der Mitte seiner Arbeiter gebaut hat. An einer anderen Stelle sieht man ein übriggebliebenes Häuschen aus einer Bauperiode stehen, wo menschliche Wohnungen hier nur selten in den Gärten und den Feldern waren. Inzwischen sind die Felder und die Gärten verschwunden, das Häuschen hat hohe Nachbarn bekommen, und der Straßendamm ist emporgewachsen; es selber aber hat sich nicht vom Platz gerührt, und wie man nun bei allen anderen Häusern die Treppe hinaufsteigt, so steigt man bei diesem die Treppe hinunter, wenn man hinein will. Ein ähnliches Häuschen gegenüber liegt noch tiefer, seine drei Fenster reichen knapp an den Bürgersteig hinan, und ich kann mir nicht denken, wie die Bewohner desselben es anstellen, um auf die Straße zu sehen. Und dennoch scheinen sie ganz gemütliche Leute zu sein mit hübschen Gardinen an ihren drei Fenstern und Lichtbildern und Blumen davor.
Je weiter man in diesen neuen Gegenden vordringt, die doch vorzugsweise bestimmt sind, von den weniger bemittelten Einwohnerklassen bewohnt zu werden, desto mehr wird man erstaunt sein, nicht sowohl über die Massenhaftigkeit der Bauten und Anlagen als über ihre Zweckmäßigkeit, Mannigfaltigkeit und Schönheit. Wir alle kennen das normale Berliner Wohnhaus, das aus der Zeit Friedrich Wilhelms III. und Friedrich Wilhelms IV. stammende – nüchtern, ohne Schwung, wie der Staat jener Zeit, auf das Notdürftige beschränkt, unerfreulich, monoton, langweilig und eines ungefähr wie das andere. Kein Wunder, daß dem Fremden, der in unsere Stadt kam, ihre langen Straßen mit den Mietskasernen, nur selten unterbrochen durch ein edleres Bauwerk, nicht besonders wohl gefallen konnten. Das Berliner Wohnhaus vermochte Schinkel nicht zu reformieren. Der Genius eines einzelnen reicht nicht hin, eine Stadt umzugestalten. Dazu müssen andere Kräfte mitwirken. Notabene: und ich spreche nur von dem äußeren Eindruck, ich will hier gar nicht auf das Innere dieser Häuser eingehen, von denen die meisten keine Wasserleitung und keine Badestuben, dagegen allesamt dunkle Schlafzimmer, enge Korridore und das odiöse Berliner Zimmer hatten – eine Erfindung, auf welche die Berliner Baukunst stolz sein durfte, ein Durchgangszimmer, durch welches, auch wenn die Familie bei Tische saß und große Feten gab, die ganze Passage ging, von der Küche bis zur Flurtür. Dieses Haus ist in raschem Verschwinden begriffen: In den inneren Teilen der Stadt wird es Schritt vor Schritt verdrängt durch die luxuriösen Bauten unserer jungen Architektenschule, welche bald ein neues und schöneres Berlin aus dem alten gemacht haben wird; und in dem neuen ist es nie gewesen. Hier, in den Vorstädten und Volksquartieren, wo es sich eben nur um Neuschöpfungen handelt, tritt dieser neue Baustil auch am deutlichsten und großartigsten hervor. Hier, wo nicht Luxusbauten errichtet werden sollten, sondern solche, die ganz ausschließlich auf ihre Ertragsfähigkeit hin berechnet sind, hier konnte der Künstler zeigen und hier hat er in der Tat gezeigt, wie die kolossale Masse von Gebäuden, gegen welche die dreistöckigen Häuser der vorangegangenen Periode klein erscheinen, durch das freie Spiel der Phantasie, durch eine gefällige Behandlung der Form, durch geschmackvolle Dekoration der Fassade, durch eine gewisse Harmonie in der Herstellung der ganzen Straßenfront zu bewältigen und aufzulösen war: unter seiner Hand hat die Mietskaserne sich in den Mietspalast verwandelt. Wohlverstanden, daß ich auch hier nur vom Äußern spreche; denn gegen das Innere mögen sich mannigfache Bedenken nicht unterdrücken lassen. Man wird eingestehen müssen, daß, vom sanitären Standpunkt aus betrachtet, die dumpfen und feuchten Kellerwohnungen, die ja hier nicht mehr gefunden werden, nicht viel gesundheitsschädlicher gewesen sein können als die fünf Stock hoch unter dem Dach gelegenen Logis, zu denen die Bewohner derselben auf steilen Treppen ohne Zahl – wer weiß, wie oft täglich! – hinansteigen müssen.
Jedoch andere Vorzüge haben diese neuen Stadtviertel, welche den älteren fehlen. Sie haben mehr Luft, mehr Licht und mehr Grün. Überall tritt das Bestreben hervor, breite boulevardartige Straßen zu schaffen, Avenuen, in der Mitte mit Bäumen bepflanzt, wie zum Beispiel die York- und Gneisenaustraße, oder mit weiten Rasenplätzen und Gartenanlagen, wie die Bärwaldstraße. Die Häuser dieser Straßen sind immens hoch und dicht bevölkert; aber sie haben Ventilation, sie haben Wasserleitung, sie haben Badestuben – sie haben alles, was an häuslicher Bequemlichkeit sonst nur dem Reichen zugänglich war und was heute, infolge einer vorgeschritteneren Zivilisation, auch den in bescheidneren Verhältnissen Lebenden nicht länger fehlt. Und ist es so gering anzuschlagen, daß auch derjenige von unseren Mitbürgern, der kleine Beamte, der Handwerker, der Arbeitsmann, der in ehrlicher Mühe seinen Unterhalt gewinnt – daß auch er, sag ich, seinen Blick erheben lernt zu dem, was durch schöne Form erfreut – daß es ihm nicht fremd gegenübersteht, sondern wie etwas, an dem er gleichfalls seinen Teil hat? Wird das, was für die Verschönerung der Umgebung geschieht, in der er lebt, nicht zugleich sein Auge bilden und sein Selbstgefühl erhöhen, wie das, was für ihre Verbesserung in anderer Hinsicht getan wird, sein körperliches Wohlbefinden vermehrt. Nicht alle Fragen – leider nicht einmal viele – sind mit der ästhetischen Formel zu beantworten. Aber das moderne Leben hat doch sehr weise getan, daß es, inmitten starker Gegenströmungen, als einen mitwirkenden Faktor der Volkserziehung die Künste wieder herangezogen hat, von welchen der alte Dichter sagt, daß sie die Sitten mildern und Roheit nicht dulden.
So schreitet die Stadt vorwärts, ihre Flut nach allen Seiten hin ergießend, nichts verschonend und durch nichts aufgehalten; und selbst die Stätten des Friedens, deren stille Bewohner kein noch so lauter Zuruf mehr weckt, nicht des Ehrgeizes und nicht der Liebe – die Kirchhöfe Berlins, auch sie sind nur noch Inseln, an deren Ufer die steinerne Brandung anschlägt. Einst, noch vor zwanzig, dreißig Jahren lagen sie weit draußen, einsam in Feld und Heide vor den Toren, wie die neuen Kirchhöfe, welche diese Gemeinden jetzt in der Hasenheide haben; aber in einer so großen Stadt verschlingt das Leben den Tod, und wer weiß, ob nach abermals zwanzig, dreißig Jahren nicht auch um sie das Häusermeer sich geschlossen haben wird wie um jene? Wie weit sollen sie dann wandern, damit die Stadt sie nicht mehr erreichen kann? Oft, an diesen Gräbern, kommt mir der Gedanke, wenn die Toten erwachen, wenn sie die Augen aufschlagen und die Sonne wieder sehen könnten, würden sie sich nicht fremd fühlen in dieser anders gewordenen Welt – würden sie das Leben noch einmal anfangen, den Kampf noch einmal kämpfen mögen oder nicht Heimweh haben und zurückverlangen in ihr Dunkel und Schweigen? Und wenn ich dann von diesen Orten des Schlummers wieder in das Wogen der Menschheit zurückkehre und, wohin ich auch gehen mag in dieser ungeheuren Stadt, immer und überall die Tausende sehe, die einander drängen, stoßen oder ausweichen – wo, frag ich dann wohl, wo werden diese einmal Ruhe finden und wo, wo wird Platz sein für sie alle? Dann, wenn vielleicht durch eine der belebten Straßen ein Leichenwagen kommt, nicht einer von denen, die mit schwarzen Federn geputzt und von zahllosen Equipagen gefolgt sind, sondern ein dürftiger, dessen schwarzes Zeug abgeschabt und grau geworden ist, der über das Steinpflaster rasselt, dessen Kutscher die Pferde zur Eile antreibt und hinter dem nur wenige Leute gehen – was, frag ich mich dann, ist trauriger: einsam in einer solchen Stadt zu leben oder einsam darin zu sterben?
Vielleicht war dieser Mann – doch ich will nicht philosophieren. Wenn es in Berlin etwas gibt, was die Seele zu beruhigen vermag, nicht allein diejenige, die der frische Schmerz hierherführt, sondern ebensosehr die, welche der Betrachtung und des Aufblicks bedarf: so ist es gewiß ein Besuch auf unseren Kirchhöfen. Keine ländlichen Friedhöfe mehr, auf welche die Sonne des Himmels von Morgen bis Abend scheinen kann; und dennoch wieviel Grün, wie viele Blumen, wie viele Bäume – welche Gärten sind es und mit welch rührender Liebe werden sie gepflegt! Ich erinnere mich einer Stelle aus dem »Skizzenbuch« von Washington Irving: »Als ich in Berlin war«, sagt er, »folgte ich dem berühmten Iffland zum Grabe. In der Pracht des Begräbnisses konnte man auch viel wirkliches Gefühl unterscheiden. Mitten in der feierlichen Handlung ward meine Aufmerksamkeit durch ein junges Mädchen angezogen; sie stand auf einem mit frischem Rasen bedeckten Hügel, den sie ängstlich vor den Füßen der vorüberdrängenden Menge beschützte. Es war das Grab ihrer Eltern; und die Gestalt dieser liebenden Tochter erschien mir wie ein Denkmal, ergreifender als das kostbarste Werk der Kunst.«
Zwei Menschenalter sind seitdem vergangen, ein Grab nach dem anderen ist hier aufgeworfen worden und wieder eingesunken, vielleicht auch das, in welchem, zur Seite der Eltern, das junge Mädchen von damals ruht. Aber immer noch, auf der Granitplatte, an der Mauer des Jerusalemer Kirchhofs, strahlt der Name des großen Künstlers, welcher der kleinen Geschichte Washington Irvings ihr Relief und der schönen Handlung einer Namenlosen etwas von seinem Glanze gegeben hat.
Die Begräbnisplätze vor dem Halleschen Tore, die der Jerusalemer und Neuen Kirche, der Dreifaltigkeits- und Halleschen-Tor-Gemeinde, der Herrnhuter und böhmischen Brüdergemeine, bilden einen weiten, zusammenhängenden Komplex zwischen der Belle-Alliance- und der Pionierstraße. Aus der gedrängt vollen Straße tritt man in den gedrängt vollen Kirchhof – gedrängt voll von Gräbern, eines dicht am anderen, so daß man zuerst ganz verwirrt ist bei der Menge. Doch alle sind mit Grün bedeckt, und die Abendsonne scheint über der Mauer herein. Die roten und die blauen Blumen funkeln; und viele schwarz gekleidete Damen mit ihren Kindern sind an den Gräbern. Täglich, zur Sommerzeit, in den Abendstunden, kommen sie hierher; und glaube man nicht, wenn am Sonntagnachmittag die bunte Menge durch die Belle-Alliance-Straße hinauszieht, fröhlich und unbesorgt an den Kirchhöfen vorbei, daß diese darum nicht auch ihre Besucher hätten. Dann regen sich hier Hunderte von Händen, und manches wunde Herz und manches verweinte Auge findet Trost in dem lieben, traurigen Tun. Wie gleichgültig würden uns diese Menschen sein, wenn wir ihnen draußen begegneten; wir sehen sie an einem Grabe, und wir fühlen uns ihnen verwandt. Die Gemeinden dieser Kirchhöfe gehören zu den angesehensten und vornehmsten von Berlin. Viel von dem, was, weit in die Vergangenheit zurück, den bürgerlichen Stolz, den Reichtum, den Ruhm dieser Stadt ausmachte, liegt hier begraben. Viele Denkmale sind da, mit Namen, welche die Welt nicht vergessen wird. Und dennoch – ihre Blumen und ihr Efeu sind ihr schönster Schmuck. Wenn man von der Belle-Alliance-Straße hereintritt, dann sieht man lange noch durch das Eisengitter das Gewühl der Menschen, und das Rollen der Wagen folgt uns. Aber je weiter man sich entfernt, desto stiller wird es, und am stillsten ist es längs der Baruther Straße. Da schaut nicht eine Kaserne, sondern ein Schulhaus herüber; die Stimmen, die man vernimmt, sind Kinderstimmen, und durch die Straßenöffnungen erblickt man das Weiß und Grün des Tempelhofer Berges.
Einsamer als dieser, der neue Jerusalemer Kirchhof, ist der alte Hallesche, zu welchem man von der Pionierstraße her, durch einen Seitengang, gelangt. Man hat hier eher den Eindruck einer entlegenen Parkpartie, mit Heckenwegen und dunklen Alleen, als den eines Kirchhofs. Weite Strecken von Gräbern sind der Erde gleichgemacht; mit Ausnahme der Erbbegräbnisse, welche dauern, solange der Kirchhof selber dauert, werden alle anderen nach dreißig Jahren wieder umgegraben und aufs neue benutzt. Hier, unter den alten Bäumen, erhebt sich nur noch einzeln da und dort ein Hügel oder ein Denkmal; und zwischen hohem, dunklem Gebüsch, mit einem zerbrochenen Tränenkrug oder einer umgestürzten Sandsteinurne am Wege, wandelt man dahin. Dennoch ist es erquickend zu sehen, wie selbst diese Gräber, wo nur noch eine Spur von ihnen ist, auch die ältesten von ihnen, erhalten werden. Freilich, Blumen sind selten auf diesem Kirchhof, von dessen Toten uns nun schon Generationen trennen; diese Zeichen der Liebe fehlen ebenso, wie die Besucher nur noch spärlich hier vertreten sind. Rechts durch das Gitter sieht man den »Gottesacker der Brüdergemeinde«; hier erhebt sich kein Denkmal, und flach auf den Gräbern liegen die Steine als ein Zeichen, daß die darunter im Tode gleich sind, wie sie's im Leben waren. Nach links aber, durch einen Gang bejahrter Ulmen und Ebereschen und dicht mit Efeu bewachsener Pappeln führt der Pfad nach dem Dreifaltigkeitskirchhof – und wie seltsam leuchtet das Rot der Azaleen in dem beginnenden Sommerabenddunkel und von den Gräbern her das Gelb der Sonnenblume – wie feierlich der Himmel darüber, so tief und blau – »so ganz, als wollt er öffnen sich« ...
Auf diesem Kirchhof ist es still; man hört die Welt nur wie aus weiter Ferne. Sanfter Abendsonnenschein kommt von Westen herein, und es rauschen die Bäume. Hier an einem Leichenstein lese ich die Worte: »Es ist bestimmt in Gottes Rat« – und es umschwebt mich eine Melodie, als ob sie vorausgesandt sei, mich zu führen, und ich gehe ihr nach, und mir ist wie einem, der im Traume wandelt, und ich stehe vor einem Grabe mit weißem Kreuz und der Inschrift in Goldbuchstaben:
Jacob Ludwig
Felix
Mendelssohn Bartholdy,
geb. zu Hamburg am 3. Feb. 1809, gest. zu Leipzig am 4. Nov. 1847.
Ich erinnere mich, ich war noch ein Knabe, als die Trauerkunde vom frühen Hinscheiden Mendelssohn Bartholdys durch Deutschland ging und auch mich in meiner klösterlichen Schulzelle an der Weser erreichte; und ich weiß auch, welch geisterhaften Eindruck – denn damals war die Eisenbahn noch ganz neu – die Schilderung jener nächtlichen Fahrt auf mich machte, als die Leiche des Unvergeßlichen nach Berlin geführt ward, wo er in heimischer Erde ruhen wollte, zur Seite derjenigen, die von Kindheit an ihm die Teuerste gewesen. Nur wenige Monate vor ihm, im Mai 1847, war ihm die Lieblingsschwester gestorben und hier auf dem Dreifaltigkeitskirchhof begraben worden. Zu ihr zog es ihn hin, an die er – der beste der Brüder, der zärtlichste, derjenige, der mit ihr gleichsam nur ein geistiges Leben gelebt – doch »mit bitterer Reue« darüber dachte, daß er nicht mehr für ihr Glück getan habe, daß er sie nicht mehr gesehen, nicht mehr bei ihr gewesen sei. Nun wollte er sich nie mehr von ihr trennen – nun wollte er ewig bei ihr sein –, und nun ruhen sie nebeneinander, Grab an Grab. Auf dem ihren erhebt sich eine rote Granitpyramide, daran ihr Name geschrieben ist:
Fanny Nathalie Hensel
und, in ihrer eigenen Melodie, die schönen Worte von Eichendorff:
Gedanken gehn und Lieder
Fort bis ins Himmelreich.
Die Noten und die Worte sind kaum noch zu erkennen – denn das Gold auf Leichensteinen hält nicht sehr lang; aber eine Ranke vom Grabe des Bruders schlingt sich um das der Schwester, und neben ihr zur anderen Seite ruht ihr Gemahl, Wilhelm Hensel, der Maler. Zur Seite Mendelssohns liegen sein frühverstorbenes jüngstes Kind, »der kleine Felix«, und seine neunzehnjährige Tochter Felicie Henriette Pauline († 1863). Ein schwarzes Gitter umschließt die Gräber, und dichter Efeu bedeckt sie. Schon färbte sich auf dem in der Mitte, dem hohen, dem, in welchem »stumm schläft der Sänger«, eins und das andere Blatt rot – lau war die Luft und kein Mensch in der Nähe. So still war es, daß man nur das Rauschen des Abendwindes vernahm oder dann und wann noch einen Vogel im Gebüsch und das Niederrieseln des Wassers, wenn die Kirchhofsgärtner kamen, um die Gräber zu begießen.
Nicht weit von diesen Gräbern, auf demselben Kirchhofe, sind drei andere – drei, doch auch sie wie zu einem geschlossen: Varnhagens Grab, Rahels Grab und das Grab der getreuen Dienerin, Dorothea Neuendorf, Rahels Dore. So ganz umwachsen und verhüllt von Efeu sind diese Gräber und Steine, daß es schwer ist, bis zu den Inschriften und Namen zu dringen. Aber als sie nun vor mir standen, welche Fülle von Erinnerungen wurden mit ihnen wach, an das Haus in der Mauerstraße, das heute noch, innen wohl, aber außen kaum verändert, die Französische Straße hinuntersieht. Wie gut kenne ich noch das Eckfenster im ersten Stock, und welch eine glänzende Reihe von Berühmtheiten ging dort an den Blicken des jungen Studenten vorüber! Berühmtheiten der Literatur, Berühmtheiten der Gesellschaft; denn alle, von den Tagen der Romantik bis zu denen des »Atta Troll«, waren einmal durch diesen Salon gewandelt und hatten ihm einen Parfüm der Vergangenheit zurückgelassen, etwas, das nach Staub und welken Blumen roch, wie ein altes Buch, das man aufschlägt. Aber wie berauschend war dieser Duft für uns, die heraufkommende Generation, und wie schwer wird es uns jetzt noch, in einer unterdes so realistisch gewordenen Welt, anders als mit Pietät an diese Letzten einer Periode zu denken, in welcher die Romantik noch nicht tot war, was man auch sagen mochte, sondern dem Throne selber, der Politik, den Angreifern wie den Angegriffenen, der liberalen Opposition und sogar den radikalen Freiheitsbestrebungen ihren schillernden Mantel umwarf. Klug und praktisch sind wir erst viel später geworden, unser äußeres Leben reicher, unser inneres ärmer; jene Zeit aber war durchaus künstlerisch, durchaus literarisch oder belletristisch gestimmt; und ein Abschiedsglanz derselben fiel auf diesen altmodischen, an den Anfang des Jahrhunderts erinnernden Salon, in welchem ich noch einige von den Alten sah – ihn vor allen anderen, den schönen Greis mit dem Silberhaar, dem eisernen Kreuz auf der Brust und »demselben feinen Lächeln«, welches Heine schon bezaubert hatte,In der Widmung des »Atta Troll«. hinter welchem sich aber etwas Scharfes und Ironisches verbarg. Tages über hielt er sich in seinem an den Salon stoßenden, hohen und geräumigen Kabinett, zu welchem nur wenige Zutritt hatten. Hier, an seinem Arbeitstisch, in der Mitte des Zimmers, saß er, jahrelang, horchend auf das Geräusch der Welt, die vertraulichen Worte seiner Freunde aufzeichnend, ihre kleinsten Billetts registrierend und über Personen und Zustände harte Dinge niederschreibend in einer zierlichen Handschrift und dem Geheimratsstil Goethes. Die Wände waren ganz mit Büchern bedeckt, darunter zahlreiche Schachteln und Schächtelchen, sorgfältig etikettiert und nach dem Alphabet geordnet. Aus ihnen sind, nach seinem Tode, jene »Impietäten« ans Licht gekommen, welche vorübergehend einen Schatten auf die große Gestalt Alexander von Humboldts warfen und den Ruhm Varnhagens so sehr getrübt haben, daß man immer noch seinen Namen nur mit einer gewissen Reserve nennt. Aber wenn wir gerecht sein wollen und die damaligen Verhältnisse bedenken, die politischen allgemeinen und seine besonderen, persönlichen, so werden wir sagen: Dieser Mann hat, zur Zeit von Preußens tiefster Erniedrigung, zu der Zahl derer gehört, welche den Umschwung und Aufschwung vorbereiten halfen; er hat als Soldat in den Befreiungskriegen und als Diplomat in den Staatsgeschäften seine Dienste geleistet – und wie hat man ihm gedankt? Mag Gereiztheit ihm die Feder geführt und Bitterkeit sie getränkt haben – er hat niemals ein Wort geschrieben, in welchem seine Liebe zu Vaterland und Freiheit oder seine Hoffnung auf die Zukunft sich verleugnet; und in meinem Herzen wird die Erinnerung daran leben, wie freundlich, teilnahmsvoll und hilfreich er gegen die Jugend war. – In den Salon kam er nur zu den berühmten Kaffees seiner Nichte, Ludmilla Assing, welche dem Onkel das Haus führte, und bei großen Empfängen. Bei solchen Gelegenheiten sah ich hier den General Pfuel: trotz seiner Jahre noch ein rüstiger Mann, der des Winters in der Spree badete; dann zuweilen Bettina von Arnim, die Wunderliche, die Geniale –
Ach, es ist vielleicht das letzte
Freie Waldlied der Romantik ...
Nur daß oft moderne Triller
Gaukeln durch den alten Grundton ...
Hier auch in diesem Salon sah ich zuerst Ferdinand Lassalle, damals ein junger Mann, von dem die Welt noch nichts wußte, dessen Bedeutung aber seine näheren Freunde schon voraussahen – keiner mit einer so richtigen Erkenntnis des Charakteristischen in Lassalles Erscheinung, mit einem so divinatorischen, prophetischen Blick für sein Schicksal und sein Ende wie Heinrich Heine. »Herr Lassalle«, so heißt es in dem Einführungsschreiben, welches er ihm an Varnhagen mitgab, »ist nun einmal so ein ausgeprägter Sohn der neuen Zeit, der nichts von Entsagung und Bescheidenheit wissen will ... Dieses neue Geschlecht will genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demütig vor dem Unsichtbaren, haschten nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten und waren doch vielfach glücklicher als jene harten Gladiatoren, die so stolz dem Kampftod entgegengehen.«
Rahel war schon zwanzig Jahre tot, als ich in Varnhagens Haus kam. Aber ihr Bild hing an der Wand, ihr Geist wehte noch in diesen Räumen, und Dore lebte noch – wie manchmal hat Dore mir die Türe geöffnet und mich dabei freundlich angelächelt mit dem guten Gesicht aus der alten Zeit. In Dores Armen ist Rahel gestorben. Als in ihrer letzten, schweren Krankheit Dore sie einmal »gnädige Frau« nannte, da rief sie: »Ach was, es hat sich ausgegnädigefraut! Nennt mich Rahel!« Und fünf Tage vor ihrem Tode wandte sie sich an den neben ihrem Bett sitzenden Varnhagen: »Welche Geschichte!« – rief sie mit tiefer Bewegung aus – »eine aus Ägypten und Palästina Geflüchtete bin ich hier und finde Hilfe, Liebe und Pflege von euch! ... Mit erhabenem Entzücken denk ich an diesen meinen Ursprung und diesen ganzen Zusammenhang des Geschickes, durch welches die ältesten Erinnerungen des Menschengeschlechts mit der neuesten Lage der Dinge, die weitesten Zeit- und Raumfernen verbunden sind. Was so lange Zeit meines Lebens mir die größte Schmach, das herbste Leid und Unglück war, [als] eine Jüdin geboren zu sein, um keinen Preis möcht ich das missen.«
So starb sie; und nur durch eine Mauer von ihr getrennt, auf dem alten, jetzt von der Bamther Straße begrenzten Jerusalemer Kirchhof liegt eine andere Jüdin – eine und vielleicht die vorzüglichste von denen, welche dem geistigen Leben Berlins am Ende des vorigen und am Anfang dieses Jahrhunderts die Signatur gaben – die Freundin Schleiermachers und der Schlegel, von dem jugendlichen Börne schwärmerisch geliebt und später, als diese hoffnungslose Flamme verraucht, bis an das Ende seines Lebens aufrichtig verehrt. »Henriette, verw. Hofräthin Herz, geb. de Lemos« heißt es auf ihrem Grabstein. Sie trat erst in reiferen Jahren zum Christentum über, als ihre alte Mutter tot und ihr Gemahl, der Hofrat Marcus Herz, auf dem nunmehr längst geschlossenen jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße ruhte. Rahel war, nach dem Bilde, das ich von ihr gesehen, eine Frau mit zwar höchst geistvollen, keineswegs aber regelmäßigen oder anmutigen Zügen; sie hatte vielmehr etwas Starkknochiges, Unweibliches. Henriette Herz dagegen war eine Schönheit, orientalisch, dunkel, von üppigen Formen, mit prachtvollem Haarwuchs, leuchtenden Augen, feinen, schwarzen Brauen, mit einem Anflug griechischer Klassizität im edlen Profil, Stirn, Nase, Mund. Dorothee Therbusch hatte sie als Hebe gemalt; Gottfried Schadow ihre Büste modelliert. Noch kurz vor ihrem Tode, im Jahre 1847, besuchte König Friedrich Wilhelm IV. die dreiundachtzigjährige Greisin in ihrer Sommerwohnung im Tiergarten; sie starb im Genuß eines durch Alexander von Humboldt vermittelten Gnadengehaltes aus der Privatschatulle des Monarchen. Mit ihr ging eine der Letzten dahin aus jenem »geistreichen Berlin«, welches jetzt nur noch in der Sage lebt.
Wenn man, wenige Schritte von diesem Grabe, die Gräber der großen Schauspieler und Schauspielerinnen aus derselben Periode sieht – das von Iffland und der Bethmann, von Fleck, von der Crelinger und dem alten, ewig jungen Gern –, wäre man dann nicht versucht, von der dramatischen Kunst dasselbe zu sagen wie von dem allgemein geistigen Leben und von der Literatur dasselbe wie von der dramatischen Kunst?
Ja, ich bin nun einmal ein Alter, wenn vielleicht noch nicht ganz von Jahren, doch in meinen Erinnerungen; und weit, weit aus der Vergangenheit klingt mir ein Vers, den ich auf der Schule gelernt habe:
Ich träum als Kind mich zurücke,
Und schüttle mein graues Haupt;
Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder,
Die lang ich vergessen geglaubt –
Die Dämmerung sinkt herab und ich wandre noch immer unter Gräbern – und hier, auf dem Neuen Jerusalemer Kirchhof ist eins – eine Linde steht darüber, und auf dem Grabsteine, beim schwindenden Lichte des Tages, les ich:
Adelbert von Chamisso
geb. 30. Januar 1781; gest. 21. August 1838.
Antonie von Chamisso,
geb. Piaste,
geb. 30. Oktober 1800; gest. 21. Mai 1837.
Ein Grab, ein Stein für beide, reich mit Efeu umwunden und ein Kranz darauf von Lorbeerblättern mit Astern und weißen Rosen. Er hatte sich mit der Achtzehnjährigen vermählt, die er im Hause Hitzigs aufwachsen sah und mit der er, da sie noch ein Kind war, gespielt. Sie starb früh, und er hat sie nur um ein Jahr überlebt; er, der ein Wandrer, ein Fremder, ein Franzose, zu uns kam und nach allem, was er an Liebe, Freundschaft und Ruhm hier gefunden, um nichts bat, als ein Grab in deutscher Erde:
O deutsche Heimat! –
Wann müd am Abend seine Augen sinken
Auf deinem Grunde laß den Stein ihn finden,
Darunter er zum Schlaf sein Haupt verberge.
Und noch ein Vers aus ferner Knabenzeit wird in mir wach, und leise sprechen ihn die Lippen nach:
Du siehst geschäftig bei dem Linnen
Die Alte dort im weißen Haar,
Die rüstigste der Wäscherinnen
Im sechsundsiebenzigsten Jahr ...
Vor nicht langer Zeit, an einem Sommernachmittag im Jahre 1880, fand in dem Hause Friedrichstraße Nummer 235 eine schöne Feier statt. In diesem Hause hat Chamisso gelebt. Vorher hatte er in Schöneberg, dicht beim Botanischen Garten, dessen Kustos er war, eine kleine Wohnung. Als diese 1822 durch Feuer zerstört ward, zog er in die Stadt, in dieses Haus der Friedrichstraße, welches er bis zu seinem Tode, 1838, nicht mehr verließ. Dessen zu pietätvollem Gedenken schmückte nun der gegenwärtige Besitzer, ein Erzgießer, das Haus mit einer selbstverfertigten Bronzetafel, welche die betreffenden Daten und das wohlgelungene Medaillonporträt des Dichters enthält.Das Haus ist im März 1884 abgerissen worden, aber auch den inzwischen entstandenen prächtigen Neubau schmückt das Dichterbild mit der Unterschrift auf Granit: »Hier lebte Chamisso bis zu seinem Tode im Jahre 1838.« Hinter dem Hof ist ein Garten, jetzt wohl von Mauern eingeschlossen, aber immer noch mit den alten Kastanien, unter welchen Chamisso gewandelt, und dem Gartenhäuschen, in welchem er sinnend, dichtend oft geweilt. Hier, an jenem Junitage, dem 26., waren seine Söhne, seine Töchter, seine Enkel versammelt, und von hier führte der freundliche Wirt uns in die Räume des ersten Stocks, in welchen der Dichter so viele Jahre gelebt. Das Haus ist eines von denen, wie sie damals zu den vornehmen gehört haben mögen – zweistöckig, mit hohen Fenstern und zu jener Zeit, als es fast noch in den Feldern lag, gewiß auch beschaulich genug. Jetzt, welch eine veränderte Welt! Wo Chamisso damals an jedem Morgen vom Halleschen Tor aus quer durch Wiesen und Kornblumen nach dem Botanischen Garten ging, da sind die kolossalen Güterbahnhöfe der Anhalter und Potsdamer Bahn, und um sein einst ländliches Haus rollt und wogt der Straßenverkehr der Großstadt. Aber dem Wandrer, der des Weges kommt, tut es wohl, das Bild des Dichters zu sehen, wie es mit den ehrwürdig langen Haaren und dem Gesicht voll Anmut, Freundlichkeit und Ernst in das unaufhörliche Treiben der längsten und lärmendsten Straße von Berlin hineinschaut. Und wenn man in den Hof geht, in welchem jetzt Fabrik an Fabrik sich reiht, so erblickt man in dem Nebengebäude rechts ein kleines Fenster. An diesem Fenster war's, wo Chamisso die alte Waschfrau gesehen, der er eines seiner schönsten Lieder gesungen und der er nach Jahren, als sie, von des Alters Last gänzlich niedergedrückt, nicht mehr arbeiten konnte, ein zweites sang, das zur Wohltätigkeit für sie aufrief:
Ihr Fraun und Herrn, Gott lohn es euch zumal,
Er geb euch dieses Weibes Jahre Zahl
Und spät dereinst ein gleiches Sterbekissen!
Denn wohl vor allem, was man Güter heißt,
Sind's diese beiden, die man billig preist:
Ein hohes Alter und ein rein Gewissen.
Die alte Waschfrau hat ihren Dichter überlebt: Noch in demselben Jahre, wo er das zweite Lied für sie gesungen, folgte er seiner vorangegangenen Gattin. Aber ein anderer kam, ein jüngerer – einer, der nun auch schon im Grabe ruht, Franz Dingelstedt; und in herrlichen Terzinen sang er ihm die Totenklage:
Wo habt Ihr mir den Alten hingebettet?
Kommt, führt mich an den eng beschränkten Port,
Darein der Weltumsegler sich gerettet.
Ihr zeigt auf jene dürre Scholle dort,
Wo falbes Herbstlaub rieselnd niederregnet;
Hier ruht er, sagt mir Euer Trauerwort.
O sei, du heilig Dichtergrab, gesegnet;
Du birgst ihn, dem mein Geist viel tausendmal,
Mein sterblich Auge nimmermehr begegnet!
Noch ein Grab ist hier, auf der entgegengesetzten Seite des Kirchhofs, nicht weit von einer hohen Pappel, welche den Weg zu demselben zeigt, ein völlig eingesunkenes Grab mit einem ovalen Sandstein, der in nunmehr auch fast erloschenen Zügen die Inschrift trägt:
E. T. W. HOFFMANN,Bekanntlich rührt das »E. T. A. Hoffmann« auf seinen Schriften von einem Schreibfehler eines seiner ersten Manuskripte her, den er nachmals nicht mehr verbessern wollte.
geb. Königsberg i. Pr. d. 24. Januar 1774,
gest. zu Berlin d. 25. Juni 1822.
Kammer Gerichts Rath
Ausgezeichnet
im Amte
als Dichter
als Tonkünstler
als Maler.
Der hier ruht, war im Leben ein guter Kamerad Chamissos und der anderen Serapionsbrüder, Hitzigs, Contessas, de la Motte Fouqués – ein liebenswürdiger Gesellschafter und geliebt von seinen Freunden –, leichtsinnig, leichtlebig, mit dem Herzen eines Kindes, das keiner Versuchung widerstehen kann, aber genial, eine Künstlernatur mit einer krankhaft feinen Empfindung für die Mißtöne des Lebens und, wenn er vom Dämon besessen war, mit seinen kleinen grauen Gespensteraugen in den Abgründen der Nacht und der Menschenseele lesend wie in einem aufgeschlagenen Zauberbuch, und seinen Zuhörern Geschichten erzählend, daß ihnen die Haare zu Berge standen. Es hängt ein Bild in der Weinstube von Lutter und Wegner in der Charlottenstraße, eine Lithographie, in Farben ausgeführt. Da sehen wir an einem hölzernen, mit grünem Wachstuch überzogenen Tisch, auf welchem Champagnerflaschen stehen, zwei Männer – den einen, mit wunderlich eckigem Gesicht, seltsam nach vorn gezogenem halbrunden Backenbart und aufgesträubtem Haar, wie das einer Katze, das Funken sprüht, sonst aber ganz bedächtig, mit halbgeöffneter Hand und leicht geöffnetem Mund, während der andere, gegenüber, der mit dem scharf und fein umrissenen Profil und den großen dunklen Augen, entsetzt zurückschreckt, so daß er den in seiner Rechten zitternden Champagnerkelch fester hält und mit der Linken sich in das braune Gelock seines Hauptes fährt. Der Erzähler ist E. T. A. Hoffmann und der Zuhörer Ludwig Devrient – auch er, der Kaufmannssohn aus der Brüderstraße, eine große, dämonische Natur – der größte Bühnenkünstler des Jahrhunderts ... Und wie ich hier stehe, unter der Pappel des Jerusalemer Kirchhofs, deren Blätter im Abendwinde wehen, in der Dämmerung, im Zwielicht, wie zwischen Diesseits und Jenseits, da taucht jenes geisterhafte Bild vor mir auf, und ich meine, Tritte zu hören, leise, schlurfende, und den Klang von Glas gegen Glas ... Devrient ist es, der, von Sehnsucht nach dem Freunde gequält, manchmal hierherkommt, in der Nacht, um am Grabe mit dem Toten zu trinken ... Doch auch dieser Schatten gleitet hinab – die Schritte, die ich gehört, kommen von draußen, aus der lebendigen Welt; und die Klänge sind Musik aus dem Sommergarten des Belle-Alliance-Theaters ...
Und hier bin ich wieder auf der Straße. Es ist Abend, und die Lichter werden angezündet. Langsam wende ich meinen Weg der Stadt zu, aus dem Berlin der Vergangenheit in das der Gegenwart und des Augenblicks. Aus dem Dunkel der oberen Friedrichstraße tret ich bei der Kochstraße plötzlich in die Tageshelle der großen Sonnenbrenner, während die spärliche Beleuchtung der einmündenden Seitenstraßen mir gleichsam den Kontrast der alten und der neuen Zeit andeutet, bis von der Leipziger Straße her das elektrische Licht aufschimmert – immer, und wenn man es auch an jedem Abend sieht, aufs neue frappant und überraschend. Die Flut von Licht, von Menschen und Wagen, geräuschlos auf dem spiegelglatten Asphalt dahinrollend, die Pracht der Läden und der Reichtum der Schaufenster umgibt mich das Berlin unserer Tage, das große, kaiserliche Berlin. Ich aber suche das Haus an der Ecke der Französischen und Charlottenstraße auf, das mit den beiden Säulen und den tiefen Kellern, aus welchen es nach altem Wein riecht. Ich trete in die wohlbekannte Stube, linker Hand, und setze mich an den Tisch in der Ecke, einen schlichten hölzernen Tisch, mit grünem Wachstuch überzogen. Alte Bilder hängen an den Wänden, Bilder von Jenny Lind, von Hamburg vor dem Brande, von der Harburger Brücke, als diese noch von Holz war und Soldaten darüber hinzogen mit Tschakos und Federbüschen; vor allem aber Bilder von Schauspielern und alte Theaterzettel. Um diese frühe Stunde des Abends ist es noch stille hier, und ich sitze ganz allein. Aber nach und nach setzen sich Männer zu mir, einige, die ich gekannt, andre, die ich nicht gekannt habe, jedoch alle mir so vertraut, daß ich wie unter Freunden bin. Dort an der Wand, das dunkle Porträt, wird lebendig – es ist Ludwig Devrient; das Bild daneben fängt an, mit den kleinen, grauen Gespensteraugen zu zwinkern – es ist E. T. A. Hoffmann. Hier über mir rührt sich ein andres, ein feines, sarkastisches Gesicht und deutet mit jenem Blick, der uns oft zu Tränen gerührt und oft zu unauslöschlichem Gelächter hingerissen, nach einer Inschrift hinter Glas und Rahmen neben dem Ofen – ich lese:
»Gleichgültigkeit gegen den Champagner ist Heuchelei.
Stelle Dich nicht kalt, wenn er kalt gestellt wird.
Theodor Dörig,
Kgl. Hofschauspieler.«
Wir sind bei Lutter und Wegner.
Auf denn! wenn noch Tugend in der Welt ist – Wilhelm! Eine Flasche Champagner; und trinken wir auf die Toten – auf die, welche niemals sterben! ...