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Kein Schiff hatte sich jemals freiwillig in den Bereich der finster drohenden Felsenküste gewagt, die sich in meilenweiter Erstreckung erbarmungslos dem wütenden Ansturm der Wogen des nordatlantischen Ozeans entgegentürmte und sie zu machtlosen Gischtwolken zerschmetterte. Selbst die glühende Augustsonne vermochte nur selten den feuchtkalten Nebelschleier zu durchdringen, der trügerisch die Klippen verhüllte.
Etwa ein halbe Meile vor dieser Küste zog sich wie ein Schutzwall eine Reihe kleiner inselähnlicher Felsenriffe, deren einige, fast immer von den Fluten überspült, wie unsichtbare Dämonen der Tiefe den Schiffen sicheres Verderben brachten, während andere kahl und scharf wie Lanzenspitzen gen Himmel sprangen, den wütendsten Orkanen und Fluten zum Trotz. Weder Gras noch Baum oder Strauch verhüllte die Zackenriffe der Klippenfront, aber jahraus, jahrein, Sommer und Winter, Tag und Nacht lärmten kreischend Myriaden von Seevögeln um die Schroffen.
Auf einer Klippe erblickte der junge Seehund zum ersten Male das mystische Licht seiner nördlichen Heimat. Von all der Jugend dieser Einöde war er wohl der gewinnendste in seinem weißen, dunkelschattierten, wolligen Röckchen, dem runden Babykopf mit den dunklen, sanften Lichtern, die verwundert und weit aufgerissen alles und jedes betrachteten, was sie von der Klippe am Meer aus erspähen konnten. Er lag für gewöhnlich durch eine vorstehende Felsnase halb verdeckt und von dem Gestein, das sein Lager bildete, kaum zu unterscheiden. Er fühlte aber auch nicht das geringste Bedürfnis, die öffentliche Beachtung auf sich zu lenken, denn drohend streiften bisweilen die Schatten großer Seeadler das Felsriff oder es zogen Eisbären an ihm vorüber auf ihrer Wanderung nach Süden.
Die unzähligen Möwen, Meeresschwalben und Alken aber, deren unaufhörliches Gekreisch in den Klippen wiederhallte, kümmerten sich nicht um das kleine Tier da unten, sie kannten es ja und seine Stammverwandten und wußten, wie harmlos sie waren.
Den kleinen Seehund dagegen interessierten die lärmenden Vögel sehr. Aber nicht nur sie. Mit unermüdlicher Neugierde staunten seine milden Lichter in die Welt. Das Meer unmittelbar zu Füßen seines Felsen konnte er nicht sehen, aber weiter draußen sah er das Spiel der Wogen und fühlte sich seltsam zu ihm hingezogen. Ob sie bleiern und dunkel drohend unter regenschweren Wolkenmassen dahinrollten oder in den seltenen Strahlen der Sonne grünlich schimmerten, er liebte sie und empfand ihre Nähe mit Entzücken. Doch auch der Himmel erregte freundlich seine Sinne. Da trieben weiße Cirruswölkchen durch die Unendlichkeit seiner dunkelblauen Tiefe, und wenn die Dämmerung kam, schossen plötzlich wunderbar leuchtende Strahlen hinter dem dunklen Gezack der Klippenkette hervor und falteten sich wie ein Riesenfächer über das ganze Firmament aus.
Ja, er lag oft einsam oben auf seiner Klippe, der junge Seehund, während die Mutter draußen auf Fischfang war. Viele Fische gehörten dazu, ihren gewaltigen Hunger zu stillen, und die kräftigste Kost war nötig, ihr rotes Blut in der Eiseskälte der arktischen Strömungen warm zu erhalten. Wohl gab es reichlich Fische längs der Küste – die Natur schien mit der Fruchtbarkeit der Meerestiefen für die wilde Einöde über den Wogen entschädigen zu wollen – aber die Fische waren schnell und vorsichtig und nur ausdauernder List erreichbar. So mußte der junge Seehund oft lange hungern, ehe die Mutter zurückkehrte. Doch wenn sie dann endlich kam, den Felshang hinaufwatschelnd, und mit dem runden, feuchtschimmernden Kopf hinter der Felsnase einen Augenblick hervorlugte, dann kannte das Entzücken des kleinen Wollhäufchens keine Grenzen. Aber es war nicht nur die nahende Befriedigung seines Hungers und nicht nur die Zärtlichkeit der Mutter nach so langer Einsamkeit, die ihn in der Nähe ihres von salziger Nässe glatten Körpers durchschauerte, sondern eine dunkle Ahnung des freien Lebens in den endlos bewegten Weiten des ewigen Meeres.
Eines Tages, als er schon etwas älter geworden war und nach der unmittelbar reizenden, lichten Außenwelt nun auch die Schatten seiner nächsten Umgebung zu untersuchen begann, entdeckte er ein graues Etwas, das weiter im Hintergrund auf der anderen Seite der Klippe lag. Er hatte bisher noch nicht bemerkt, daß die Klippe zwei Familien beherbergte. Mit unbeschreiblich liebevollen Blicken lugte er zu dem kleinen, eben entdeckten Nachbar hinüber und traf auf einen nicht weniger freundlichen Blick. Da erhob er sich auf die kleinen Flossen und hoppelte mit ungeheuren linkischen Anstrengungen zu ihm hinüber. Und schon nach wenigen Minuten kugelten beide in größter Zufriedenheit übereinander.
So fand sie die zu ihren häuslichen Pflichten zurückkehrende Mutter des kleinen Fremden. Sie war kleiner und jünger als die andere, hatte aber die gleichen gütigen Augen und den gleichen salztriefenden Rock wie diese. Und als ihr Junges nun zu ihr hin stolperte, um gesäugt zu werden, kam auch das andere vertrauensselig angewatschelt, um auch die Muttermilch mit dem eben gewonnenen Freund zu teilen. Die junge Mutter zog sich jedoch ärgerlich grunzend von ihm zurück, doch das Junge drängte sich mit einer solchen Beharrlichkeit nach seinem Ziel, daß es schließlich seinen Willen bekam. Und als nach einer halben Stunde seine eigene Mutter heimkehrte, gesellte sie sich, ohne nur einen Moment zu zögern, zu der kleinen Gruppe, und hinfort ward die Klippe der Sitz der friedlichsten Muttergemeinschaft.
Ein oder zwei Wochen später war die Insel in zauberhaften Sonnenfrieden gehüllt. Am Rande der in der Ebbe zurückgewichenen Brandung lagen die Seehunde und badeten sich in der Sonnenglut. Die Möwen lärmten in leidenschaftlicher Lebensfreude und stritten spielend um die besten Beutestücke ihrer Fischzüge. Das Meer schillerte in den seltensten Farben des Opals und Saphirs, und selbst die schwarzen Klippen hüllten ihre schroffen Flanken in weiches, wallendes Luftgewebe. Es war eine Zeit köstlichster Trägheit, wollüstigen Sichgehenlassens. Vergessen schien alles Unheil – und gerade jetzt sollte das kleine Herz des jungen Seehundes die ersten Schauer der Furcht empfinden.
Er lag neben seiner Mutter, etwa zwölf Fuß außerhalb der Höhle. Wenige Schritt von ihnen entfernt rollte sich sein kleiner Lagergenosse in den warmen Sonnenstrahlen. Er war im Augenblick ganz allein, denn seine Mutter hatte sich voll Vehemenz den Abhang hinabgestürzt, nach einem von den Wellen an Land geschwemmten verwundeten Fisch. Doch kaum war sie an den Rand des Wassers gelangt, als ein heller Schatten über die Felsen glitt. Blitzschnell schwang sie sich herum und mühte sich in überstürzter Eile den Abhang wieder hinauf. Doch zu spät! Sie sah, wie die anderen Weibchen sich schützend über ihre Jungen warfen, die Köpfe mit entblößten drohenden Fängen gen Himmel gerichtet. Nur ihr eigenes Junges lag hilflos in der hellen Sonne und blickte verwundert auf den Tumult um sich herum. Als es die heranstürzende Mutter bemerkte, hob es sich schnell und freudig quiekend auf die schwachen kleinen Flossen, um ihr entgegenzuwackeln. Doch schon rauschten furchtbare Schwingen über ihm, ein Windstoß streifte seinen Hals und im nächsten Moment senkten sich ihm zwei riesige Fänge eisern in Nacken und Rücken – mit ersticktem Wimmern erlosch das winzige Leben. Gleichmütig hob sich der Adler wieder in die Lüfte und zog, von dem heiseren Gebell der wütenden Robben gefolgt, über die Bucht den dunkel herüberdrohenden Klippen zu. Sein kleines Opfer hing leblos in den riesigen Krallen. –
Das andere Junge – so unmittelbar von den Schwingen des Todes gestreift, wich in den nächsten Stunden nicht von der Seite der Mutter. Er war nun der Liebling zweier Mütter geworden; denn die Beraubte wandte ihre ganze Aufmerksamkeit und Liebe ihm zu. Bei solcher Pflege und reichlicher Nahrung gedieh er zum prächtigsten aller Seehunde der Insel. Der Schreck war bald von ihm gewichen, hatte aber eine instinktive, nimmer rastende Wachsamkeit zurückgelassen.
Nicht lange nach diesem unglücklichen Ereignis begann der Pelz des jungen Seehundes sich zu verändern. Ein straffer, dicht anliegender Unterpelz erschien und stieß die wolligen, feineren Haare ab. In erstaunlich kurzer Zeit schon glich er ganz seiner Mutter in dem gelblichgrauen mit unregelmäßigen schwarzen Flecken übersäten Rock, nur am Unterkörper war die Farbe ein reines, ungetöntes Gelbgrau. Und jetzt endlich geleitete ihn seine Mutter zum Rande des Wassers hinab, wohin er niemals früher hatte gehen dürfen.
So sehr er den Anblick der Wellen und ihren salzigen Geschmack geliebt hatte – als ihn nun die ersten spülenden Wellen unheimlich kühl und lebendig berührten, fuhr er erschreckt zurück. Schleunigst machte er kehrt und zog sich auf den sicheren Felshang zurück. Die kürzlich ihres Jungen beraubte Mutter schwamm einige Fuß nur vom Ufer entfernt und lockte mit sanften Rufen. Er wäre gern zu ihr geeilt – aber ängstliche Beklemmung hielt ihn zurück. Da entschied die Mutter das peinliche Dilemma. Mit ihrer runden Schnauze stupste sie den unentschlossenen Sohn ganz unzeremoniell mitten in das tiefe Wasser hinein.
Sofort kam er wieder hoch – äußerst erschreckt – fand aber sofort, daß er sich im Wasser leichter und natürlicher bewegen konnte als am Ufer. Und diese neue Entdeckung benutzte er, um so schnell wie nur irgend möglich wieder ans Ufer zu kommen. Doch welche Enttäuschung! Die am Rande des Wassers seiner harrende Mutter wies ihn unbarmherzig wieder hinaus, er schwamm wieder zurück und – nach wenigen Minuten der ersten Verblüffung fühlte er voll Entzücken, daß er endlich sein wahres Lebenselement gefunden. Hier gehörte er her und nicht auf die Felsen, wo er so hilflos herumgestrauchelt war. Er schwamm, tauchte unter und schoß wie ein Fisch dahin, von einem wunderlichen Freudenrausch erfaßt. Nun kehrte er nur selten nach der Klippe zurück, sondern schlief dicht an der Seite der Mutter oder seiner alten Freundin auf dem offenen Felshang oberhalb der Flutgrenze.
Es dauerte nicht lange, so kam der Herbst mit seinen Wettern und Stürmen. Schnee und Hagel trieb aus dem Norden hernieder und lag in dicken Schichten auf den flachen Stellen der Insel.
Es schien, als ob der Sturm die Insel zerreißen wolle, und die schwarzen Wogen tobten mit ihm um die Wette. Dem Schneegestöber auf dem Fuße folgte die Vorhut der arktischen Kälte. Sofort erstarrten alle von den Fluten hinterlassenen Tümpel zu Eis.
Ganz im Gegensatz zu ihren Stammverwandten, den »Harps« und den »Hoods« fühlten sich die Seehunde schon nach einer Woche dieses Stürmens und Treibens unbehaglich und, einem plötzlichen Impuls folgend, zogen sie in einer Herde von etwa zwanzig Tieren nach Süden. An ihrer Front unser junger Seehund zwischen seinen beiden Müttern.
Sie hielten sich etwa eine halbe Meile vom Ufer entfernt, folgten aber immer dem Zug der wüst tosenden Küste, wo sich im seichten Gewässer die zahlreichen Fische aufhielten, die sie zur Wanderzehrung brauchten. Mit der Schnelligkeit eines Motors schossen die schlanken, glatten runden Körper voran. Jeder, sich keilartig nach hinten zuspitzend, schien ein geschmeidiges, mit Energie geladenes Muskelbündel.
Mochte das Wetter die Küste peitschen, in der schwarzen Tiefe der gigantischen Wellentürme war immer Schutz vor dem Pfeifen der Winde, herrschte eine Stille, in der auch die Möwen sich einen Augenblick ausruhen konnten von den Erschütterungen ihres Sturmfluges. Während der Aufruhr die Wellengipfel zerriß und ihre Kronen zu peitschendem Sprühregen zerfetzte, schlüpften die Seehunde dicht unter diesen gefolterten Regionen dahin oder sie tauchten hinab in stille Dämmerung, wo nur noch vorübergleitende grünliche Schatten von dem Toben in der Höhe Kunde gaben. Seltsam phosphorisch leuchtende Gestalten wankten dort umher oder hafteten regungslos zwischen den stillen, starren Felsen. Es war den Seehunden ein leichtes, sich hier tief unter der sturmgepeitschten Oberfläche zu halten, denn länger als jedes andere Tier roten Blutes, mit Ausnahme der Wale, können sie den Sauerstoff entbehren, wenngleich keines von ihnen die Meerestiefen je gesehen, die der Wal mitunter aufzusuchen pflegt.
Lücken in der Küstenlinie, die Anfang und Ende einer Insel verrieten, führten den kleinen Emigrantenzug öfter in Versuchung, zwischen diesen engen Uferbänken landeinwärts zu schwimmen, und so drangen sie hin und wieder in stille Buchten vor. Dort spielten sie dann oder jagten den Lachs, ihre Lieblingsspeise, aus den seichten Wassern. Eine Woche wohl waren sie nach Süden gewandert und schließlich in eine Bucht gelangt, wo die Wellen sanft einen weichen, sandigen Strand umspielten. Hier war es schon milder. Eine halbe Meile landeinwärts spürten sie nichts mehr von den scharfen Winden, und in stiller Zufriedenheit lagerten sie sich unter nächtlichem Himmel zu kurzer Rast am Rande des Wassers. Nicht weit von ihnen zog sich dunkler, dichter Tannenwald. Doch sie kannten jetzt fern von dem nördlichen Jagdgebiet ihres erbittertsten Feindes, des Polarbären, keine Furcht, und auch vor dem Ueberfall der Adler, die ihre Jungen bedrohten, fühlten sie sich jetzt im Schutze der Nacht geborgen.
Von dem kleineren, rostfarbenen, breitköpfigen Stammverwandten des Polarbären in Labrador aber ahnten sie nichts.
Eng zwischen seine beiden Mütter gekuschelt, lag friedlich schlummernd der kleine Seehund. Er liebte die Wärme des Zusammengedrängtseins, zumal vom Wasser herauf eine leichte, vom Frost geschärfte Brise wehte. Man kann aber zuweilen auch etwas zu eng liegen. Er erwachte und drängelte protestierend nach beiden Seiten, um sich etwas mehr Platz zu schaffen. Dabei hatte er den Kopf erhoben, und plötzlich waren seine scharfen Augen auf ein schwärzliches Etwas gefallen, das wie ein wandelnder Felsblock zwischen dem Wasser und dem Gehölz daherkam. Ein Schreckschuß des Verstehens fuhr ihm durch das Rückgrat und in der gleichen Sekunde sträubten sich die steifen Nackenhaare. Mit kurzem schrillem Alarmschrei riß er sich hoch und stürzte dem rettenden Wasser zu.
Sofort warf sich auch der Bär den Abhang hinab, unaufhaltsam niedersausend wie ein Bergrutsch. Die Seehunde – alle leichte Schläfer – waren erwacht und ruderten in wildem Durcheinander nach dem Wasser. Nur für einen kam der Alarm zu spät, für die Mutter des jungen Seehundes. Gerade als sie sich hochriß, verwirrt und ungewiß, stürzte der Bär über sie her, warf sie nieder und ein schrecklicher Schlag auf die Schnauze zerschmetterte ihren Schädel. Eine leblose, bebende Masse lag sie am Boden, während die übrigen laut platschend sich ins Wasser retteten und lautlos davonschwammen. Der Bär aber schüttelte den leblosen Körper seines Opfers hin und her, um sich zu vergewissern, daß es auch wirklich tot sei, dann schleppte er es zufrieden brummend in den dichten Tannenwald.
Aus ihrer Sicherheit aufgeschreckt, wählten die Seehunde nach dieser Schreckensnacht die rauhen, unwirtlichen Klippen und Felseninseln zu ihrer Ruhestätte, doch wenn sie die Lust ankam, suchten sie voller Vorsicht auch weiter gern die stillen Buchten auf.
Ihre Reise verlief bei aller Wachsamkeit sorglos und freudig, ja, ihre Lebenslust machte sich öfter in endlosen Spielen Luft, dann tummelten und haschten sie einander wie Kinder. Doch nichts hielt ihren Zug nach Süden auf, und als sie in die Belle Isle-Straße einbogen, befanden sie sich plötzlich unter blauem Sommerhimmel. Hier – unter der Führung eines alten erfahrenen Seehundes, der der südlichen Wanderung schon oft gefolgt war – verließen sie die Küste von Labrador und durchquerten furchtlos die Wasserstraße, bis sie die Küste von Neufundland erreichten. Dieser folgten sie westlich bis zum St. Lorenz-Golf und wandten sich dann wieder nach Süden. Dann zogen sie längs der Südwestküste der »Province«-Insel, die in den amethystfarbenen Lichtern des Altweibersommers spielte, und durchquerten Gewässer, in deren üppigem Fischreichtum sie schwelgten, bis sie fett und schwer und träge wurden. Hier behagte es dem kleinen Seehund und anderen seiner jungen Gefährten. Gern wären sie geblieben, doch die älteren Tiere wußten, daß der lange Winter mit schneidendem Frost, kargen Sonnenblicken und dem Höllenkonzert ächzender, dröhnender Eisschollen auch hier bald einziehen würde. So wurde die Reise fortgesetzt. Weiter drängten sie durch den breiten Torweg des Golfs, vom Kap Ray bis zum Kap North, dem östlichsten Punkt von Neu-Schottland. Gutes Wetter begleitete sie, und gemächlich fröhlich zogen sie dahin, bis sie die Myriaden von Inseln in der Bucht von Tusket nahe der westlichen Spitze der Halbinsel erreichten. Hier gab es unzählige unzugängliche Zufluchtsorte, Nahrung in Hülle und Fülle und mildes Wetter. Hier blieben sie.
Und gerade hier, draußen vor den Tuskets, sollte der junge Seehund erfahren, daß nicht nur vom Land, wie er bisher geglaubt, ihm und den Seinen Gefahr drohte.
Es war an einem stillen Herbstmorgen, blau und klar wölbte sich der Himmel, und Luft und Wasser schienen von den Reflexen der Sonne erfüllt. Die Seehunde lagen an der Küste der äußersten Inseln in der Sonne, nur einige wenige der Jüngeren tummelten sich spielend im Wasser. Erschöpft hielt unser Seehundjunges inne, es hatte unten zwischen dem Seetang einen harten Ringkampf ausgefochten und mußte Luft schöpfen. Da fielen seine Augen auf ein schmales, graues, dreieckiges Etwas, das im Herankommen blitzschnell die weichen Wellen teilte. Plötzlich entstand erregtes Hin und Her, und scharfe Warnungsschreie gellten vom Ufer herüber. Schnell tauchte der Seehund weg im rechten Winkel zur Annäherungslinie des unheilvollen Wesens. Doch im selben Moment schon sah er die schreckliche graue Erscheinung, dreimal größer von Gestalt als er selbst, auf sich zuschießen. Sie hielt den Körper etwas zur Seite geneigt, so daß der weißliche Bauch sichtbar war und öffnete ihm einen gräßlichen, mit dem reinsten Sägewerk bewaffneten Schlund entgegen. Mit einer schnellen Wendung entging er, wenn auch nur um Haaresbreite, dem heranschießenden Ungeheuer, doch das Schnappen der gräßlichen Fänge, der giftige Blick der bösen kleinen Augen ließ ihn in panischem Schrecken verzweifelt hierhin und dorthin schießen. Der Hai schien einzusehen, daß er gegen diese Geschicklichkeit nicht aufkommen könne, denn er wandte sich plötzlich dem Ufer zu, wo er eine leichtere Beute erspäht hatte. Dort mühte sich nämlich ein junger Seehund, vor Entsetzen ganz kopflos, das Ufer hinauf, anstatt in der Tiefe des Wassers seine Rettung zu suchen. Eben zog er noch die schmalen, schwanzartigen Hinterflossen nach und hatte sich beinahe schon in Sicherheit gebracht, als plötzlich der große runde Schlund des Hais aus dem Wasser sprang und mit ihm aufplatschend dahin zurückfiel. Rote Blutspritzer verrieten am Rande des Felsens das Werk dieses gräßlichen Augenblicks. Die anderen Robben stießen wild mit den Köpfen, sprangen auf ihren Vorderflossen hin und her und bellten ihre Erregung gen Himmel. Nach wenigen Minuten aber zogen sie sich eilig nach einer der inneren Inseln zurück. Hierhin folgte der Hai ihnen nicht, denn er haßte seichtes Wasser.
In diesem Archipel hätte das kleine Seehundvölkchen gewiß den Winter über in Frieden leben können. Doch schon nach wenigen Wochen überkam ihren alten bisher unbestritten anerkannten Führer wieder der unwiderstehliche Drang nach Süden. Diesmal und zum ersten Male versagte jedoch seine Autorität. Kaum die Hälfte der kleinen Gruppe folgte ihm, doch auch unser junger Seehund gehörte den Getreuen an, ebenso wie seine mildäugige Mutter.
Sie umschwammen die äußerste Spitze Neu-Schottlands, kreuzten die Fundy-Bucht und hielten sich einige Tage in der Nähe der Vorgebirge von Grand Manan. Eines Tages, der junge Seehund hatte sich in lebensprühendem Uebermut etwas weit von der Herde entfernt, sah er sich plötzlich dem schwarzen Rumpf eines Fischerbootes gegenüber, das in träger Schwere auf den Wellen schaukelte. Erschrocken tauchte er unter, um sich eine sichere Nachbarschaft zu suchen, als er – o Glück ohnegleichen – sich plötzlich mitten in einer Heringsschule befand. So etwas war ihm doch noch nie passiert. Nicht weniger aufgeregt als die wild durcheinander stiebenden Tiere jagte er voll gieriger Lust um sich schnappend durch die Masse hindurch, rechts, links, mordete mehr, als er fressen konnte, bis er des Treibens müde aus dem Schlaraffenland, dessen Ueberfluß ihn schier zu erdrücken schien, wieder auftauchen wollte. Doch was war das? Unsichtbare Mächte hielten ihn, stießen ihn zurück. Verwirrt schoß er gerade in die Höhe – an die Oberfläche – Entsetzen! – direkt unter zwei kühne, blaue Menschenaugen, die über den dunklen Rand eines Bootes blickten. Er war einen Moment wie erstarrt, dann aber tauchte er mit Blitzesschnelle, sank mitten in den ihn immer unheimlicher umdrängenden Fischschwarm. Wohin er sich in seiner Verzweiflung aber auch wandte, immer warfen ihn – jetzt sah er es deutlich – kaum sichtbare, durcheinanderlaufende Fäden zurück. Voller Todesangst stürmte er gegen sie an, um die Mauer zu durchbrechen, doch je wilder er kämpfte, sich wand und zappelte, je enger schlossen sich die Fäden um seinen Körper bis er schließlich die Flossen nicht mehr rühren konnte. Um ihn herum wimmelte es von Myriaden panikgeschlagener Fische. Plötzlich fühlte er sich hochgezogen – über die Wasserfläche – in das Boot hinein.
Als die Fischer den Schaden in ihrem Netz besahen, hätten sie der »verflixten Robbe« am liebsten den Garaus gemacht. Doch wie sie so vor ihnen lag und mit ihren sanften unschuldigen Augen verwundert und hilflos durch die Maschen des Netzes schaute, faßte der Kapitän nach dem todbringend geschwungenen Arm des Bootsmannes. »Halt Jim! Hol's der Teufel, das Kerlchen hat Augen wie ein Mensch! Es verdient ein besseres Los! Ein schöneres Geschenk kann ich meiner kleinen Libby gar nicht heimbringen, obgleich sie sich eigentlich einen Kanarienvogel gewünscht hat. Vorwärts Jungens! Wickelt das Tier aus dem Netz!«
Nun war Miß Libby zwar noch ein Kind, doch hatte sie schon die bestimmtesten Ansichten, die sie mit Entschiedenheit vertrat. Und so wollte sie den kleinen Seehund mit seiner unmelodischen Stimme keinesfalls als Ersatz für den versprochenen Kanarienvogel gelten lassen. Einmal enttäuscht, mochte sie das Tier erst überhaupt nicht ansehen, langsam aber gewann es durch den Blick seiner sanften Kinderaugen und durch häufige Beweise ahnungslos liebevoller Gesinnung doch ihr Herz. Freundlich ging sie auf seine Wünsche ein und lachte über die drollige Ungeschicklichkeit des beweglichen Kleinen. Ja, manchmal strich sie ihm sogar verstohlen zärtlich über den glatten, runden Kopf, aber niemals wollte sie gestehen, wie gern sie ihn eigentlich hatte, trotz seiner häßlichen Flossen und seiner rutschenden, grotesken Bewegungen.
Auch Libbys Mutter konnte anfangs zu dem neuen, wunderlichen Haustier keine Zuneigung fassen. Nach ihrer Meinung und nach ihrer Naturgeschichte war der junge Seehund ein Fisch, und das ließ sie sich nicht ausreden.
»Das sieht dir ähnlich«, zankte sie mit ihrem Mann. »Als ob man nicht den ganzen Tag, jahraus, jahrein nichts weiter sieht und hört als Fische! Nein! Da mußt du erst noch einen lebendigen Fisch ins Haus schleppen, damit er einem überall herumrutscht und man auf Schritt und Tritt über ihn stolpert! Und was soll er eigentlich zu fressen bekommen, möchte ich wissen?«
»Er frißt Fische, Mutter, ist aber selbst kein Fisch, ebensowenig wie du und ich«, grinste der Kapitän. »Aber er soll dir keine Minute länger im Wege liegen, sondern im Hof seinen Platz bekommen. Ich werde das große Melasse-Faß draußen eingraben und mit Meerwasser füllen. Da kann er drin spielen. Er ist wirklich ein lustiger kleiner Kerl und sanft wie ein Kätzchen.«
»Nun gut. Aber daß du es weißt! Ich will nichts mit ihm zu tun haben!« erklärte Mrs. Barnes mit Nachdruck. Und so kam es, daß der junge Seehund des Kapitäns erklärter Liebling wurde.
Der Familie Barnes gehörten noch zwei weitere wichtige Mitglieder an: eine große, gelbe Katze und Toby, ein kleiner, wirrhaariger, blaugrauer Skyeterrier. Kaum hatte die Katze den Seehund erblickt, so saß sie mit einem Sprung oben auf der Küchenanrichte, fauchte und rollte den dicken buschigen Schwanz. Ihre Augen glühten wie grüne Vollmonde! Toby dagegen war dem sanftäugigen Fremdling gastlich entgegengekommen. Furcht kannte er nicht, und im übrigen liebte er es, einen Unterschied zwischen sich und der Katze zu veranschaulichen. Mit seinem langhaarigen Schwanzstummel freundlich wedelnd näherte er sich dem Seehund und beschnüffelte ihn mit gefälliger Neugierde. Und der Seehund, dessen einsames Herz sich schon lange nach Kameradschaft sehnte, begegnete seiner Annäherung mit inniger Wärme. Von nun ab waren beide die besten Freunde.
Doch es dauerte nicht allzu lange, so betrachteten auch Mrs. Barnes und die große gelbe Katze den Fremdling zwar aus der Ferne, aber mit einem gewissen Interesse. Besonders wenn er auf dem Hofe mit Toby Ringkampf spielte, der immer damit endete, daß sich der gutmütige Seehund auf den Rücken wälzte, während Toby mit aufgeregtem Gekläff ihm triumphierend zwischen die Vorderflossen sprang. Dann pflegte sich die gelbe Katze auf einen Holzhaufen in der Nähe zu hocken und dem Vorgang mit intensiver, wenngleich reservierter Aufmerksamkeit zu folgen.
Mrs. Barnes aber trat aus der Küchentür, lockte den Seehund herbei und gab ihm köstliche, warme Milch zu trinken. Freilich geschah das nur, wenn Libby in der Schule und der Kapitän auf See war. Dann ließ sie sich auch gern im Schaukelstuhl am Fenster nieder, nahm ihr Strickzeug und beobachtete die beiden beim Spiel, nicht ohne immer wieder über den wunderlichen kleinen Seehund in tiefe Grübeleien zu versinken.
»Wenn man sich recht überlegt«, pflegte sie dann vor sich hin zu sinnen, »daß ich hier Tag für Tag sitzen kann, um eine derartige Kreatur zu beobachten. Und ein Fisch ist er doch, sage ich, wenn er auch um das Haus herumrutscht und wie eine Katze Milch trinkt. Es ist kaum zu glauben.«
Als endlich der atlantische Winter die Küste heimsuchte, sie mit scharfen Frösten schlug und mit Sturm umpeitschte, kehrte Kapitän Ephraim zu langem Aufenthalt heim in seine gemütliche warme Hütte. Während eines Aufenthaltes in New York hatte er einmal dressierte Seehunde gesehen und ihre Intelligenz mit Staunen erkannt. So machte er es sich während der langen müßigen Winterabende zur Aufgabe, dem jungen Seehund allerlei Kunststückchen beizubringen. Angespornt durch reichliche Belohnung in Gestalt von frischen Heringen und warmer Milch, lernte das Tier so schnell, daß der begabte Toby bald überholt war. Bald verfügte der Seehund über ein ganzes Repertoire hervorragender Kunststückchen, die ihn zum »Stern« einer jeden Truppe gemacht hätten. So konnte er zum Beispiel mit zwei an die Vorderflossen gebundenen Zinntellern gegen einen Eimer schlagen, was dann ein Konzert ergab, vor dem Hund und Katze in schleuniger Flucht das Zimmer räumten und das den Künstler selbst am meisten erschreckte. Aber dies war nur der instrumentale Teil. Bald hatte der Seehund auch gelernt, seinen Kopf himmelwärts zu richten und, während er mit den zwei Tellern den Eimer bearbeitete, lange, tiefmelancholische Töne auszustoßen. Dies war Vokalmusik und der Kapitän meinte, zu Libby gewandt, daß der Seehund nun doch als Ersatz für den Kanarienvogel gelten könne.
Gegen Ende April sollte des jungen Seehundes Geschick sich wenden. Kapitän Ephraim war das Kommando eines hübschen, kleinen Schoners übertragen worden, der auf Dorschfang nach den »Grand Banks« auslaufen sollte. Er verkaufte deshalb sein kleines Anwesen bei Eastport und brachte seine Familie nach Gloucester, Massachusetts. Dabei fiel ihm recht schwer aufs Herz, daß Gloucester ja kein Aufenthaltsort für einen Seehund war, und so verkaufte er ihn zu einem recht tröstlichen Preis dem Agenten eines Tierzüchters. In der schmerzlich-stolzen Hoffnung, daß er einmal der Clou im »Sheperd's Bush« oder »Earl's Court« werden würde, ließ ihn die Familie Barnes ziehen. Bald war er auf einem Frachtdampfer nach Liverpool unterwegs und der bevorzugteste und beliebteste aller Passagiere. So ging alles gut, bis das Schiff sich von dem Kap Race, Neufundland, abwandte und die verräterischen, unversöhnlichen Klippen des Vorgebirges ihrem Rufe Ehre machten. Während eines wütenden Südwest wurde das Schiff an die Küste geschleudert. Kaum vermochte sich die Mannschaft in Booten zu retten, ehe es in tausend Stücke brach.
Plötzlich, während ihm eine leise Erinnerung dämmerte, befand sich der Seehund wieder mitten in den rollenden Wogen des Atlantischen Ozeans, seiner herrlichen, kühlen Heimat. Das erste Land, das er erblickte, war ein hoher, massiger Felsen, der, wie er bemerkte, eine Insel war. Als er um sie herumschwamm, schoß er mitten in eine kleine Herde Stammverwandter. Freudig näherte er sich ihnen, und die Fremden, meist Weibchen und ihre Jungen begegneten ihm mit gutmütiger Gleichgültigkeit. Doch einer der Herde, ein großer, ausgewachsener Seehund, der sich anscheinend als Oberhaupt fühlte, knurrte ihn an und zeigte die Zähne. Höflich ging ihm der junge Ankömmling aus dem Wege, erkletterte das Ufer und legte sich neben zwei freundliche Weibchen etwa zwanzig Fuß oberhalb der Brandung. Der alte Seehund aber kam über den Felsen herübergerutscht, jagte die beiden Weibchen barsch ins Wasser und stürzte sich mit der ganzen Wucht seines schweren Körpers auf den Fremdling. Doch da kam er an den Falschen! Ein rötlicher Funke blitzte in dessen Lichtern auf. So jung er war, er kam seinem Gegner an Größe gleich, und dank seiner Dressur war er hier auf dem Lande doppelt so geschickt wie dieser. Als der Alte auf ihn zuschoß, wich er blitzschnell zur Seite und wieder herum. Dann faßte er den Alten an der Wurzel seiner Flossen und hielt wie eine Bulldogge fest. Da stieß der Alte einen hellen Schrei aus, und sobald der junge Seehund dies Zeichen der Unterwerfung vernahm, ließ er los. Eiligst verschwand sein Feind im Wasser. Der junge Seehund erhob, kräftig auf die Vorderflossen gestützt, sein rundes Haupt und blickte um sich. Friedlich und zutraulich lagen die Weibchen, die wieder an Land gekommen waren, in seiner Nähe. Ein dunkles Gefühl von Stärke und Macht durchbrauste sein Herz. Dumpf rollend sandte der Ozean Woge auf Woge aus seiner ewig bewegten Weite.