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Hasengasse Nro. 16 bei Schreinermeister Moldenbeck – dort wohnte jetzt Alfred Saß. Zwei größere und zwei kleine Zimmer im oberen Stock genügten ihm für sich und seine beiden Neffen. Die Räume waren reinlich und hell; die Fenster gingen auf den Hof und in das Hausgärtchen.
Als Saß sich eingerichtet hatte und sein neues Heim musterte, sprach er bei sich mit Friedrich Rückert:
»Beschränkt, – mir aussichtreich; – klein, eng, – mir groß genug;
Ansprechend, – anspruchlos; – lieb, – weil vorlieb ich nehme;
Behaglich und bequem, – weil ich mich still bequeme.«
Der bescheidene Hausrat paßte zu den schlichten Räumen: es waren alte Möbel aus dem Elternhause unseres Freundes, die seit Jahren auf dem Speicher gestanden hatten, um Prunkstücken in den Staatszimmern des neuen Hauses Platz zu machen. Jetzt heimelten sie den Besitzer an; sie erzählten ihm von seiner glücklichen Jugend.
An den Wänden hingen nur ein paar Familienbildnisse und eine Oelskizze, – letztere als der einzige Rest der kostbaren Sammlung von Gemälden neuerer Meister, welche Saß mit seinem Hause verkauft hatte. Das genial hingeworfene Bild zeigte eine fröhliche Kinderschar, auf einer Wiese tanzend. Es atmete Frühlingsluft. Und wenn Saß in das jetzt verschneite Hausgärtchen hinausblickte und auf die Amseln und Spatzen, welche vom Fenstergesims Futter pickten, und dann auf die Frühlingslandschaft des Bildes, so beschlich ihn die Ahnung, daß auch ihm hier ein neuer Lenz aus dem jetzt so harten Winter erblühen werde.
Aber die Gegenwart lag doch zunächst gar schwer auf ihm. Er beklagte den Verlust von so Vielem, was er besessen hatte, allein wie ein noch tieferes Weh drückte ihn der Verlust dessen, was er nie besessen. So war es wenigstens seit er die Schicksale Herminens gehört.
Unser Freund ging einsam in seiner Stube auf und ab und gönnte sich einige beschauliche Augenblicke.
Da klopfte es.
Der Bürgermeister trat ein und sprach: »Ich komme, um Sie dankend zu beglückwünschen wegen des Verdienstes, welches Sie sich um das Gemeinwohl unserer Stadt durch den Verkauf Ihres Hauses und Gartens erworben haben.«
Saß war sehr begierig zu erfahren, worin hierbei sein jedenfalls ungewolltes und also verdienstloses Verdienst denn eigentlich bestehe.
Der Bürgermeister erklärte es ihm.
Ein Konsortium in Köln hatte die Saßischen Besitzungen gekauft, um das schöne neue Haus abzureißen, und mit Benutzung des weiten freien Raumes, welcher dasselbe umgab, einen großen, mit allem Komfort und Schmuck der Neuzeit ausgestatteten Gasthof zu erbauen. Der parkartige Garten blieb bestehen, aber an seine Straßenseite sollten zwei zierliche Villenhäuser kommen, Landsitze für vornehme Herrschaften, – Alles um Frankenfeld auf eine höhere Stufe als Kurstadt zu erheben.
Doch dies hatte Saß schon früher und besser gewußt als der Bürgermeister. Neu war ihm jedoch, was derselbe dann weiter erzählte. Der Gasthof und die zwei Villen bildeten nur den grundlegenden Anfang. Das Konsortium hatte bereits Schritte gethan, die Heilquelle mit den Parkanlagen und allem Zubehör zu erwerben, eine neue Brunnenhalle mit gedeckter Wandelbahn und einen Kursaal aufzuführen, kurzum eine Kurindustrie feinsten Stiles in Frankenfeld zu begründen. Frankenfeld sollte nun erst in die große Welt treten, und die große Welt sollte während jeden Sommers in Frankenfeld einziehen.
»Der ganze herrliche Plan,« so schloß der Bürgermeister, »ist bei den Kölner Geldmännern ohne Zweifel angeregt worden durch das Reklamebild, welches wir vor langer, langer Zeit in Ihrem Garten entwarfen« – –
»So gar lang ist das noch nicht her,« unterbrach ihn Saß, »höchstens sieben Monate. Aber es hat sich inzwischen so Vieles verändert, daß auch mir diese sieben Monate fast wie sieben Jahre vorkommen.«
»Nun gut!« fuhr der Bürgermeister fort. »Das Reklamebild gab den Anstoß, allein der ganze herrliche Plan wäre doch nicht zur Reife gekommen, wenn nicht Sie, verehrter Freund, Ihr Haus und Ihren Garten an die Kölner verkauft hätten. Die Bürger sind entzückt über Ihre patriotische That, und ich wünsche Glück dazu!«
»Patriotisch war die That gerade nicht,« sprach Saß trocken. »Von Not gedrängt, habe ich das Haus höchst ungern verkauft und den Garten noch schwereren Herzens. Ich that es, weil ich es thun mußte, um meinen Verpflichtungen nachzukommen und meines teuern Bruders Andenken rein zu erhalten. Auch der Hephästos gehört nicht mehr mir. Eine Aktiengesellschaft wird ihn nächster Tage übernehmen, die Gläubiger werden befriedigt und mir ist die Stelle eines Korrespondenten bei dem Unternehmen zugesichert gegen ein mäßiges, aber auskömmliches Gehalt. Sie sehen, Herr Bürgermeister, wenn Sie mir Glück wünschen wollen, so können Sie es höchstens darum, weil ich Alles verloren, aber meinen ehrlichen Namen gerettet habe. Und nun noch Eines. Schon längst wollte ich Ihnen mitteilen, daß ich diejenigen Ehrenämter, welche ich zuletzt noch führte, aufgeben will, mit alleiniger Ausnahme – –«
»Ich begreife in der That,« unterbrach der Bürgermeister, »daß Sie das undankbare Amt eines Museumsvorstandes, welches Ihnen schon so vielen Verdruß gemacht, so viele Neider und Gegner zugezogen hat, niederlegen. Ich bedaure es am meisten, allein ich anerkenne vollkommen – –«
»Ich weiß nichts von Verdruß, von Neidern und Gegnern,« fiel Saß ein. »Das Museum war immer meine stille Freude. Darum wollte ich sagen – Sie haben mich nicht ausreden lassen –: ich gebe alle andern Nebenämter auf und nur das Museum will ich behalten. Ich stelle dabei bloß eine einzige Bedingung, daß ich den Diener, den Kaspar Zuckmeyer fortjagen darf – –«
»Aber magistratische Bedienstete jagt man doch nicht so ohne weiteres fort,« bemerkte der Bürgermeister.
»Fortjagen darf,« wiederholte Saß mit gesteigertem Tone. »Er ist ein vorwitziger, naseweiser, neugieriger, schwatzhafter, eigenwilliger, aufgeblasener Kerl und, wie ich befürchte, untreu dazu.«
Es klopfte wieder an die Thüre. Oberst Sickenwolf trat ein.
Der Bürgermeister verabschiedete sich, froh über die Unterbrechung; denn er war eigentlich gekommen, um Saß zum Aufgeben des Museums zu bewegen; alles Andere war nur artige Vorrede gewesen, – und jetzt erkannte er mit Schrecken, daß der unglückselige Direktor noch gar nicht reif war für sein Ansinnen.
Als er gegangen, schüttelte der Oberst Herrn Saß die Hand und rief: »Ich komme, um Ihnen Glück zu wünschen, aufrichtig und von Herzen Glück zu wünschen, daß Sie das leidige Museum an den Professor Capelius abgegeben haben!«
»Wer sagte Ihnen denn das?« fragte der Beglückwünschte, zornig erstaunt.
»Nun, die ganze Stadt sagt's. Und, ehrlich gestanden, seit ich gestern gesehen habe, wie viel in dem Haderturm noch zu thun ist trotz der erstaunlich fleißigen Arbeit, die Sie bereits geleistet, begreife ich vollkommen, daß Sie diese Last von sich wälzten.«
»Das haben Sie gesehen? Gestern?« rief Saß verwundert.
»Nun ja! Unter des Ratsdieners kundiger Führung besuchte ich gestern früh das Museum mit einigen befreundeten Damen. Sie, lieber Freund, waren anderswo beschäftigt, und wir wollten Sie nicht stören.«
»Unter der Führung des Ratsdieners?« wiederholte Saß. »Der Schurke! Ich hatte ihm aufs strengste untersagt, irgend Jemand in die Sammlungen zu lassen, bevor sie völlig geordnet seien.«
»Das dürfen Sie dem armen Zuckmeyer nicht so übel nehmen,« besänftigte der Oberst. »Die Frankenfelder sind – wißbegierig, und Kaspar zeigt ihnen die Schätze ja nur aus patriotischem Stolze. Er hat sie ab und zu schon Vielen gezeigt. Er kennt Alles und weiß genau, wo Sie und Fräulein von Rohda auf den Holzweg geraten sind und wo er Ihnen dann wieder auf den rechten Weg geholfen hat. Seine Kritik macht den Leuten oft mehr Vergnügen als der Anblick sämtlicher Kostbarkeiten. Allein er kritisiert nur aus patriotischer Begeisterung und – ungleich manchen andern Rezensenten – schlägt er darum standhaft jedes Trinkgeld aus.«
»Er wird bald nichts mehr zu zeigen und zu kritisieren haben!« rief Saß wütend. »Ich aber werde nicht abtreten, ich werde die Aufstellung des Museums zu Ende führen. Gerade weil mir die Sache so schwer fiel, ward sie mir Herzenssache, gerade weil ich mich mit größter Selbstverleugnung hineinarbeiten mußte, werde ich ausdauern und habe mir gelobt, meine beste Kraft daran zu setzen und aller Welt zum Trotz zu vollenden, was ich begann. Im kommenden Frühling – und eher nicht – wird das sehen, wer da will.«
»Vortrefflich! höchst erfreulich! Daran erkenne ich die unbeugsame Tapferkeit meines stets bewährten Freundes!« rief der Oberst. »Schade, daß das Mädchen aus der Fremde alsdann an Ihrem Triumph nicht wird teilnehmen können! Sie bewies das erste thatkräftige Interesse für das Museum im Haderturm und – erinnern Sie sich noch unserer Begegnung in den Kuranlagen? – ihr gebührt doch das Verdienst, Sie selbst, den Widerstrebenden, zur Uebernahme der schwierigen Aufgabe umgestimmt zu haben.«
»Und warum wird Fräulein Aweling im Frühjahre der Eröffnung des Museums nicht beiwohnen können?« fragte Saß, und die Frage blieb ihm fast auf der Zunge stecken.
»Weil sie im Frühjahr nicht hierher kommen wird. Ich schöpfe aus bester Quelle. Vorgestern erhielt Frau Hofrat Beer, bei welcher das Fräulein immer wohnt, die Nachricht, daß ihre Mieterin im nächsten Mai nicht nach Frankenfeld zu kommen gedenke, und daß Frau Beer über die bereits vorbestellten Zimmer anderweit verfügen möge. Ich sah den Brief des Fräuleins: er war sehr kurz. Gar Viele werden das Fernbleiben des ebenso seltsamen als verehrten Gastes mit uns Beiden lebhaft bedauern. Doch ich muß fort, und da meldet sich auch schon ein neuer Besuch.«
In der That klopfte es schon wieder, und als der Oberst zur Thüre hinausging, streckte Kaspar Zuckmeyer den Kopf herein und rief: »Ich gratuliere, Herr Saß! Ich komme eben vom Gymnasium: Ihr Neffe hat dort bei der heutigen Monatslokation den ersten Platz erhalten – –«
»Ich will davon nichts wissen, ich will es von Euch nicht wissen! hinaus! hinaus!« donnerte Saß und wollte eben dem Kaspar die Thür vor der Nase zuschlagen, als ein neuer Besuch nachdrängte, den Kaspar im Schrecken seines Rückzuges fast über den Haufen rannte.
Es war Amalie.
»Wollen Sie mir auch glückwünschen?« fragte Saß nach der ersten Begrüßung, noch in etwas barschem Ton.
»Glückwünschen? Nein!« antwortete Amalie. »Ich wüßte nicht weshalb.«
»Gottlob!« rief Saß aufatmend und in ganz mildem Tone. »Dann seien Sie willkommen und nehmen Sie Platz. Es waren soeben drei Gratulanten nacheinander bei mir, und den dritten, welcher mir eigentlich allein etwas Angenehmes mitteilte, hätte ich fast zur Thüre hinausgeworfen, wenn er nicht schleunigst von selbst gegangen wäre.«
»Vielleicht bin ich nun dennoch der vierte Gratulant,« sagte Amalie lächelnd. »Sie versprachen, mir einmal Ihre neue Wohnung zu zeigen. Also komme ich hierher. Und der erste Blick, den ich in diese Räume werfe, beweist mir, daß Sie gut gewählt, und darüber könnte ich Sie ja auch beglückwünschen. Das thue ich jedoch lieber nicht und möchte nur recht genau sehen, wie Sie sich eingerichtet haben.«
Saß führte die Freundin in den Zimmern umher, und Amalie wußte Vieles zu rühmen, Manches auch bequemer und zweckmäßiger zu wünschen.
Sie stand schon wieder an der Thüre, um fortzugehen. Sonst in so manchen Stücken männlichen Geistes, war Amalie doch in dem Punkte ein Frauenzimmer, daß sie das Hauptgespräch erst beim Fortgehen zwischen Thür und Angel anfing.
Und so trug sie jetzt in aller Eile dem überraschten Freunde vor, daß ihre Aufgabe im Museum nunmehr erfüllt sei. Was sie ihm habe sagen und zeigen können, das habe sie gesagt und gezeigt, und er habe sich so rasch und geschickt in seine Aufgabe hineingelebt, um ihrer ferneren Hilfe nicht mehr zu bedürfen.
Saß beschwor sie, nicht also zu reden, er bat, er schmeichelte und zwar mit bestem Gewissen, er ergriff ihre Hand und drang aufs wärmste in sie, daß sie ihn doch gerade jetzt nicht verlasse, wo er, von Neidern umringt, erst recht mit ehernem Eifer fortarbeiten und vollenden wolle.
Amalie verhieß ihm auch ihren Rat in schwierigeren Fällen. Allein ihrer Beider regelmäßigem Zusammenarbeiten in dem alten Turm müsse fortan aufhören, nicht bloß weil es überflüssig sei, sondern auch, weil, wie sie neuerdings erfahren, sein und ihr guter Ruf darunter leide.
»Und von wem erfuhren Sie dies? Etwa von Kaspar Zuckmeyer?«
Amalie bejahte: »Von ihm, aber auch von Andern.«
»Nun wohl!« rief Saß. »Ich habe dann nur noch eine Bitte an Sie, bevor Sie mich im Haderturm allein lassen. Helfen Sie mir, diesen Menschen zu entlarven. Das können wir nur gemeinsam. Sie sprachen mir früher schon von dem Verdacht einer Untreue, den Sie gegen den Ratsdiener hegten. Sie haben den Kerl weit schärfer beobachtet als ich, und wir wollen ihn zusammen in die Zange nehmen. Kommen Sie morgen, ich bitte inständig, noch einmal zur gewohnten Stunde in den Turm; der Frevler wird auch dort sein, und die Untersuchung soll beginnen.«
»Ich habe in meinem Leben schon mancherlei Geschäfte besorgt, die ich vielleicht besser unterlassen hätte,« entgegnete Amalie freundlich; »aber die Rolle eines Untersuchungsrichters habe ich noch niemals übernommen.«
»Und doch eignen Sie sich vortrefflich dazu,« ergänzte Saß. »Wenn die Frauen dereinst in stetiger Erweiterung ihrer Berufe zu den Aemtern der Rechtspflege aufsteigen, dann werden sie mit ihrem feinen Beobachtungsgeiste wunderbar findig untersuchen, aber das Rechtsprechen wird doch den Männern verbleiben, denn hier versagt der warmherzigen, gefühlvollen Frau die Kraft. Darum helfen Sie mir die Untersuchung führen, den Rechtsspruch jedoch überlassen Sie mir.«
Zögernd versprach es Amalie und wandte sich zum Fortgehen.
Nun aber hielt sie Saß wiederum zurück und verfiel seinerseits in die frauenzimmerliche Art, indem er zwischen Thür und Angel – höchst verlegen – vorbrachte, was ihn bereits seit einer halben Stunde heiß bewegte und was er ihr gleich anfangs hatte sagen wollen.
»Ist es wahr, daß Fräulein Aweling ihre hiesige Wohnung für nächstes Frühjahr abbestellt hat, ist es wahr, daß sie nicht wieder hierherkommen will?«
»Zu meinem Leidwesen muß ich es bestätigen; vorgestern erhielt ich die bestimmte Nachricht,« antwortete Amalie.
»Und kennen Sie die Gründe, welche Ihre Freundin bewogen, uns fern zu bleiben, oder wissen Sie, welch andere Pläne sie verfolgt?«
»Bis jetzt weiß ich weder das Eine noch das Andere,« erwiderte Amalie und empfahl sich.
In trübster Stimmung trat Saß in sein trauliches Zimmer zurück, welches ihn doch so freundlich angemutet hatte, bevor die Gratulanten erschienen waren. Er fragte sich in verzweifeltem Humor, was ihm denn übrig bleibe, wozu er, als fünfter Gratulant, jetzt noch sich selber gratulieren könne?