Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Emmy von Rhoden

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Die Tage wurden kürzer. Der Oktoberwind fuhr sausend durch die Bäume und trieb sein lustiges Spiel mit den trockenen gelben Blättern. Der Garten des Instituts lag öde und verlassen, die Mädchen waren nun auch in ihrer Freizeit auf ihre Zimmer angewiesen.

Flora saß an einem Sonntagnachmittag bei Ilse und Nellie und wollte ihnen ihre neueste Novelle vorlesen, da wurde sie durch Melanies hastiges Eintreten unterbrochen. »Kinder«, rief Melanie aufgeregt, »es ist etwas furchtbar Interessantes geschehen! Denkt euch, eben ist eine sehr elegante Dame mit einem reizenden kleinen Mädchen vorgefahren. Fräulein Raimar empfing sie schon an der Tür, und Orla hörte deutlich, wie sie sagte: ›Sie bringen das Kind selbst, gnädige Frau?‹ – Es bleibt also hier im Pensionat, und wir haben nichts davon gewußt. Warum wird nur die ganze Geschichte so furchtbar geheimnisvoll gemacht? Wir haben doch stets gewußt, wenn eine neue Pensionärin ankam!«

Die Mädchen horchten erstaunt auf. Welch eine Bewandtnis hatte es mit dem kleinen Mädchen, das so plötzlich hereingeschneit kam?

»Oh, welch eine klassische Geschichte!« rief Nellie. »Kommt, wir wollen gleich die fremde Frau mit ihres Kind uns ansehen!«

Alle eilten die Treppe hinunter, Nellie den andern immer voran; sie mußte die erste sein, die die Angekommenen in Augenschein nahm.

Es war aber gar nichts zu sehen, denn vorläufig blieben die Fremden in Fräulein Raimars Zimmer. Doch hielt der Wagen noch auf der Straße, und Nellie schloß daraus, daß die Dame sich nicht allzulange aufhalten werde. »Sehen müssen wir ihr!« sagte Nellie. »Kommt, wir stellen uns an der großen Glastür am Speisesaal und warten, bis sie kommt!«

Als sie dort eintrafen, fanden sie bereits die Tür belagert. Es gab noch andere Neugierige im Mädchenpensionat.

Die Geduld der Mädchen wurde auf eine harte Probe gestellt; wohl eine gute halbe Stunde mußten sie noch warten, ehe der Besuch erschien. Langsam und lebhaft sprechend ging die fremde Dame mit der Vorsteherin an den Lauschenden vorüber. Zum Glück war es bereits dämmrig, und die beiden waren so sehr in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie nicht auf die vielen Mädchenköpfe hinter der Glastür achteten.

»Oh, wie sie hübsch ist!« bemerkte Nellie halblaut.

»Sei doch still, Nellie!« gebot Orla, die das Ohr dicht an die Tür hielt, um einige Worte zu erlauschen.

»Was sagt sie?« fragte Flora. »Ich glaube, sie spricht französisch.«

»Nein. Italienisch«, behauptete Melanie, die seit einigen Tagen italienische Stunden nahm.

»Sie spricht deutsch«, erklärte Grete. »Eben sagte sie: ›Meine kleine Lilli‹.«

»Was du nur gehört hast!« ereiferte sich Orla. »Sie spricht englisch.«

»Oh, eine Landsmann von mir!« rief Nellie erfreut.

In diesem Augenblick kam von der andern Seite des Ganges Rosi Möller. Erstaunt sah sie auf die Belagerung der Glastür. Die Mädchen mußten zurücktreten, um sie einzulassen. »Wie könnt ihr euch nur so kindisch benehmen!« rügte sie sanft und vorwurfsvoll. »Ich begreife eure Neugierde nicht.«

»Du bist auch unsere ›Artige‹!« meinte Grete.

Rosi überhörte diese vorlaute Bemerkung. »Kommt, setzen wir uns an die Tafel mit unserer Handarbeit!« fuhr sie fort, als das Licht angezündet war. »Wir haben die Erzählung von Gottfried Keller noch nicht zu Ende gehört. Willst du heute vorlesen, Orla?«

Aber es kam nicht dazu. Gerade als sich Orla zum Vorlesen zurechtsetzte, trat Fräulein Güssow mit der kleinen Lilli an der Hand ein.

Sofort sprangen die Mädchen von ihren Plätzen auf und umringten sie.

»Sieh, Lilli«, sagte die junge Lehrerin, »nun kannst du gleich deine zukünftigen Freundinnen kennenlernen!«

Die Kleine schüttelte den Kopf »Die Madel sind schon so groß«, antwortete sie unbefangen in ihrem Wiener Dialekt, »die können doch net meine Freundinnen sein!«

Nellie fand gleich einen Ausweg, sie kniete neben dem kleinen Mädchen nieder und sagte: »Jetzt bin ich ein klein Madel wie du und kannst mit mich spielen.«

Lilli lachte. »Nein, du bist groß«, sagte sie, »aber du gefallst mir. – Und auch du«, wandte sie sich zu Ilse, die neben Nellie stand. »Du hast so schöne Lockerln wie ich. Weißt, du sollst meine Freundin sein, mit dir will ich spielen.« Sie ergriff Ilses Hand und sah sie treuherzig an.

Ilse, gerührt von der Zutraulichkeit des anmutigen Kindes, kniete neben ihm nieder und schloß es in die Arme.

Die Mädchen waren ohne Ausnahme von der Kleinen bezaubert. Lange blonde Locken fielen ihr über die Schultern herab und bildeten einen sonderbaren Gegensatz zu den schwarzen Augen mit den feingeschnittenen, dunklen Augenbrauen. Sie trug ein sehr hübsches, weißes Kleidchen, das Hals und Arme freiließ.

Fräulein Raimar war unbemerkt hereingekommen. Nun trat sie in den Kreis und nahm Lilli bei der Hand. »Komm«, sagte sie, »du sollst erst umgekleidet werden! Du könntest dich in dem leichten Kleid erkälten.«

»Bitt' schön, laß mich hier, Fräulein!« bat das Kind. »Ich hab' gar net kalt. Schau, ich geh' immer so! Die Mädel sind so lieb; es gefallt mir hier.«

Fräulein Raimar ließ sich nicht erweichen. »Komm nur, Kind!« sagte sie freundlich. »Du wirst die Mädchen alle beim Abendessen wiedersehen.«

Die abgeschlagene Bitte verstimmte Lilli nicht. »Laß Ilse mit mir gehen, Fräulein!« bat sie.

Dieser Wunsch wurde ihr erfüllt, und Ilse verließ mit dem Kind das Zimmer. Die Vorsteherin wandte sich ernst und mahnend an ihre Zöglinge. »Ich bitte euch, Lilli nicht zu viele Schmeicheleien zu sagen. Wollt ihr sie eitel und oberflächlich machen? Sie ist ein sehr schönes Kind und wird bereits manche Äußerung hierüber gehört haben; es gibt ja unvernünftige Leute genug. Wir wollen nicht in diesen Fehler verfallen. – Lilli bleibt bei uns. Ich erwähnte bisher nichts darüber, weil ihr Eintritt in unser Pensionat noch nicht fest beschlossen war.«

»Wo wohnen Lillis Eltern?« fragte Flora.

»In Wien«, entgegnete das Fräulein. »Der Vater ist tot und die Mutter eine gefeierte Burgtheater-Schauspielerin. Sie kann sich in ihrem Beruf wenig um die Erziehung ihres Kindes kümmern, und daher kommt die kleine Lilli zu uns.«

Lilli erhielt ihren Tischplatz zwischen der Vorsteherin und Ilse. Während der Mahlzeit belustigte sie die ganze Tischrunde. Sie plauderte unbefangen und war weder schüchtern noch ängstlich. »Das macht«, bemerkte Flora, »weil sie unter Künstlern groß geworden ist.«

»Du, Fräulein, gib mir noch a Kipferl, bitt' schön! Ich hab' so großen Hunger«, rief Lilli unbefangen. Und als Fräulein Güssow fragte, welches ihre Lieblingsgerichte seien, meinte sie: »Wiener Würstel«.

»Aber eine Mehlspeis' wirst du wohl lieber essen?«

»O nein, Mehlspeis' ess' i gar net gern! Aber a großes Stückerl Rindfleisch mit Gemüs', das mag i.«

Alles lachte. Selbst die Vorsteherin stimmte mit ein. Wer wollte auch nicht mit Vergnügen dem Geplauder der Kleinen zuhören!

Mit Lilli war ein anderes Leben in die Pension gekommen. Alles drehte sich um sie, jeder wollte ihr Freude machen. Die Mädchen vermieden, ihr Schmeicheleien zu sagen, aber alle umwarben und umsorgten sie zärtlich. Flora geriet jedesmal in Verzückung, wenn ihnen Lilli ein kleines Volkslied vortrug, prophezeite ihr eine große Zukunft und schwur darauf, daß sie einst mit ihrer vollen, weichen Stimme ein Stern am Theaterhimmel sein würde.

Voll und weich war die Stimme zwar nicht, Flora blickte wieder einmal durch ihre romantische Brille.

»Sie ist furchtbar süß!« lispelte Melanie, als Lilli zum erstenmal »Kommt a Vogerl geflogen« vortrug. »Sieh nur, Flora, wie melancholisch sie die Augen in die Ferne richtet!«

»Ja, melancholisch«, wiederholte Flora langsam und feierlich, »du hast recht. Weißt du, Melanie, es liegt so etwas Geheimnisvolles, Traumverlorenes, in ihren samtnen dunklen Mignonaugen, so etwas, das sagen möchte: ›Du häßliche Welt, ich passe nicht für dich!‹«

»Denn es kümmert sich ka Katzerl – ka Hunderl um mi«, schloß ihr Liedchen.

»O wie reizend!« rief Nellie und klatschte in die Hände.

»Wie kann man diese Worte reizend finden!« rief Flora entrüstet. »Traurig – düster, das ist der rechte Ausdruck dafür. Ein einsames, verlassenes Herz hat sie empfunden; welche Folterqualen mag es dabei erlitten haben!«

 

Weihnachten rückte heran, und fleißig rührten sich alle Hände.

Es wurde genäht, gestickt, gezeichnet; Klavierstücke wurden eingeübt, um Eltern und Angehörige liebevoll zu überraschen.

»Was willst du deinen Eltern geben?« fragte Nellie, die eifrig dabei war, mit viel Talent eine Kreidezeichnung zu vollenden. Sie sollte ein Geschenk für den Onkel in London werden, der sie im Institut ausbilden ließ.

»Ich habe noch nicht darüber nachgedacht«, entgegnete Ilse. »Meinst du, Nellie«, fügte sie nach einigem Nachdenken hinzu, »daß die Blumen, die ich jetzt zeichne, Papa Freude machen würden?«

»Oh, sicher! Aber du mußt sehr fleißig sein, mein klein Ilschen, sonst wird die liebe Christfest kommen und du bist noch lange nicht fertig. – Und was willst du deiner Mutter geben?« fragte Nellie.

»Meiner Mama?« Ilse dehnte ihre Frage in die Länge. »Ich werde ihr etwas kaufen«, sagte sie dann obenhin.

Nellie war mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Kaufen, das macht keine Freude«, tadelte sie.«Warum wollen deine Finger faul sein?«

»Nellie hat recht«, mischte sich Rosi in das Gespräch, die neben Ilse saß und an einer Tischdecke arbeitete. »Deine Mutter wird wenig Freude an einem gekauften Gegenstand haben.«

»Ich bin zu ungeschickt«, gestand Ilse offen.

»Wir werden dir helfen und dir alles gern zeigen«, versprach Rosi. »Du kannst ein kleines Nähkörbchen wie Annemie arbeiten, ich weiß bestimmt, es wird dir gelingen.«

Und es gelang wirklich, sogar weit besser, als Ilse es sich selbst zugetraut hatte. Sie freute sich wie ein Kind, als das Körbchen so wohlgelungen in acht Tagen fix und fertig vor ihr stand. »Es sind noch vierzehn Tage bis Weihnachten«, sagte Rosi, »und ich möchte noch etwas arbeiten, für Fräulein Güssow und Fräulein Raimar.«

»Und für meine Lori, bitt' schön, meine gute Ilse!« bettelte Ulli, die gewöhnlich an den Mittwochnachmittagen im Arbeitssaal zugegen war und dann ihren Platz dicht bei Ilse wählte. »Meine Lori muß a neues Kleiderl haben«, fuhr Lilli fort und hielt ihre Puppe in die Höhe. »Bescher ihr eins zum heiligen Christ! Schau, das alte is schon hin!« Natürlich versprach Ilse, ihr diesen Herzenswunsch zu erfüllen.

»Ich habe einen famosen Einfall!« rief Ilse am Abend, als sie mit Nellie allein war. Famos war seit kurzer Zeit Modewort im Institut. »Ich kaufe für Lilli eine neue Puppe und kleide sie selbst an. Was meinst du dazu?«

»Oh, das ist wirklich ein famos Gedanke«, entgegnete Nellie. »Aber, lieb Kind, hast du auch an der viele Geld gedacht, die so ein' Puppe mit ihren Siebensachen kostet? Wie steht's mit dein Kasse?«

»Oh, ich habe sehr viel Geld!« versicherte Ilse ganz bestimmt. Und sie nahm ihre Geldtasche aus der Kommode und zählte ihre Schätze.

»Zwölf Mark«, sagte sie, »das ist mehr, als ich brauche, nicht wahr?«

»Sie sind ein sehr schlecht' Rechenmeister, mein Fräulein, ich mein, sie reichen lang nicht aus.«

Ilse sah ihre Freundin zweifelnd an. »Zwölf Mark ist doch furchtbar viel Geld!«

»Reicht lang nicht«, wiederholte Nellie unerbittlich. »Hör zu, ich will dir vorrechnen:

  1. Ein Nähtischchen für Fräulein Raimar macht vier Mark,
  2. Ein Arbeitstaschen für Fräulein Güssow macht drei Mark,
  3. eine schöne Geschenk für die liebe Nellie und all die andren jungen Freundinnen macht – sehr viele Mark.

Wo willst du Geld zu Puppen nehmen?«

»Ach«, fiel ihr Ilse ins Wort, »und unser Kutscher daheim und seine drei Kinder, daran habe ich noch gar nicht gedacht!« Sie machte ein recht betrübtes Gesicht.

Sie überlegte einige Augenblicke, dann leuchteten plötzlich ihre Augen freudig auf »Halt«, rief sie aus, »ich weiß etwas! Heute abend schreibe ich an Papa und bitte ihn, mir Geld zu schicken. Er tut es, ich weiß es ganz bestimmt. Vater ist so gut!«

»Und dein' Mutter?« fragte Nellie, »ist sie nicht auch ein sehr gütige Frau? Wie macht sie dich immer Freude mit die viel schönen Sachen, die sie an dir schickt! – Freust du dir sehr auf Weihnachten? Ja? Es ist doch schön, die lieben Eltern wiederzusehen.«

Ilse zögerte mit der Antwort. Sie erinnerte sich, wie sie im Sommer ihrem Vater entschieden erklärt hatte, zum Christfest nicht nach Hause kommen zu wollen. Ihre Einstellung war die gleiche geblieben, denn sie konnte den Groll gegen die Mutter nicht überwinden. Sie war sich selbst darüber im klaren und gestand es sich in ihrem Inneren heimlich ein, wie nötig für ihr Wissen und ihre Ausbildung der Aufenthalt in der Pension war, doch hielt sie immer noch an dem Gedanken fest: »Sie hat mich fortgeschickt.«

»Ich werde hier bleiben!« sagte sie; »ich will das Weihnachtsfest mit euch verleben!«

»Das ist famos!« rief Nellie entzückt. »Ich freue mir furchtbar, daß du nicht fortreisen willst! All unsre Freunde reisen auch nicht, und es ist so schön hier, die heilige Christ. Alles bekommt eine große Kiste von Haus, mit allen Bescherung und Schokolad' und Marzipan. Und die Christabend wird jede Kiste aufgenagelt und ich helfe auspacken, der einen und der andren.«

»Erhältst du keine Kiste?« fragte Ilse.

»Du weißt, ich hab' kein' Eltern! Wer sollte mich beschenken?«

»Gar nichts bekommst du?« Ilse begriff es nicht.

»Zu Neujahr schenkt mein Onkel für mir Geld; da kaufe ich mir, was ich notwendig habe.«

Ilse sah die Freundin schweigend an. Am Abend aber schrieb sie einen langen Brief nach Hause, in dem sie zuerst ihren Entschluß mitteilte, daß sie die Weihnachtstage mit den Freundinnen feiern wollte. Dann schilderte sie ihrem Vater mit vielen zärtlichen Schmeicheleien ihren Geldmangel, und zuletzt gedachte sie mit warmen Worten Nellies. »Noch eine dringende Bitte habe ich zum Schluß«, fuhr sie in ihrem Brief fort, »an Dich, Mama«, wollte sie schreiben, aber sie besann sich und schrieb: »an Euch, liebe Eltern.

Meine Freundin Nellie ist die einzige in der ganzen Schule, die keine Weihnachtskiste erhalten wird. Sie ist eine Waise und steht ganz allein in der Welt. Ihr Onkel in London läßt sie als Erzieherin ausbilden. Ist das nicht furchtbar traurig? Ach, und die arme Nellie ist noch so jung und immer so fröhlich! Ich kann mir gar nicht denken, daß sie Erzieherin werden soll. Es ist doch schrecklich, wenn man kein liebes Vaterhaus hat! Nun wolle ich Euch recht von Herzen bitten, Ihr möchtet die Geschenke, die Ihr mir zugedacht habt, zwischen mir und meiner Nellie teilen und zwei Kisten daraus machen. Bitte, bitte! Ihr schenkt mir stets so viel, daß ich doch immer noch genug habe, wenn es auch nur die Hälfte ist. Ich würde gewiß keine rechte Freude am Heiligen Abend haben, wenn Nellie gar nichts auszupacken hätte.

Ich erhielt Eure Erlaubnis, an den Tanzstunden nach Weihnachten teilnehmen zu dürfen, und Du, liebe Mama, versprachst mir ein neues Kleid dazu. Kaufe mir keins! Mein blaues ist noch sehr gut, und ich komme damit aus. Schenk Nellie dafür etwas, bitte! Mit diesem heißen Wunsch umarmt Euch

Eure
dankbare Ilse

N. S. Das Geld schicke nur recht bald, einziges Papachen! Ich brauche es dringend!«

 

Ilses Wunsch, Weihnachten im Institut zu verbleiben wurde gern gewährt; der Vater schrieb, er billige ihren verständigen Entschluß. Die weite Reise war im Winter nicht ratsam. Freilich werde er seinen Wildfang schmerzlich vermissen, und es werde Mama und ihm recht einsam sein, aber er wolle sich mit dem Gedanken an das nächste Christfest trösten.

Ilse war über diese bereitwillige Zustimmung leicht gekränkt, aber es blieb ihr keine Zeit, ihren trübseligen Gedanken nachzuhängen, denn der Briefträger kam und brachte ihr dreißig Mark.

»Dreißig Mark!« jubelte Ilse. »Nellie, nun sind wir reich! Komm, laß uns gleich gehen und unsere Einkäufe machen! Ich kann die Zeit nicht erwarten.«

»O nein, Kind!« entgegnete Nellie bedächtig. »Erst müssen wir ein langer Zettel aufschreiben mit alle Sachen, die wir kaufen werden. Wir müssen doch rechnen, was sie kosten!«

Die beiden Mädchen machten sich also daran, eine Liste der Geschenke aufzusetzen, und Nellie setzte den ungefähren Preis dahinter.

Die wenigen Wochen bis zum Heiligen Abend vergingen viel zu schnell. Nellie und Ilse mußten neben mancherlei anderen Arbeiten auch noch die Puppe ankleiden. Das bedeutete für Ilse eine schwere Aufgabe, und ohne ihre geschickte Freundin wäre sie niemals damit zurecht gekommen.

»Wie geschickt du bist, Nellie!« sagte Ilse, als die Freundin der Puppe das schottische Kleid anprobierte. »Das hast du doch geradezu klassisch gemacht! Ich hätte es wirklich nicht fertiggebracht.«

»Aber hast du niemals ein Kleid für dein' Puppen genäht oder eine Hut oder ein Mantel?«

»Nein«, antwortete Ilse aufrichtig, »niemals. Viel lieber habe ich mit den Hunden gespielt.«

»Da ist kein Wunder, wenn du ein klein', dumm' Ding geblieben bist. Deine Hunde brauchen kein Kleid«, sagte Nellie lachend. »Nun mußt auf dein' alt' Tage nähen lernen, siehst du.«

Ilse lachte fröhlich mit und bemühte sich, das weiße Batistschürzchen für die Puppe, an das sie ringsherum Spitzen nähte, recht sauber und nett fertigzubringen.

Einen Tag vor der Bescherung erhielten die erwachsenen Mädchen die Erlaubnis, die schöne, große Tanne aufzuputzen. Nach dem Abendbrot, als die jüngeren Mädchen zu Bett gegangen waren, begann das Werk.

Orla brachte einen großen Korb mit selbstgesuchten Tannenzapfen und stellte ihn auf die Tafel. Annemie stellte zwei Schälchen mit Klebstoff daneben; in das eine schüttete sie Silber-, in das andere Goldpuder und rührte es mit einem Stäbchen um.

Melanie und Rosi ergriffen die Pinsel und begannen den unansehnlichen braunen Dingern ein goldenes oder silbernes Gewand zu geben. Und wie schnell das ging! Kaum pinselten sie ein paarmal darüber, so waren sie fertig.

»Sieh nur, Rosi«, rief Melanie aus und hielt einen vergoldeten Zapfen unter die Lampe, »ist das nicht furchtbar reizend? Wundervoll, nicht? Gleichmäßig, wirklich künstlerisch ist er vergoldet; kein dunkles Pünktchen ist an ihm zu sehen.« Und sie betrachtete das Prunkstück wohlgefällig von allen Seiten.

»Du bist im höchsten Grad langweilig mit deinem ewigen Selbstlob«, tadelte Orla. »Ich kenne niemand, der so von sich selbst begeistert ist, wie du es bist. Pinsle lieber weiter und halte dich nicht bei unnützen Lobhudeleien auf!«

Melanie fühlte sich getroffen und errötete. »Wie grob du bist, Orla!« sagte sie gereizt. »Du hast freilich keinen Sinn für harmloses Vergnügen.«

»Kinder«, unterbrach Fräulein Güssow, die am anderen Ende der Tafel saß und Äpfel und Nüsse vergoldete, »keinen Streit! – Melanie, komm zu mir! Du kannst mir helfen, und du, Ilse, versuche einmal, ob du Melanies Stelle ersetzen kannst!«

Ilse ließ sich das nicht zweimal sagen. Eilig griff sie zum Pinsel und tat flink und gewandt ihre Arbeit.

Orla war sehr zufrieden. »Nur nicht ganz so dick aufstreichen!« mahnte sie. »Sonst reichen wir nicht mit unserm Gold- und Silbervorrat.«

Flora und Annemie fertigten Netze aus Goldpapier an. »Eine geisttötende Arbeit«, flüsterte Flora Annemie zu, »und außerdem ohne jede Poesie. Warum die Tanne mit allerhand Tand aufputzen? Ist sie nicht am herrlichsten in ihrem duftigen, grünen Waldkleid? Lichter vom gelben Wachsstock in ihr dunkles Nadelhaar gesteckt, ein goldener Stern hoch oben auf ihrer schlanken Spitze, schwebend, strahlend, das nenn' ich Poesie!«

Annemie konnte sich nicht mehr halten, sie bekam einen solchen Lachreiz, daß sie aufsprang und hinauslief, um sich draußen erst auszulachen.

Dicht unter dem Baum standen Grete und Nellie; letztere hoch auf einer Trittleiter, eine große Tüte Salz in der Hand haltend. Die andere, mit einem Leimtiegel in der Hand, war ihre Gehilfin. Sie reichte Nellie den Pinsel zu, und Nellie bestrich die Zweige mit Leim und schüttete dann Salz darauf.

»Jetzt bin ich eine große Sturmwind und mache der Baum voller Schnee«, scherzte Nellie.

Freilich fiel ein großer Teil Salz unter den Baum, aber Nellie ließ sich die Mühe nicht verdrießen; immer wieder kehrte sie es zusammen und strich es mit der Hand dick auf den Leim. »Du alt' Baum wirfst sonst alles Schnee auf die Erde«, meinte sie. »Aber das ist schlechte Arbeit, alle meine Finger kleben.«

Rosi trat jetzt auch an den Baum heran, um ihn mit den glänzenden Tannenzapfen zu schmücken. »O du fröhliche, o du selige Weihnachtszeit!« summte sie vor sich hin, und Fräulein Güssow rief ihr zu: »Sing nur laut, Rosi! Das bringt erst die Weihnachtsstimmung.«

»Wir wollen alle singen!« riefen Grete und Annemie. Und nun erklang aus den jugendlichen Kehlen das schöne Lied vierstimmig. – Die junge Lehrerin senkte den Kopf, der Gesang stimmte sie traurig. Ihre Kindheit, ihre Jugendzeit standen plötzlich lebendig vor ihrer Seele. Wo waren ihre Hoffnungen, ihre Träume geblieben? Alles war zerstört durch ihre eigene Schuld. –

Das war ein Leben am andere Tag! Die Mädchen waren ganz außer Rand und Band. Ilse war ausgelassen fröhlich, und Nellie stand ihr darin bei. Annemie lachte über jede Kleinigkeit; ja, selbst Rosi, die stets Vernünftige, machte heute eine Ausnahme und schloß sich der allgemeinen Stimmung an. Als Flora ein selbstgedichtetes Weihnachtslied zum besten gab und die ganze übermütige Schar sie dabei auslachte, lachte Rosi mit; nur als Nellie zu necken anfing, bat sie sanft: »Bitte, Nellie, nicht spotten! Wir haben die arme Flora schon genug gekränkt, als wir sie auslachten.«

Melanie und Grete waren die einzigen, die eine leise Verstimmung nicht unterdrücken konnten. Sie hatten gehofft, Weihnachten zu Hause verleben zu können, und waren enttäuscht, als die Eltern ihnen nicht die Erlaubnis gaben.

Endlich brach der Abend herein. Die Vorsteherin und Fräulein Güssow hielten sich schon seit zwei Uhr in dem großen Saal auf, und in einer Masse, die dicht daneben lag, saßen erwartungsvoll die Pensionärinnen, natürlich im Dunkeln, denn Licht durfte vor der Bescherung nicht gemacht werden.

Lilli fürchtete sich in der Finsternis. Sie kletterte auf Ilses Schoß und schlang den Arm um ihren Hals. »Kommt denn das Christkind noch net bald?« fragte sie immer wieder. »Schau, es ist schon stockfinster!«

»Bald«, tröstete Ilse und drückte Lilli zärtlich an sich. »Bald kommt das Christkind, ach, und wie schön wird das sein! Soll ich dir ein Märchen erzählen, damit dir die Zeit schneller vergeht?«

»Bitt' schön, von Hänsel und Gretel!«

Ilse begann: »Es war einmal«, als Lilli ihr den Mund zuhielt. »Net weiter!« unterbrach sie. »Ich mag das heut net hören. Ich muß immer an das Christkindl denken. Kennst du das liebe Christkindl, Ilse? Hast du's schon g'schaut?«

»Nein«, sagte Ilse, »gesehen habe ich es noch niemals. Niemand kann es sehen, es wohnt nicht auf der Erde.«

»Wohnt es im Himmel?« fragte Lilli. »Schau, da möcht' ich auch wohnen, da ist's schön, net? Da singen die lieben Englein, und die lieben Englein, die wohnten früher auf der Erde, das waren die artigen Kinder, net? Der liebe Gott hat sie in sein Himmelreich geholt, net wahr, Ilse?«

Das kindliche Geplauder rief sentimentale Ahnungen in Flora wach; sie war im Begriff, ihnen Ausdruck zu verleihen, als ihr Nellie das Wort abschnitt. »Was schwatzt der kleine Kind für Zeug?« sagte sie und streichelte Lillis Hand. »Wo hast du dies gehört? Keiner Mensch hat noch in der Himmel geschaut.«

»Aber Mama hat's gesagt; sie weiß es, net wahr, Ilse?« rief Lilli heftig.

Die gab ihr keine Antwort darauf; sie versuchte, das Kind auf andere Gedanken zu bringen. »Möchtest du wieder zu deiner Mama?« fragte sie.

»Nein«, entgegnete Lilli, »ich bleib' lieber bei euch. Die Mama kümmert sich so wenig um mich. Sie hat kein' Zeit, sie muß immer Rollen studieren«, setzte sie altklug hinzu. »Alle Abend geht sie ins Theater.«

»Denn es kümmert sich ka Katzerl, ka Hunderl um mi!« sagte Flora schwärmerisch.

»Komm zu mir, Lilli!« bat Melanie. »Ich will dir eine schöne Weihnachtsgeschichte erzählen.«

»Bitt', bitt, laß mich bei Ilse bleiben, Melanie! Ich will ganz gewiß recht genau zuhören auf deine G'schicht.« –


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