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Die ganze Nacht hatte der große, schneeweiße Hase unter einer jungen Tanne gekauert, von ihren niedrigen, dichten Zweigen, die ein kreisrundes Gehege um ihn bildeten, gegen den Sturm trefflich geschützt. Es stürmte mächtig und der eiskalte Regen, der herabpeitschte, gefror schon im Fallen. Unermüdlich hatte er während der Nacht die ganze Wildnis – Baum und Busch und selbst den Schnee auf Wiese und Lichtung – in einen dicken, harten, glasklaren Eispanzer gehüllt.
Regungslos zusammengekauert, vor einem unerwarteten Angriff durch seine langen feinen Löffel geschützt, hatte der Hase in tiefster Sicherheit geschlafen, denn in einer solchen Nacht wagte sich keiner seiner nächtlich schweifenden Feinde vom Lager.
Beim Morgengrauen hörte der Regen auf, und der Sturm legte sich. In der Stille schien die Kälte noch durchdringender zu werden. Am östlichen Horizont begannen Wolken aufzusteigen und eine dünne, eisige Lichtflut aus Safrangelb und zartestem Rosa ergoß sich über die schimmernde Oede. Gleichzeitig flammte die ganze Wildnis in einem lodernden Farbenspiel auf, das nicht das Feuer, sondern der Frost schuf. Opal und Kristall schien alles geworden, jeder Zweig, jeder Halm – eine leichtverletzliche spröde Traumherrlichkeit, die ein rauherer Windhauch klirrend vernichten konnte.
Vorsichtig kam der Hase unter seiner schützenden Tanne hervor. Ein dünner, vereister Zweig, den er trotz aller Behutsamkeit gestreift hatte, fiel rasselnd auf die gefrorene Schneedecke. Bei diesem Laut, der, so zart er an sich auch war, doch die Stille schrill zu zerreißen schien, machte der Rammler einen erschrockenen Luftsprung und landete erst mehrere Fuß von seinem Schlupfwinkel entfernt. Er glitt, zappelte und hockte endlich zitternd da, mit seinen großen Sehern nach allen Seiten zugleich spähend und mit der zuckenden Nase schnuppernd, während die Löffel sich ängstlich hin und her bewegten.
Doch keiner seiner Sinne vermochte eine nahende Gefahr zu melden; so wurde er mutiger, und es fiel ihm ein, daß er hungrig sei. Ganz in der Nähe ragten die Spitzen eines Birkenstämmchens aus dem Schnee hervor, sie waren im Winter seine Lieblingsnahrung. Vorsichtig hüpfte er über die glatte Fläche heran, setzte sich auf die Hinterläufe und begann zu knappern. Aber zu seiner bittersten Enttäuschung und Ueberraschung waren die Zweige und würzigen Knospen von einer fast zolldicken Eisschicht verkapselt, durch die sie deutlich sichtbar und verlockend blickten. Zweig um Zweig untersuchte und beschnüffelte er mit seiner feinen Nase, doch überall ward ihm der gleiche kalte Empfang. Immer und immer wieder umhoppelte er den verführerisch quälenden Busch, unfähig, seine fruchtlosen Versuche zu beenden. Schließlich, voller Verdruß, kehrte er der schnöden Birke seine Hinterseite zu und machte sich zu einer anderen, etwa fünfzig Ellen hinter der Lichtung liegenden, auf den Weg.
Plötzlich aber hielt er an, den Kopf unbeweglich halb zurückgewandt, jeden Muskel wie eine Feder bis zum äußersten gespannt. Irgendwo hinten im Gebüsch, das er eben verlassen, hatte sich etwas bewegt. Nur eine Sekunde, dann löste sich die Spannung. Mit einem wahnsinnigen Sprung setzte er durch das Gebüsch, daß die brechenden Eiskristalle hart auf die schimmernde Schneedecke klirrten. In panischem Schrecken raste er zwischen den schweigenden Bäumen dahin.
Da tauchte hinter den glasigen Zweigen in mächtigen Sätzen eine andere Gestalt aus, schneeweiß wie der flüchtende Hase, doch kleiner als dieser und nicht so schnell. Der kurzbeinige, schlanke und geschmeidige Körper bewegte sich, als sei er ein einziges Muskelbündel. Alles an ihm drückte unbeugsame Entschlossenheit aus, die über den Ausgang des Kampfes kaum einen Zweifel ließ. Die Grazie der langen, vorsichtigen Sprünge war unbeschreiblich. Der dreieckige Kopf mit kleinen, engstehenden Ohren lief in eine schwarze, sehr spitze Schnauze aus, deren dünne, hochgezogene Lippen weiße Fangzähne sehen ließen. Stechend leuchteten die Augen vor Blutdurst. So klein es auch war, lag doch etwas Furchtbares über dem winzigen Tier, und seine Verfolgung schien unabwendbar wie das Schicksal.
Ungefähr fünfzig Ellen lang hielt sich das Wiesel genau auf der Spur des Hasen. Dann bog es nach rechts ab. Es hatte seine Beute aus dem Gesicht verloren, doch kannte es dessen Art zu fliehen und wußte, er würde im Kreise laufen und irgendwann wieder am Ausgangspunkt erscheinen. So verschwand es zwischen den violetten Schatten und den rosagelblichen Lichtern des eisbedeckten Waldes.
Minutenlang lag die Lichtung leer, totenstill, während der herbe Glanz der Wintermorgendämmerung sie immer blendender überflutete. Auf einmal erschien der Hase wieder, diesmal jedoch an der entgegengesetzten Seite der Lichtung. Unentschlossen buckelte er mit kleinen, ziellosen und matten Sprüngen bald hierhin, bald dorthin, sichtlich unschlüssig und ohne Spannkraft. In der Mitte der Lichtung schien er plötzlich wie von blasser Panik zu erstarren. Er drehte sich einmal um sich selbst, duckte sich platt auf den nackten Schnee, zitternd und mit hervorquellenden Sehern, auf den Punkt des Waldes stierend, an dem er ihn soeben verlassen hatte.
Eine Sekunde später erschien der Verfolger. Er sah sein Opfer ihn erwartend, beschleunigte jedoch deswegen seinen Lauf nicht um das mindeste. Mit gleichmütiger Entschlossenheit kam das Wiesel näher. Nur seine Kinnladen öffneten sich und ließen das scharfe, blitzende Gebiß erkennen.
Ein einziger dieser fürchterlichen Sprünge noch, und es würde seinem Opfer an der Kehle sitzen. Da klagte der Hase und im gleichen Augenblick sank mit einem zischenden Laut ein dunkler Schatten hernieder. Mächtige Flügelschläge umbrausten ihn, stahlharte Fänge schnappten wie Klammern von hinten in sein Fell. Schon fühlte sich der Hase von der Erde gelüftet. Da klagte er zum zweitenmal. Doch jetzt begann er sich gegen den Angriff des Habichts krampfhaft zu wehren.
Aber es lag nicht in der Art des Wiesels, sich seine Beute wegschnappen zu lassen. Ein grausamer Mörder aus Gewohnheit und Lust auch ohne den Trieb des Hungers, schoß es, ein blendend weißer Pfeil, direkt in die wirbelnde Federwirrnis hinein.
Unter einem der Flügel, wo der Federpanzer am dünnsten war, schlug es seine spitzen Fangzähne ein, um einen Halt zu finden. Mit einem Schreckensschrei löste der Habicht seine Fänge aus dem Rücken des Hasen und krallte wie wahnsinnig nach dem Angreifer. Währenddessen gelang es dem Hasen sich loszuwinden und sich eilends, stark blutend, doch ohne ernstliche Verwundung, in Sicherheit zu bringen.
Trotz seiner gewaltigen Kraft und der zweifellosen Ueberlegenheit seiner Waffen, befand sich der Raubvogel doch in der ungünstigsten Lage. Das Wiesel, ständig seinen tödlichen Griff beibehaltend, hatte seinen Körper so zusammengekrümmt, daß es der Habicht mit seinen Fängen nicht zu erreichen vermochte. Wütend schlug er mit seinem scharfen Schnabel auf den Rücken seines Feindes ein, doch dessen zähe, elastische Muskeln widerstanden selbst dieser furchtbaren Waffe. Endlich gelang es ihm, den Schenkel des Wiesels zu packen und den zusammengerollten Körper zu strecken. Und nun schlug er seine Fänge tief hinein.
Dieser Griff war unwiderstehlich, doch nicht unmittelbar vernichtend. Das Wiesel drehte und wand sich unter dem schrecklichen Druck, doch es lockerte seinen Biß nicht. Mit gewaltiger Anspannung der Kiefer suchte es bis zu den edlen Teilen vorzudringen.
Es war ein stummes Ringen, nur die Flügelschläge des Habichts weckten einen sausenden Widerhall auf der glasharten Schneefläche und fegten dünne Zweige aus dem Gebüsch klirrend über die Kruste.
Weithin schallte der Laut durch die stille, farbenprangende Wildnis. Er drang bis zu dem Ohre eines streifenden Fuchses, der zierlich, auf Zehenspitzen, voller Vorsicht über die glatte Fläche dahinschnürte. Erwartungsvoll machte er kehrt in der Hoffnung, aus dem Streit seinen Vorteil zu ziehen und so zu dem gewünschten Frühstück zu kommen. Am Rande der Lichtung hielt er an und spähte durch einen Busch, um sich vom Stand der Dinge zu überzeugen, bevor er sich in das Unternehmen wagte.
Trotz dem verzweifelten Kampfe entdeckten die allsehenden Augen des Habichts doch die Umrisse des Rotrocks im Gebüsch. Mit rasendem Flügelschlag erhob er sich über den Schnee. Der Fuchs sprang ihm mit einem blitzschnellen Satze nach, umklirrt von Eisstücken. Er kam zu spät. Der große Vogel befand sich schon in der Luft, seine tödliche Beute an der Brust. Mühsam arbeitete sich der fliehende Habicht aufwärts, eine Baumspitze zu erreichen, um dort seinen nagenden Folterer unter dem Flügel abzuschütteln.
Der Fuchs, der die höchste Not des Habichts erkannte, hielt sich laufend unter ihm, indem er erwartungsvoll nach oben blickte.
Mit der ganzen tödlichen Verbissenheit seiner Rasse hatte das Wiesel nicht auf die Luftreise geachtet und wußte nichts von dem, was da unten vor sich ging. Seine glühenden Augen waren unter den Federn seines Feindes vergraben und seine Zähne verrichteten ihre furchtbare Arbeit.
Am Rande der Lichtung, unmittelbar über dem Gezweig einer jungen Birke, die Millionen farbiger Lichtpfeile in den Sonnenaufgang sandte, kam das Ende. Die Zähne des Wiesels hatten das wildklopfende Herz des Habichts erreicht. In einem purpurn quellenden Blutstrom stand es still.
Leblos stürzte der mächtige Räuber der Luft durch die flimmernde, klirrende Birkenspitze und schlug mit weit ausgebreiteten Flügeln schwer auf die harte Schneedecke, fast unmittelbar vor die Kinnladen des Fuchses. Aus der Federmasse tauchte blutbedeckt, triumphierend der boshafte Kopf des Wiesels auf.
Unverzüglich machte der Fuchs sich über den kleinen Sieger her, packte ihn beim Genick, durchbiß es mühelos und schleuderte den schmalen leblosen Körper abseits auf den Schnee. Er hatte keine Verwendung für das ranzige, faserige Fleisch des Wiesels, wenn eine bessere Kost sich bot. Dann zog er den Habicht dicht an den Stamm der jungen Birke und legte sich nieder, um ein behagliches Frühstück zu halten.