Wilhelm Heinrich Riehl
Ein ganzer Mann
Wilhelm Heinrich Riehl

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Drittes Buch.

Das Glück des Lebens und die Liebe.

Erstes Kapitel.

Im Wächterstübchen.

Am Vormittage des 7. August 1870 wimmelte es in den Straßen von Frankenfeld wie in einem Ameisenhaufen. Die Leute liefen auf und ab, fragten, erzählten, jubelten, drückten sich die Hände, umarmten sich; ein Haus ums andere begann zu flaggen, vor der Kirche stand eine Schar von Männern entblößten Hauptes und sang: »Nun danket Alle Gott«, und dazwischen dröhnten Böllerschüsse vom Plattenberg herüber, wo man aus drei alten Katzenköpfen Viktoria schoß.

Die Kunde von dem großen Siege unsers Heeres bei Wörth war eingetroffen.

Am Haderturm hatte sich ein dichtgedrängter Haufen gesammelt: dort stand das Siegestelegramm angeschlagen; Jeder wollte es lesen, Jeder machte seinem Jubel gegen den Nächststehenden Luft.

Ganz vorn stand eine Dame in Reisekleidern. Sie hatte ihr Notizbuch in der Hand und schrieb die Worte hinein, welche sie zugleich laut vor sich hin sprach: »2 Adler erbeutet, – 6 Mitrailleusen, – einige 20 Geschütze, – über 4000 Gefangene!«

Dann wandte sie sich um und rief gegen ihren Hintermann: »20 Geschütze! Die 20 Geschütze freuen mich am meisten!«

Dies sagend, sah sie dem Herrn ins Gesicht, prallte zurück und rief: »Herr Saß?« und dieser im selben Augenblicke: »Fräulein Aweling!«

»Welch ein glücklicher Tag!« jauchzte sie, und ergriff des Ueberraschten beide Hände und schloß sie in die ihrigen und ließ sie lange darin ruhen. »Zu solcher Stunde darf man seinen Freunden nicht bloß Eine Hand geben!«

Und darauf drängten sie sich hinaus aus der Menge, und Hermine wiederholte: »Welch ein glücklicher Tag!« und Saß stammelte: »Doppelt glücklich! – Aber wie kommen Sie hierher, mein Fräulein?«

In hastigen Sätzen antwortete sie: »Ich war in London. Als aber der Krieg erklärt wurde, als vor acht Tagen der Aufruf unsers Königs an sein Volk erschien, da duldete es mich nicht länger in der Fremde. In dieser großen Zeit gehört jeder Deutsche nur Deutschland allein. Ich will helfen, ermutigen, trösten, pflegen, ja ich möchte mitfechten, – doch dies dürfen wir armen Frauen nicht. Ich eile zu meiner Freundin, Fräulein von Rohda, um mit ihr zu besprechen, was ich schaffen, wo ich bleiben, wie ich wirken soll. Als ich vor einer Viertelstunde im Bahnhof eintraf, sah ich schon aufgeregte Menschen und hörte verworren die frohe Botschaft. Ich setzte meine Kammerjungfer in die Droschke« – (es gab ja nur eine einzige in Frankenfeld) – »daß sie meine Ankunft der lieben Rohda meldete, und ging allein durch die Stadt, um zu sehen, zu hören. Wenn die Begeisterung alle Welt auf die Beine treibt, dann muß ich auch mit dabei sein. Ich hätte es nicht aushalten können, zwischen diesen jubelnden Menschen hindurch zu fahren. Und nun habe ich noch die Freude, daß Sie der erste Bekannte sind, welcher mir begegnete.«

Auch Saß sprach seine Freude aus, wußte aber selbst nicht genau, was er eigentlich sagte.

Hermine hielt noch immer ihr offenes Notizbuch in der Hand. Sie blickte darauf und bemerkte lächelnd: »Wie doch der Glücksrausch kindisch macht! Ich hatte nichts eiligeres zu thun, als mir diese Ziffern abzuschreiben, es war mir, als könnten sie mir sonst verloren gehn; obgleich wir sie doch in hundert Zeitungen und Büchern lesen werden und vermutlich noch vermehrt durch genauere Zählung. Denn wir Deutsche sind nicht groß in der Prahlerei wie die Franzosen, sondern in der Bescheidenheit.«

Bei diesen Worten machte sie zwei dicke Querstriche über das Blatt und steckte das Büchlein ein.

Saß hatte währenddessen zum Haderturme hinausgeblickt und rief: »Wie? Mein Turm hat noch nicht geflaggt? Schläft der Kerl, der Wächter da droben? Er hatte den Befehl, sofort die Fahne auszuhängen, die größte der ganzen Stadt, sobald er die Fahne am Rathaus sieht.«

Und dann schrie er in die Turmthüre hinein:

»Zuckmeyer! steigen Sie hinauf, sagen Sie dem Wächter, daß er augenblicklich flagge!«

Aber kein Zuckmeyer war zu sehen und zu hören. Ein Umstehender sagte: »Der Ratsdiener läuft in der Stadt herum, wie gegenwärtig jeder gute Deutsche.« – »Schicken Sie doch einen von den kleinen Jungen hinauf, die sich da herumtreiben,« rief ein Anderer.

Saß aber entgegnete: »Mit jenem Herren steht es gut, der, was er befiehlt, gleich selber thut. Ich will selbst hinaufgehen.«

Plötzlich jedoch stutzte er, besann sich einen Augenblick und sprach zu Hermine: »Wie lange bleiben Sie in unserer Stadt, mein Fräulein?«

»Vielleicht bis morgen.«

»Und darf ich Ihnen meine Begleitung zum Hause Ihrer Freundin anbieten?«

»Ich danke verbindlichst: ich möchte allein gehen. Ich will sehen, wie die Stadt sich schmückt, wie die Menschen sich freuen, und – verzeihen Sie – das sieht man immer allein am besten.«

Saß fiel ein: »Am schönsten wäre es doch, wenn Sie jetzt die Häuser mit ihren Fahnen, die Straßen mit ihrem fröhlichen Getümmel im wundervollen Sonnenlicht zuerst von oben sähen und dann von unten. Steigen Sie mit mir auf den Turm; nachher lasse ich Sie ganz allein.«

Hermine fand den Vorschlag prächtig. Und so gingen sie Beide in den Turm und stiegen eilends die Treppen hinauf.

Ganz oben, wo der Aufgang eng und dunkel wurde und die hölzernen Stufen mehr den Sprossen einer Leiter glichen, reichte Saß seiner Begleiterin hilfreich die Hand. Sie zitterte in der ihrigen.

»Haben Sie Furcht?« fragte Hermine. »Ganz und gar nicht!« erwiderte Saß. »Es ist nur freudige Erregung, die mich zittern macht.«

In diesem Augenblicke wurde es hell. Sie standen vor der geöffneten Thüre des Wächterstübchens, und eine prächtige Trompetenfanfare schmetterte ihnen entgegen. Fritz Krumper, der Wächter, blies aus dem offenen Fenster auf die Straße hinunter und gleich darauf die »Wacht am Rhein« im raschen Marschtempo. Krumper war Trompeter bei den Husaren gewesen, er blies so frisch und mächtig. als ob's zum Angriff gehe und er säße hoch zu Roß. Das waren vergangene Zeiten, und er saß jetzt vielmehr auf dem unruhigen Ruhepöstchen da oben als »civilversorgungsberechtigter Militäranwärter«. (Wie gefällig ist doch unsere deutsche Sprache, daß sie so bequeme Wortbildungen gestattet.)

In seinem heiligen Eifer bemerkte er die Eingetretenen gar nicht, bis er sein Marschlied zum zweitenmal geblasen hatte.

Die unerwarteten Gäste spendeten ihm Beifall. »Aber wo ist die Fahne?« rief Saß gleich nachher. »Warum wurde sie nicht längst ausgehängt?«

»Ich bringe dies allein nicht fertig und der Ratsdiener, den ich erwartete, kam nicht,« entschuldigte sich der Wächter. »Die Fahne ist zu groß, die Stange zu lang und schwer, als daß sie ein einzelner Mann in diesem engen Stübchen handhaben könnte. Ragt die Fahne nicht weit hinaus, so flattert sie nicht wie sie soll, wird sie dann aber nicht stark befestigt, so fällt sie den Frankenfeldern auf die Köpfe.«

»Ich will Euch helfen,« rief Saß. »Auf ans Werk!«

»Der Kaspar hätte es gekonnt, der ist bärenmäßig stark; aber Sie sind nicht stark genug, Herr Saß,« wandte Krumper ein.

»Heute bin ich stark genug!« rief Saß. »Und wir sind ja zu Dreien: das Fräulein hilft mit. Darf ich bitten?«

Und in der That, – Hermine griff stracks mit den beiden Männern kräftig zu, die Fahne durchs Fenster zu bringen. Es war nicht leicht; denn die lange Stange ging durchs ganze Stübchen, so daß sie vorn zum Fenster und hinten zur Thüre hinausragte auf die dunkle Stiege. Nach manchem Fehlversuch und mit äußerstem Kraftaufwand gelang es jedoch zuletzt den Dreien, sie in die richtige Lage zu schieben und zu befestigen. Und als dann die prächtige Flagge, von leichtem Winde bewegt, sich breit in die Lüfte hob, erscholl stürmischer Beifallsruf der unten versammelten Menge.

Saß dankte Herminen und sprach: »Nehmen Sie's zum guten Zeichen: Sie sind kaum erst angekommen und haben doch schon mitgethan.«

»Ob ich mitgethan habe?« rief Hermine lachend und zeigte die Innenflächen ihrer beiden Hände: die schönen perlgrauen Handschuhe waren von der staubigen und rußigen Stange ganz schwarz gefärbt. Aber noch mehr: die linke Seite ihres Rockes hatte einen großen Winkelriß; denn das Fräulein war bei den Kraftanstrengungen an einem Nagel hängen geblieben.

»Das thut nichts in gegenwärtiger Zeit,« rief Saß. »Unsere Wunden sollen uns schön stehen. Ach, unsere braven Soldaten werden jetzt noch ganz anders aussehen!«

Hermine war ans offene Fenster getreten und blickte lange hinab auf das schöne, so festlich belebte Stadtbild. Dann wandte sie sich um zu ihrem Begleiter und Thränen standen ihr in den Augen. Sie sprach: »In diesen großen Tagen darf man nicht an sich selbst denken. Und doch übermannte mich's eben, als ich auf den Frieden dieser freundlichen Landschaft, auf den Schmuck der Häuser und auf das hoch pulsende Leben der Straßen hinabsah, – daß ich heimatlos bin.«

»Haben Sie sich denn nicht vordem so oft recht heimisch gefühlt in unsern Mauern?« fragte Saß, leisen Tones.

Hermine aber flüsterte tief bewegt vor sich hin: »Vorbei! – Vorbei!«

Dann wandte sie sich zum Wächter und drückte ihm ein Goldstück in die Hand für sein schönes Blasen.

Der alte Krumper nahm es jedoch nicht an und sprach: »Ich habe nicht für Sie geblasen, gnädiges Fräulein, sondern für mich, weil es mich drängte, weil es mir das Herz zersprengt hätte, wenn ich nicht meinen Jubel hinausgeblasen hätte. Auch habe ich Ihnen ja sonst nichts gethan; Sie aber haben mir geholfen, wofür ich Ihnen hiermit meinen Dank sage.«

Hermine sah dem Alten mit ihren großen Augen freundlich ins Gesicht und schüttelte ihm herzlich die Hand.

Dann wandte sie sich zu Saß: »Gehen wir fort. Wie sind doch die Menschen anders geworden! Gehen wir fort, und segnen wir dies friedliche Stübchen.«

»Es war bisher für mich eine Stätte trauriger Erinnerung,« bemerkte Saß. »Aber von heute knüpft sich mir nun ein so erhebend frohes Gedenken an das Wächterstübchen. Der Alte hat Ihre Gabe verschmäht: – darf ich Sie hier um eine Gabe bitten? Sie schrieben da unten die Ziffern des Telegramms in Ihr Notizbuch, als ich Sie zum erstenmal wieder erblickte. Sie nannten das kindisch, – es war nicht kindisch –, es drängte Sie dazu der innere Jubel, wie er den alten Husaren drängte, daß er seine Trompete mußte schmettern lassen. Das Blättchen, worauf die durchstrichenen Ziffern stehen, hat für Sie keine weitere Bedeutung: schenken Sie es mir zum Andenken an diesen hohen, frohen Tag, an die Besteigung des Haderturms, an das Wächterstübchen und – an Sie.«

Hermine zog ihr Notizbuch, ohne ein Wort zu erwidern, trennte sorgsam das Blatt und gab es ihrem Begleiter, der es dankend in seiner Brieftasche barg.

Hierauf gaben Beide dem alten Krumper noch die Hand zum Abschiede und stiegen die Treppen wieder hinab.

Als sie an der geschlossenen Thüre des Museums vorbeikamen, fragte Hermine, ob sie nicht einen flüchtigen Blick in die Sammlung werfen dürfe?

Saß aber entgegnete: »Thun Sie's lieber nicht. Vor etlichen Wochen noch würde es mich beglückt haben, Ihnen unsere Schätze, leidlich geordnet, zu zeigen. Jetzt liegt Alles durcheinander. Auch das Museum befindet sich gegenwärtig im Kriegszustand. Als Napoleons Kriegserklärung kam, begannen furchtsame Leute ihr Geld zu vergraben, Archive und Gemäldegalerien wurden da und dort in Kisten verpackt, daß man sie rasch flüchten könne. So begann auch ich einzupacken. Die Dose des Prinzen Eugen wäre doch gar zu lockend für die Franzosen gewesen, weil sie von dem edlen Ritter so schön geschlagen worden sind. Vorgestern jedoch, als die Siegesbotschaft von Weißenburg kam, hielt ich inne mit dem Einpacken und morgen packen wir wieder aus. Wer kümmert sich auch jetzt um Altertümer? Wenn man täglich Geschichte erlebt, studiert man keine Geschichte.«

Auf der Straße angelangt, wurden die Beiden von neuem Jubel begrüßt. Eine zweite Depesche war soeben am Haderturme angeschlagen worden: die erste Nachricht von der Erstürmung der Spicherer Höhen. Sie besagte zunächst nur, daß die Stellung des Feindes, mit schweren Verlusten beiderseits, genommen worden sei. Ende des Kampfes erst bei völliger Dunkelheit. Man konnte fragen, ob der Kampf nicht am heutigen Tage fortgesetzt, ob nicht eben jetzt erst der endgültige Entscheid fallen werde? Die Botschaft klang nicht ganz so hoch wie die erste von Wörth.

Allein sie wurde mit gleicher Begeisterung aufgenommen. Wie das Volk vor wenigen Tagen bei der Kunde der Besetzung Saarbrückens durch die Franzosen kleinmütig geworden war und bei allem Vertrauen auf den endlichen Sieg doch vorerst eine ganze Kette von Mißgeschick folgen sah, so glaubte es nach Weißenburg und Wörth, daß der Sieg sich jetzt überall, Schlag auf Schlag, an unsere Fahnen heften müsse. Und es hatte diesmal recht, wie schon die nächsten Telegramme über die Schlacht bei Spichern und den vollständigen Rückzug der geschlagenen feindlichen Armee erwiesen.

Hermine las die Nachricht wiederholt mit glühender Teilnahme und wandte sich dann zu ihrem Begleiter. »Welch schöner Abschied! – denn ich muß mich jetzt von Ihnen trennen. Diese erschütternde Zeit reißt die Menschen auseinander und führt sie zusammen – ungeahnt, ungewollt – rätselhaft wie in einem Märchen. Wer weiß, wo und ob wir uns wiedersehen! Ich werde diese Stunde nie vergessen. Leben Sie wohl!«

Saß ergriff ihre Hand und sprach: »Bevor Sie Ihre Pläne fassen, beachten Sie den Rat Ihrer Freundin von Rohda. Sie ist ebenso klug als edel und gut. Gott sei mit Ihnen!«

So schieden die Beiden.

Er sah ihr noch lange nach, bis sie um die Ecke verschwunden war. Dann sprach er leis die Worte vor sich hin, welche sie im Wächterstübchen träumerisch für sich gesprochen: »Vorbei! – Vorbei!«


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