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Die Sitte des geselligen Lebens soll in der Familiensitte wurzeln. Die ächte bonne société ist das zum Freundeskreise erweiterte Haus. Je weiter sich der gesellige Kreis von der Familie entfernt, um so bedeutungsloser wird er, und um so sicherer kann man auf den Verfall der Familie selbst schließen.
England und Frankreich liefern in ihren nationalen Gegensätzen den Beleg hierzu. Die Geselligkeit des französischen Salons hat mit den Familiensitten nur noch den äußerlichsten Zusammenhang; in England ragt das Familienleben und die Sitte des Hauses überall auch in die weiteren Kreisen der Geselligkeit hinein. In England gilt es für aristokratisch, alten Hausbrauch noch zu besitzen und festzuhalten; von Frankreich dagegen ging jener vornehme Ton aus, welcher die größte Feinheit in der Verläugnung häuslicher Lokalsitten findet.
Die gemeinsame Wohnhalle ist im altenglischen Hause zugleich der Festsaal. Der Platz am Kamin, der auch bei der zahlreichsten Gesellschaft sein Recht als der beste Platz in der Halle behauptet, symbolisirt, ähnlich dem deutschen Erker, das Hinübergreifen der Familie in den geselligen Kreis. Bei dem ächten Holländer schließt sich die Familie ab von der erweiterten Geselligkeit: er fühlt daher die Freunde des Hauses nicht in die Wohnhalle, sondern er hält sich dafür eigene Prunk- und Staatszimmer, die in der Regel jedoch das ganze Jahr leer stehen. Seine Wohnhalle und seinen Kamin baut der Engländer unter allen Himmelsstrichen wieder auf, wo er sich nur dauernd ansiedelt. Gesellige und Familiengemüthlichkeit sind ihm zugleich in diesen Zauberkreis gebannt. Selbst im Tropenlande macht er in den Wintermonaten ein Feuerchen in den Kamin. Und wäre die Luft auch noch so sommerlich: das Feuer im Kamin ist ihm wie eine Opferflamme, die auf dem Altar der Hausgötter lodert, und nur wo diese gnädig sind, wird auch die gesellige Freude eine reine seyn.
Das gesellige Leben im deutschen bürgerlichen und bäuerlichen Hause hat seinen Ausgang genommen aus der Spinnstube der Hausfrau. Dort saß die Mutter an den langen Winterabenden mit ihren Mägden spinnend, die Kinder spielten, der Mann schaute zu, sprach mit darein, las wohl auch etwas vor; dann kamen Freunde und Freundinnen des Hauses, spannen und plauderten, aßen und tranken auch mit, und der Familienkreis erweiterte sich zum geselligen Kreise. Je gesunder fröhlicher und fruchtbringender deutsche Geselligkeit seyn soll, um so mehr wird man zu diesem altväterlichen Urbilde zurückkehren müssen. Spinnen gehörte weiland auch zur Gemüthlichkeit des deutschen Hauses, wie der Platz am Kamin zum englischen. Jetzt ist Spinnen kaum mehr ein nützliches Geschäft. Nur ganz arme und ganz vornehme Leute spinnen noch. Fürstinnen und Prinzessinnen fangen allenfalls aus romantischer Passion wieder einmal zu spinnen an, verschmähen dabei das bürgerliche Nürnberger Spinnrad und lassen die mittelalterliche Spindel wieder in weiten Kreisen über den Fußboden tanzen. Es ist ihnen wohl, als hätten sie mit der Mährchenspindel der alten Zeit auch so etwas von dem verklungenen Mährchen vom deutschen Hause wieder herübergenommen in ihre hellen, hohen, kalten Prunkgemächer.
Religiöse Feste, welche, wie Weihnachten und Ostern, bei den romanischen Völkern wesentlich Volksfeste geworden, werden bei den germanischen zu Familienfesten. In Italien gehören sie der Straße, dem Markt, wie bei uns dem Hause. Die höheren Klassen in Frankreich fangen jetzt zwar an, sich den deutschen Weihnachtsbaum zu verschreiben, aber deutsche Weihnachten verschreiben sie sich damit noch lange nicht. Sie pflanzen den grünen Tannenbaum in den Salon, wir aber pflanzen ihn in das Kinderzimmer, in das innerste Familienheiligthum des Hauses. Dann erst könnte dieser Baum bei den Franzosen Wurzeln fassen, wenn sie sich vorher auch den Boden des deutschen Familienlebens hinübergeholt hätten. Im altenglischen Hause dagegen bestehen so gut wie bei uns höchst eigenthümliche und uralte Weihnachtsgebräuche. Auch diese nimmt der Engländer mit über See; in Hindostan feiert er englische Weihnachten.
Bemerkenswerth erscheint es, daß in England die Weihnachtsbräuche weit mehr dem größeren geselligen Kreise der Familie und der Freunde des Hauses gelten, während die deutsche Weihnachtssitte fast ausschließlich der Kinderwelt gilt. In England erweitert sich das Haus am Weihnachtstage, in Deutschland zieht es sich in sich selbst zurück. Ein Gegensatz, der zu weiterem Nachdenken auffordert.
Bei solchen religiösen Familienfesten voll uralten Herkommens muß man auch an scheinbar geringfügigen Aeußerlichkeiten starr und zäh festhalten. Es ist z.B. keine kluge Politik, wenn man in Wien darauf sinnet, Einfuhr und Vertrieb der Christbäume, die freilich durch ihre ungeheure Zahl alljährlich immer mehr zu einer regelmäßigen Waldverwüstung führen, polizeilich zu erschweren und zu verhindern. Man sagt, aus Papier gemachte Tannenbäume thäten's eben so gut. Das ist nicht wahr. Ein papierner Christbaum ist an sich schon ein Spott auf das alte deutsche Weihnachtsfest; für einen Pariser Weihnachtssalon wäre er dagegen sehr passend. Mit dem Verschwinden dieses wirklichen, natürlichen Tannenbaums wird auch die Familienfeier allmählich aufhören, eine wirklich und natürliche zu seyn. Es wird zwar jetzt in den feinen und feinsten Cirkeln unserer großen Städte mehr und mehr Mode, Frauenschmuck auch aus täuschend nachgemachten unächten Edelsteinen zu tragen; allein der schönste Edelstein unseres schönsten und nationalsten Familienfestes sollte wenigstens nirgends ein unächter werden, nicht im Palast und nicht in der Hütte.
Jahrhunderte lang hat in Deutschland die Polizei gekämpft gegen das Uebermaß der Feste des Hauses bei Bürgern und Bauern. Die Beschränkung der Hochzeit- und Kindtaufgastereien ist ein stehender Artikel in unseren alten Landordnungen. Die Polizei hat dann auch endlich das Feld gewonnen, und höchstens kommen jetzt bei einigen abgeschlossenen reichen Bauernschaften noch Hochzeiten alten Styles vor. Man hat durch jene Einschränkungen dem übertriebenen Luxus, der maßlosen Schwelgerei steuern wollen, durch welche der »Proviant im Lande rar gemacht und vertheuert wird.« Allein Luxus und Schwelgerei sind trotzdem geblieben oder wohl gar gewachsen, der »Proviant im Lande« ist auch nicht wohlfeiler geworden; gelockert und zerstört dagegen ist der Zusammenhang der geselligen Festlichkeiten mit den Festen des Hauses.
Betrachten wir einmal aus diesem Gesichtspunkte die Familienfeste, wie sie bis ins siebzehnte Jahrhundert beim deutschen Mittelstande herkömmlich waren. Bei der nachfolgenden Schilderung sind speciell mitteldeutsche Zustände unmittelbar vor dem dreißigjährigen Kriege ins Auge gefaßt. Hauptquellen waren mir dabei die Verordnung Landgraf Philipp des Jüngern von Hessen über die Beschränkung des Aufwandes bei Hochzeiten etc. vom Jahre 1613 und die Nassau-Katzenelnbogische Polizei-Ordnung vom Jahre 1616.
Der Tag der Verlobung (die man in der alterthümlich Patriarchalischen Auffassung eines Kaufes der Braut auch »Handstreich« oder »Weinkauf« nannte) wurde mit einer Schmauserei beschlossen, zu welcher die näheren Freunde des Hauses geladen waren. Ging es hoch her, dann gab es Tags darauf noch eine Nachfeier.
Zwischen Verlobung und Hochzeit kam dann der Polterabend, als das Gegenfest, welches die Freunde des Hauses dem Brautpaare gaben.
Die Hochzeit selber war das eigentliche Prunk- und Schaustück unter allen Festen des Hauses. Sie mußte sich daher nicht nur durch großen Reichthum sondern auch durch besondere Förmlichkeit auszeichnen: in dem bürgerlichen Hause wird für diesen Tag eine Art von Hofetikette statuirt. Es wird ein besonderer Hochzeitsmarschall ernannt, welcher die Festordnung vor Beginn der Hochzeit zu verlesen und dann zu handhaben hat. Bei einer polizeimäßig eingeschränkten Hochzeit eines Mittelmannes gibt es nur drei Schmausereien, nämlich zwei am Hochzeitstage selber, die dritte Tages darauf bei der Nachfeier. Sechs Tische zu je zehn Personen geben keine übermäßige Hochzeitsgesellschaft für den gemeinen Bürger und Bauersmann zu einer Zeit, wo die ganze Nachbarschaft selbstverständlich zu den Freunden des Hauses gerechnet, und die Verwandtschaft bis in die entferntesten Grade respectirt wurde. Sechs warme Schüsseln geben ein bescheidenes Hochzeitsmahl zu einer Zeit, wo die Tische der kleinen Leute überhaupt noch nicht so hungerleiderisch bestellt waren, wie in den zwei folgenden Jahrhunderten, und nach Max Rumpolts Kochbuch der Küchenzettel eines glänzenden Bauernbanketts von Fleischspeisen allein zwölferlei Art aufweiset. Bei einem Rathsverwandten oder Bürgermeister, der's höher greifen konnte, waren auch hundert Hochzeitsgäste nicht allzuviel und ein entsprechend reiches Mahl kein übermäßiges. Ein Mann von Rang und Besitz eines damaligen Herren vom Rath gibt heutzutage vielleicht dreimal thé-dansant im Carneval und lädt jedesmal hundert Personen, von denen wenigstens zwanzig der Hausfrau erst müssen vorgestellt werden, damit sie weiß, wie ihre Gäste heißen. Der Luxus ist also gar nicht geringer worden, nur daß die Gasterei jetzt einer vom Hause abgelösten Geselligkeit gilt und sich hundertfach zersplittert, während sie vordem auf die Feste der Familie concentrirt war.
Allein auch arme Leute hielten üppige Hochzeiten, sogenannte »Schenkhochzeiten,« – man könnte sie auch Bettelhochzeiten nennen. Bei jeder Hochzeit gingen nämlich, nachdem der dritte Gang aufgetragen worden, Becken von Tisch zu Tisch, in welche die Gäste ein Geldgeschenk warfen. Dasselbe galt als ein Beitrag nicht zu der Hauseinrichtung des neuen Paares, sondern zu den Hochzeitkosten, war also eigentlich den Eltern der Braut geschenkt. Gesondert davon wurde die »Haussteuer,« bestehend in allerlei Hausrath u. dgl. am Tische der Braut niedergelegt. Arme Leute suchten nun ihre Hochzeit in der Art einzurichten, daß sie dieselbe mit den Spenden in den Becken vollständig bezahlen konnten. Wenn solche Bettelhochzeiten im Wirthshause abgehalten wurden, vereinfachte man die Sache wohl gar in der Art, daß der Wirth die Becken circuliren ließ und jeder Gast seine Zeche hinein legte. Für unser Gefühl mag dergleichen etwas Unwürdiges haben; es hat die Schenkhochzeit aber auch ihre schöne Seite, die einem weniger feinfühligen, für den Glanz der Familie dagegen stärker eingenommenen Geschlecht, überwiegend hervortrat. Auch der arme Mann konnte wenigstens einmal in seinem Leben ein reiches Fest des Hauses begehen, ohne daß ihn nachgehends die Reue biß und die Schulden drückten.
Nach der Hochzeit kam die Nachhochzeit. Hier fing das Schmausen von vorne an. Ueber die Nachhochzeit hinaus aber feierte man gern noch mehrere weitere kleine Nachhochzeiten unter allerlei absonderlichen Namen, als: Hühnertag, Zuckersuppe, Tischrücken u. s. w. Darunter sind auch Erwiderungsfeste, welche von den Hochzeitgästen dem neuen Paar gegeben werden.
Nicht minder reichhaltig ist der Festkalender der Kindtaufen. Zu einer ordentlichen Kindtaufe gehört auch eine Nachkindtaufe und zu beiden eine tüchtige Schmauserei. Es folgen aber dann auch wieder Gegenfeste, indem die Gevatterleute die ursprünglichen Kindtaufgäste auf's neue zusammenladen, ein Tractament herrichten und in das Haus der Wöchnerin bringen lassen und dort das Gelag wieder in Gang bringen. Splendide Gevatterleute führten das wohl zwei- bis dreimal aus, so daß also die ganze Woche Kindtaufe war.
Selbst an den Tag eines Begräbnisses knüpfte man ein häusliches Fest. Vom Kirchhof kehrte das Trauergeleite in das Sterbehaus zurück, wo man Wein und Speisen aufgetragen fand. Bei dem »Leichenimbs« sollen nun die Leidtragenden in tröstenden Gesprächen des Todten gedenken oder ihn beweinen, daher nennt man diese traurige Mahlzeit auch das »Flennes.« Aus dem einfachen »Imbs« aber wird allmählig ein förmlicher Leichenschmauß; je größere Braten aufgezehrt wurden, desto höher war der Verstorbene geehrt, und eingedenk des Spruches: »ein traurig Herz ist immer durstig,« durfte auch das Trinken nicht vernachlässigt werden. So bedeutsam und ergreifend der Brauch in seiner Einfachheit und ursprünglichen Reinheit gewesen, so empörend ward er in seiner Entartung.
Der Schlemmerei von wochenlangen Hochzeiten und Kindtaufen wird gewiß Niemand das Wort reden wollen. Dennoch war das plumpe Einschreiten der Polizei, die nun die Zahl der Gäste, der Tische und der Schüsseln vorschrieb, vom Uebel. Eine entartete Sitte kann man höchstens polizeilich todtschlagen, nicht aber polizeilich verbessern. Um die von den Gevattersleuten als Erwiderungsfest bei der Kindbetterin abgehaltenen Gelage zu unterdrücken, ging man z. B. so weit, daß man es zwar nachsah, wenn die Gevatterin der Wöchnerin zur Erquickung eine Suppe ins Haus schickte; trug sie aber in eigener Person die Suppe hinüber und machte einen Besuch dabei, so verfiel sie in Strafe. Durch solche drakonische Unterdrückung der Ueppigkeit bei den Familienfesten zerstörte man wohl die Familienfeste, nicht aber die Ueppigkeit. Die Ueppigkeit übertrug sich in den weiteren geselligen Kreis, und dieser löste sich ab vom Hause. Durch den sittlichen Rückhalt des Hauses hätte die entartete Familiengeselligkeit sich von selber wieder reformirt; es kommt aber ein Millionär leichter in das Himmelreich, als daß sich der heutige, dem Hause entfremdete gesellige Kreis von innen heraus reformire. Diese Thatsachen sind bereits von ungeheurer Tragweite für unser ganzes Culturleben gewesen.
Die Begehung der Geburts- und Namenstage trägt im deutschen Hause den Charakter eines Familienfestes. Die Sitte ist hier so tief einschneidend, daß die Feier des einen oder des andern dieser beiden Tage sogar den protestantischen Norden von dem katholischen Süden Deutschlands unterscheidet. Die Nordamerikaner lachen uns aus über unsere Geburtstagfeier; denn sie kennen fast nur die Abschließung und den Egoismus des Hauses, nicht aber die Erweiterung der Familie zum geselligen Festeskreise.
Für das Haus gibt es bei dem Amerikaner nicht einmal ein Weihnachts- und Osterfest. Man begeht diese Tage bloß in der Kirche wie gewöhnliche Sonntage. In einige angloamerikanische Häuser Neu-Yorks soll zwar neuerdings der deutsche Christbaum eingedrungen seyn; das will aber gegenüber der nationalen Sitte gerade so viel heißen, wie wenn eine Prinzessin aus romantischer Passion wieder mit der Spindel zu spinnen anfängt. Den »zweiten Feiertag« haben die knickerigen Yankees ohnedieß abgeschafft, wie wir Deutschen den früher üblichen dritten Feiertag abschafften, als wir amerikanischer, d. h. realistischer und ökonomischer wurden. Das einzige nationale Fest der Nordamerikaner ist ein politisches Volksfest, die Feier des vierten Juli, und ihr einziges Fest, welches von weitem wie ein Familienfest aussieht, ist der Neujahrstag. Aus der Nähe betrachtet ist es aber erst recht eine Satyre auf ein Familienfest. Die Neujahrstagsfeier in Neu-York schildert ein feiner Beobachter des socialen Lebens in den nordamerikanischen Städten, Dr. Kirsten, folgendermaßen: »Es ist an diesem Tage der Brauch, daß die Herren den Damen ihren Glückwunsch überbringen. Dann wird in jedem Hause das Beste aufgetafelt, was das Land darbietet, und jeder Besucher langt, auch unaufgefordert, zu. Je mehr Besucher sich einfinden, zu desto größerer Ehre rechnen sich dies die Damen vom Hause an, und sie bemerken sich sorgfältig, wer dagewesen. Es würde als die größte Unart gelten, bliebe Jemand in einem bekannten Hause aus. Daher sind die Herren vom frühen Morgen bis spät Abends in Bewegung, und es findet an dem Tage ein merkwürdiges Rennen derselben statt, da manche bloß der Neugierde wegen hier und da sich einstellen. Am nächsten Tage beglückwünschen sich die Damen unter einander und theilen sich mit, wie viele Glückwünsche sie Tags zuvor empfangen haben und von wem. Dann sind die Straßen eben so lebhaft von Damen, als Tages zuvor von Herren gefüllt. Wessen Geschäfte es aber irgend erlauben, der findet sich dann auch wieder auf den Straßen ein, um die Damen zu bewundern, die insgesammt im höchsten Putze die Besuche abstatten.«
Wenn irgend etwas die familienlose Geselligkeit der Nordamerikaner dramatisch veranschaulichen kann, dann ist es das Rococobild dieses scheinbaren Familienfestes.
In Deutschland ist freilich auch das Gepräge des Neujahrsfestes als einer häuslichen Feier fast ganz abgeschliffen. Früher war Sylvesternacht und Neujahrstag durch manchen jetzt verklungenen Hausbrauch ausgezeichnet, welcher dem Vorschauen in die Zukunft des Hauses galt und auch den Freundeskreis um den häuslichen Herd versammelte. Schon im früheren Mittelalter wird die Neujahrsnacht mit einem Schmause in den Häusern bei hellem Fackelzug begangen, und auf den Straßen wird gesungen und getanzt. Wie wir aus dem Beichtspiegel des Bischofs Burkhard von Worms ersehen, sucht die Geistlichkeit die häusliche Feier des Neujahrstages zu unterdrücken, weil altheidnischer Volksaberglaube hierbei tief in die Sitten des Hauses herübergriff. Die abergläubischen Gebräuche, um in der Neujahrsnacht die Zukunft zu erkunden, sind aber beim gemeinen Manne geblieben, das harmlose häusliche Fest dagegen ist gerade bei dem abergläubischen Volke am meisten verschollen.
Wir sehen aus alledem, wie bei patriarchalischen Volkszuständen die geselligen Freuden sich fast ausschließlich und bis zum Exceß an das Haus heften, während im glatten Nivellement der Civilisation der gesellige Kreis sich ganz losmacht von der Familie. So erscheinen hier z. B. die Russen als der directeste Gegensatz zu den Nordamerikanern. Die Ueberzahl und die maßlose Schwelgerei der russischen Familienfeste erinnert an unsere mittelaltrigen Zustände. Zu jedem hohen Feiertag macht der ächte Russe seinen sämmtlichen Verwandten und Freunden Gratulationsvisiten. Neben dem Geburts- und Namenstag ist auch der Tauf-, Verlobungs- und Hochzeittag des Hausvaters ein jährlich wiederkehrendes Familienfest und beim reicheren Mann verbinden sich die üppigsten geselligen Genüsse mit einer solchen Feier.
Sehr verschieden abgestuft ist der Zusammenhang der Familie mit dem geselligen Kreise in den deutschen Gauen, wo die französischen politischen und socialen Einflüsse längere Zeit dominirt haben und französische Sitten in das deutsche Haus eingedrungen sind, und den Gegenden die von diesen Berührungen verschont blieben. Mit der deutschen Sitte des Hauses sind auch die häuslichen Feste gefallen.
So waltet z.B. in den Rheingegenden entschieden die Sitte, daß die Männer und Frauen der bürgerlichen Kreise gesondert ihren geselligen Freuden nachgehen. Schon dadurch ist die Geselligkeit außer Berührung mit der Familie gesetzt. Während der Mann der Schoppenstecherei im Wirthshause obliegt, sitzen die Frauen in ihrer Kaffee- und Theegesellschaft. Das geht dort selbst bis zu den wohlhabenderen Bauern herunter. Solche Gesellschaften finden freilich im Hause statt; sie haben aber dennoch keine Spur von Familiengeselligkeit. Durch die Isolirung der Frauen bilden sie vielmehr den eigentlichen Herd des weiblichen Philisterthums, während der Mann im Wirthshause sich seine apparte Häuslichkeit aufbaut. Der schädliche Einfluß dieser nichts weniger als deutschen Sitte auf die Veräußerlichung des Familienlebens und die sociale Auflösung im Allgemeinen ist nicht schwer genug anzuschlagen.
Es läßt sich ziemlich sicher nachweisen, daß in den Rheinlanden diese Unsitte in der napoleonischen Zeit, wo sich überhaupt die Sitten des Bürgerthums dort so sehr veräußerlichten, ganz besonders in Blüthe kam. Deßhalb schwärmt auch dort so mancher alte Weintrinker noch immer für diese gute alte Zeit als die eigentlich goldene seiner Gegend und läßt den alten Bonaparte hoch leben, und bedauert die jetzige, schon wieder etwas familienhaftere und nüchterne Generation als ein Geschlecht von Schwächlingen.
Die süddeutsche Sitte, daß auch eine feine Dame ihren Mann in den Biergarten, wohl gar ins Kaffeehaus begleitet, würde im mitteldeutschen Westen für eine ausgemachte Barbarei gelten. Sie ist aber gar nicht so barbarisch, sondern hat vielmehr ihren guten Grund in einem tieferen Familienbewußtseyn.
Von den norddeutschen Städten, wo man der deutschen Sitte des Hauses gleichfalls noch vielfach das Asyl gewahrt hat, macht jetzt ein geselliger Brauch die Runde durch die gebildeteren Cirkel von ganz Deutschland, den ich zu den vortrefflichen rechne. Er bildete den geraden Gegensatz zu dem dualistischen Unfug der Kaffeeschwestern und der Schoppenstecher. Es sind dieß die sogenannten »offenen Abende.« Die Familie erklärt den Freunden des Hauses, daß sie an einem bestimmten Wochenabend ein für allemal für den Freundeskreis zu Hause sey. Wer gerade kommen will, der mag kommen und einen hungrigen, aber unterhaltsamen Thee mittrinken. Dadurch wird eine Geselligkeit geweckt, die entschieden in der Familie ihren Schwerpunkt hat. Die »offenen Abende« sind in den letzten Jahren nicht nur in Gegenden vorgedrungen, wo man sie vordem nicht kannte, sondern auch in Schichten des Bürgerstandes herabgestiegen, wo sonst keine Ahnung mehr von derartiger Geselligkeit war. Das sind beachtenswerthe Zeichen des wiedererwachenden Familiengeistes.
Ich bezeichnete Rußland bereits als das Land, wo die ins Familienleben verwebten geselligen Freuden noch in wahrhaft mittelalterlicher Ueberfülle geltend gemacht würden. So hat man in Rußland zu dem »offenen Abend« sogar auch noch einen »offenen Mittag.« In gastfreien Häusern lädt man die Freunde des Hauses ein für allemal zum Mittagessen, und sie kommen, wann es ihnen beliebt. In einzelnen russischen Städten sollen fast sämmtliche adelige Familien alltäglich offene Tafel halten, und ein Junggesell von Stande braucht, wenn er eine ausgebreitete Freundschaft besitzt, niemals einsam zu Hause zu essen. Er sucht sich einen Familientisch in einem gastfreien Hause und »onkelt« jeden Tag in ein anderes, ganz wie vor Zeiten die deutschen Schulmeister, wenn sie das Rundessen hatten.
Hat die Geselligkeit unseres deutschen Salons irgend eine gute Seite, dann liegt sie in dem, was der Salon gemein hat mit dem offenen Abende, in dem einzigen Punkte nämlich, daß hier wie dort Männer und Frauen zusammen erscheinen.
Was dem Städter der »offene Abend« das ist dem Bauern die Spinnstube. Ja man kann sagen, sie ist in ihrem Grundgedanken die ursprüngliche und bessere Form jenes geselligen Instituts. Ich rede hier von den großen, fast öffentlichen Spinnstuben, den geselligen Versammlungen des halben Dorfes, die hervorgewachsen sind aus jenen engeren häuslichen Spinnstuben, welche ich im Eingang dieses Kapitels als die eigentlichen Pflanzstätten des im deutschen Hause gewurzelten geselligen Kreises bezeichnete.
Die rationalistisch-büreaukratische Zeit zog mit Feuer und Schwert gegen die großen Spinnstuben zu Feld. Schon im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts waren Geldstrafen auf die Theilnahme an einer Spinnstube gesetzt. Mit ächt polizeilichem Scharfblick nahm man nur den gelegentlichen Mißbrauch dieser Zusammenkünfte zu allerlei Rohheit und Unzucht wahr, und schlug den unendlich größeren Gewinn, welchen die Spinnstube so oft für den Familiengeist des Landvolkes bringt, für gar nichts an. Ein gründlicher Kenner des Volkslebens, Professor Brückner in Meiningen, sagt von den Spinnstuben: »In ernster und neckender Rede lernt sich hier die Dorfjugend gegenseitig kennen, neben dem Spulfleiß pflanzt sich Sage und Lied von Geschlecht zu Geschlecht fort, und die feste Familienhaftigkeit des Landvolkes hält die rohsinnliche Natur in Schranken. Daß auch diese Form des Zusammenlebens vom fleischlichen Sinn mißbraucht werden kann, ist thatsächlich; deßhalb kann aber dieses uralte Institut selbst nicht verdammt werden, das weit sittlichere Züge in sich trägt als das nächtliche Zusammenlagern der Jugend am Zaune.«
In einigen Gegenden finden (oder fanden?) »Wettespinnen« in den Spinnstuben statt. Die Spinnerin, welche am raschesten und schönsten spinnt, hat die Ehre, daß das nächstemal die ganze Gesellschaft bei ihr zusammenkommt. Am Samstag Abend dürfen auch die jungen Burschen in die Spinnstuben kommen. Zu dem Wettespinnen fügen sie dann ihrerseits Wettgesänge. Das Volkslied ist vielfach in den Spinnstuben aufgewachsen, und die Volkssage hat sich oft als in ihr letztes Asyl dorthin geflüchtet.
Es ist ein alterthümlicher deutscher Hochzeitsgebrauch, daß der Festzug, welcher die Aussteuer der Braut in die Wohnung des Bräutigams bringt, eröffnet wird von zwei Brautmädchen, von denen eines ein Spinnrad, das andere einen Haspel trägt. Beides sind nicht bloß die Symbole des häuslichen Fleißes, sie sind auch die Symbole der traulichsten und ächtesten Familiengeselligkeit: darum werden sie mit Recht allem Hausrath vorangetragen.
In den letzten Jahren hat der Volksschriftsteller W. O. von Horn auch den weiland so verrufenen Namen der Spinnstube wieder zu Ehren zu bringen gesucht, indem er einen unserer besten Volkskalender mit demselben taufte. Welcher Mann des Volkes, welcher Geistliche, Schullehrer oder Gutsbesitzer wird sich den Ruhm gewinnen, die Spinnstuben seiner Gegend zu verjüngen, den Bauern und den Beamten wieder Respekt vor der Spinnstube zu erwecken und das Treiben in derselben auf Grund gereinigter und fortgebildeter alter Bräuche, wieder familienhafter, sittlicher und obendrein lustiger zu machen?
Auf dem Dorfe ist man überhaupt gar nicht so arm an mannichfaltigen Formen der häuslichen Geselligkeit, wie man in der Stadt wohl glauben mag. Man dürfte z.B. in den Städten lange suchen, bis man ein so prächtiges ächtes Familienfest aufgefunden hätte, wie die Metzelsuppen unserer Bauern.
Ein wunderbarer Zug im deutschen Leben ist, daß selbst diejenige Form der Geselligkeit, welche der Familie und dem Haus am gründlichsten entfremdet, die regulären Zechgelage in den Wirthshäusern, einen gewissen Charakter der Häuslichkeit annehmen. Trinken können auch die romanischen und slavischen Völker, aber bloß die germanischen können kneipen. Dieses »Kneipen« drückt eben das gemüthliche Zu-Hause-seyn in der Zechstube aus. Der »Stammgast« – auch eine specifisch-germanische Gestalt – will an der Wirthstafel gleichwie an seinem eigenen Herde sitzen; er begehrt darum allabendlich denselben Stuhl, dieselbe Ecke, dasselbe Glas, denselben Wein. Das ist auch »Sitte des Hauses.« Verkommene, verkneipte, zu wirklichen Trunkenbolden herabgesunkene Stammgäste sind sehr häufig für das innigste Familienleben durchaus geschaffene Naturen, gutmüthige aber schwache Menschen, die nur ein böser Stern in das unrechte Haus geführt hat. Aus lauter Familienbedürftigkeit, die sie in der Adoptivfamilie der Zechgenossen zu befriedigen suchen, vergessen sie die wirkliche Familie zu Hause. So ein Mann kann zum Vagabunden werden aus unersättlichem Trieb zur Häuslichkeit. Sind das nicht ächt deutsche Charaktere?
Sofern aber das Kneipen ein in falscher Richtung sich bewegendes Extrem der Häuslichkeit wird, zerstört es die Häuslichkeit selber wieder. Durch das Kneipen ist der Ruin unserer alten deutschen Familienfeste, unserer reichen Hochzeiten und Kindtaufen, der Leichenimbs, der Willkomm- und Abschiedstrünke vorbereitet worden, durch das Kneipen kamen die sinnigen Festlichkeiten bei Aufnahmen in die Zunft, die merkwürdigen Bräuche beim »Weinkauf,« beim Aufschlagen neuer Häuser u.s.w. zu Fall. Ja die Kneipereien bei jenen Zunftfeierlichkeiten haben den Gegnern der Zünfte eine Waffe in die Hand gegeben, mit der sie dem ganzen inhaltreichen Institut des Zunftwesens erfolgreich zu Leibe gerückt sind. Das übertriebene Kneipen hat auch mitgewirkt, die feinere gebildetere Welt in die »Salons« zu treiben, wo in der That nicht gekneipt wird, wo aber auch die Häuslichkeit verschwunden ist.
Im Elsaß gab es ein Geschlecht der Herren von Utenheim; diese nannten sich später von Matzenheim. Die Namensveränderung soll aber nach einer sehr alten Familiensage auf folgende Weise entstanden seyn. Einer der Herren von Utenheim pflegte stets in dem Dorfe Matzenheim im Wirthshause zu sitzen und verzehrte daselbst den größten Theil seines Gutes. Er war so ein vollendeter Stammgast zu Matzenheim, daß selbst sein Pferd nicht weiter zu bringen war, wenn es an die Wirthshausthüre kam. Weil er nun weit mehr zu Hause war im Wirthshause zu Matzenheim als auf der Burg zu Utenheim, so nannte man ihn zuletzt auch nur den Matzenheimer. Der Name erbte sich fort und ist von dem Wirthshause auf das ganze Utenheimische Haus übergegangen. Ein stärkerer historischer Beweis für die germanische Auffassung des »Hauses« im Wirthshause wird wohl schwerlich aufzufinden seyn. Das Wirthshausleben zerstört das Familienleben, und doch ist uns Deutschen der Familiengeist dermaßen angeboren, daß wir selbst im Wirthshaus, wo wir dem Hause entronnen zu seyn wähnen, nicht eher unser Behagen finden, als bis hier wieder ein eingebildetes Familienleben bestrickend vor unsern Sinnen gaukelt. In diesem innern Widerspruch liegt aber eben so gut ein tragisches wie ein komisches Element, und nicht mit allen Stammgästen geht die deutsche Volkssage so glimpflich um, wie mit dem alten Matzenheimer. Als alle Bauern beim Schall der Vesperglocke aus der Schenke gingen, blieb ein zäher Stammgast wie zum Trotz sitzen und rief höhnisch in das Geläut hinein: »Ich gang nit mit! Ich will der Letzte seyn! Wirth, noch so ein Schöpple!« Da versank die Schenke mit einem furchtbaren Schlag in die Erde und der Stammgast kann nun darin sitzen bleiben bis an den jüngsten Tag.
Keine Literatur hat so köstliche Bilder jener Originale aufzuweisen, die ihren häuslichen Herd in der Schenkstube gefunden haben, wie die deutsche und englische, keine andere so breit behagliche Wirthshausschilderungen. Wäre das Haus nicht unser nationales Heiligthum, das Wirthshaus würde nicht so reichen Stoff von Poesie und Humor bieten.
Was ist es denn, was den ganz gemeinen Wirthshausscenen auf den Bildern eines Jan Steen, Ostade, Teniers doch wieder eine dichterische Weihe gibt? Sind denn da nicht häufig bloß verlumpte Trunkenbolde dargestellt, Unfug und Unflätherei aller Art verübend, Kerle, die wir, wo sie uns in Wirklichkeit gegenüberträten, nur mit der Feuerzange anrühren würden, während wir ihr naturgetreues Conterfei als einen kostbaren Schmuck in unser Zimmer hängen! Der deutsche Genius der Kneipe, der Häuslichkeit im Wirthshause ist es, den jene Niederländer in ihren Bildern festzubannen wußten und der auch in das kanibalische Wohlbehagen ihrer betrunkenen Bauern und Matrosen einen idealen Funken wirft. Die alten holländischen Genremaler genossen diese Häuslichkeit im Wirthshause selber in so vollen Zügen, daß ihrer eine ziemlich ansehnliche Zahl im Kneipleben persönlich zu Grunde gegangen ist. Damals war aber auch noch die Zeit der colossalen Hochzeits-, Kindstaufs-, Kirmes- und Zunftschmausereien, einer Festes-Ueppigkeit im häuslichen und wirthshäuslichen Volksleben, die unser Geschlecht nicht mehr kennt. Und so vermochten denn auch jene Maler ihre traulichen Kneipbilder mit einer Naivetät und einer verklärenden Gemüthlichkeit des Humors zu malen, die uns nicht mehr eigen seyn kann. Wagt ein moderner Maler, was Jan Steen oder Ostade gewagt hat, dann wird er sofort gemein und widerlich. Denn als die Häuslichkeit der Familie zu entschwinden begann, da zog sie mit ihrem besten Theile auch aus dem Wirthshause fort. Andererseits sind wir viel zu sittlich bewußt geworden, als daß sich auch nur noch ein Matrose mit so göttlich anmuthiger Naivetät vollsaufen könnte, wie ein Ostade'scher Matrose.
Die Geselligkeit im Innern einer deutschen Studentenverbindung trägt meist ein ganz häusliches, familienhaftes Gepräge. In der Kneipe erwacht und befriedigt sich der erste Drang des Burschen nach eigener Häuslichkeit. Darum tauft er auch seine wirkliche Wohnung, wenn er sie mit gemüthlichem Ausdruck bezeichnen will, nach dem Wirthshaus und nennt sie seine »Kneipe.«
Wo anders läge denn nun die vielgepriesene Poesie des Kneiplebens der Studenten, als in dem völlig häuslichen Behagen, das sich damit verknüpft? Où peut-on être mieux qu'au sein de sa famille? – das ist der Gedanke, der den deutschen Burschen zum Wirthshause zieht. Aus dem elterlichen Hause ist er zum erstenmale hinaus in die Fremde gekommen, er steht allein, Heimweh beschleicht ihn: da schafft er sich eine neue Familie in der Corps-Brüderschaft, ein neues Haus in der Kneipe. Nun ist seine häusliche Sehnsucht beschwichtigt, nun ist er doch wieder irgendwo daheim.
Solche improvisirte Häuslichkeit unter den deutschen Studenten hat bestanden, so lange es deutsche Universitäten gibt. Nur die Form wechselt mit dem Geist der Zeiten, und ich möchte eben nicht behaupten, daß die gegenwärtige Form die beste sey. Als der klösterliche Geist noch fester saß bei der deutschen Nation, nahmen die Studentenverbindungen die Form klösterlicher Genossenschaften an, zum gemeinsamen Leben, gemeinsamen Studium und gemeinsamer Erholung. Die Erinnerung daran lebt noch fort in unsern akademischen Stiften und Convicten. Den gelehrten Verbrüderungen der deutschen Literatoren im siebzehnten Jahrhundert entsprachen etwa jene gelehrten Tischgesellschaften der Studenten, bei welchen die Gemeinschaft der Studien und einer familienartigen Geselligkeit neue Keime des Genossenschaftslebens legte. Als im achtzehnten Jahrhundert das geheime Ordenswesen bei den gebildeten Leuten in Mode kam, spiegelte es sich sofort in den Studentenverbindungen ab. Auch hier entstanden Orden, Logen, abentheuerliche Geheimbünde. So ist denn auch das moderne Verbindungswesen ein Abbild theils des entschwindenden, theils des wiederauflebenden Corporations- und Familiengeistes im deutschen Volke. Die Entartung zu einer bloßen Wirthshausschwärmerei hängt innig zusammen mit dem Mangel an festen, in guter Sitte begründeten Formen des gemeinsamen Lebens, der unsere Zeit überhaupt charakterisirt. Aus einer neuen organischen Gliederung unserer Gesellschaft, aus der Wiederbelebung und Festigung der Sitte des Hauses wird auch das Verbindungswesen der Studenten von selber in verbesserter Auflage hervorgehen. Die wüste Entartung des studentischen Wirthshaus-Lebens wird genau zu der Zeit aufhören, wo der Handwerker seine Zunftstube wieder gefunden hat, der Bauer seine reformirte Spinnstube, der Mann des Salons seine Wohnhalle, und wo die Familie sich wieder erweitert hat zum »ganzen Haus.«
Tritt der Student nach vollendeten Studien ins bürgerliche Leben über, dann fühlt er als vereinzelter Mann in der Regel so lang ein Heimweh nach der Familie seiner akademischen Genossen, bis er sich selber eine Familie und ein Haus gründet.
In diesem höchst merkwürdigen innigsten Zusammenhang der akademischen Geselligkeit mit der Idee der deutschen Familie steckt das Geheimniß, weßhalb sich der deutsche Bursch in der ganzen Welt nicht zum zweitenmale wiederfindet. Denn studiren und trinken können wohl auch andere Studenten, aber kneipen können sie nicht, kneipen mit der Naivetät Ostade'scher Bauern; sie wissen nicht das wunderliche Familienleben der deutschen Studentengenossenschaft mit seinen strengen, oft noch ganz mittelalterlichen Sitten des Hauses, ja mit geradezu aristokratischen Hausgesetzen nachzubilden und zu der ganzen Lebenspraxis des Burschen in Wechselbeziehung zu setzen, weil dem Charakter ihrer Nation die Tiefe und Fülle des deutschen Familienbewußtseyns überhaupt fehlt.
Wie ein blasser Schatten dieser engbeschlossenen studentischen Häuslichkeit erscheint das in süddeutschen Reichsstädten wie in den alten Städten Norddeutschland vorherrschende Herkommen, daß sich zahlreiche kleine Trinkgesellschaften unter den Bürgern bilden, die in gemietheten Zimmern »unter sich« seyn wollen, eine eigene Haus- und Zechordnung für ihre geselligen Abende festsetzen und gleichsam eine auch räumlich isolirte Familie im Wirthshause improvisiren.
Wenn der ehemalige Kurpfälzer, der im Allgemeinen die alten Sitten des Hauses sehr gründlich über Bord geworfen hat, Kirchweih hält, dann bricht bei ihm plötzlich die ganze Glorie altväterlichen Familienbewußtseyns wieder in die moderne Welt herein. Dieses einzige Mal im Jahre geht ihm der erloschene Gedanke des »ganzen Hauses« wieder auf. Was irgend zur Familie, zur Freundschaft und Verwandtschaft zählt, das strömt zusammen, um am häuslichen Heerde zu »kneipen.« Je mehr Gäste, je größer die Ehre. Fast alle alten Kirmesbräuche sind dort verschwunden, aber auf Kirmes sehen sich alle zerstreuten Verwandten wieder, die sich im ganzen Jahr nicht gesehen haben. Häuser und Stuben werden neu getüncht und geschmückt und die Tische zum Brechen mit Essen und Trinken beladen, zween fette Kälber werden geschlachtet, gleich als gälte es die Heimkehr des verlorenen Sohnes zu feiern, und dieser verlorene Sohn ist das »ganze Haus.« Dieser einzige Zug der pfälzischen Kirmes gibt ihr noch den Schimmer eines wirklichen Volksfestes. Die Kirchweihen alle auf einen Tag zu verlegen hieße hier den letzten Rest des Zusammenhangs der Familie und der Geselligkeit bei dem letzten übrig gebliebenen Volksfeste mit Gewalt zerstören. Denn das Zusammenströmen der ganzen Sippschaft von nah und fern bildet ja gerade die Weihe dieses Tages, und ich glaube, daß der liebe Gott um pfälzischer Gastfreundschaft willen und um jenes einzigen patriarchalisch-familienhaften Grundzuges der Kirmessen willen, den Pfälzern die schweren Sünden, welche sie durch Abschwörung so vieler deutschen Sitten des Hauses begangen, dereinst vergeben wird.
Stellen wir dem deutschen Volk, welches die Familie immer noch so tief in die Geselligkeit hinein wachsen läßt, wieder dasjenige gegenüber, welches von diesem Zusammengehen kaum eine Ahnung hat, die Angloamerikaner, so finden wir bei dem Wirthshausleben wieder ganz die gleichen Gegensätze, denen wir stets bei dieser Parallelisirung begegnet sind. Der Amerikaner trinkt sein Glas Branntwein vor dem Schenktische stehend, und der Anstand fordert, daß er das Glas auf einen Zug leere. Im Stehen kann man aber schlechterdings nicht kneipen. Selbst wenn Mehrere zur Unterhaltung mit einander ins Wirthshaus gehen, sehen sie sich in der Regel nicht. Die Wirthshäuser sind nach einem ganz aristokratischen Rangsystem abgestuft. Während man in Süddeutschland wohl den Staatsminister und den letzten Taglöhner in derselben Bierstube kann sitzen sehen, werden in den großen Städten Nordamerika's vornehme und geringe Leute durchaus nicht in ein und dasselbe Wirthshaus gehen. Ja der vornehme Wirth fordert doppelte Preise, lediglich um den gemeinen Mann fern zu halten, und man findet das ganz in der Ordnung. Höchst charakteristisch ist, daß es in Neu-York nicht für guten Ton gilt, in dem nämlichen Schenklocale mehrere Gläser nach einander zu trinken. Wer größeren Durst verspürt, der geht vielmehr von einer Schenke zur andern und trinkt überall stehend sein eines Glas. Es soll beileibe Niemand in einem Wirthshause heimisch werden und sich häuslich niederlassen! Da wird doch das Princip recht klar, auf welchem der Unterschied zwischen Trinken und Kneipen beruht.
Die abscheuliche nordamerikanische Sitte stehend zu essen und zu trinken, hat sich auch bereits in unsere Salons eingeschlichen. Man glaubt dadurch eine besonders gemächliche und lebendige Unterhaltung zu erzielen, da doch nur das Geschwätz lebendiger wird und nicht das Gespräch, wenn man mit Theetasse, Hut, Handschuhen und Kuchen in der Hand im Saale auf- und abläuft und dabei jeden Augenblick gewärtig seyn muß, daß einem ein ungeschickter Bedienter die mit zwei Fingern gehaltene volle Tasse in den Hut stößt, der darunter am dritten Finger schwebt. Man soll eben nicht seßhaft werden in seiner Gesellschaft, nicht einmal auf einem Stuhl, man soll sich nicht von wenigen anziehenden Leuten wie von einem kleinen Familienkreise fesseln lassen, sondern mit der Allgemeinheit verkehren. Das ist aber nicht deutsche »Sitte des Hauses,« sondern französischer »Ton,« der auf dem Grundaccord der Ausebnung aller charakteristischen Eigenart in der Gesellschaft aufgebaut ist. Da war es doch ohne Vergleich noch familienhafter in den vornehmen Cirkeln vor hundert Jahren, wo die Damen am Kamin kleine Bilder ausschnitzelten und bunte Seide zupften, um dieselbe zu allerlei Farbenspielen zusammenzulegen, indeß die Herren im Halbkreise umher saßen und den schnitzelnden und zupfenden Schönen den Hof machten.
Die eigenthümliche, ceremoniöse und geistreiche, von der Familie ganz gelöste Geselligkeit unseres Salons hat bei den Fürstenhöfen ihre ursprüngliche Heimath. Ein Fürst muß allerdings häufig gesellige Kreise um sich versammeln, die nicht für eine Erweiterung des Familienkreises gelten können. Wie nun die Hoftracht unsere bürgerliche Tracht, der Palaststyl unsere bürgerliche Architektur verdrängt und aufgesogen hat, so ist auch diese höfische Form der Geselligkeit in unsere bürgerlichen Kreise übergegangen, wo ihr doch eigentlich aller Boden fehlt. Dazu kommt, daß die Sitten des modernen Salons überhaupt nicht einmal deutsche, sondern meist französische Sitten sind. In Betreff der verfeinerten Geselligkeit der Franzosen gilt aber gewiß am meisten das harte Wort, welches Kaiser Maximilian I. diesem Volke entgegengeworfen: »Sie singen höher, denn genotiret; sie lesen anders, denn geschrieben; sie reden und sagen anders, denn ihnen im Herzen ist.«
Durch die häusliche Geselligkeit sammelt sich der Mensch: im Kreise seiner Freunde wird er erst recht bei sich zu Haus. Der unhäusliche Salon dagegen zersplittert die Naturen. Man unterhält sich da nur in Aphorismen, man huscht nur an aphoristischen Erscheinungen vorüber. Die dem Salon vergleichbare Erscheinung in unserer Literatur ist das »Feuilleton;« wer aber vorwiegend Feuilletons liest, der kann zuletzt gar kein solides Buch mehr lesen. Das kann auch der ächte Salonmensch nicht mehr, er liest keine Bücher, sondern er liest nur noch in Büchern; er kann auch nur Gespräche anknüpfen, aber keines zu Ende führen; überhaupt nur anregen, nicht selber vollenden; er wird sprunghaft, unstät, eine zerstückle Natur; er ist kein ganzer Mann mehr und vermag auch nicht mehr den ganzen Mann zu würdigen; denn im Salon streifen sich nur die Persönlichkeiten, aber sich fassen sie nicht. Das sind tiefgehende Krankheitszustände unserer Zeit, und ich lobe mir gegen jene feinen Leute die Zöglinge einer ordentlichen Spinnstube.
Ich habe oben von den Zeichnungen Ludwig Richters gesprochen als einem Wahrzeichen der wiederauflebenden treuherzigen schlichten Familienhaftigkeit. Allein auch für das verstörte, unruhig geistreiche Wesen des Salons bietet uns nicht bloß eine einzelne Kunstrichtung, sondern fast eine ganze Kunst in ihrer gegenwärtigen Erscheinung ein Wahrzeichen. Es ist die Musik. Seit die große Periode der Hausmusik mit Beethoven sich abgeschlossen, ist die überwiegende Masse der musikalischen Production immer mehr diesem Geiste des Salons dienstbar geworden. Das feuilletonistische, abgerissene, geistreich gaukelnde, auf der Oberfläche hinstreichende Wesen des Salons charakterisirt das eigentlich Moderne in unserer Musik. Die wenigen tüchtigen Meister, welche eine Ausnahme machen, kennt die Nation; sie sind aber auch nicht recht modern. Ein »ganzes« Musikstück ist heutzutage so selten wie ein ganzer Salonmensch. Die übertriebene, überreizte musikalische Schreibart, die jeder melodischen und harmonischen Wendung eine apparte Pointe geben will und der großen Masse bereits den Magen völlig verdorben hat für jede natürliche und einfache Musik, verdankt der Berechnung auf den Effect im Salon großentheils ihren Ursprung. Unsere übrigen Künste sind in neuerer Zeit alle derart wieder erstarkt, daß man sie im Salon nicht mehr recht brauchen kann, nur die Musik ist noch schlecht genug dazu. Der Salon entscheidet über die Erfolge der meisten Musiker, und unzählige Musiker sind noch immer feil genug, um dem Erfolg im Salon ihre bessere künstlerische Ueberzeugung zum Opfer zu bringen.
Weil der geistreich gesellige Cirkel des Salons seiner Natur nach außerhalb der Familie steht, so läßt man ihn am besten in dieser Isolirung. Das Verkehrteste kommt zu Tag, wenn man gar die Familie in den Salon hinüberführen will. Die Familie kann im geselligen Kreise niemals secundär seyn: entweder sie ist das ursprüngliche und bestimmende oder sie tritt ganz zurück. Um den Salon familienhafter zu machen, schickt man wohl gar die kleinen Kinder in den Salon. Sie sollen dort feine Sitten lernen und ein Stückchen von jenem französischen Ton, der »höher singt als genotiret ist.« Uns erscheint es aber als eine wahre Sünde wider den heiligen Geist, die harmlose Kinderseele hinauszustoßen in dieses Treiben. Denn obgleich sie gar harmlos bleibt, so lange man sie rein bewahrt, lernt sie doch nicht bloß ein Stückchen von jenem Ton, sondern pfeifet bald jedes Lied in derselben Art. Wenn ein sechzehnjähriges Bauernmädchen, die noch Sonntagsschülerin ist, auf der Kirmes tanzt, dann wird sie vom Gendarmen zur Bestrafung notirt. Wenn aber zwölfjährige Puppen Kinderbälle geben, eigene Kindersalons eröffnen und mit den großen Leuten zum thé-dansant fahren, dann brauchen sie sich vor keinem Gendarmen zu fürchten. Solche Kinderbälle gemahnen mich immer an ein niederdeutsches mittelaltriges Bild vom Todtentanze. Dort ist neben Anderem auch ein Kinderball dargestellt. Der Tod tanzt mit den Kindern, und das Kind spricht zum Tod:
»O Tod, wie soll ich das versteh«!
Ich soll tanzen und kann noch nicht gehn!«
Im »Hause« gibt es nichts unbedeutendes, und in scheinbar ganz geringfügigen Sitten des Hauses stecken oft tiefe sociale Consequenzen. Es ist z.B. auf den ersten Blick ganz gleichgültig, zu welcher Stunde man zu Mittag ißt. Und doch könnte man eine kleine Geschichte des socialen Liberalismus der letzten sechzig Jahre schreiben, deren einzelne Abschnitte sich ganz schlagend nach dem allmählichen Vorschieben der Mittagessensstunde abtheilen ließen.
Vor der französischen Revolution fiel die allgemeine bürgerliche Mittagessensstunde in Deutschland zwischen 11 und 12 Uhr. Mit den zahllosen willkürlichen Neuerungen, mit welchen die Franzosen damals alle bisher übliche Zeiteintheilung abschaffen wollten, nicht weil sie schlecht, sondern bloß weil sie alt war, schoben sie auch die Mittagessensstunde auf 1 Uhr vor. Die Deutschen rückten nach, und wer bei uns nur halbwegs für einen aufgeklärten und volksthümlichen Bürger gelten wollte, der speiste nun wenigstens zwischen 12 und 1 Uhr. Der neue Kalender der französischen Revolution fiel mit der Republik, die neue Mittagessensstunde aber blieb, da sie keine so gewaltsame Neuerung, sondern nur eine scheinbare ganz bedeutungslose Variation gewesen war. Wo aber einmal in eine so feste Sitte das kleinste Loch gekommen ist, da läßt sich auch weiterhin nichts mehr dran halten. Die bürgerlichen Leute merkten es nun plötzlich den großen Herren ab (denen sie auch den Salon abgeguckt haben), daß dieselben ja nicht einmal um 1 Uhr, sondern erst um 2, 3 bis 4 Uhr tafelten. Wer bis 10 Uhr schlafen kann, für den wird es freilich erst um 4 Uhr Mittag. Es lag nun ganz im Geiste jener socialen Gleichmacherei, deren innerster Kern die Hoffart, die höher singen will, als genotiret, daß die allgemeine Mittagessensstunde in Frankreich immer weiter hinausgeschoben wurde. Gegenwärtig haben die Franzosen den Witz, man werde nun bald so weit vorgerückt seyn, daß man immer erst am folgenden Tag esse. In Deutschland ging man langsam aber sicher nach, und wo der Großvater zwischen 11 und 12, der Vater zwischen 12 und 1 Uhr zu Mittag gegessen, da »dinirt« der Sohn und Enkel jetzt um 2, 3 oder 4 Uhr. Die guten Philister merken gar nicht, daß sie mit ihrer vornehmen Tischzeit verkappte Revolutionäre sind.
Vor mehreren Jahren erlebten wir das merkwürdige Ereigniß, daß durch eine ganze deutsche Stadt (Köln) ein förmlicher Principienkrieg ging über die Mittagessensstunde. Eine Partei wollte eine neue Tischzeit octroyiren, sie wollte dieselbe nach französischer Art noch tiefer in den Nachmittag hineinschieben und, da es sich um gemeinsame Interessen der Bureaus und Comptoire handelte, diese neue Sitte durch die Wucht der Majorität feststellen. Im Punkte der Sitte, und gar der häuslichen, läßt sich aber mit Gewalt schlechterdings nichts durchsetzen; man macht die Leute dadurch nur um so widerborstiger. Nachdem man vielen Lärm gemacht, wurde der Plan wieder fallen gelassen.
Wohl aber kann man Sitten ganz allmählich reformiren, indem Jeder bei sich selber anfängt und ganz still in Wort und Exempel bei Freunden und Bekannten weiter Propaganda macht, bis zuletzt ein allgemeiner Brauch, endlich eine neue Sitte auskeimt. Es sollte nur einmal eine respectable Zahl unabhängiger Hausväter den Muth haben, ihr Tagewerk wieder zwischen 5 und 6 Uhr Morgens zu beginnen und die Tischzeit zwischen 11 und 12 Uhr zu legen, so würden bei der natürlichen Zweckmäßigkeit dieser Einrichtung bald Tausende nachfolgen, die sich jetzt noch aus eitel Vornehmthuerei schämen, nach deutsch bürgerlicher Sitte Mittag zu machen. Die Bureaus und Comptoire würden allmählich gezwungen, sich nach diesem Brauch zu richten und mit der endlichen Restitution einer eben so vernünftigen als historisch begründeten Sitte des Hauses wäre zuletzt mehr gewonnen, als mit einem ganzen Gebund vortrefflicher neuer Gesetze.