Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Emmy von Rhoden

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein wenig später lag Ilse in den Armen ihres Vaters und dachte an nichts weiter als an das Glück, wieder daheim zu sein.

»Bist du groß geworden!« rief der Oberamtmann und betrachtete sie mit stolzer Freude; »ich hätte dich kaum wiedererkannt. Als halbes Kind gingst du von uns, und jetzt kehrst du heim als junge Dame.« Er hielt sie noch immer in seinen Armen und konnte sich nicht satt sehen an seiner nunmehr erwachsenen Tochter Ilse.

Sanft entwand sie sich ihm. Sie wollte die Mutter umarmen, die mit Tränen in den Augen daneben stand und ihr die Arme entgegenstreckte. Ilse flog an ihr Herz und umschlang sie innig. »Meine liebe Mama!« Das war alles, was sie sagen konnte.

Frau Macket verstand sie; innig drückte sie ihr Kind an sich; sie wußte, daß ihr Ilses Herz für immer gehörte.

»Hier ist noch jemand, der dich begrüßen will, Kleines«, unterbrach der Oberamtmann die rührende Szene, die ihn selbst so weich stimmte. »Sieh, Onkel Kurt, berühmter Maler und Afrikareisender, freut sich, dich zu sehen und kennenzulernen!«

Ilse reichte ihm die Hand und stand nun einem wirklichen Künstler gegenüber. Ob sie ihn »reizend« fand? Als sie ihn ansah, den mittelgroßen, etwas breitschultrigen Mann in der karierten Jacke, die mehr bequem als elegant saß, mit dem breitkrempigen Hut, der ein braungebranntes, verwittertes Gesicht tief beschattete, da drängte sich unwillkürlich ein anderer in ihre Gedanken, und sie verglich. »Die Juristen gefallen mir doch besser als die Künstler«, meinte sie still bei sich.

Ehe Ilse in den Wagen stieg, wurde sie von Johann feierlich begrüßt. Als besondere Überraschung brachte er Bob mit, der nun in toller, ausgelassener Freude seine Herrin begrüßte. Johann vergaß dabei seine mühsam ausgedachte Empfangsrede. Verlegen drehte er seine Mütze, und sein breiter Mund zog sich von einem Ohr bis zum andern. »Da ist der Hund, Fräulein Ilschen«, sagte er. »Das vernünftige Vieh hat das Fräulein gewissermaßen gleich erkannt. Ich auch, wenn auch das Fräulein schön und stattlich geworden sind.«

Alle lachten, und Ilse reichte dem Freund ihrer Kindheit die Hand.

»Es ist gut, Johann«, sagte der Oberamtmann, »du hast eine schöne Rede gehalten. Nun aber steig auf und laß die Pferde tüchtig ausgreifen! In einer halben Stunde müssen wir in Moosdorf sein.«

Im Vaterhaus war alles festlich vorbereitet. Fahnen, Kränze, Blumen, sogar eine Ehrenpforte mit einem mächtigen »Willkommen!« begrüßte die heimkehrende Tochter.

Ilse gönnte all den Herrlichkeiten nur einen flüchtigen Blick. Ihre Ungeduld trieb sie in das Haus, sie mußte zuerst das Brüderchen sehen.

Frau Anne, die vor ihr hineingegangen war, trat ihr bereits mit dem rosigen Baby auf dem Arm entgegen.

»Du süßer Junge!« rief Ilse in höchstem Entzücken, und das allerliebste Kerlchen streckte ihr jauchzend seine Ärmchen entgegen. »Er will zu mir, Mama. Darf ich ihn nehmen?«

Glücklich lächelnd reichte Frau Anne ihr den Kleinen.

Ilse tanzte mit ihm im Zimmer herum und küßte und herzte ihn, bis er zu weinen anfing.

Die Mutter nahm ihr den kleinen Schreihals ab.

»War ich zu wild, Mama?« fragte Ilse bedauernd. »Sei mir nicht böse darum! Ich freue mich so furchtbar über ihn! Was für dicke Ärmchen er hat!« fuhr sie zärtlich fort und küßte ihn. »Ach, und die lieben, schönen Guckäuglein schwimmen in Tränen! Daran ist nur die böse Schwester schuld, mein kleines Herz.« Sie mochte sich gar nicht von dem Kleinen trennen, bis die Mutter ihn endlich wieder in den Korb legte.

»Nun ist es genug, Kind«, scherzte Frau Anne; »du verwöhnst mir sonst den Jungen, auch vergißt du uns andere darüber. Sieh, Papa und Onkel stehen schon wartend da und wünschen, daß du sie in das Speisezimmer hinüber begleitest. Oder möchtest du erst einmal hinauf in dein Zimmer gehen?« Sie ergriff Ilses Arm und führte sie in das obere Stockwerk.

Die beiden Herren folgten ihnen, und Ilse mußte darüber lachen; sie ahnte nicht, weshalb sie es taten.

Es war eine großartige Überraschung, die auf sie wartete. Als sie ihr Zimmer betrat, blieb sie sprachlos an der Tür stehen. Sie erkannte die früheren Räume nicht wieder. Ihr Wohnzimmer sowie ihr Schlafraum waren mit reizenden Biedermeiermöbeln ganz neu eingerichtet. Nichts war vergessen, vom Schreibtisch bis zu der kleinen Schmucktruhe, die vor dem Spiegel auf einem Schränkchen stand. Sogar eine Staffelei war am Fenster aufgestellt.

Ilses Freude war unbeschreiblich; die Eltern hatten damit ihre kühnsten Wünsche erfüllt. Etwas befangen betrachtete sie Staffelei und Maltisch. »Vater«, erklärte sie schüchtern, »das ist zu schön für mich, ich kann noch gar nicht malen!«

»Bedanke dich bei dem Onkel dafür! Er ist der Spender«, entgegnete der Oberamtmann. »Er hat versprochen, dein Lehrmeister zu sein, das heißt, solange es der Wandervogel bei uns aushalten wird.«

Nach dem Essen schlich Ilse in den Hof hinaus. Sie mußte es heimlich tun, denn Vater konnte sich heute nicht von ihr trennen. Johann wartete längst auf diesen Augenblick und stand schon bereit, das Fräulein zu führen.

Zuerst mußte sie ihm in den Pferdestall folgen, dann kam die Runde durch sämtliche anderen Ställe, und nach der Begrüßung aller Kühe, Hunde usw. wollte er ihr auch noch den neuen Schweinestall zeigen. Diesen Besuch schob Ilse aber für einen anderen Tag auf.

»Schade, schade!« meinte Johann und machte ein niedergeschlagenes Gesicht. »Ich wollte dem Fräulein so gern das neue Schweinehaus zeigen. Es ist gewissermaßen der Gipfel an Wohnlichkeit, man könnte selbst drin wohnen.«

»Morgen, Johann«, entgegnete Ilse, »heute habe ich keine Zeit mehr dazu, ich muß zu den Eltern.«

Kopfschüttelnd blickte der Kutscher ihr nach. »Früher hätte sie das nicht gesagt«, sprach er zu sich und fügte rasch hinzu: »Sollte sie vornehm geworden sein?«

Als der Tag zu Ende war und Ilse allein in ihrem Zimmer war, um zur Ruhe zu gehen, blieb sie noch lange wach. Der heutige Tag war so reich an wechselvollen und freudigen Eindrücken gewesen. Was lag nicht alles zwischen Abend und Morgen! Trennung und Wiedersehen. War sie wirklich erst heute früh von Lindenhof abgefahren und erst gestern aus dem Institut gekommen? Der Abschied von dort schien schon so weit hinter ihr zu liegen. Es war so schön, mit wachen Augen zu träumen, und Ilse mochte noch nicht an Schlaf denken. Ihr Blick fiel auf den geöffneten Reisekoffer, und sie bekam Lust, ihn auszupacken. Sie fing auch an, einige Sachen herauszunehmen und in die neue Kommode zu räumen. Dabei mußte sie an Nellie denken; es fiel ihr ein, wie treu und lustig sie ihr geholfen hatte, damals am ersten Tag im Pensionat. Die gute, geduldige Nellie! Wäre sie doch auch jetzt hier!

Als Ilse ihr Tagebuch aus dem Koffer nahm, behielt sie es sinnend in der Hand. Was es enthielt, waren nur weiße Blätter, denn nie hatte sie das Bedürfnis gefühlt, ihm etwas anzuvertrauen. In halber Zerstreutheit schloß sie auf und legte es geöffnet auf den Schreibtisch. Sie griff nach der Feder, tauchte sie ein, und plötzlich, wie von einer inneren Macht getrieben, schrieb sie die Worten nieder: »Seit ich ihn gesehen...« Weiter kam sie nicht. Sie warf die Feder weit von sich. Was schrieb sie, wessen Bild gaben ihr diese Worte ein? Als hätte sie sich bei einem schweren Unrecht ertappt, schloß sie schnell das Buch und barg es in einem versteckten Fach ihres neuen Schreibtisches. Fort mit den dummen Gedanken, die ihr Unruhe machten und an denen nur Chamissos Leder die Schuld trugen! Sie wollte sie niemals wieder lesen – niemals.

 

Drei Wochen war Ilse schon im elterlichen Haus, und sie fühlte sich so glücklich und wohl daheim wie nie zuvor. Gleich in den ersten Tagen teilte sie ihre Zeit nützlich ein. Auf ihren Wunsch gab ihr Pfarrer Wollert einige Stunden in verschiedenen wissenschaftlichen Fächern. Er war überrascht über die Fortschritte seiner früheren Schülerin, besonders aber freute er sich über ihren Ernst, ihre Beständigkeit beim Lernen.

Auch Frau Anne segnete das Institut, dem es gelungen war, aus dem wilden Kind ein wohlerzogenes, anmutiges junges Mädchen zu machen. Eine solche Umwandlung war ihr vor Jahr und Tag kaum möglich erschienen. An Ilses gutem Herzen hatte sie niemals gezweifelt, aber sie war überrascht von der geduldigen Liebe, die Ilse dem kleinen Bruder entgegenbrachte. Nur der Oberamtmann konnte sich mit der Veränderung seines Kindes nicht abfinden. Manchmal sah er die Tochter prüfend von der Seite an, als wollte er sie fragen: »Ist sie es, oder ist sie es nicht?«

»Ich weiß nicht«, sagte er eines Tages zu seiner Gattin, »Ilse ist mir zu zahm geworden. Ich kann mir nicht helfen, aber mein unbändiges Kind mit dem Loch im Rock gefiel mir besser als die junge Dame im modernen Kleid.«

»Aber Ilse ist wirklich eine junge Dame, lieber Richard«, entgegnete Frau Anne lachend, »du mußt dich wohl daran gewöhnen, in ihr nicht mehr das Kind zu sehen. Übrigens ist sie so heiter und ausgelassen wie früher, nur hat sie gelernt, ihren Übermut zu zügeln. Ich bin sehr zufrieden, wie sie ist, und bin stolz auf mein Töchterchen.«

»Du magst recht haben«, entgegnete Herr Macket. »Mit der Zeit werde ich mich auch an das erwachsene Mädchen gewöhnen, aber ich glaube, es wird noch mancher Tag darüber hingehen!«

»Wer weiß! Ilse reißt dich vielleicht, ehe du es denkst, aus deiner Täuschung und gibt dir den Beweis, daß sie kein Kind mehr ist. Ich habe eine Beobachtung gemacht und glaube nicht, daß ich mich täusche. Der junge Gontrau ist Ilse nicht gleichgültig geblieben.«

Sprachlos blickte Herr Macket seine Frau an. Eine solche Möglichkeit zu fassen war er nicht imstande, sie war ihm noch niemals in den Sinn gekommen. »Du irrst, Anne«, sprach er endlich, »das ist geradezu unmöglich. Oder«, fügte er besorgt hinzu, »hat sie dir vielleicht ein Geständnis abgelegt?«

»Sicher nicht«, wehrte Frau Anne ab, »wo denkst du hin! Ilses Herz ist wie eine jener Pflanzen, die ihre Blätter bei der leisesten Berührung schließen. Noch weiß und ahnt sie selbst nichts von ihren Gefühlen; in ihrer kindlichen Unbefangenheit hat sie mir ihr Geheimnis verraten. Sie spricht gern und oft von Gontraus und weilt am liebsten in ihrer Erinnerung bei dem Sohn, von dem sie ausführlich jede Kleinigkeit erzählt. Du müßtest sie hören, wenn sie die Erkennungsszene am Bahnhof in Lindenhof erzählt, und sehen, wie ihre Augen dabei strahlen!«

»Nun ja«, fiel er ihr ins Wort, »das war romantisch. Du bist eine so kluge Frau, mein Annchen, weißt du denn nicht, daß junge Mädchen gern schwärmen?«

»Höre nur weiter zu, Richard! Neulich fragte sie mich mitten in einem Gespräch, ob ich den Namen ›Leo‹ schön finde und ob Juristen kluge Menschen seien. Den Rosenstrauß, den sie bei ihrem Abschied erhielt, hat sie aufbewahrt. Als ihn neulich die Hausmagd wegwerfen wollte, wurde sie ärgerlich. Sie nahm ihn ihr aus der Hand und steckte die vertrockneten Blumen in eine Vase, die heute noch auf ihrem Schreibtisch steht.«

»Ist das alles, was du weißt?« erwiderte der Oberamtmann vergnügt und sehr erleichtert. »Dann muß ich dir sagen, daß deine Beobachtungen auf sehr wackeligen Füßen stehen. Ich kenne meinen Wildfang besser und weiß, daß er noch fern von solchen Gedanken ist. Ilschen verliebt? Ha, ha, ha! Vergib, mein Schatz, daß ich dich auslache, aber ich kann nicht anders.«

Frau Macket wollte nicht weiter die sichere Unbefangenheit ihres Mannes stören. Sie brach das Gespräch ab. »Was kommen soll, kommt doch«, lachte sie, »und wer kann sagen, wie bald!«

 

Wenige Tage nach diesem Gespräch fand das Erntefest statt. Frau Macket und Ilse befanden sich am Morgen dieses Tages in dem großen Gartensaal. Sie legten die letzte Hand an die gedeckte Tafel, die festlich geschmückt zum Empfang der zahlreichen Gäste bereitstand. Ilse beschäftigte sich damit, die Vasen mit Blumen zu füllen. Sie fühlte sich froh und glücklich; singend und trällernd verrichtete sie ihre Arbeit. »Mama«, unterbrach sie sich plötzlich, »weißt du, daß ich heute recht betrübt bin?«

»Nein«, entgegnete die Mutter lächelnd, »davon habe ich noch nichts gemerkt. Weshalb solltest du auch betrübt sein?«

»Weil Nellie mir nicht geschrieben hat. Ich habe sie so herzlich zu unserem Erntefest eingeladen. Heute sind es sechs Tage, seit ich ihr schrieb.«

»Sie wird keine Erlaubnis erhalten haben, Kind. Du zweifeltest selbst daran, hast du das vergessen? Es wird ihr sehr schwer werden, dir die abschlägige Antwort der Vorsteherin mitzuteilen, oder sollte sie dich heute unangemeldet überraschen?«

»Das wäre himmlisch! Gontrau und Nellie hier, dann wären alle meine Wünsche erfüllt. Aber daran ist nicht zu denken; Fräulein Raimar erlaubt das auf keinen Fall. Nellie muß lernen und immer wieder lernen. Ach, Mama, es muß schrecklich sein, Erzieherin zu werden! Findest du nicht auch?«

Frau Anne versuchte, Ilse von ihrem Vorurteil zu heilen, aber vergeblich. Sie meinte, nur alte Mädchen könnten Erzieherinnen sein, und Nellie passe nicht dazu.

Plaudernd und singend füllte Ilse die Vasen und verteilte sie auf der Tafel. Sie bewunderte noch ihr Werk, als die Mutter sie aufforderte, sich anzukleiden. »Es ist hohe Zeit, Ilse; in einer Stunde wird Papa mit Gontraus zurück sein.«

Ilse flog die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie begann sich eben umzukleiden, als die Magd einen Brief brachte, der soeben mit der Post gekommen war. Endlich die Antwort von Nellie! Sie erbrach ihn sofort und las. Schon die ersten Worte versetzten Ilse in große Aufregung, sie vermochte kaum weiterzulesen. Mit stockendem Atem überflog sie die Zeilen, und als sie zu Ende war, eilte sie, den Brief in der Hand, in das Zimmer der Mutter. Es wäre ihr unmöglich gewesen, die wichtige Neuigkeit länger für sich zu behalten. »Mama«, rief sie ganz atemlos, »ein Brief von Nellie! Ich muß ihn dir vorlesen.« Und sie begann:

 

»Mein süß Ilschen!

Ich bin eine Braut, oh, und ein sehr glückliches Braut! Errätst du, mit wem? Ja? O Ilse, Doktor Althoff ist meiner liebe, liebe Schatz! Ich möchte gleich Dein liebes Gesicht schauen, wenn Du diese große Ereignis liest, ich sehe, wie Du Dein braun Lockenkopf schüttelst, und höre Dir rufen: ›Nellie, wird mir pfoppen!‹ Aber nein, sie pfoppt Dir nicht, alles was sie heute schreibt, ist wahr. Du sollst alles wissen, meine liebe Freundin, ich will erzählen, wie es kam. Oh, es ist eine schwer Aufgabe für mich, ich bin so zerwirrt vom Glück und ich finde mir so schlecht zurecht mit der deutsch Sprach. Du mußt Geduld mit dein Nellie haben, die eigentlich sehr dumm ist. Ich schäm mir, Ilse, wenn ich denke an mein furchtbaren Dummheit. Es ist mir ein Rätsel, wie Alfred mir liebhaben kann. Doch still darüber! Höre weiter!

Mit Dein lieber Brief, den Du mir schriebst, wo Du mir zu Dein Erntefest einladest, kam ein andern Brief an Fräulein Raimar. Als ich nun begriffen war, in ihr Zimmer zu steigen, um sie recht für die Erlaubnis zu bitten, tritt sie ganz plötzlich ohne Anmeldung bei mir ein. Das war ein Wunder, denn sie macht uns niemals eine Besuch, immer läßt sie uns rufen, wenn sie einiges von uns will. Ich erröte vor Schreck, Du kannst denken. ›Nellie‹, spricht sie und hält ein Brief in der Hand, ›dieses Schreiben hier enthält die Anfrage an mir, ob ich nicht eine junge Engländerin zu sofortiger Eintritt empfehlen kann. Vollkommenes Deutsch braucht sie nicht zu sprechen, sie soll nur die drei Kinder Englisch beibringen. Ich denke dir vorschlagen, Nellie. Bist du einverstanden! Die Dame bietet hohe Gehalt.‹

Ich glaube, daß ich ein sehr traurig Gesicht machte zu ihr Vorschlag, und ich konnte auch gar nichts sagen. Dein Brief hielt ich noch in der Hand, aber ich habe nicht gewagt, Fräulein Raimar zu sprechen, sie hätte doch mein Bitten abgeschlagen.

›Du hast wohl keine Lust?‹ fragte die Pensionatsleiterin.

›Oh, gar keine Lust‹, dachte ich, aber ich durft nicht sagen, wie furchtbar schrecklich mir der Gedanke war, ein Vierteldutzend Kinder zu unterrichten. Immer so weise und artig zu sein, immer so mit gutem Beispiel vorangehen, nein, das macht mir gar nicht Spaß.

›Bestimmen Sie für mich, Fräulein!‹, sagte ich. ›Ich werde tun, wie Sie denken. Werde ich aber klug genug sein zu ein so großer Aufgabe?‹

›Laß das meine Sorge sein!‹ sagte Fräulein Raimar sehr bestimmend. ›Ich würde dich nicht empfehlen, wenn ich nicht wüßte, daß du diese Stellung vollkommen ausfüllen kannst.‹

Damit verließ sie mir, und ich blieb tief betrübt zurück.

Die Vorbereitung für meine Abreise wurde gemacht, und ich hatte viel zu tun, oh, und viel zu hören!

Miß Lead hielt langen, strengen Predigten und vorbereitete mich zu einer würdigen Gouvernante. Fräulein Raimar mahnte mir täglich zu Ernst und Gediegenheit, nur Fräulein Güssow sah mir oft mit ein lang traurigen Blick an, der zu mir sprach: Tust mir leid, Darling, daß du unter fremde Leute dienen mußt.

Der ernste Abschiedstag war da. Es war der achtundzwanzigste September, morgens elf Uhr, eine Stund vor meiner Abreise. Ich saß in mein Zimmer auf mein Reisekoffer und weinte. Ich war so gefüllt von Kummer, das Herz drückte mir so schwer wie ein Mühlstein in der Brust. Kannst Du Dich das vorstellen?

Wie ich mir so ganz verlassen fühle und laut schluchze, steht plötzlich Doktor Althoff, mein Doktor Althoff, vor mir. Ich hatte ihn nicht gehört, als er anklopfte und die Tür öffnete. Du kannst mein Schreck denken. Ich spring' von mein Reisekoffer und halt' das Tuch vor mein weinend Gesicht; ich schäme mir so.

Leise zog er es fort und fragte mich mit seiner schöner, tiefer Stimme: ›Warum weinen Sie, Miß Nellie? Tut Sie es weh, aus dem Institut zu scheiden? Möchten Sie bleiben?‹

Ich sagte gar nix, weil ich nicht konnte vor lauter Schluchzen.

›Sehen Sie mich an, Miß Nellie‹, bat er. ›Ich möchte gern Ihre Augen sehen bei das, was ich sie fragen will.‹

Ich versuchte ihn anzublicken, aber ich mußte meine Augen niederschlagen; er hatte ein so sonderlicher Blick, niemals hat er mir so angesehen. Oh, ich ward so angst, und es lief mich ganz heiß über mein Gesicht! Er griff mein Hand und hielt sie fest und dann – ich weiß nicht, wie es kam – mit einem Male nahm er mir in seinen Arm und fragte: ›Haben Sie mich lieb, Nellie?‹

Ilse, kannst Du Dich denken, was ich empfand bei diese Frage? Es war, als ob der Himmel plötzlich offen war und alle Seligkeit auf mein Haupt schüttelte. Im Wachen und im Träumen, immer hör' ich dieser Wort in mein Ohr und zuweilen denk' ich, es ist alles nicht wahr. Doch höre weiter! Du bist mein best' Freundin, und nichts soll dir verborgen sein.

›Hast du mich lieb?‹ fragte er noch einmal. ›Willst du mein kleines Frau sein?‹

›O ja, herzlich gern!‹ sagte ich, und ich weiß nicht, ob es sehr passend von mir war, daß ich so schnell und ohne Besinnen mein Jawort gab, aber ich konnte nicht anders, ich liebte mein Alfred schon lang still in mein tiefster Herz.

Ja, daß ich nicht vergesse – wir haben uns geküßt –, meine Seligkeit kennt keine Grenzen.

Als wir verlobt waren, gingen wir sogleich zu Fräulein Raimar, und Alfred stellte mir als seine Braut vor. O Ilse, Du hättest die erstaunte Gesichter sehen müssen! Es war zu spaßig! Fräulein Raimar weniger, sie weiß immer so gut ihr Gesicht in die gleiche Falte zu legen, man weiß nicht, ob sie Freude oder Trauer hat. Aber ich glaube, diesmal hat sie Freude, denn sie nahm mich in ihr Arm und küßte mir. Zu Alfred sagte sie: ›Wie ist das so schnell gekommen, Herr Doktor? Ich habe niemals von Ihrer Neigung gemerkt.‹

›Ich bin mir selbst erst klar darüber geworden, als ich Nellie verlieren sollte‹, sagte Alfred und bat Fräulein Raimar, die Gouvernante abzubestellen und mir unter ihr mütterlichen Schutz zu behalten, bis wir heiraten. Sie hat es versprochen. So blieb ich hier und packte meine ganzen Siebensachen wieder aus.

Miß Lead glückwünschte mir auch, aber wenn sie auch meiner Landsmann ist, war sie doch kalt wie ein Frosch. Ich glaube, sie hat viel Neid. Aber ich mache mir nix davon und strahle vor Wonne. Fräulein Güssow freut sich furchtbar über mein Glück. Ich habe sie so lieb wie eine Schwester und bitte jetzt alle Tage der liebe Gott, daß er sie von ihr schwer Beruf ablöse; sie ist zu gut für ein streng Lehrerin.

Unsre Freundinnen waren reizend nett, das heißt, nicht alle, denn Melanie und Grete sind schnell abgereist, weil ihre Mutter krank war. Sie wissen noch nichts. Orla beschenkte mir gleich mit ein kostbar Armband zum Andenken und zur Freude über unsere Verlobung. Das klein Lachtaube konnte vor Lachen kein Wort sagen. Rosi sprach ›artige Worte‹ wie immer, und Flora? Sie machte ein lang Gesicht und sah Alfred mit ein schwärmerischer Blick an, dann drückte sie uns stumm die Hände. Gestern hat sie mir mit ein lang ›Elegie an eine Braut‹ beglückt.

Heute früh ist mein Alfred abgereist zu seiner Mutter, das war ein sehr schwerer Abschied. Wir fühlten uns gegenseitig ein wenig schwanken, doch ließen wir die Köpfe nicht fallen. Ich schluckte die Tränen tapfer hinunter, Fräulein Raimar sollte mir nicht schwächlich sehen.

Alfred kommt auch bald zurück, nur acht Tage ist er fort.

Nun leb wohl, dear Ilschen! Ich habe Dir ein langer, langer Brief geschrieben. Nun antworte mir gleich, bitte, bitte! Ich freu' mir furchtbar auf Dein Brief. Du kommst doch zu mein Hochzeit? Neujahr werden wir getraut. Tausend Küsse, mein Herzkind, und grüße Deiner lieber Eltern und das klein Baby von

Dein seligste
Nellie.«

 


 << zurück weiter >>