Julius Rodenberg
Bilder aus dem Berliner Leben
Julius Rodenberg

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Die frühen Leute

(Wintermorgen in Berlin. Februar 1886)

Ja freilich bin ich einer von denen, die frühe Stunden halten – mögen meine Freunde darum nicht weniger gut von mir denken! Ich liebe die späten Gesellschaften nicht; ich bin nicht glücklicher, als wenn ich des Morgens aufstehen kann mit klarem Kopf und erfrischter Lust zu den täglichen Geschäften. Ich mag mir des Abends, wenn andere ehrliche und gesetzte Leute zu Bette gehen, nicht den Frack anziehen, um mich in Säle zu begeben, die von Gas und Hitze strahlen, unter einen Haufen geputzter Herren und Damen, die mir (und meistens auch sich untereinander) gleichgültig oder langweilig sind; mit denen ich Gespräche führen muß, die weder sie noch mich interessieren, bald mit diesem, bald mit jenem, um die Zeit hinzubringen, Gespräche, die keinen Anfang und kein Ende haben. Auch die Musik zwischen elf und zwölf ist mir fatal, und ich glaube, diesen Herren und Damen nicht minder, die den Augenblick nicht erwarten können, bis sie sich, hungrig wie die Wölfe, nach Mitternacht zur Tafel setzen – wenn sich nicht etwa, zum Schrecken aller, ein Büffet auftut, wo die Hand und Gabel jedes gegen jeden erhoben ist – und dann Gott noch mehr als ihren Wirten danken, wenn die Sache zuletzt überstanden – um morgen abend von neuem anzufangen und jeden Abend, drei Monate lang, den ganzen Winter hindurch, sich zu wiederholen.

Wer mich vergnügt sehen will, der muß in eine von den kleinen Wirtsstuben kommen, in denen man an Tischen von unpoliertem Eichenholz sitzt. Die Platten sind so weiß und so rein gescheuert, daß man alle Masern und Adern des ursprünglichen Wuchses darin erkennen kann; und dies allein schon würde hinreichen, mir ein Gefühl des Behagens zu geben. Wenn ich eintrete, pflegt es noch still zu sein; kaum daß hier oder dort, an dem einen Tisch oder dem andern, ein früher Gast sitzt, gleich mir selber. Die Lichter brennen nur halb, und der Kellner, der mich kennt, gibt sich keine Mühe, sie höher zu schrauben. Denn er weiß, daß ich die mittlere Helligkeit und die mittlere Temperatur bevorzuge. Er kennt mich und meine Gewohnheiten und meinen Platz; wir haben uns nicht sehr viel zu sagen und hegen doch die größte Hochachtung voreinander. Er bringt mir meinen Wein und mein Kuvert und meine Zeitung und läßt mich alsdann allein. Oh, wie die Einsamkeit einem wohltut in solch einer gemütlichen Wirtsstube! Sich endlich einmal ganz selber zu gehören – kein überflüssiges Wort sprechen, keine leere Frage beantworten zu müssen, tun und denken zu dürfen, was einem gefällt – oder auch gar nicht zu denken – zu träumen! Und wie vielerlei, wie schön läßt sich träumen vor einem Glase mattgelben jungen Moselweins, in dem die feinen Schaumperlchen auf- und niedersteigen! Von den sonnigen Bergen, an denen er gewachsen, von den lieblichen Tälern und dem vielfach gewundenen Flusse, von den altertümlichen Städtlein an seinen Ufern, ihren hügeligen Straßen, Kirchen, Schlössern und sonstigem Gemäuer – von der Augusta Trevirorum, dem herrlichen Trier, von der Porta Nigra, der Arena, den Kaiserpalästen, in einer Landschaft und unter einem Himmel, die – ich weiß nicht welchen – Zauber südlicher Weichheit atmen, daß sie, vor anderthalbtausend Jahren, den Römern Constantins die Täuschung der fernen, transalpinen Heimat gaben und heute noch uns, den Nachkommen der Barbaren, Sehnsucht erwecken, unendliche, ungestillte, nach der Stadt, die vor allen andern Städten war und noch immer ist – bis wir ihn auftauchen sehen, aus dem Morgengrau, den gelben Tiber – bis er uns zum ersten Male seine Flut entgegenrollt – mit einem grünen Talkessel und scharf umrissenen Gebirgskamm, mit Zypressen und Pinien und einer weidenden Schafherde und einem Hirten im Ziegenfell, mit dem weiten Blick über die bläulich schimmernde Campagna und dem weißen Aquädukt und dem schwärzlichen Steinhaufen und der mächtigen Kuppel, von der aufgehenden Sonne vergoldet – bis der Zug in die Halle einläuft und der Schaffner, die Türen öffnend, von Wagen zu Wagen ruft: »Roma!« ...

Nun, meine Herrschaften, ist es Zeit, daß ich gehe. Denn ich kann auf die Minute berechnen, wie lang ich gebrauche, um von meinem Glase Brauneberger bis nach Rom zu gelangen. Jedesmal, wenn der Zug hält und der Schaffner ruft, ist auch der Moment da, wo das Stübchen sich mit Leuten füllt, die nicht vom Forum oder Kapitol, sondern aus dem Königlichen Schauspielhaus oder Deutschen Theater kommen – braven Leuten, die gewaltigen Hunger und nicht minderen Durst haben und denen ich alles Gute wünsche, so wie es mir vorher zuteil geworden ist. Gemächlich mach ich meinen Heimweg durch die klare Winternacht, und es hat noch nicht elf von meinem Kirchturm geschlagen, ihr könnt euch darauf verlassen, so suche ich mein Lager, in der frohen Erwartung einer guten Nacht und eines guten Morgens.

Aber solch ein Wintermorgen kommt langsam, langsam; und ich bin gar nicht unwillig, wenn ich, von einer Zeit zur andern erwachend, dem Gange der Nacht folgen kann. Wann wird es einmal still, ganz still in einer Stadt wie Berlin? Der Platz, an dem ich wohne, gehört nicht zu den lauten Gegenden; keine Verkehrsstraße berührt ihn, bei Tage wenig lärmend, verstummt er gänzlich bei Nacht. Nur aus weiter Ferne, ringsumher, wie das Branden des Meeres hinter den Dünen, vernehm ich das Leben der Hauptstadt, das wohl etwas schwächer wird, aber niemals ganz erstirbt. Da läuft noch ein später Eisenbahnzug ein oder aus, und ich höre den Pfiff der Lokomotive, ganz weit und ganz schwach. Das Rollen der Wagen ist zu einem monotonen einschläfernden Geräusch gedämpft, das jetzt sich im Umkreis zu verlieren scheint, jetzt erneut aus demselben hervorbricht – wie das Meer zur Ebbezeit immer weiter zurücktritt und doch immer wieder anschlägt. Es sind die Wagen und Equipagen, in welchen die geputzten Herren und Damen, die sich eben »gesegnete Mahlzeit« gewünscht haben, nach Hause fahren. Manchmal verirrt sich ein solches Gefährt, das mit müdem Gerassel über die Steine holpert, auf unsern Platz; denn wenn abseits der Welt, leben wir doch nicht völlig außer der Welt. Der Wagen hält; ich höre, wie der Kutschenschlag geöffnet wird oder ich höre vielmehr, wie man sich alle Mühe gibt, ihn zu öffnen, ohne daß er Miene macht, sich zu rühren, ebensowenig wie der Kutscher. Worauf das ganze Bild vor meiner Seele steht: er, der Treffliche, fest in seinen dicken Mantel gewickelt, mit der Fuchsbalgkappe über den Ohren und den pelzgefütterten Stiefeln bis über die Knie – beide unbeweglich, der Kutscher und der Kutschenschlag, als ob die Sache sie nichts anginge – was, im Grunde genommen, doch auch der Fall ist. Es ist, als ob es sie nur interessiere, zu sehen, wie die Nachtgäste sich aus ihrer schwierigen Lage befreien. Und sie müssen es sich wohl gefallen lassen und fertig zu werden suchen, so gut sie können. Denn wir, auf unserm Platze, sind bescheidene Leute; wir fahren nicht erster Klasse, wenn wir eine Droschke zweiter Klasse haben können. Endlich, endlich fliegt der Schlag auf und wieder zu, das Fuhrwerk setzt sich in Bewegung, verliert sich, ich weiß nicht in welcher Richtung, und nun ist es eine Weile still – so still, daß ich das Ticken meiner Wanduhr vom Gange her deutlich vernehmen kann. Trauter Klang – Musik aus der Kinderzeit! Diese Uhr ist so alt – so alt, wie ich denken kann. Sie stand im Elternhaus auf dem Treppenabsatz; ich habe ihr Ticktack schon als Knabe gehört, genau so, wie ich es jetzt höre, hier, in der Winternacht, in Berlin. Ah, wenn sie sprechen wollte, wieviel könnte sie verraten – wieviel erzählen von Dingen, die nur sie gesehen – von schlaflos stürmischen Nächten des Frühlings und der Jugend; von Sommernächten voll vom Rauschen des einsamen Mühlbachs, voll von Düften des Jasmins, voll von leisen Gesängen! ... Aber es ist gut, daß ich es jetzt allein bin, der ihre Sprache noch versteht.

Und sie beschämt noch, in ihren alten Tagen, den Kirchturm auf dem Platze, der so viel jünger ist. Denn dieser, mit seiner großen Uhr und seinen vier Zifferblättern, ist ein recht unzuverlässiger Gesell – ich will nichts gegen ihn sagen, beileibe nicht, denn auch ihn habe ich sehr lieb, ich könnte nicht ohne ihn leben, und er würde mir sehr fehlen, besonders in den Nächten, wenn er einmal ganz schwiege – was er übrigens, bei plötzlichem Witterungswechsel, auch manchmal tut. Mag die Turmuhr falsch schlagen, wenn sie nur schlägt! Sie ist für mich die Stimme der Nacht, wobei ich freilich – um der Wahrheit die Ehre zu geben – nicht verschweigen darf, daß sie bei Tage manches Unheil anrichtet. Keiner traut ihr, und alle berufen sich auf sie – der Barbier, wenn er zu spät kommt, die Köchin, wenn sie mit dem Mittagessen nicht fertig wird, das Hausmädchen, wenn sie sonntags von ihrem Ausgang nicht zeitig zurück ist. Aber laßt sie, wir haben alle unsere Fehler – Menschen und Kirchtürme; wir müssen Nachsicht miteinander üben, und darüber schlaf ich in Frieden wieder ein – schlafe, schlafe, bis mich etwas weckt wie der Schlußakkord einer verhallenden Melodie, die sich seltsam mit dem Traumzustand des Erwachens zu vermischen scheint – wahrhaftig, es ist der Kirchturm, von welchem es dreiviertel schlägt! Dreiviertel! Wenn man nur wüßte, was folgen wird! Es ist noch dunkel. Nur ein Schimmer der Gaslaternen stiehlt sich von unten herauf durch die freigelassene Ritze der Jalousien und wirft einen zitternden Lichtstreif an die gegenüberstehende Wand. Ganz vereinzelt und sehr weit entfernt läßt sich das Rollen eines Wagens vernehmen – ist es der letzte der späten Gesellschaften, ist es der erste der frühen Arbeit –, ist dies der Moment, wo das Ende der Nacht und der Anfang des Tages in Berlin einander begegnen? Noch bevor ich die Frage mir beantwortet, bin ich wieder eingeschlafen, und wenn ich, nach einem gesunden und festen Schlaf, in dem mich nichts mehr stört, wieder erwache, schlägt es abermals; und jetzt, auch wenn ich die Schläge nicht zählte, würde ich wissen, daß es sechs Uhr ist – sechs Uhr früh. Denn diese Stunde hat ein ganz eigenes Kolorit des Tones, das sie von allen anderen Stunden des Tages und auch der Nacht unterscheidet. Es ist nicht mehr der vereinzelte Stoß oder Laut, der durch die Stille dringt: Es ist das Erwachen der Hauptstadt, das ich in tausend Zeichen aus der Entfernung vernehme, die Wiederkehr des allgemeinen Lebens, das auch das meine weckt und in Spannung setzt. Diese Stunde möcht ich, könnt ich nicht verschlafen: Es ist, als rausche die Flut näher und näher heran, bis der Augenblick kommt, wo auch ich mich wieder hineinstürzen darf. Oh, diese Verkünder des neuen Tages, mit allem, was er Unbekanntes, Unvorhergesehenes, Überraschendes in sich bergen mag – wie ich sie liebe! Da ist wieder der Pfiff der Lokomotive – jedoch so viel heller, freudiger, hoffnungsreicher; wer weiß, welchen glücklichen Menschen sie heute zur Heimat, zu den Eltern, zur Braut, zur Geliebten bringen wird! Ah, so jung zu sein, wie er – wie er, klopfenden Herzens, dem schnellen Zuge noch vorauszufliegen durch die Winterlandschaft, zum ersehnten Ziele hin ... Und immer neue Laute, nicht mehr in weiten Zwischenräumen auftauchend und wieder dahinsterbend, nein, mit scharfem Akzent einsetzend in die wachsende Bewegung, die von allen Seiten zur Stadt drängt, in ihre Straßen und auf ihre Märkte; und nun auf einmal ein leichtes Wägelchen, das in munterem Tempo herankommt und mit einer Art fröhlichen Allegros über den Platz rennt. Wenn ich das höre, nach dem zuweilen schweren Andante der Nacht, dann ergreift Freude mein Herz – denn es ist der Milchmann, der Milchwagen. Er kommt zwar nur von Schöneberg oder Wilmersdorf – aber er kommt doch vom Lande und bringt uns die gute Milch –, und dem ersten folgt der zweite, und dem zweiten der dritte; und wo sie halten in der Nachbarschaft, diese traulichen Gespanne mit dem mageren Pferdchen und den blechernen Kannen, da wird es lebendig, da geht es hinein und heraus, da wird Feuer angezündet auf dem Herde, da steigt Rauch aus den Schornsteinen, und da fangen die Kaffeemühlen an zu klappern ... Nein, nein, ich bin keiner von denen, die das Leben unerträglich und den folgenden Tag noch langweiliger finden als den vorhergegangenen; ich, im Gegenteil, finde, daß jeder neue Tag die Verheißung von etwas Besserem in sich trägt und daß das Alltägliche das Beste von allem ist; und solange noch der Milchmann und der Milchwagen kommen, bin ich zufrieden.

Jetzt ist sieben Uhr nicht fern; der Wintertag in Berlin beginnt, und seine Boten sind geschäftig, die uns unser leibliches und unser geistiges Brot bringen, die für uns sorgen, die geräuschlos ihre Arbeit tun, halb noch unter dem Schleier der Nacht, damit alles hübsch in der Reihe sei, wenn wir aufstehen. Aber ich muß mich eilen, wenn ich sie noch erblicken will. Denn diese frühen Leute sind pünktliche Leute; sie lassen nicht auf sich warten, aber sie warten auch nicht, und den Tag wollt ich nicht loben, wo wir nicht, jeder von uns den andern, zu genau derselben Zeit an genau derselben Stelle träfen. Der erste von ihnen ist fast eine mythische Figur, nur sichtbar im Zwielicht, wenn die Nächte am längsten und die Tage am kürzesten sind. Dann sehe ich ihn wohl über den Platz schreiten, den Laternenmann, und phlegmatisch eine Flamme nach der andren auslöschen, die schläfrig sind wie vom langen Brennen; und im Halbdunkel mit seinen hohen Häusern und schneebedeckten Dächern liegt dann dieser kleine Ausschnitt der Welt vor mir. Aber im Morgengrau, wie wohl tut diese erste Spur der Helligkeit, die dem Anbruch des Tages vorausgeht – des wirklichen Tages, der unsre Kraft aufs neue herausfordert und uns die Welt gleichsam zum zweiten Male schenkt; und wie köstlich ist der Anhauch der frischen, herben Winterluft, wenn er, Lebenslust und Freudigkeit weckend, uns zuerst entgegenweht und mit all diesen Zeichen und Verkündigungen rings um uns her eine Stimme wie die des Predigers in uns spricht: »Es ist das Licht süße und lieblich die Sonne zu sehen« ... »Morjen, Morjen!« schallt es hinüber und herüber. Eine eigene Population bewegt sich in der kleinen Straße. Es ist der Bäckerjunge, der mit dem hohen Korb auf den Schultern daherkommt, und die Zeitungsfrau, welcher ein nicht minder gefüllter Korb am Arme hängt. Der Bäckerjunge trägt schwer an dem Ernste seines Berufs; er unterscheidet sich von allen andern Jünglingen dieser Stadt. Er pfeift nicht, er treibt keinen Unfug – nichts reizt weder seine Neugier noch seinen Mutwillen, und sein einziges Vergnügen scheint darin zu bestehen, daß er mitten durch die Sperlingsschar geht, welche jetzt, am Tische des Überflusses schwelgend, sich auf einem leeren Droschkenstande niedergelassen hat und die verstreuten Körner aufpickt. Aber die Berliner Sperlinge haben nichts von der Ursprünglichkeit ihrer Natur eingebüßt; sie sind die frechsten, die man sich denken kann, und tun dem Bäckerjungen nicht einmal den Gefallen fortzufliegen. Denn sie kennen seine Gemütsart. Die Zeitungsfrau dagegen ist ein muntres Wesen in gesetzten Jahren, und mit einer Art mütterlichen Wohlgefallens sieht sie auf ihren jungen Freund herab, wenn er ihr, in der mehlbestaubten Kappe und mit dem Geruche frischen Backwerks vor sich her, an den Türen begegnet. Friedlich in ihrem Tragkorb, wie gute Kameraden, schlummern nebeneinander Regierung und Opposition, Freisinn und Reaktion, Kulturkampf und Sozialdemokratie; und mit derselben Liebe trägt sie dies alles umher und schützt es sogar, wenn es regnet oder schneit, mit einem Zipfel ihres braunen Umschlagetuches. Sie hat etwas Mütterliches, wie gesagt, und ist eine Philosophin obendrein. Man muß sie beobachtet haben, wie sie die Hintertreppen hinauf- und heruntersteigt und ihre Blätter vor die verschlossenen Türen wirft – mit einem Gesichtsausdruck, als wollte sie sagen: Schlaft ihr nur! Solange ihr schlaft, hat die Welt Ruhe! Wieviel besser ist es auf Erden, wenn die noch nicht aufgestanden sind, die den vielen Lärm machen; auch der noch nicht, der im Parlamente sich zu rühmen pflegt, daß er am frühesten von allen aufstehe! ...

Der einzige, mit der Autorität und Gewalt des Gesetzes Bekleidete, der um diese Zeit an den Ecken der Straßen auftaucht, ist der Schutzmann. Aber auch er ist jetzt ein gemütlicher Mann gegen das, was er in den späteren Stunden des Tages vorstellt. Er ist der gute Freund der Portiers, die mit Schneeschippe, Besen, Schaufel und Aschenkasten herauskommen, um den Bürgersteig gangbar zu machen. Sie haben den größten Respekt vor dem Schutzmann, in dessen Zügen alsdann manchmal etwas erscheint wie ein menschliches Lächeln. Davon wissen auch nur wir, die frühen Leute, zu erzählen. Denn wer hätte sonst jemals einen Berliner Schutzmann lächeln sehen?

Indessen bin ich in den Tiergarten hinausgetreten, und die Pracht und Schönheit des Wintermorgens beginnen ihr magisches Spiel. Wie ein Zauberpalast steht er vor mir, dieser unvergleichliche Park. Seine dunklen, hohen Säulen, die Bäume, mit phantastischen Kränzen von Schnee behängt, mit der bläulichen Fernsicht seiner Alleen und dem schimmernden Eisspiegel seiner Seen – mit dem Monde, der groß und golden noch im klaren Äther des Westens schwebt, mit dem feurigen Morgenrot, das den ganzen Osten färbt. Das Eichhörnchen schlüpft über den Weg, die Krähe schwingt sich hoch über die Schneekrone der Kiefer. Hier und dort und immer mehr beleben sich die Pfade, die von den Seitenstraßen nach dem Brandenburger Tor und den Linden, aus dem Innern der Stadt in unsere Vorstadt und von Moabit in die Geschäftsgegenden des Westens führen. Handwerksleute sind es, Schneidermamsellen, Putzmacherinnen und Ladenmädchen; Buchhalter und Kontoristen, tüchtige Männer, die dem Anscheine nach gut geschlafen und gut gefrühstückt haben, mit sich und der Welt in Frieden leben und deren Behagen nichts vergleichbar, wenn sie so des Morgens von Haus kommen, ihre erste Zigarre im Munde. Wie der Duft derselben mir zu Herzen geht, trotzdem ich nicht darauf schwören möchte, daß es 85er Importen sind. Aber er weckt liebliche Vorahnungen nichtsdestoweniger, und ich freue mich jedesmal, wenn ich diesen Männern begegne. Denn sie geben mir, indem sie, wichtig und laut miteinander redend, ihrem Geschäfte zusteuern, an jedem Morgen aufs neue die Zusicherung eines Glücks, das, gleichsam mitteninne zwischen den Bahnen des Ruhms und des Ehrgeizes, der Macht und des Reichtums, von diesen weder berührt noch gestört wird. Hier auch, wo eine Querallee mündet, ist die Stelle, an der ich jahrelang ein merkwürdiges Paar traf – frühe Leute wie wir andern und immer mit dem Glockenschlag. Zuerst, in der Dämmerung, konnte ich sie nicht recht erkennen; ich sah nur, daß sie Arm in Arm gingen, und hörte nur, wie sie beständig miteinander sprachen, als ob sie junge Eheleute wären, die sich unendlich viel zu sagen haben. Aber sie waren in der Tat ein alter Mann und eine alte Frau, die sich zärtlich zu lieben schienen und denen offenbar der Morgenspaziergang so zuträglich war, daß sie mit behenden Schritten dahingingen, immer untergefaßt und immer plaudernd. Philemon und Baucis, dacht ich, wenn sie vorüberkamen, und oftmals blieb ich stehen, um den beiden Alten, Liebenden, nachzuschauen. Aber eines Tages kam er allein, und eines andern Tages blieb auch er aus; und seitdem suche ich im ganzen Tiergarten die beiden verschlungenen Bäume, die einst Philemon und Baucis waren.

Und hier auf einmal, wo der schmale Baumgang nach der breiten Tiergartenstraße sich öffnet, bin ich mitten unter der Jugend, die jetzt, wenige Minuten vor acht, in hellen Haufen zur Schule strömt. Aus dem Morgenrot tritt die Sonne heraus und beleuchtet mit ihrem ersten goldnen Strahl diese fröhliche Schar, die sich wie eine kleine Armee dem gemeinsamen Ziel entgegenbewegt. Und hier unter ihnen, mit so manchem halbvergessenen Wort aus halbvergessenen Büchern, das ich erhasche, werden die alten, glücklichen Erinnerungen wach, von der rosenfingrigen Eos und dem vielgewandten Odysseus – und da, wahrhaftig – es sind die Verwandlungen des Ovid, Buch acht, Vers 616 – es ist die Geschichte von Philemon und Baucis, die der eine Junge dem andern abhört:

Während um beider Gesicht schon wuchs in die Höhe der Wipfel,
Wechselten Worte sie noch, so lange sie konnten, und sprachen
Beide zugleich: »Leb wohl, o Gemahl!«

Es ist gut, daß ich nicht weit mehr von Hause bin. Vom Turme des Kirchturms herab schlägt es acht, und vor der Routine des Tages verblaßt die Poesie der frühen Leute. Die Briefträger machen die erste Runde; die Herren Barbiere sind in vollem Trab; die gelben Wagen des heiligen Stephan, die braunen der Paketgesellschaft, die dunkelgrünen und olivenfarbenen des Magistrats, des Kammergerichts und der Ministerien beginnen ihren Dienst, mit unleidlichem Rasseln sausen die Metzgerwagen um die Ecken herum, und das melodische »Kooft Sand! Sand! Sand!« klingt hinter ihnen her.

Bei diesem Rufe pflegt Berlin sich aus dem Schlafe zu erheben; aber wenn diejenigen, die sich jetzt, noch verdrießlich von dem letzten Souper, die Augen reiben, wenn sie wüßten, welch auserlesene Genüsse diese erste Stunde des Wintertages in sich birgt, vielleicht daß sie's auch einmal versuchten, und wär es auch nur, weil der Morgenkaffee und die Morgenzigarre wahrscheinlich in ganz Berlin niemandem besser schmeckt als uns, den frühen Leuten!


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