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Ein Rückblick auf die geistige Entwicklungsgeschichte der deutschen Nation in den letzten hundert Jahren zeigt uns, daß die großen Begründer unserer modern klassischen Literatur, welche im vorigen Jahrhundert Deutschlands Geltung in Poesie und Wissenschaft so glänzend vor allen Völkern Europas heraushoben, der nationalen Entwicklung der Familie (wie der Gesellschaft) gleichsam um des Princips willen Feindschaft bieten mußten. Gerade in dem Zeitraum, wo man mit Recht sagte, daß die Existenz unserer Nation vorwiegend eine literarische gewesen sey, wurde in der deutschen Literatur nichts gründlicher ignorirt als die Familie und ihre Interessen.
Die Familie war nicht recht hoffähig bei unsern großen Literatoren, man schob sie vornehm bei Seite wie die Nationalität. Es hängt naturnothwendig zusammen, daß Weltbürgerthum, Uebersehen der gesellschaftlichen Mächte und Unterschätzung der Familie allezeit vereint auftreten.
Die Humanitätsidee verschlang den Gedanken an die Familie, über der Menschheit wurden die Menschen vergessen. Nur die Jurisprudenz hatte noch ihre trockenen wissenschaftlichen Kategorien für die Familie, und die moralistischen Denker müheten sich ab, die Idee der Familie möglichst langweilig und trivial auseinanderzulegen.
Justus Möser, der Prophet der socialen Wissenschaft, blieb einsam stehen mit seinen meisterhaften Abhandlungen über die Sitte des deutschen Hauses; ja er konnte seinen Posten überhaupt nur einnehmen, indem er sich stemmte gegen die ganze literarische und politische Strömung der Zeit. Weit vorausschauend, war er doch der größte Reaktionär seiner Tage. In seiner Schilderung und Vertheidigung der Osnabrückischen Bauernhäuser, in seiner vortrefflichen Zeichnung des Kampfes, welcher damals zwischen dem alten deutschen Familienleben und der neu aufkommenden Empfindsamkeit und der Leichtfertigkeit der Sitten gefochten wurde, hat er uns nicht bloß schriftliche Urkunden bewahrt von der Rettung deutscher Sitte und Art im bürgerlichen Hause, als ihrem damals fast einzigen Zufluchtsort, sondern Mösers ganze literarische Persönlichkeit selber ist uns zugleich deß Urkunde und Zeugniß.
So fällt auch in dieselbe Zeit, wo die Familie von der feineren literarischen Bildung ignorirt wurde, die größte Blüthe der deutschen Hausmusik. Auch sie ist uns Urkunde für den Geist der damaligen bürgerlichen, nicht der vornehmen Kreise. Unsere großen Literatoren nehmen so gut wie keine Notiz von den gleichzeitig wirkenden Musikern, Künstlern ersten Ranges, die alle in der Hausmusik den ersten Grund ihrer Größe gelegt haben. Diese im deutschen Hause gewurzelte Kunst ward eben auch vornehm über die Achsel angesehen. Ahnet man wohl, wenn man die sämmtlichen Werke Klopstocks, Lessings, Goethes, Herders, Schillers durchliest, die cultur- und kunstgeschichtliche Bedeutung der gleichzeitig wirkenden größten Tonsetzer Händel, Bach, Gluck, Haydn, Mozart und Beethoven? Ist diese völlige Neutralität zwischen zwei so eminenten, durch ein ganzes Jahrhundert neben einander herlaufenden Erscheinungen nicht eine der wunderbarsten culturgeschichtlichen Thatsachen? Zu derselben Zeit, wo der Poet das deutsche Haus erst vergessen und nach Rom und Hellas wandern mußte, um dichterisch ideal zu seyn, wirkte unser größter Meister geistlicher Hausmusik, Sebastian Bach, und der größte Meister weltlicher Hausmusik, Joseph Haydn. Darin ist der Gegensatz der deutschen Bildungsaristokratie und des in das Haus als in seine letzte Citadelle geflüchteten deutschen Bürgerthumes jener Zeit auf's tiefste kunstgeschichtlich ausgesprochen. Schon ist aber gegenwärtig Bach theilweise wiedererstanden aus seiner Vergessenheit; Haydn wird wiedererstehen so gewiß unsere Generation sichtbarlich wieder heimzukehren beginnt in das Heiligthum des Hauses.
In unserer literarischen Sturm- und Drangperiode war die Ketzerei gangbar, daß das Genie gar nicht zum ordentlichen Ehemann tauge, daß ein guter Hausvater nothwendig ein Philister sey. Mit einer solchen Frucht der Cultur müßten wir billig erröthen vor den Hindus mit ihrer vom tiefsten Familienbewußtseyn zeugenden Satzung, wornach der Mann erst vollkommen ist, wenn er aus drei vereinigten Personen besteht: ihm selbst, seinem Weibe und seinem Sohne.
Die Moralisten der alten Schule, wie Mendelssohn, Garve, Sulzer, Engel ec., welche die ethischen Ideen des Hauses, der Ehe, der Familie mit flachen Wasserfarben ausmalten und bei der Beurtheilung des deutschen Hauses aller naturgeschichtlichen und historischen Individualisirung entbehrten, gaben den Männern der »Genialität« sogar ein gewisses Recht, wenn dieselben diese in der Literatur spießbürgerlich gewordenen Dinge entweder ganz bei Seite schoben oder sie in grob sinnlichen Realismus auffaßten. In der Opposition gegen jene moralistische Langweiligkeit schwärmte man also mit Diderot für die Familienverhältnisse der Südseeinsulaner, und Heinse definirte, wie wenn er eben von Otahaiti käme, »die eigentliche, wahre Liebe als den Drang, mit einer Person vom andern Geschlecht ein Kind zu erzeugen, wobei die Liebe ihrer Natur nach so lange dauere, bis das Kind geboren sey und seinen Eltern Freude mache.« Er klagt dann, daß man in unserer Poesie diese Leidenschaft nie in ihrer Fülle finde. »In unsern Schauspielen und Romanen ist alles gewissermaßen nur Vorspiel dazu, ein leeres Wortgeklingel, welchem Leser und Zuhörer ihr eigenes Gefühl beilegen, das oft nicht darinnen ist.« Er fordert dann weiter auf, das Mädchen seiner Wahl auszusuchen nach der Kraft und Gesundheit des Körperbaues und ihrer wahrscheinlichen Tüchtigkeit, gesunde und starke Kinder zur Welt zu bringen.
So konnte man alles Ernstes zu einer Zeit schreiben, wo die Dichter sich mit der Hausordnung des griechischen Olymps besser vertraut zeigten als mit der Sitte des deutschen Hauses, und wo trotzdem andererseits die beste deutsche Hausmusik gemacht wurde!
Das Familienleben der wenigsten unter den Meistern unserer großen Literaturepoche ist biographisch bedeutsam geworden. Dritthalbhundert Jahre früher hatte Luther noch aus dem Schooße der Familie heraus seine weltgeschichtliche Sendung vollführt; er war ein öffentlicher Charakter auch als Familienvater, und ohne Kenntniß von seiner Häuslichkeit würde man den ganzen Mann gar nicht verstehen. Um Reden an die deutsche Nation zu schreiben, schrieb er Tischreden.
Das häusliche Leben unserer literarischen Reformatoren dagegen ist meist etwas ganz zufälliges, gleichgültiges, eine reine Privatsache. Ja sie entäußerten sich wohl gar des Hauses, um Poeten zu werden.
Selbst bei Goethe, der uns das epische Idyll vom deutschen Bürgerhause, »Hermann und Dorothea« gesungen, bei Goethe, der so unendlich viel dem altbürgerlichen elterlichen Hause verdankte, der ohne die Schule der Familie gewiß nicht dieser Olympier voll sicheren Maßes und seliger Versöhntheit geworden wäre, verlieren sich in der fortschreitenden literarischen Entwickelung diese geheimen innigen Wechselbezüge zwischen dem geistigen Schaffen und dem Familienleben immer mehr.
Die romantische Dichterschule im Anfang unsers Jahrhunderts griff zwar wieder in den reichen Schatz des deutsch-christlichen Lebens im Mittelalter. Allein vorerst war es doch nur mehr die Decoration mit der Außenseite altdeutscher Zustände, welche man hervorzog. Trotz aller Mährchen und Sagen, Mönche und Nonnen, Ritter, Knappen und Edelfrauen ging das deutsche Haus ziemlich leer aus. Man hat außerdem nicht ohne Grund aufmerksam gemacht auf die große Zahl der unglücklichen und gelösten Ehen, der Selbstmorde aus leidenschaftlicher Liebe und der durch zügelloses, unhäusliches Leben zu Grund gegangenen Persönlichkeiten, die man unter den Dichtern und Dichterinnen dieser Schule findet.
Professor Hundeshagen in Heidelberg hat unlängst in einer gedankenreichen akademischen Rede »über die Natur und geschichtliche Entwickelung der Humanitätsidee« den Humanitarismus unserer klassischen Literaturperiode nach seinen guten und schlimmen Seiten mit scharfer Kritik geschildert. Er bemerkt dabei, »daß der humanitarische Sturm und Drang in Ländern von einem politischen Leben voll lebendiger Realität und im Wesen gesunder Besonderung, wie dasjenige Englands, weniger excentrisch war, rascher und gründlicher abgearbeitet wurde und großentheils nur mit Hinterlassung wohlthätiger Folgen vorüberging.« In England war eben die überlieferte Familie wie die Gesellschaft eine so feststehende historische Thatsache, daß wohl die humanitarische Geistesbewegung an diesem Felsen zerschellen konnte, nicht aber umgekehrt, wie in Deutschland, der Fels zerbröckelt wurde von der anströmenden Fluth.
In der englischen Literatur selbst des achtzehnten Jahrhunderts spiegelt sich die Thatsache, daß in jenem Lande die Sitte des Hauses oftmals eher zu pedantisch starr als zu locker gewesen ist. Der familienhafte Geist, welcher schon die Sitten und Institutionen der alten Angelsachsen veredelte, ist durch alle Jahrhunderte eine Auszeichnung des britischen Volkes geblieben. Der Geschichtschreiber Schlosser sagt bezeichnend, als er erzählt, wie der angelsächsische König Edwy durch sein Liebesverhältnis zu der schönen Buhlerin Elgiva die Hälfte seines Reiches verlor: »Edwy beleidigte durch dieses Verhältniß die englische Nation, die auch jetzt noch lieber von einem als Privatmann und im häuslichen Leben schätzbaren König einiges Uebel erduldet, als daß sie einen Wüstling, wenn dessen Regierung auch nicht gerade schlecht ist, mit Gelassenheit auf ihrem Throne sieht.«
Gerade in der Faustperiode unserer neueren deutschen Literatur war es, wo man recht gründlich zu vergessen begann, daß in der ältesten überlieferten Form der Faustsage bei dem Pakte des Doktor Faust mit dem Teufel auch der Hauptpunkt verzeichnet stehet: »daß Faust sich nicht verehelichen dürfe, sondern nach der römischen Priester Weise den Ehestand abschwören solle,« wobei ihm aber selbstverständlich der anderweitige Umgang mit Frauen nichts weniger als verpönt wird.
Der Teufel, der freilich auch ein Genie ist, ist selber gleichfalls nicht verheiratet. Er hat nicht einmal eine Mutter, sondern bloß eine Großmutter. Die alte Zeit war viel zu tief überzeugt von der sittlich veredelnden Kraft des Hauses, als daß sie sich den Teufel en famille hätte denken können.
Der Rationalismus, welcher in unserer großen Literaturperiode der treibende Sauerteig der deutschen Wissenschaft war, zog gegen überlieferte Sitten und Gebräuche grundsätzlich zu Felde, weil er sie nicht rationell zu begründen wußte, weil er überhaupt ein Feind der Tradition war. Und die Sitte des Hauses war mit darunter.
Zwar ging man nicht mit jener directen Feindschaft der Familie zu Leibe, mit welcher man die organisch gegliederte Gesellschaft angriff, allein man ignorirte, man verläugnete sie. Etwas so reeles wie das Haus bot kein ideales Interesse für die gebildete Welt. Man schob das Haus literarisch in den Winkel und lernte es theoretisch gering schätzen. Jetzt erntet gerade das damals unberührte Bürgerthum die Früchte dieser Periode der »Verläugnung des Hauses.« Wie äußerlich faßt z.B. selbst der hausbackene Voß, der doch seinen mitstrebenden Zeitgenossen gegenüber eigentlich noch wie ein Hausvater vom alten Schrot und Korn dichtet, die Sitten des Hauses! Wie widerwärtig präsentiren sich dieselben vollends in den schönseligen Familienromanen und Familiendramen jener Zeit!
Gerade diese ästhetisch längst gerichteten Familienschauspiele sind darum kulturgeschichtlich von höchster Wichtigkeit und nach ihrer socialen Bedeutung noch lange nicht hinreichend gewürdigt. Sie kamen aus Frankreich zu uns herüber. Es ist aber auch gar nicht das deutsche Haus, welches in denselben gezeichnet wird, sondern das französische unter deutscher Firma. Der einflußreichste Poet solcher Familienstücke, Kotzebue, beutete die deutsche Sitte des Hauses vielmehr in der Regel nur in ihrer Verzerrung als plumpe Karikatur aus. Aber gerade in diesen Schauspielen fühlte sich das deutsche Publikum wirklich zu Hause, ein Beweis, daß es schon gar nicht mehr recht wußte, wie eigentlich ein deutsches Haus aussah.
Frau von Staël, welche ihre Kenntniß deutscher Zustände nicht aus dem Volk, sondern aus den Salons schöpfte, schrieb damals folgendes merkwürdige Urtheil über das deutsche Familienleben nieder: »In Deutschland gibt es in der Ehe beinahe gar keine Ungleichheit zwischen den beiden Geschlechtern. Dieß rührt daher, daß die Weiber die heiligen Bande eben so oft zerreißen, wie die Männer. Die Leichtigkeit der Ehescheidung hat in die Familienverhältnisse eine Art von Anarchie gebracht, welche nichts in seiner Wahrheit und in seiner Stärke bestehen läßt. Um etwas Heiliges auf Erden zu bewahren, ist es doch wohl besser, daß es in der Ehe eine Sclavin, als zwei starke Geister gebe.«
Wer erkennt wohl in diesen Zügen die deutsche Familie? Erscheint es nicht vielmehr, als ob hier französische Zustände gezeichnet seyen. Die Beobachtung der Frau von Staël war eben nicht aus dem deutschen Volk, sie war aus der damaligen französisirten gebildeten Gesellschaft in Deutschland geschöpft, die mit der französischen Literatur, der französischen Theorie zugleich die französische Praxis des Familienlebens herübergenommen hatte, die Familienlosigkeit, an welcher das französische Volk über kurz oder lang zu Grunde gehen wird.
In den französisch-deutschen Familienlustspielen damaliger Zeit liegt die komische Pointe gewöhnlich darin, daß die Kinder ihre Eltern, die Frauen ihre Männer, und umgekehrt, betrügen und überlisten und zwar in den zartesten und heiligsten Punkten der Familienehre und Sittlichkeit. Diese Ueberlistung wird dann als feine, schlaue, geistreiche »Intrigue« belacht, während man die alten deutschen Volkspossen, wo die Komik gewöhnlich dadurch recht drastisch gemacht wird, daß der Mann seine Frau prügelt, als ungeheuer unsittlich und gemein verabscheut. Ich halte auch dafür, daß diese dramatischen Prügeleffekte sehr gemein gewesen, aber doch nicht halb so gemein, als die angeblich feinen Betrügereien zwischen Gatten, Eltern, Kindern und Blutsfreunden, die selbst heute noch sehr häufig die »Intrigue« der aus Frankreich importirten Lustspiele und Bluetten bilden, und denen auch ein vornehmes und feines Publikum noch immer behaglich zuschaut, während es »sittlich entrüstet« die Loge verlassen würde, wollte man ihm die alten Prügelstücke wieder vorführen. Das Mittel war in denselben zwar grob gewählt, der Zweck der Prügel aber in der Regel ein sehr löblicher.
Wenn man solche Stücke, in denen die Verhöhnung aller Sitte und Ehre des Hauses, sofern sie nur in »anständigen« Formen geschieht, glorificirt ist, und die noch immer schaarenweise auf den Brettern umgehen, wenigstens von solchen Bühnen verbannte, die Unterstützung aus öffentlichen Geldern erhalten, so wäre dieß doch ein ganz anderer Akt von ästhetischer Volkserziehung und von Sittenpolizei, als wenn man sonst gute Stücke um einiger politisch liberaler Phrasen willen verbietet.
Der allerabgedroschenste, unvermeidlichste Witz in den Lustspielen des achtzehnten Jahrhunderts galt dem »Hörnersetzen.« Dem Wortspiele mit den Hörnern entrinnt man fast in keinem komischen Stück, und in der Oper ist selbiger Zeit das triviale Bild bei der Instrumentation selbst bis zu den Hörnern im Orchester abgejagt worden. Es ist, als gäbe es gar nichts lustigeres auf der Welt als Ehebruch.
Man muß zur Ehre des gegenwärtigen Geschlechtes bekennen, daß wir die feine Schlüpfrigkeit der Wieland'schen und Kotzebue'schen Schule, welche unsern Vätern noch ganz »nobel« erschien, auf der Bühne schon für etwas unfein halten. Wir haben zugenommen an »Prüderie,« weil der Familiengeist wieder zu erstarken beginnt. »Prüderie« und das entgegenstehende »Coquetterie« sind zwei Worte und Begriffe, welche dem Zeitalter Ludwigs XIV. recht zu eigen gehören; denn jede Zeit hat ihre eigenthümlichen und neuen Worte, an denen man ihren Geist erkennen mag. Coquetterie ist das Manövre des Hahns – coq – der mit gespreiztem, auf dem Boden schleifendem Flügel buhlend in bald weiten bald engen Kreisen um die Henne herumsteigt, dann aber auch der Henne, die mit der gleichen Taktik sich einen Hahn zu fangen sucht. Prüderie dagegen ist der sittliche Instinkt, welcher uns treibt, das Auge mit Ekel von dieser Hahnenscene abzuwenden. Wir können uns also gratuliren, daß unser Theaterpublikum wieder so prüde zu werden beginnt.
Als mit der französischen Herrschaft eine Menge französischer Sitten sich unvermerkt in unser häusliches und bürgerliches Leben einstahlen, war ihnen durch die allgemeine Geistesströmung der vorhergegangenen Jahrzehnte bereits freie Bahn gemacht worden. Im deutschen Westen, wo das französische Regiment am längsten und nachdrücklichsten gewaltet, wo die französische Gesetzgebung tief ins Volksleben eindrang, ist auch die deutsche Sitte des Hauses heute noch am Entschiedensten gebrochen. Nicht bloß von innen heraus, auch von außen herein ward das deutsche Haus unterwühlt. Als Symbol hierfür mag es erscheinen, daß wir für das von den deutschen Völkern am reichsten und tiefsten ausgebildete Institut der »Familie« gar kein gangbares ächt deutsches Wort mehr besitzen, und daß eben diese lateinische Familia von dem Erbfeind der deutschen Sitte des Hauses, von dem römischen Recht, uns angeheftet worden ist.
Gerade hier scheint es mir am Ort, anschaulich zu machen, wie tief das Einschleichen fremder Sitten in das Haus zugleich das ganze politische und wirthschaftliche Leben eines Volkes umgestalte. Ich wähle dazu eine ethnographische Parallele.
In der bayerischen Rheinpfalz haben sich bekanntlich französische Gesetze und französische Sitten seit mehr als einem Menschenalter festgesetzt. Die nivellirenden Ideen des vorigen Jahrhunderts, deren literarisches, theoretisches Eindringen bei den Gebildeten ich eben angedeutet, sind hier durch die französische Revolution und die napoleonische Herrschaft auch in das kirchliche, sociale und häusliche Leben des Volkes eingezogen. Hieran knüpft sich nun eine höchst merkwürdige Umstimmung in der ganzen Denkart der Pfälzer. Die französische Fassung socialer Freiheit und Unabhängigkeit unterscheidet sich von der deutschen wesentlich dadurch, daß sie das Individuum als solches selbständig und fessellos machen will, während es deutsch ist, in der Macht und Unabhängigkeit der Gesellschaftsgruppe und der Familie, welcher der Einzelne angehört, seine persönliche Unabhängigkeit mit eingeschlossen zu finden. Dieser Gegensatz wird aus dem Folgenden deutlicher werden. In der Pfalz hat sich die französische Idee der Fessellosigkeit des Individuums im Volke so fest genistet, daß nicht nur die Familienzustände dadurch eine ganz veränderte Gestalt gewonnen haben, sondern auch die socialen und wirthschaftlichen einer völligen Umwandlung entgegengehen. Der Drang jedes Einzelnen, sich ganz frei auf die eigenen Beine zu stellen, hat hier eine Güterzerstückelung, überhaupt eine fortwährende Zerspaltung aller wirthschaftlichen Existenzen, ein Fluctuiren alles Vermögens und Besitzthums zur Folge gehabt, welches in Deutschland seines Gleichen nicht wieder findet. Diese Zustände hängen auf's engste mit dem gelockerten Familiengeiste zusammen. Der Einzelne will seine persönliche Fessellosigkeit nicht dem Glanz und der Macht der Familie opfern; der Vater würde nicht ruhig sterben können, wenn er, um die Familie dauernd in Ansehen und Besitz zu erhalten, das Erbtheil der nachgebornen Söhne verkürzte und ihnen allenfalls aufgäbe, im Dienste und als Gehülfen des älteren Bruders, des Erbherrn, das gemeinsame Ansehen der Familie fördern und mehren zu helfen. Diese letztere ächt deutsche, und wenn man sie recht erfaßt, tief sittliche Auffassung erscheint dem mit der französischen Idee der individuellen Fessellosigkeit groß gewachsenen Pfälzer als bare Unsittlichkeit. Das Erbe zerfällt also in gleiche Theile und die Mehrzahl der Kinder wird dadurch in der Regel gezwungen, in fremdem Dienste, ja als Taglöhner, ihr Brod zu verdienen. Mit einem bewundernswerthen Heldenmuth des Fleißes und der Ausdauer, – denn dieser zeichnet namentlich die Vorderpfälzer aus – plagen sich nun die Leute, um auf einem winzigen Gütchen zu darben und – frei zu seyn, von den Wucherjuden beherrscht zu werden und frei zu seyn, in fremden Dienst zu gehen, Knecht zu werden, Taglöhner zu werden und – frei zu seyn. Seltsamer Widerspruch! In seines Bruders Hause als Gehülfe und bevorzugter Diener zu arbeiten und den Besitz der Familie als einer moralischen Persönlichkeit dauernd zu wahren, nennt man unerträgliche Sklaverei, dagegen im Dienste fremder Leute zu taglöhnern, Freiheit! So läßt sich auch der Geselle und Lehrjunge in der Pfalz selten mehr die Familienzucht im Hause des Meisters gefallen; er kann ja kraft der Gewerbefreiheit jeden Tag selber Meister werden oder Lohnarbeiter als »sein eigener Herr,« und Lohnarbeiter zu seyn dünkt ihm weit ehrenvoller, als der Familie des Meisters, dem »Ingesinde« im alten stolzen Sinne des Wortes, beigesellt.
Nun möge aber das Gegenbild folgen, ein Bild der deutschen Art, nach welcher der Mann nicht für sich allein fessellos zu seyn begehrt, sondern seine Freiheit sucht in der Macht und Ehre seines Hauses. In Nordwestdeutschland sitzen noch Bauerschaften, bei denen der Hof, die »Stelle,« als Stamm- und Erbgut der Familie noch in eben der Weise hoch und heilig gehalten wird, wie der Patriot sein Vaterland heilig hält. Hier ordnen sich die jüngeren Söhne, wenn sie nicht auswärts ihr Glück suchen, dem älteren Bruder, dem Gutserben freiwillig unter, dienen ihm als bevorzugte Knechte aus demselben Drang, aus welchem die Pfälzer ein solches Verhältniß verabscheuen: – aus Freiheitsdrang. Sie würden es für eine unwürdige Sklaverei halten, bei fremden Herren zu taglöhnern, während sie mit Stolz des väterlichen Hauses Diener sind. Sterben nachgeborene Söhne, die als sogenannte »alte Jungen« ledig bleiben und im Dienste ihres Bruders sitzen, dann vermachen sie in der Regel ihren kleinen Erbschaftsantheil und ihr erspartes Geld wiederum dem Gutsherrn, obgleich derselbe ja ohnedieß schon fast alles besitzt, obgleich die jüngeren Geschwister einen solchen Zuschuß viel besser brauchen könnten, obgleich die natürliche Regung des Neides gegen den Bevorzugten davon abmahnen könnte. Allein es ist auch eigentlich gar nicht der ältere Bruder, dem solchergestalt selbst die Ersparnisse seiner Geschwister wieder zufließen: es ist das Haus, die Familie, dem diese Erbschaft vermacht wird, und der ältere Bruder erscheint hier nur als die Personification des Hauses. Also umgekehrt wie bei den Pfälzern opfert hier der Einzelne sein ganzes persönliches Interesse für das Gedeihen des Hauses, umgekehrt wie in der Pfalz würde hier der Vater nicht ruhig sterben können, welcher um des egoistischen, augenblicklichen Vortheils der einzelnen Kinder willen sein Gut theilte, die »Stelle« zerstörte, die Familie zerstreute, das väterliche Haus zu einer bloßen Abstraction machte. Dem in deutscher Familienhaftigkeit großgewachsenen niedersächsischen Hofbauern würde eben dies wieder wie baare Unsittlichkeit aussehen, was dem Pfälzer Humanität, göttliches und menschliches Recht dünkt.
Hier mag man erkennen, wie tief unsere socialen und wirthschaftlichen Zustände in der Familie gewurzelt sind. Der gleiche Trieb nach Unabhängigkeit und Besitz führt zu direkt entgegengesetzten Zuständen, weil das Verhältniß des Individuums zur Familie anders gefaßt wird, und jede der beiden Parteien glaubt, bei ihr allein sey die Unabhängigkeit gewonnen, bei der andern die Sklaverei. Ohne Vergleich sittlich tiefer als die modern französische scheint mir freilich die deutsche Auffassung, wonach das Individuum seinen Eigennutz und seine Fessellosigkeit zum Opfer geben soll an das Haus. Und zwar wird »das Haus« hier nicht blos gedacht als die gegenwärtige Generation, sondern die große historische Kette unserer Familie in Vergangenheit und Zukunft ist es, vor deren Glanz und Macht das Interesse des Einzelnen verschwinden muß. Soll der Einzelne nicht auch seinen persönlichen Vortheil dem Vaterlande, der Nation opfern? Wohlan! Die Familie ist eine eben so gewaltige, eine eben so heilige und für die Entwicklung der Menschheit maßgebende Thatsache wie die Nation. Ist der aufopfernde Patriotismus etwas sittlich großes, dann muß dies auch die aufopfernde Familienhaftigkeit seyn, wie wir sie in der Sitte jener norddeutschen Bauern verkörpert finden.
Die aufopfernde Familienhaftigkeit ist der beste Rechtstitel des Adels; sie ist es, die ihm auch als moderne Institution eine Zukunft verheißt. Merkwürdig genug trifft sich's, daß es in der Pfalz eben auch keinen grundbesitzenden Adel mehr gibt, und daß wiederum die Franzosen es waren, die ihn von dort vertrieben haben. Auch diese Thatsache hängt zusammen mit der Verläugnung des Hauses, der historischen Familie in der pfälzischen Volkssitte.
Im achtzehnten Jahrhundert waren es mehr die literarischen, im neunzehnten mehr die politischen und socialen Einflüsse Frankreichs, welche auflösend in unser Familienleben eindrangen. Die Sitte des Hauses – das war die beste Provinz, welche uns die Franzosen weggenommen haben. Leider sieht es im Punkte dieser Sitte in gar vielen vornehmen deutschen Häusern aus wie im Elsaß, wo man französisch zu reden noch nicht recht gelernt, das deutsch reden aber schon halb vergessen hat. Uebrigens ist die Wiedereroberung des deutschen Hauses langsam, doch stätig, wieder vorgeschritten, seitdem wir uns politisch und literarisch wieder frei gemacht von der französischen Herrschaft. Als in den dreißiger Jahren französische literarische Einflüsse in der jungdeutschen Schule auf kurze Zeit wieder zu spucken begannen, drängte sich der Gedanke, daß ein Genie kein guter Ehemann seyn könne, das alte Vorurtheil von der Philistrosität des Hauses und der Familie, auch sogleich wieder als eine moderne belletristische Doktrin hervor. Das war nur ein flüchtiges Anzeichen, aber es ist leicht zu deuten.
Nicht Klagen voll Verzweiflung, sondern Klagen, darin eine geheime fröhliche Hoffnung schlummert, dürfen wir gegenwärtig über unser Familienleben erheben. Wir wachsen im Hause, und das ist wahrlich auch ein politischer Zuwachs für die Nation. Wie ganz anders steht jetzt die Wissenschaft zum Hause als vor hundert Jahren! Die Familie ist von der Wissenschaft unendlich tiefer erkannt, sie ist zugleich wieder ein Gegenstand des öffentlichen Interesses in unserem Volke geworden. Erkenntniß ist schon halbe Besserung.
Auch in der Geschichte der Wissenschaft der beiden letztvergangenen Jahrhunderte ist die »Verläugnung des Hauses« mit großen Lettern eingezeichnet. Die gänzliche Verkennung der Idee der Familie hängt hier innigst zusammen mit jener schiefen Fassung der Staatsidee, die sich wie eine erbliche Krankheit durch die ganze Staatswissenschaft des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts fortgeschleppt hat.
Die Staatswissenschaft hatte ebensogut ihre Renaissance und ihr Rococo wie die bildende Kunst. In dem mittelaltrigen Feudalstaate war die Staatsidee unterjocht worden von den Mächten der Gesellschaft und der Familie. Niemals hat die Socialpolitik einseitiger überwogen als im Mittelalter. Von dieser Einseitigkeit suchte man sich in der Zeit der Renaissance zu befreien. Mit den römischen Schriftwerken, mit den römischen Tempeln und Bildsäulen zog man auch die römische Staatsidee wieder aus dem Schutte der Jahrhunderte hervor. Die Wissenschaft knüpfte – wie die Kunst – da wieder an, wo die Römer aufgehört hatten; was dazwischen lag, suchte man zu vergessen. Hugo Grotius sieht in dem Staate nur die Vereinigung freier Menschen zum Aufbau des Rechtes und zur Förderung der allgemeinen Wohlfahrt. Hobbes erklärt den Staat für eine durch Vertrag verbundene Gesellschaft von Individuen, die sich solchergestalt verbündet haben, um dem Elende des Naturzustandes ein Ende zu machen, während Rousseau einen Vertrag der Einzelnen aufstellen will, durch welchen, umgekehrt wie bei Hobbes, das Heil und Glück des Naturzustandes wieder heraufbeschworen werden soll. Damit waren die großen historischen Mächte der Gesellschaft und der Familie theoretisch in die Ecke geschoben. Pufendorf setzt in seinem Naturrecht die allgemeine Moral an die Stelle der geschichtlich gewordenen Sitte und des Gesetzes. Diese Sitte aber ist eben so gewiß die Lebensbedingung der Gesellschaft und der Familie, wie die Rechtsidee die Lebensbedingung des Staates ist.
War der Staat nur ein Vertrag, waren die gesellschaftlichen Zustände nur pactirt worden, beides aus bloßen Gründen der Noth und der äußeren Nützlichkeit, dann lag die Folgerung nahe, in der Ehe auch bloß einen Vertrag zu sehen. Da hatte der heidnische Jurist doch noch eine viel tiefere Anschauung von der Ehe als die christlichen Humanisten des 18. Jahrhunderts (wie denn überhaupt die antike Welt fast überall tiefer ging im Original als in der Copie der Renaissance) wenn er sagt: »Nuptiae sunt conjunctio maris et feminae, et consortium omins vitae, divini et humani juris communicatio.«
Die deutschen Philosophen des vorigen Jahrhunderts vertieften und erweiterten die Staatsidee des Hugo Grotius, aber sie blieben zu ausschließend bei der Rechtsseite des Staates stehen und fielen dadurch immer wieder in die Vertragstheorie zurück. Dieser Zauberbann ist es, der selbst den zum größten Ethiker gebornen Kant zurückhält, das ethische Moment im geschichtlich aufwachsenden Volksleben, die in schönem Doppelsinne »sittliche« Macht in der Gesellschaft und Familie in der Theorie des Staates wieder zur vollen Geltung zu bringen. Wo daher der Staatsrechtslehrer in dieser ganzen Periode der »Renaissance« der Staatswissenschaften vielfach die glänzendsten Lichtseiten aufzeigt, da stehet der Socialpolitiker, wie sich zugleich daneben die tiefsten Schatten lagern.
Der einseitige Rechtsstaat mußte theoretisch zur Lockerung der Ehegesetzgebung, praktisch zur allmähligen Verleugnung des Hauses führen. Der Staat als bloße Rechtsanstalt kennt bloß Individuen, Staatsbürger. Er stehet ab von der naturgeschichtlichen Thatsache der Volkspersönlichkeit, die in den zwei mächtigen Organismen der Gesellschaft und der Familie vor uns steht, geadelt durch die sittliche Potenz der historischen Sitte. Er hält darum jedes Opfer persönlicher Freiheit, welches der Einzelne der Idee der Gesellschaft und der Familie bringen muß, für eine Rechtsbeschränkung die man beseitigen müsse.
Mit dieser Auffassung, die als eine unwiderstehliche kulturgeschichtliche Thatsache den ganzen Geist des achtzehnten Jahrhunderts mitbestimmte, hängt die allmählig eingetretene Praxis einer immer lockeren Ehegesetzgebung eng zusammen. In dem Maße als unsere Gesetze humaner geworden sind, lassen sie die eigenen Rechte der Familie als einer socialen und sittlichen Macht zurücktreten zu Gunsten der egoistischen Freiheit des Individuums.
In unsern Besitzverhältnissen ist z.B. der Begriff des Familieneigenthums fast ganz verloren gegangen. Wir vergessen zuletzt völlig, daß es überhaupt noch anderes Privateigenthum geben könne, als das einzelnen Personen zugehörige. Der alte Rechtsspruch: »so mancher Mund, so manches Pfund,« ist uns bei den Familienerbtheilungen ein so natürliches, gar keines Beweises bedürfendes Axiom geworden, wie etwa, daß zweimal zwei vier ist. Mit diesen Erbtheilungen wird das Loos auch um die Sitte des Hauses geworfen; sie wird in Fetzen zerrissen wie das Vermögen. Es ist das große Verdienst der Aristokratie und einiger alter Bauerschaften, daß sie uns wenigstens ein Bild dessen bewahrt haben, was eigentlich Familieneigenthum heißt, und was dessen sociale und politische Bedeutung ist.
Nach einem uralten, durch Geschichte und Sage verbürgten Rechtsgrundsatz fast aller europäischen Staaten war ein Friedensbruch dem Manne dann erlaubt, wenn es der unmittelbaren Bestrafung der an seinem Weib, seiner Tochter, Mutter oder Schwester verletzten Hausehre galt. Wo die Heiligkeit des Hauses gebrochen wird, da tritt hier sofort ein Ausnahmerecht an die Stelle des Gesetzes. Die Familie steht dem alten Germanen insofern höher denn das Gesetz, als sie der Zweck des Gesetzes ist. Der ganze künstliche Organismus des Staates ist ihm wesentlich vorhanden, um den natürlichen Organismus der Familie sicher zu stellen, und der Friede der Familie steht über dem Landesfrieden.
Das ist eine einseitige, aber tiefe und großartige Auffassung des Hauses, patriarchalischen Zuständen entquollen, in der That nicht mehr passend für unser entwickelteres öffentliches Rechtsbewußtseyn. Aber wie hünenhaft gewaltig steht diese Opferung der allgemeinen Rechtssicherheit für das Haus neben unserer schwächlichen Verleugnung des Hauses zu Gunsten persönlicher Fessellosigkeit!
So sind auch unsere Rechtsbegriffe in Betreff des Hausregiments, der väterlichen Gewalt etc. erstaunlich milde geworden. Eine wohlthuende Humanität ist hier eingezogen, aber es fragt sich, ob nicht hinter dieser Humanität gegen den Einzelnen eine Barbarei gegen das Ganze lauert, ob nicht, wie selbst Herder, der große Verkünder der Humanität, sagt, »das was wir Cultur nennen, oft bloß eine verfeinerte Schwachheit ist?«
Allen Rücksichten hat man Rechnung getragen, nur nicht der socialen Bedeutung der Familie als Gesammtpersönlichkeit, nur nicht der Rettung der Sitte des Hauses.
Wir brauchen nur unsere deutschen Landesgesetzgebungen, wie sie vor hundert Jahren bestanden, nachzusehen, um die ungeheure Umwandlung inne zu werden, welche bei der öffentlichen Meinung über die Familie eingetreten ist. Da sind scharfe Strafen angesetzt gewesen auf heimliche Verlöbnisse nicht nur von solchen, die noch unter elterlicher Gewalt stehen, sondern auch die bereits ihrer eigenen Gewalt waren. Der Akt der Verlobung selbst ist jetzt eine ganz freie Sitte geworden, wobei es sich höchstens noch um ein geselliges Familienfest handelt. Zu unserer Großväter Zeit dagegen hatte dieser Akt auch noch seine im Gesetz geforderten Formalitäten; ein Verlöbniß unter vier Augen war, wie gesagt, selbst den unabhängigsten Brautleuten verboten, und durch die Zuziehung wenigstens zweier Freunde als Zeugen mußte der Vorgang sein officielles Gepräge erhalten.
Nach gemeinem kaiserlichen Recht konnten die Kinder enterbt werden, wenn sie ihre Eltern und Großeltern vorsätzlich geschlagen, ja nur mit schweren ehrenrührigen Injurien tractirt hatten, oder wenn der Sohn für seine zur Schuldhaft gekommenen Eltern nicht bürgen wollte, oder wenn Kinder wider ihrer Eltern Willen ein »leichtfertiges, unehrliches Gewerb« ergriffen hatten, z.B. Scharfrichter, Komödianten oder dergleichen geworden waren.
Hatten die Eltern aber selber ein derartiges Gewerbe betrieben, so durften sie die Kinder nicht enterben, wenn dieselben wider ihren Willen das Gleiche thaten. So untrennbar dachte man in alter Zeit die ganze berufliche und sociale Stellung des Kindes mit der des Vaters zusammenhängend.
Ein merkwürdiges Zeugniß dessen, daß man sich die Stellung des Weibes gar nicht isolirt, sondern nur im Mittelpunkte der Familie denken konnte, liegt in dem alten Gesetzesparagraphen, wonach Eltern, welche ihre Tochter fünfundzwanzig Jahre haben alt werden lassen, ohne ihr zur Ehe zu helfen, dieselbe nachgehends nicht mehr enterben können, wenn sie zu Fall käme oder sich wider ihrer Eltern Willen verlobte. Es liegt also den Eltern indirekt die Pflicht ob, für ihre Tochter einen Mann zu suchen. Das kommt uns, die wir inzwischen so viele Romane gelesen haben, freilich sehr possierlich vor.
Daß unsere Strafgesetze seit hundert Jahren im Allgemeinen milder geworden sind, dafür aber an strenger und consequenter Handhabung gewonnen haben, wird Jedermann als einen Fortschritt anerkennen. Vielleicht ist jedoch der Uebergang von äußerster Strenge zur äußersten Milde bei keinem Verbrechen so grell gewesen als beim Ehebruch. Wo im vorigen Jahrhundert noch Todesstrafe auf demselben stand, da sühnt man ihn jetzt durch eine milde Gefängnißstrafe oder eine Geldbuße. Würde man die organische Volkspersönlichkeit im Staate gründlicher anerkennen, dann müßte bei Ehebruch, wenn auch nicht mehr mit dem Tode, so doch mit einer schweren Strafe gebüßt werden. Denn in der freventlichen Zerstörung des Heiligthums der Familie wird der Organismus der Volkspersönlichkeit in seinem innersten Nerv verletzt. Ist die Ehe ein bloßer Vertrag, dann mag Ehebruch mit einer Geldbuße immerhin genügend bestraft seyn. So scheint auch die gebildete und vornehme Gesellschaft im Zeitalter Ludwigs XIV. und XV. gedacht zu haben. Als die politische und sociale Vertragstheorie für die wahre Offenbarung des Zeitgeistes galt, da brachen die vornehmen und gebildeten Leute die Ehe wie man einen lästigen Contract bricht, hurten nach Herzenslust und berühmten sich dessen, während drakonische Ehebruchsgesetze gleichzeitig den Tod auf solchen »Contractbruch« setzten, und ein Quartier im Thurm mit einem täglichen Frühstück von Peitschenhieben auf die Hurerei. Aber diese Gesetze galten nicht für den feinen Mann, sie galten nur für das rohe, gemeine Volk. Und dieses suchte in der That so gut als möglich seine alte strenge Familiensittlichkeit zu retten.
Jetzt haben wir ein milderes Gesetz und die vornehmen und gebildeten Leute sind in dem besprochenen Punkte entschieden sittlicher geworden, es gehört nicht mehr zum feinen Ton lüderlich zu seyn, und wer es noch ist, der schämt sich dessen und ist es insgeheim. Dagegen ist aber der gemeine und arme Mann in seiner Familiensittlichkeit an gar manchen Orten um so mehr zurückgegangen: er zehrt jetzt noch an den praktischen Resultaten der Lehren des achtzehnten Jahrhunderts. Es ist keine Schulweisheit so hoch und fein, daß sie nicht durch alle Gesellschaftsschichten bis herunter in die letzte Hütte der Armuth dränge, wenn sie sich überhaupt einmal bei den Gebildeten der Nation festgesetzt hat. Die Ausbreitung einer falschen Doctrin hat hier eine fatale Aehnlichkeit mit dem Weltgange der Seuchen.
Aehnlich war es im Zeitalter der Renaissance mit den phantastisch originellen Denkern gegangen, die eben so weit von der Rechtsbegründung des Staates wie von der geschichtlichen Thatsache der Gesellschaft sich ferne hielten, und dafür den Träumen einer ganz neuen socialistischen Gesellschaftsordnung nachhingen. Was Plato über eine neue Ideal-Gesellschaft philosophirt, was der Gnostiker Epiphanes über Weiber- und Gütergemeinschaft gedacht, Campanellas Vorschläge über die Kindererzeugung als Staatsangelegenheit, die Frivolitäten der französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts über das Familienleben, wie die Schwärmereien der modernen Communisten und Socialisten, welche die Familie als eine der patriarchalischen Urzeit angehörige überlebte Form betrachten: – das Alles ist, verdünnt und verflüchtigt, zuletzt bis in die Bildungsatmosphäre unserer großstädtischen Proletarier gedrungen. So mancher »gebildete« Bummler findet es gar nicht uneben, daß ihm ein neuer Glaube gegründet ist, welcher der Lüderlichkeit ein so heiteres Schlaraffenleben verheißt. Wie der »solide Mann« aus Indifferentismus allmählig ohne es selbst zu wissen zur Verleugnung des Hauses kam, so hatte der Lump nun auch eine geistreiche Rechtfertigung für sein geflissentliches Abschwören der häuslichen Tugend gefunden. Beides aber erscheint als der letzte Niederschlag wissenschaftlicher Strömungen, die anfänglich bei den hervorragendsten Geistern ihrer Zeit ihr gutes kulturgeschichtliches Recht gehabt hatten. Wenn aber irgend wo, dann gilt es im Haus und der Familie, daß man nicht gar zu gescheidt seyn soll. »Wer Geck wird, dem fängt's im Kopf an.«
Mit der Verflüchtigung des Familienbewußtseyns im Volk ging die steigende Leichtigkeit der Schließung und Lösung der Ehen Hand in Hand. So werden auch bei den conservativen Bauernschaften Ober- und Niederdeutschlands weit weniger Ehen geschlossen als bei dem der altväterlichen Sitte baren mitteldeutschen Landvolk. Ist die Ehe nur ein Vertrag, dann ist es Barbarei, ihre Lösbarkeit zu erschweren. Von Frankreich, wo die Civilehe am volksthümlichsten geworden ist, verbreiteten sich darum auch die milden Ehescheidungsgesetze über Deutschland. Ueberhaupt ist Frankreich die eigentliche Central-Werkstätte für die Auflösung der Familie. Den bloß bürgerlichen Ehevertrag haben die Franzosen in den letzten Jahren sogar den Muselmännern von Algerien mit einigem Erfolg annehmlich gemacht. Bekanntlich hält kein Volk fester an seinen patriarchalischen Familiensitten als die Araber, und doch sind vor dem Präfecturrath von Constantine Civilehen von Arabern abgeschlossen worden, wobei der Bräutigam, darunter der Abkömmling einer der ältesten Familien des Landes, auf sein nationales und religiöses Recht der Vielweiberei Verzicht leistete.
Wenn nun gar die Türken bis zur Civilehe civilisirt werden, wie sollen da die Deutschen noch mit der kirchlichen Trauung hinter der Zeit zurückbleiben! Im »finsteren« Mittelalter kommen umgekehrt bloß kirchliche Ehen vor, welche nicht als bürgerliche gelten.
Wer überall nur zärtliche Sorge für das Individuum trägt und nichts weiß von dem Opfer der Privatneigungen für das Ganze und für die Idee, der wird für eine möglichst leichte Auflösbarkeit der Ehen stimmen. Soll der Einzelne zu seiner Qual auf sein Leben lang an eine Person gefesselt seyn, die ihm zuwider ist? Und ist es nicht sittlicher eine Ehe zu lösen, die doch keine wahre, als ein lügnerisches Scheinverhältniß fortbestehen zu lassen. Wenn die Ehe ein bloßer Vertrag ist, allerdings. Nur daß dann auch der Schmied von Gretna-Green oder ein Maire eine passendere Person seyn wird, den Trauakt zu vollziehen als ein christlicher Geistlicher. Auch würde hier für die Männer der Vertragstheorie auf die bei den Europäern in Täbris in Persien herrschende Sitte der »temporären Ehen« zu verweisen seyn. Die dort weilenden Griechen aus Konstantinopel pflegen nämlich mit den Töchtern der nestorianischen Christen in Täbris Ehen für die Dauer ihres dortigen Aufenthalts abzuschließen. Der Vertrag wird mit allen Förmlichkeiten, oft auch im Beiseyn eines Priesters, für eine bestimmte Reihe von Jahren oder Monaten vollzogen, und dafür eine festgesetzte Summe entrichtet. Oft hat der neue Ehemann bereits eine Frau in Konstantinopel und erfreut sich dann also der Bequemlichkeit des Postillons von Lonjumeau, auf jeder Station eine Ehehälfte zu finden.
Es liegt in dem Wesen der Familie, daß sie das Beharrende, Feste sey, welches Geschlechter, Stämme, Nationen zusammenhält. Der Segen des »Hauses« für die ganze Erziehung der Menschheit bestünde nicht ohne die unlösbare Bindung der Familie. Die Ehe erhält erst ihre Weihe, die Weihe der vollständigen Hingabe von Mann und Frau, durch ihre Unlösbarkeit; in diesem Sinne ist sie eine göttliche Einsetzung, in diesem Sinne wird sie von der Kirche eingesegnet. Gar Mancher, der sich in der Ehe unglücklich fühlt, und davon laufen möchte, wenn er könnte, wird durch den Gedanken an ihre Unlösbarkeit dazu kommen, sich in der Ehe zurechtzufinden. Andere Ehen sind und bleiben unglücklich. Hier aber soll der Einzelne dennoch die Ehe aufrecht erhalten, in dem Bewußtseyn, daß es groß sey, um einer großen Idee willen, um der Familie willen, sein Kreuz zu tragen. Man muß auch hart seyn können, – absonderlich gegen sich selbst. Zu einem lügnerischen, unsittlichen Scheinverhältniß soll aber eine solche Ehe dennoch nicht werden: denn wer von den beiden Ehegatten noch christlich und sittlich gesinnt ist, der soll nie aufhören zu arbeiten, daß er den andern zu sich herüberziehe. Dadurch wird auch eine solche unglückliche Ehe nicht ohne Weihe und Segen bleiben. Und wenn beide Ehegatten sich dabei nicht lieben können in romantischem, poetischem Minnedienst, dann sollen sie sich lieben um der »Familie« willen, um des »Hauses« willen, um des heiligen, unlösbaren Bundes willen, den sie geschlossen und einander in dieser Liebe ertragen. Darin finde ich Größe des Charakters, Begeisterungsfähigkeit und Aufopferungsmuth für eine der größten Ideen dieser Welt – für die Idee des Hauses – und eine heldenmäßig christliche Liebe. Wo dagegen die Eheleute gleich auseinander laufen, weil ihre Herzen nicht stimmen, weil eines das andere nicht ertragen mag, ja selbst weil eines das andere als in ungeahnte sittliche Verderbniß gesunken erkennt, da wird seyn: Verhätschelung des lieben Ich, Armuth an Begeisterung, an Liebe und an Opferfähigkeit und kleinmüthige Feigheit. Ist die Ehegesetzgebung streng, dann wird man auch weniger leichtsinnige Ehen schließen. Man wird sich hüten vor einer Speculationsheirath. Im südwestlichen Deutschland, wo die Gleichtheilung des Gutes bei den Bauern herrscht, wo in Folge dessen die Kleingüterwirthschaft überwuchert, in Folge dessen eine Ueberzahl zu früh geschlossener, in ihrer Existenz schwankender Ehen sich eingestellt hat, in Folge dessen die besitzlose Bevölkerung fortdauernd wächst und wiederum in Folge dessen die Auswanderung fortdauernd zunimmt: – in diesem Theile Deutschlands sind Speculationsheirathen zur Aufbesserung des allzukleinen väterlichen Erbstückes fortwährend an der Tagesordnung. Dort haben auch die französischen Ehegesetze, die eine möglichst leicht zu schließende und zu lösende Ehe gestatten, den tiefsten Eingang in das Bewußtseyn des Volkes gefunden. Die Früchte ernten wir theils schon jetzt, – noch mehr werden sie ernten, die nach uns kommen.
Der unserer Zeit eigenthümliche Versuch der Ehe zwischen Juden und Christen gehört auch in das Kapitel von der Verläugnung des Hauses. Der ächte Jude besitzt noch ein sehr tiefes und concentrirtes Familienleben, in dem Bewußtseyn des Hauses beschämt er manchen Deutschen. Die Sitten seines Hauses sind dann aber auch natürlich ächt jüdische. Er wird sie unter allen Umständen nicht verschmelzen wollen mit deutschen und christlichen Sitten. Als ein Glied des auserwählten Volkes Gottes, eines Volkes, bei dem die Begriffe von Nation und Religion, von Familie und Religion untrennbar zusammenfallen, wird er es überhaupt verschmähen, bei den Töchtern der Gojim ein Weib zu suchen. Aus demselben Grunde ist eine wahre Ehe auch zwischen Türken und Christen undenkbar. Dem Muselmann steht jeder Ungläubige außerhalb der Nation, außerhalb des Staates, der Gesellschaft und des Hauses. Die Intoleranz ist ihm ein religiös-politisches Grunddogma, wie schon in der Schrift gesagt ist von Ismael, dem Ahnherrn der Araber: »Seine Hand wider Jedermann, und Jedermannes Hand wider ihn: er wird gegen allen seinen Brüdern wohnen.«
Ganz anders dagegen steht es mit den »aufgeklärten« modernen Juden, an die man allein denken muß, wenn von Ehen zwischen Christen und Juden die Rede ist. Für sie existirt das altjüdische Haus so wenig mehr als der altjüdische Glaube. Sie haben sich aber auch nicht positiv etwas Anderem zugewandt, also im vorliegenden Fall dem deutschen Hause und dem Christenthum. Was wir hier als deutsche Sitte des Hauses aus unserm Volksleben zusammengestellt haben, das wird ihnen alles Barbarei und Mittelalter seyn. Also nur auf die Verleugnung des Hauses, auf die Verleugnung nationalen Familiengeistes ist die Möglichkeit einer Ehe zwischen Christen und Juden gegründet. Darum finden solche Ehen auch am meisten Anklang bei den Franzosen, als demjenigen Volke, welches es im ganzen christlichen Europa am weitesten gebracht in der Verleugnung des Hauses.
Wie politische und volkswirthschaftliche Fragen sich oft vollständig umkehren, wenn man den social-politischen Maßstab an sie legt, so erhalten auch die Rechts- und Humanitätsfragen über strenge oder milde Ehegesetze, Civilehe, Christen- und Juden-Ehe, Ehebruch, die Stellung der unehelichen Kinder u.s.w. eine ganz andere Nase, wenn man die Familie dabei als sociales Institut, als das eigentliche Herz der Volkspersönlichkeit ins Auge faßt, das Haus als das organische Vorgebilde der Gesellschaft und die strenge Sitte des Hauses als das Allerheiligste des nationalen Geistes, als den Urquell der ächten Loyalität.
Ich zeigte oben, wie diese Auffassung in unserer modernen Gesetzgebung allmählig immer mehr zurückgetreten sey. Es ist im Gegensatz hierzu das große Verdienst der sogenannten historischen Schule unter den Politikern und Rechtsgelehrten, die Bedeutung der organischen Volkspersönlichkeit für den Staat wieder zum Bewußtseyn gebracht und den Werth der Sitten in und neben den Gesetzen wieder wissenschaftlich gewürdigt zu haben. Die Ergebnisse dieser Richtung kommen keiner Lehre in größerem Maße zu gut als der Lehre von der Gesellschaft und der Familie.
Savigny's classisches Wort, »daß die Gesetze nichts anderes seyn können, als die ins Bewußtseyn aufgenommene natürliche Ordnung, daß die Gesetze nichts Neues schaffen, sondern nur das Bestehende (– das »Gewordene« -) anerkennen können, so wie man im Staate nichts anderes suchen dürfe, als » die äußere Form, die sich das innere Leben der Nation auf natürliche Weise selber geschaffen« – zeigt recht eigentlich den Weg, der aus dem Staatsrecht hinüberführet in die Socialpolitik. Auf diesem Wege hat dann auch eine Wiedergeburt unserer verflachten Gesetzgebung über die Familie bereits begonnen.
In der Zeit politischer Ohnmacht und nationaler Erschlaffung, da wir noch gefangen waren in der Herrschaft Frankreichs, fanden wir die strenge alte Sitte des Hauses lächerlich und verläugneten das Haus. So wird es ein Zeichen der politischen Erhebung unserer Nation seyn, wenn wir die Glorie dieser Sitte wieder mit Stolz und durch die That anerkennen.
Als unsere Urväter, die germanischen Barbaren, zum erstenmale auf der Bühne der civilisirten Welt erschienen, da gaben sie in der strengen Zucht und Sitte der Familie die erste Urkunde ihrer sittlichen Kraft und Ueberlegenheit, davor die ausgelebten Römer erschracken wie arme Sünder. Nicht bloß Tacitus war im ersten Jahrhundert mit Staunen erfüllt vor der Reinheit und Großheit des deutschen Familiengeistes: noch Jahrhunderte lang nachher sprachen die römischen Schriftsteller ihre Bewunderung über die deutsche Sitte des Hauses aus. Und zwar gibt hier der Feind dem Feinde dieses Ehrenzeugniß. Selbst der glühende Ketzerhaß konnte nicht verhindern, daß die rechtgläubigen Katholiken Roms den Gothen, den verhaßten, arianischen Ketzern, den Preis der häuslichen Tugend zugestanden.
Hier erscheinen unsere Männer des Rechtes, der Politik und der Kirche vor Gott und der Welt gesammthaftbar verpflichtet, dahin zu wirken, daß mit der schlimmsten Revolution, der Revolution im Innern des Hauses gebrochen werde, damit uns unsere ältesten Ahnen, bärenhäuterischen Andenkens, nicht länger in dem Punkte der häuslichen Sittlichkeit beschämen, und wir in dem Organismus des »Hauses« nicht nachgerade zurückkommen weit hinter die Barbaren der germanischen Urwälder.
In derselben Zeit, da man in der Praxis der Politik und Gesetzgebung die Familie auf die Seite schob, bekümmerte sich auch die Kirche möglichst wenig um dieselbe. Auch auf ihr lastet die Schuld, mitgewirkt zu haben zur Verläugnung des Hauses. Es war ein gewisser Pastoralhochmuth, der es für eines schriftgelehrten Geistlichen wenig würdig hielt, allzutief in das Amt der Privatseelsorge hinabzusteigen. Der Pfarrer glaubte genug zu thun, wenn er auf der Kanzel seinen Pfarrkindern gegenüberstand, sollte er ihnen auch noch ins Haus rücken? Andererseits war aber auch seit der französischen Revolution bei den Gemeinden jene Begriffsverwechselung gangbar geworden, welche Freiheit und individuelle Fessellosigkeit für gleichbedeutend nahm. Man würde dem Geistlichen die Thüre gewiesen haben, der sich um das Familienleben seiner Gemeindeglieder bekümmert hätte. Den Spruch des Engländers, daß unser Haus unsere Burg sey, trauestirt man sich dahin, daß Jeder in seinen vier Wänden treiben könne, was ihm beliebe.
Gegenüber jenem Pastoralhochmuth, der das Haus zu gering achtete für ein Object priesterlicher Wirksamkeit mögen wir wohl jener in Einfalt frommen großen Maler der alten Zeit gedenken, die, wie van Eyck, Hemmling oder Dürer, ihren Scenen aus dem Leben Christi und der Heiligen dadurch den würdigsten Hintergrund zu geben suchten, daß sie dieselben mitten in das deutsche Haus versetzen. Da finden wir zum Exempel die Jungfrau Maria mitten in einer mit getreuester Liebe abconterfeiten deutsch-bürgerlichen Wohnstube, und zu ihren Füßen liegt zusammengeringelt die Hauskatze, während der Engel des Herrn hereintritt, um die Jungfrau als die Gesegnetste unter den Frauen zu begrüßen. Die trauliche Häuslichkeit schien herrlich und würdig genug als Rahmen zum Erhabensten und Heiligsten.
So verweilten die alten Prediger gerne bei dem sinnigen Gedanken, wie Christus selbst dem »Hause« die größte Ehre angethan, indem er zuerst seine Herrlichkeit den Jüngern bewiesen habe bei einem Feste des Hauses, bei der Hochzeit zu Cana.
Den Predigern ward auch vor Zeiten eingeschärft, fleißig allem Volk zu lehren, daß Gott selbst den Ehestand eingesetzet habe, und zu wachen, daß Zucht und Ehre in den Familien gewahrt werde, »auf daß Gott nicht eine harte Strafe lasse kommen auf unser Land.«
Unsere Vorfahren suchten jedem Ereignisse des häuslichen Lebens durch eine religiöse Weihe Bedeutung zu geben. Unzählige schöne Gebräuche dieser Art sind ganz vergessen und verschollen. So herrschte z.B. im sechzehnten Jahrhundert und wohl auch noch später bei protestantischen Eltern die schöne Sitte, das Kind im Mutterleibe durch einen feierlichen Akt des Gebetes »Christo zuzutragen.« Denn auch die ungeborenen Kinder, wenn wir sie Christo mit dem Gebete zutragen, sollen seine Mitgenossen seyn. »Nimmet er sie nun an, so taufet er sie selbst mit dem heiligen Geiste, ehe sie bei uns zur Wassertaufe kommen.« Also auch das todtgeborne Kind soll durch diesen tiefsinnigen religiösen Hausbrauch zum Erben des Reiches Gottes eingezeichnet werden. Und zwar ist dieser Brauch nicht bloß dem Einzelnen anheimgegeben, die Kirche nahm auch seiner wahr, und er ist geregelt in den damaligen Kirchenordnungen.
Die Kirchenordnung bekümmerte sich noch um die Hausordnung. So kann man etwa in der Kirchenordnung auch einen eigenen Abschnitt über die Hebammen finden. Die Prediger sollen die Hebammen unterweisen, wie sie eine Frau, welche Mutter wird, christlich zu trösten und zur Danksagung zu vermahnen haben, »um deßwillen, daß ihr die Gnade, Kinder zu gebären, von Gott verliehen ward, welche nicht allen Frauen gegeben ist.« In treuherzig naiver Weise wird dann beigefügt, daß Gott selbst bei der Geburt zugegen sey, und – wo Niemand hilft – selber die Stelle der Hebamme vertrete.
Solange noch die Sitte des Hauses jedes bedeutendere Familienereigniß mit irgend einer religiösen Weihe umgab, so lange noch häufige Familienfeste Verwandte und Nachbarn in Freud und Leid zusammenführten, war damit der Kirche zugleich eine Handhabe gegeben, um Kirchenzucht und Hauszucht mit einander gehen zu lassen.
Es besteht in diesem Punkte noch immer ein großer Unterschied zwischen Stadt und Land.
Bei einigen besonders conservativen schleswig'schen Bauerschaften ist es noch üblich, daß der Hausvater eine Magd nur dann dingt, wenn sie verspricht, allsonntäglich die Kirche zu besuchen. In dem auch auf dem Lande städtisch gewordenen, social und kirchlich unterwühlten Mitteldeutschland dagegen pflegt man eine katholische Magd um deßwillen nicht gerne in Dienst zu nehmen, weil sie nicht nur zu viele Feiertage im Kalender hat, sondern auch durch die in der Beichte gegebene strengere Kirchenzucht regelmäßiger als eine protestantische Magd zum Kirchenbesuch möchte angehalten werden.
Wo der Städter – dessen Familienfeste überhaupt fast ganz erloschen sind – das Herüberreichen der Hand der Kirche in seine Häuslichkeit als einen unerträglichen Eingriff der Pfaffen in seine persönliche Freiheit ansehen würde, da fordert der Bauer vom alten Schrot immer noch die Mithaftbarkeit der Kirche für sein Haus als etwas Selbstverständliches. Er will für sein Haus die Privatseelsorge, die in der Stadt ein so mißliebiges Ding geworden, und der Pfarrer, der sich bloß in der Studierstube und auf der Kanzel bewegt, ist ihm ein Nichtsthuer. Er sucht sich einen kleinen Hausgottesdienst zu schaffen, und wäre es auch nur, indem er den Morgen- und Abendsegen und das Tischgebet mit dem »ganzen Hause« spräche. Es gibt da noch mitunter Hausväter von wahrhaft priesterlicher Erscheinung, die ihr Haus regieren »recht als ein Amtmann Gottes in dieser Welt.« Die erweiterten Hausandachten, Bibelstunden, dazu auch die Auswüchse des Conventikelwesens, welches die Gemeinde vergißt über dem Haus, finden darum bei den Bauern weit leichter Eingang, als in der Stadt, weil bei ihnen schon das Haus als solches in Glauben und Aberglauben religiös gestimmt ist.
In der modernen Stadt dagegen ist das Haus aller religiösen Beziehungen baar geworden. Man findet sich ja gerade darum in der Kirche mit dem lieben Gotte ab, damit er Einem im Hause ungestört lasse. Wenn's hoch kommt, hält man sich etwa für Cholerazeiten ein Stück Hausandacht in Reserve.
Auf dem Lande ist es in neuester Zeit mitunter eifrigen strenggläubigen Geistlichen der jüngeren Generation wieder gelungen, die Kirchenzucht in einer Ausdehnung in das Haus hinüberzutragen, daß man staunen muß, wenn man die früheren Zustände gekannt hat. Städter lassen sich dergleichen noch lange nicht gefallen. In einer protestantischen Landgemeinde des westlichen Mitteldeutschlands sah ich ein höchst merkwürdiges Exempel der Umwandlung, welche ein einziger Geistlicher in der oben berührten Richtung gewirkt hatte. Das Dorf war, wie die ganze Gegend, wohlhabend, aufgeklärt, dabei in Auflösung und Indifferentismus des kirchlichen Lebens befangen. Trotzdem gelang es dem Geistlichen, binnen zehn Jahren wieder eine vollständig organisirte Privatseelsorge durchzuführen, zuerst ungern, dann gern gesehen, Eingang zu finden in die Häuser der Familien, die Hausandacht wieder aufzurichten und den Grund zu einer strengen Kirchenzucht zu legen. Er hat in Betreff der Ehre und Zucht des Hauses alte Satzungen wieder geltend gemacht, die dem modernen Bewußtseyn ganz wider den Strich laufen und ist doch bei seinen, wenn schon halbwegs modernisirten Bauern damit durchgedrungen. Er läßt z.B. kein gefallenes Mädchen zum Abendmahl zu, wenn sie nicht, wie man in dortiger Gegend sagt, »vorgestanden« hat, d.h. vor versammeltem Presbyterium in der Kirche ihre Schuld bekannt, Reue gezeigt und Besserung gelobt. Bräute, welche nicht mehr Jungfrauen waren, und es trotzdem wagten, mit einem Kranz auf dem Kopfe vor dem Traualtar zu erscheinen, excommunicirte er. Seitdem ist auch hierbei die alte Sitte wieder fest geworden in der Gemeinde.
Früher ging man bekanntlich in solcher Härte gegen das Individuum noch viel weiter. Man ließ uneheliche Kinder, die doch nichts dafür können, daß sie unehelich geboren wurden und häufig gescheidter seyn sollen als die ehelichen, in keine ehrsame Zunft eintreten; der ächt geborne Mann wollte kein unächtgeborenes Mädchen zur Frau nehmen, und wo sich ja ein solches Paar darüber hinausgesetzt hätte, wäre doch die Braut noch von der Kanzel herunter als ein Hurkind proclamirt worden. Das ist sehr hart gegen das völlig unschuldige Individuum, und man mag seine eigenen Gedanken darüber haben, ob es nicht sehr zweckmäßig sey, daß dergleichen abgekommen. Aber diese Härte war eingegeben von der tiefen Ehrfurcht vor der überwältigenden sittlichen Idee der Familie, und unsere Humanität ist häufig entquollen aus der Verläugnung des Hauses.
Der Jehova des alten Bundes sagt den Hebräern, dem patriarchalischen Familien- und Stammesvolk, daß die Sünden der Väter an den Kindern sollen heimgesucht werden bis ins vierte Glied. Einschneidender kann die tödtende Uebermacht der Familie des Orientes und der Urzeit über alles individuelle Recht gar nicht ausgesprochen werden, als in dieser furchtbaren Verheißung. Es gibt aber auch ein anderes Extrem, wo die Familie erdrückt wird, von der schrankenlosen Berechtigung des Individuums, und bei diesem Extrem stehen wir.
Bei unsern Bauern also kann wohl noch die Zucht der Kirche bis zur Familiensitte durchdringen.
Der Bauer trägt aber nicht nur die Kirche ins Haus; er trägt auch gerne das Haus in die Kirche. Seine häuslichen Nöthe läßt er im katholischen Oberdeutschland als Votivbild malen und hängt dieß in die Kirche; dort werden solche Tafeln zu Tausenden als Vermächtniß für künftige Geschlechter aufbewahrt, eine Leidenschronik der Familien. In der Kirche hat er, gleich dem Edelmann, seinen angestammten Familienplatz. Er geht wo möglich mit dem ganzen Hause zum gemeinsamen Abendmahl. Er findet es nur dann in der Ordnung, wenn seine Kinder in der Kirche getauft, seine Brautpaare am wirklichen Altare getraut werden, während es in den Stadtkirchen viel zu kalt und zugig für die Vornahme solcher Handlungen geworden ist, weßhalb die Stadtleute hier nun wieder einmal ausnahmsweise im Hause bleiben, wo sie gerade das Haus verlassen sollten.
Ein sinniger Brauch ist in neuerer Zeit hier und da durch Bibelgesellschaften eingeführt worden: jedem Brautpaar, vornehm oder gering, wird am Traualtar eine Bibel geschenkt als ein durch die Erinnerung an diesen Moment zum Hausbuch ganz besonders geweihtes Exemplar der heiligen Schrift.
In Oberdeutschland, wo altväterliche Familienhaftigkeit in manchen Städten und bei vielen Bauerschaften noch so fest sitzt, erstreckt sich der Cultus des Hauses auch noch in einer Ausdehnung auf den Kirchhof, von der man in Mitteldeutschland wenig mehr weiß. Selbst die Bauern schmücken hier die Gräber ihrer Angehörigen noch Jahre lang und beten in Tagen der Erinnerung bei denselben. Der aufgeklärte Mann in Mitteldeutschland hält das im Allgemeinen für eine überflüssige Sentimentalität. In den größeren Städten gehört es hier allenfalls noch zum guten Ton, ein Grab in den ersten Jahren zu pflegen: auf den Dörfern dagegen läßt man es verfallen. Namentlich bieten die Kirchhöfe der ehemals reformirten Gemeinden im deutschen Südwesten einen traurigen Anblick. Da macht kein Kreuz, keine Gedenktafel, kein Baum, keine Blume das Grab geliebter Todten kenntlich, nur ein Rasenstück bezeichnet das Kopfende eines Grabes wie des andern, und rasch überwuchert wildes Gestrüpp die versinkenden Erdhügel. Keine Gedächtnißfeier führt die Ueberlebenden zeitweilig zurück zu den Gräbern ihrer Angehörigen. Dadurch ist der Familiensitte ein reiches Gebiet entrissen. Del Allerseelentag mit seinem schweigsamen Gottesdienst vor den geschmückten Gräbern ist ein Fest, um welches wir Protestanten im Interesse des Familiengeistes die Katholiken beneiden müssen. In Augsburg, wo noch so manche altprotestantische Sitte fest wurzelt, feiern auch die Protestanten ein Allerseelenfest auf dem Kirchhof: zum Unterschied von den Katholiken haben sie es auf Allerheiligen gelegt. Der Adel und das bürgerliche Patriciat hat seine Familiengräber; dem armen Manne hat man dagegen auf vielen unserer großstädtischen Kirchhöfe nicht einmal ein eigenes Grab gegönnt. Wer sich nicht für theures Geld seine gesonderte Ruhestätte erkaufen kann, den legt man mit vier, fünf Andern in eine große Grube, ein sogenanntes Freigrab, auf welchem kein Baum gepflanzt, kein Kreuz aufgerichtet werden darf. Es ist dieß eine empörende Sitte, häufig vom bloßen Eigennutz der Gemeinden eingegeben. Den Waisen des armen Mannes bleibt da nicht einmal ein Grab, welches sie ihres Vaters Grab nennen, welches sie pflegen und schmücken und mit dem Zeichen versehen können, durch welches man sonst das Grab eines Christenmenschen unterscheidet von dem Ort wo ein Hund verscharrt ist. Man spricht von der Familienlosigkeit des städtischen Proletariats: was thut man denn aber, um es familienhaft zu machen?
*
In der Blüthezeit des büreaukratischen Regiments, die zugleich die Blüthezeit der Verläugnung des Hauses gewesen, wurde zuerst durch volkswirthschaftliche Bedenken das Auge der Staatsmänner wieder auf die Familie gelenkt. Ueber den Geldkasten führte der Weg ins Allerheiligste des bürgerlichen Lebens. Das Haus ward wieder ein Stoff für den Verwaltungspolitiker, als man dem plötzlich erhobenen Schreckensruf von der drohenden Uebervölkerung nachzudenken begann. Zuerst sprach man von den vielen Kindern, dann von den leichtsinnigen Ehen und so fort, bis man zuletzt bei der Sitte des Hauses ankam. Ein charakteristischer Gang. Da ungefähr, als man das Wasser bis zum Mund gestiegen wähnte, dachte man wieder an die social-politische Potenz der Familie!
Man erging sich eine Zeit lang in widerwärtigen Untersuchungen über eine mögliche Verminderung der »Kinderproduction« (ganz so wie man etwa über eine Verminderung der Hunde debattirt), über die Beförderung der Ehelosigkeit u.s.w. Man übersah aber, daß zumeist dadurch die leichtsinnigen Ehen so überzahlreich geworden, weil das Haus verläugnet, weil die sittliche Würde des Hauses in dem Bewußtseyn der ganzen Nation so tief heruntergedrückt war. Nicht die vielen Kinder an sich sind vom Uebel, wohl aber die vielen Kinder, die kein Haus haben. Von ihnen gilt der Spruch: »Viele Kinder sind Gottes Segen im Haus; aber sie ziehen Einem das Hemd vom Leibe weg.«
Von innen heraus muß die Familie neu gebaut werden wie die Wohnung, fest in Ehren, Zucht und Sitten, dann wird die Klage verstummen über die Vielkinderei und man wird wieder sprechen wie vor Zeiten, daß viele Kinder Gottes Segen seyen.
Es ist ein bedenkliches Zeichen, so etwas wie nationale und sociale Altersschwäche, daß uns der Kinderreichthum Armuth, der Kindersegen ein Unsegen geworden ist.
Gar köstlich sagt noch Fischart in der Gargantua: »Die Kinder sind der Eltern schönster Wintermaien, Leidvergeß und Wendunmuth, des Vattern Aufenthaltung, Leitstäb', Krucken und Stützen, in welchen sein Alter wiederblühsam wird, sind der leiblich Nam' seines Stammens, Spiegel seiner vergangenen Jugend, Anmaßung seiner Geberden, Angesicht und Angestalt, gleichwie eine gezeichnete Heerd'.«
Das klingt uns armen Leuten jetzt wie Ironie, weil wir für unsern Kinderreichthum das Haus noch nicht wiedergewonnen haben, und doch ist es das fröhliche, überzeugungsvolle Bekenntniß eines stärkeren, jugendlicheren Geschlechtes, das bei sich selbst zu Hause war.
So wie sich die Gesellschaft in Individuen zersplittert und das Recht der Familie preisgegeben wird dem Recht der Individuen, ist jedes zweite Kind in der Ehe ein Ueberfluß. Es wird uns aber ergehen wie den Frauen in den alten Volkssagen, die, weil sie den Kindersegen verachtet, hundert Kinder auf einmal statt eines einzigen bekamen.
Uebriges wird im »centralisirten Deutschland« auf dem platten Lande noch wenig über Uebervölkerung geklagt. Dies ist begreiflich. Denn es herrscht da immer noch eine gewisse Geschlossenheit der Familie, des Besitzes und des Erwerbs, die Leute heirathen später und wer nichts hat, der verzichtet häufiger auf die Gründung einer Familie. Im »individualisirten Deutschland« dagegen, wie in den meisten Städten, wo das Recht der Familie so vielfach der Freiheit des Individuums preisgegeben ist, wo Besitz und Erwerb fluctuirt und sich zersplittert, wo Gewerbefreiheit und Güterzerstückelung viele tausend unberechtigte Familienexistenzen ans Licht rufen, wo die Leute früh heirathen, und weil Jeder sein eigener Herr seyn kann, auch jeder heirathen zu müssen glaubt: – dort ist auch die Uebervölkerung mit dem ganzen Gefolge ihres Unsegens eingezogen.
Unversöhnlicher sind überhaupt in Sachen des Hauses und der Familie die Gegensätze wohl niemals wider einander gestürmt als zu gegenwärtiger Zeit. Die geistige Strömung, unser sittliches Culturbewußtseyn, hat sich jetzt entschieden dem. Wiederaufbau der alten Sitten des Hauses wieder zugewendet: die einseitig materielle Entwicklung dagegen, die bloß zählen und rechnen kann, und die sich, wie der derbe Schweizer sagt, für drei Batzen des Teufels Schwanz durch's Maul ziehen läßt, führt eben so direct davon ab.
Durch das immer entschiednere Vorherrschen der Kapitalwirthschaft, durch den beschleunigten Verkehr ist die ganze europäische Gesellschaft beweglicher geworden. Seßhafte Bevölkerungen schwinden, fluctuirende treten an ihre Stelle. Die wandelbare Sitte der Stadt droht die gefestete des Landes zu verschlingen. Es wird allmählig zur Ausnahme, daß der Sohn an demselben Orte bleibt, wo der Vater gelebt hat. Nordamerika, welches die am meisten fluctuirende Bevölkerung der Welt besitzt, zeigt uns darum auch nur noch den winzigen Rest eines »Hauses.« Als der Sohn in der Regel noch das Geschäft seines Vaters fortsetzte, konnten die Sitten des Hauses leicht stabil bleiben. Auch diese ehemalige Regel ist jetzt in den Städten fast zur Ausnahme geworden.
Berechtigtes frühes Heirathen wird bei unsern Erwerbsverhältnissen immer seltener. Wie soll aber der Vater die Sitte des Hauses fest in die Kinder pflanzen, wenn ihn diese erst als einen Mann mit greisen Haaren kennen lernen, wenn er stirbt, bevor sie zu Vernunft und Einsicht gekommen sind? Daß der Großvater oder gar der Urgroßvater den Enkeln und Urenkeln die Ueberlieferungen des Hauses erzählt, das wird bei dem späten Heirathen bald nur noch in Gedichten vorkommen. Es ist eine Calamität geworden, wenn die Leute früh heirathen, eine Calamität, wenn sie spät heirathen, und wenn sie ehelos bleiben, so ist dieß auch eine Calamität.
In diesem Kapitel von der Verläugnung des Hauses habe ich jedem Nachweis von dem Verschwinden des Familiengeistes in den unmittelbar hinter uns liegenden Perioden, Andeutungen über das Wiederaufblühen dieses Familiengeistes in der Gegenwart gegenüberzustellen gehabt. Die Wissenschaft ist von der Idee des abstracten Vertrags- und Rechtsstaates umgekehrt zur Erkenntnis; und Würdigung der organischen Volkspersönlichkeit bei der Herausbildung der öffentlichen Rechtszustände. Damit ist der Familie der rechte Platz gewonnen in der Staatswissenschaft. Die Kirche nimmt sich des Hauses wieder an. Das Haus ist überhaupt wieder ein Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden, und gar manche vergessene Sitte desselben wird gegenwärtig restaurirt. Die Aristokratie sucht ihre alten Hausgesetze wieder hervor, die sie vor fünfzig Jahren als alten Plunder verlacht hat. Die Regierungen denken wieder an Gesetze zur Erweiterung der Fideicommisse, zur Neubegründung und Festigung von bäuerlichen Erbgütern.
Sind das nicht lauter erfreuliche Anzeichen vom Wiederaufbau des Hauses? Aber auch die Verläugnung des Hauses steht noch daneben. Um den bittersten Hohn allen jenen erfreulichen Zeichen der Zeit entgegenzusetzen, brauchen wir nur ein Zeitungsblatt aufzulegen, in dessen Inseraten neben verlorenen Taschentüchern und Geldbeuteln auch »eine Frau gesucht« wird. Selbst in der lüderlichsten Zeit des vorigen Jahrhunderts wäre wiederum ein solcher Hochverrath an der Majestät der Familie undenkbar gewesen. Wer ein solcher Einfaltspinsel ist, daß er seine Frau nicht selber suchen kann, der hat überhaupt gar kein Recht zu heirathen. Er ist ein Unmündiger.
Hier öffnet sich wieder eine schauerliche Aussicht in der Zerstörung des Familiengeistes. Vor einigen Jahren wurde in Berlin durch die Polizei ein »Heirathsbüreau« aufgehoben, wo sich eine ganze Schaar junger Männer hatte betrügen lassen durch die Ausbietung von jungen Damen mit Vermögen bis zu 300,00b Thalern. Wenn der Heirathslustige seine Gebühren erlegt hatte, so erhielt er regelmäßig den Bescheid, die gewünschte Dame habe bereits anderweitig gewählt. Daß eine solche Betrugsanstalt mit dem Ausbieten von reichen Bräuten, die gar nicht existirten, nicht nur einige Zeit bestehen, sondern auch gute Geschäfte machen konnte, ist eine schwere Anklage wider die namentlich in den großen Städten herrschende Verachtung aller Würde des Hauses.
So erscheint uns auch im häuslichen Leben (wie im gesellschaftlichen und politischen) der Geist dieser Uebergangszeit als ein doppelköpfiges Wesen, welches verfährt gleich jenem alten Weibchen, das, vor dem Bilde des Erzengels Michael betend, nicht nur dem himmlischen Rittersmann, sondern auch dem von seinem Schwert niedergeschlagenen Teufel eine Kerze anzündete; aus Vorsicht nämlich, da man ja nicht wissen könne, ob nicht St. Belzebub auch wieder einmal oben auf komme.
Wie der Componist eines Rondos kehre ich beim Schlusse dieses Kapitels zum Anfange desselben zurück.
In der poetischen Literatur wie in der bildenden Kunst wurde uns vor hundert Jahren dargethan, daß es nichts sey mit der deutschen Sitte des Hauses. Wir haben aber eine tröstliche Verheißung des Gegentheils darin, daß dieselbe Sitte gerade in der Poesie und Malerei jetzt wieder immer mehr zu Ehren kommt.
Ich könnte hier auf viele bedeutsame Erscheinungen verweisen; ich will aber nur von zweien Männern reden und sie sollen gelten für Viele.
Der eine ist der Dresdener Maler Ludwig Richter. Mir däucht, wir haben seit dem sechzehnten Jahrhundert keinen Künstler besessen, der das Haus- und Familienleben des deutschen Volkes so tief durchempfunden und so treu im Bilde wiedergespiegelt hat, wie Richter in seinen zahllosen Holzschnittzeichnungen. Darum hat sich auch das deutsche Volk alsbald zu Hause gefühlt in seinen Bildern; er ist der volksthümlichste Zeichner der Gegenwart geworden. In den tausend Scenen, in welchen Richter die Plage und das Glück des häuslichen Lebens malt, hat die Nation jenen deutschen Familiengeist verkörpert wiedergeschaut, den sie besitzen sollte und großentheils nicht mehr besitzt. Möge hier die Kunst eine Prophetin neuer Entwickelungen seyn! Es klingt uns aus Richters Zeichnungen ein Ton entgegen wie eines Volksliedes: der Stoff ist aus dem täglichen Leben gegriffen, die Behandlung die natürlichste, und doch liegt ein dichterischer Zauber über diesen Darstellungen, den man nicht definiren, den man auch nicht nachahmen kann, ohne der Meister selber zu seyn. Jeder meint, gerade so würde er es auch gezeichnet haben, und doch kann es kein Anderer gerade so zeichnen. Richter schlägt fast alle Accorde der in der deutschen Häuslichkeit gewurzelten volksthümlichen Gemüthlichkeit an. Das tolle Treiben der Kinderstube, die schwärmerische Minne der Jugend, Hochzeitzüge und Kindtaufen, die Last der häuslichen Arbeit und das Behagen des gesegneten Mahles im Familienkreise, das gemüthliche deutsche Kneipenleben, die Noth der armen Hütte und den Schmerz des Trauerhauses – das Alles und unzähliges Andere weiß er mit wenigen empfundenen Bleistiftzügen wie ein Gedicht vor uns hinzustellen. Und weil er der geborene Maler des deutschen Hauses ist, drum hat er auch den Hund so lieb und hat ihn in hundertfältig verschiedener Charakteristik überall seinen Menschen beigesellt und dieses Thier des Hauses origineller, vielseitiger und poetischer behandelt, als wohl irgend ein moderner Meister. Mit den drolligen Hunden ist ihm dann auch der deutsche Spießbürger am possierlichsten gelungen. Ein Ehepaar mit einer Rotte Kinder zu zeichnen, die nichts weiter thun als am Mittagstisch Kartoffeln essen und eine solche Tiefe der Empfindung, des göttlichen und menschlichen Friedens in ein solches Bildchen zu legen, wie es Richter bei mehreren Darstellungen der Art gethan, das vermag nur ein deutscher Meister, ein Meister, welcher die ganze Bedeutung des Hauses für das deutsche Volksleben selber durchgelebt hat. Richter legt seine Scenen wohl auch gerne in den Frieden des Waldes; oder in die weite Landschaft gesegneter Feldfluren oder in heimliche Gartenlauben: aber auch da merken wir es seinen idealeren Figuren sogleich an, daß sie in einem deutschen Hause daheim sind und den Frieden dieses Hauses mitgebracht haben in Wald und Feld und Garten. Richter gibt uns jedoch in der Regel nicht geradezu das moderne Haus, er läßt gerne etwas von der Romantik mittelalterlichen Lebens oder von dem schlichten Ernst altväterlicher Zustände in diese neue Welt herüberleuchten. Ja es ist uns mitunter, als gebe er weniger ein Bild des jetzigen Hauses, denn ein Mährchen vom deutschen Hause, welches anhebt mit den Worten: »Es war einmal ...« Doch zeichnet er wiederum auch nicht die Gestalten aus der »guten alten Zeit,« wie sie wirklich gewesen sind, er verschmelzt bloß ihre guten Motive mit den modernen Erscheinungen. So möchte ich die Sitte des Hauses in der Wirklichkeit verjüngen helfen durch die Wiederaufnahme der verklärten guten Sitten der Vergangenheit, wie es Richter als Künstler in seinen Zeichnungen gethan. Denn die alte Zeit mag ich gerne die gute alte Zeit nennen, aber immer in der Voraussetzung, daß unsere Zeit die bessere sey.
Ludwig Richter zeichnet uns alles Gute, Liebe und Schöne, was im deutschen Hause wohnen mag als ein Lichtbild. Höchstens geißelt er den Philister mit harmlosem Humor. Ihm zur Seite möge nun hier der andere Mann stehen, von dem ich zu reden versprochen, der ist ein Bußprediger, welcher die Verderbniß, die über das Haus gekommen, in kühnen Zügen umrissen, die Blüthe des in alter Ehrenfestigkeit gegründeten Hauses zwar auch mit großem Glanze geschildert hat, mit ungleich größerer Macht aber und mit einer Fülle der zürnenden sittlichen Begeisterung den Verfall der häuslichen Sitte, daß ihm hierin kein anderer deutscher Schriftsteller der neueren Zeit gleichkommt. Dieser Mann ist Jeremias Gotthelf. Nicht mit Unrecht gab er sich den Namen Jeremias; denn wie jener klagende Prophet auf die Trümmer von Jerusalem, deutet er uns immer wieder auf das zertrümmerte Heiligthum der deutschen Familie. Seine Bücher sind ohne Form und Maß, bald zu breit und bald zu lang, aber es sprüht ein so frischer Geist voll natürlicher Poesie in ihnen, daß man in dem Verfasser mit Recht ein Stück von einem Shakespeare gefunden hat. Shakespeare als Dorfpfarrer im Kanton Bern. Die ideelle Bedeutung der Kunst und verfeinerten Gesittung für das nationale Leben wird von Gotthelf nicht verstanden; er will sie gar nicht verstehen. Er ist ein eben so großer Barbar gegen den ästhetischen Humanismus, wie die ästhetischen Humanisten des klassischen Zeitalters Barbaren gegenüber dem Haus und der Familie waren. Und wie der feinfühlige, liebevolle, von den Grazien geweihte Richter nicht Bilder genug zeichnen kann, so kann dieser derbste Realist voll unbändiger Naturkraft, dieser zürnende Bußprediger in seiner groben, hagebuchenen Schweizerart nicht Bücher genug schreiben für das gebildete deutsche Publikum! Es bewundert ihn, – wenn es nicht vor ihm erschrickt. Das ist nicht bloß ein literarisches, das ist auch ein culturgeschichtliches Phänomen. Seine norddeutsche Kritiker behaupten, Gotthelf's Schriften leuchteten zwar von einem wunderbaren poetischen Funkensprühen und seyen voll fesselnder Ursprünglichkeit; allein man könne alle diese Bücher nur anfangen, nicht auslesen. Ich habe an mir selber im Gegentheil wahrgenommen, daß, wenn man nur ein einziges Buch von Gotthelf ordentlich zu lesen angefangen hat, der Verfasser einen gar nicht wieder losläßt. Er packt uns wie mit dämonischer Faust und reißt uns in seinen Gedankengang hinein, wir mögen wollen oder nicht. Und doch sind es immer nur die einfältigsten Themen, meist das Haus, die Familie, was er behandelt. Er hat unter andern ein kleines Büchlein geschrieben, betitelt: »Dursli, der Branntweinsäufer.« Die Fabel ist so einfach, daß man sie in drei Zeilen ausschreiben könnte, die ganz gewöhnliche Geschichte eines Familienvaters, der sein Haus durch sein wüstes Kneipenleben in's Elend bringt, aber ganz zuletzt in der zwölften Stunde wieder umkehrt. Diese Sache ist eben nicht neu und die Moral auch nicht. Aber durchaus neu ist die Gewalt der Schilderung, mit welcher uns dieser moderne Jeremias in den immer steigenden Verfall des Hauses blicken läßt: da wächst die simple Geschichte vor unsern Augen zu einer furchtbaren Tragödie auf, und wo die Katastrophe kommt, – so klein und gewöhnlich, daß sie ein regelrechter Poet gar keine Katastrophe mehr nennen würde – da malt sich das einfache Bild des dem Abgrund zustürzenden Hauses so naturwahr in seinen tausend Einzelzügen vor unsern Augen aus, daß es uns die Brust zusammenschnürt, und wir dem Verfasser zurufen möchten, er möge aufhören, wir haltens nicht länger aus! Und wo dann der Sünder sich bekehrt und Buße thut, und eine ganze Familie, die schon wie abgestorben war, wieder auflebt, und Friede und Segen wieder einzieht in das verödete Haus, da möchten wir dem Verfasser abermals zurufen, er möge innehalten, denn der stille Jubel wolle uns das Herz zersprengen.
Das ist der Quell der Poesie, der in dem deutschen Hause verborgen ist, und nur des Poeten harret, der den Mosisstab besitzt, um ihn herauszuschlagen! Diese einfachen und doch so großen Motive des deutschen Hauses und der Familie, das sind die Perlen, welche wir in unserer glänzendsten Literaturperiode vor die Säue geworfen haben, oder wo sie diese nicht mochten, kam höchstens der hinkende Bote oder ein ähnlicher Kalendermann, um sie aufzuheben und in seinen Schnappsack zu stecken.