Emmy von Rhoden
Der Trotzkopf
Emmy von Rhoden

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Im großen Saal, in dem die Bescherung stattfinden sollte, waren die beiden Damen mit den Vorbereitungen nahezu fertig. Fräulein Güssow verteilte einige versiegelte Pakete auf verschiedene Plätze. Es waren die Geschenke, welche die jungen Mädchen sich untereinander bescherten. Der Name der Empfängerin war draufgeschrieben, die Geberin mußte erraten werden.

Fräulein Raimar stand neben dem Gärtner, der damit beschäftigt war, die angekommenen Kisten zu öffnen. Die Deckel wurden lose wieder daraufgelegt, denn das Auspacken besorgten die Empfängerinnen selbst.

Nur mit Lilli wurde eine Ausnahme gemacht: Fräulein Raimar packte die Kiste aus und schüttelte den Kopf.

»Sehen Sie nur den Tand, liebe Freundin!« sagte sie. »Nicht ein vernünftiges Stück finde ich dabei! Zwei weiße Kleider, so kurz, daß sie dem Kind kaum bis an die Knie reichen, ein kleiner Hermelinmuff, ein Paar feine Saffianstiefel, eine Puppe im Ballstaat und vieles Zuckerwerk – das ist alles. Warme Strümpfe und eine warme Decke, um die ich so sehr ersuchte und die dem Kind so nötig sind, fehlen.«

»Hier scheint eine Mitteilung für Sie zu sein«, sagte Fräulein Güssow und nahm ein duftiges rosa Briefchen von der Erde auf Wahrscheinlich war es aus dem Muff gefallen, den die Vorsteherin noch in der Hand hielt. Sie erbrach das an sie gerichtete Schreiben und las:

 

»Ich ersuche Sie freundlich, meiner Lilli die Kleinigkeiten unter den Baum zu legen. Hoffentlich ist das liebe Herzl recht gesund. Nun brauche ich mich nicht zu sorgen, weiß ich doch meinen Liebling in guten Händen! – Wollene Strümpfe und eine Jacke habe ich nicht mitgeschickt; ich möchte das Kind nicht verwöhnen. Es soll immer ein weißes Kleiderl anziehen, Hals und Arme frei; so ist sie es gewohnt, und dabei möchte ich es lassen.

Geben Sie meinem Herzblatt tausend Küsse, und daß es die Mama nie vergißt!

Mit dankbaren Grüßen verbleibe ich

Ihre ergebene
Toni Lubauer.«

 

»Weiße Kleider und dünne Strümpfe!« wiederholte Fräulein Raimar kopfschüttelnd. »Es ist gut, daß wir für einiges gesorgt haben; ich könnte es nicht vor mir selbst verantworten, das kleine Ding so durchsichtig und leicht bekleidet zu sehen.«

Der Gärtner war mit seiner Arbeit fertig und verließ das Zimmer. Die Damen zündeten die Lichter des Baumes an, und als auch das geschehen war, ergriff die Vorsteherin eine silberne Klingel und läutete.

Wie mit einem Zauberschlag flogen die Flügeltüren auf, und die junge Schar stürmte herein.

Lilli stand wie gebannt und hielt Ilses Hand krampfhaft fest.

»Komm!« sagte Fräulein Raimar freundlich. »Ich will dich an deinen Tisch führen, du bist ja ganz stumm geworden!«

Als das Kind vor seiner Bescherung stand, kehrte seine Lebhaftigkeit zurück. »Die schöne Puppe!« rief es entzückt und schlug die Händchen zusammen. »Die ist aber zu schön! Meine alte Lori ist lang net so süß! – Und ein Strohhüterl hat sie auf, ach, und die langen Zopferln! Und ein Schultascherl tragt sie am Arm! Bitt' schön, Fräulein, darf ich sie in die Hand nehmen? Ich möchte sie ganz nah anschaun. Bitt' schön, erlaub mir's!«

Fräulein Raimar erfüllte gern die Bitte des Kindes, das behutsam sein Püppchen in den Arm nahm.

»Sie kann die Augerln schließen!« fuhr die Kleine fort. »Schau, Fräulein, sie will schlafen!« Das Kind war ganz außer sich vor Entzücken bei dieser Entdeckung. »Hast du mir die Puppe geschenkt, Fräulein Raimar?«

»Nein«, entgegnete die Vorsteherin, »Ilse und Nellie haben sie dir angezogen. Aber sieh, hier hast du noch eine Puppe, die hat dir deine Mama geschenkt!«

Sie gönnte der kostbaren Balldame kaum einen Blick. »Die ist mir zu geputzt«, sagte sie, »die kann ich doch net in das Bett legen! Die kann net mein Kind sein.« Und mit der Puppe im Arm lief sie zu Ilse, um sich zu bedanken.

Ilse war sehr beschäftigt. Sie packte ihre Kiste aus und hatte keine Zeit, an etwas anderes zu denken. »Später, Liebling«, sagte sie und fertigte die Kleine mit einem flüchtigen Kuß ab. Soeben hielt sie einen prächtigen rosa Wollstoff in der Hand, und Nellie stand neben ihr und bewunderte ihn lebhaft.

»O wie süß!« rief sie. »Wie von Spinnweb so fein! Und wie er dir kleidet! Das wird ein schön' Tanzstundenkleid; du wirst dir wie eine Fee darin machen.«

Aber Ilse freute sich nicht über das kostbare Geschenk, es malte sich sogar etwas wie Enttäuschung in ihrem Gesicht. Warum hatten die Eltern ihre Bitte nicht berücksichtigt, ja nicht einmal eine Antwort darauf gegeben? Und Nellie war so gut, so neidlos teilte sie ihre Freude!

So mochte auch Fräulein Güssow denken, die näher getreten war. Sie legte den Arm um Nellies Schultern und fragte: »Warum packst du nicht deine Kiste aus?«

»Meine Kiste?« wiederholte Nellie. »O Fräulein, Sie spaßen! Für mich gibt es das nicht.«

Ilse horchte auf. Sie warf der jungen Lehrerin einen schnellen, fragenden Blick zu. Fräulein Güssow antwortete mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Wer weiß!« fuhr sie fort. »Sieh einmal nach! Vielleicht hat eine gütige Fee dir etwas beschert.«

Ilse erhob sich schnell aus ihrer knienden Stellung und nahm die Freundin an der Hand. »Komm«, sagte sie, »wir wollen suchen!« Ilse hatte am Ende des Saales eine herrenlose Kiste entdeckt. Dorthin zog sie Nellie.

Und richtig, da stand mit großen Buchstaben auf dem Deckel: »An Miß Nellie Grey.« – Es gab keinen Zweifel mehr.

»Oh, was ist dies?« rief Nellie überrascht, und ihre Wangen röteten sich. »Wer hat an mir gedacht?«

»Ja, sie ist wirklich für dich«, versicherte Ilse strahlend, denn nun empfand sie erst die echte Weihnachtsfreude. »Nimm nur den Deckel hoch!«

Immer noch etwas zögernd folgte Nellie dieser Aufforderung. Welche Überraschung! Da lag obenauf ein gleicher Stoff in Blaßblau, wie sie ihn soeben in Rosa bei Ilse bewundert hatte.

Und wie sie nun weiter auspackten, jetzt eine jede ihre eigene Kiste, da fanden sie jubelnd stets die gleichen Herrlichkeiten. Bald war es eine gestickte Schürze, dann kamen feine Strümpfe und Handschuhe an die Reihe; sogar die Korallenkette, die ein sehnlicher Wunsch Ilses war, fehlte bei Nellies Bescherung nicht. Auch die vielen Leckereien waren gleichmäßig verteilt.

Ilse fand in einem Karton mit Briefpapier einen langen, zärtlichen Brief der Eltern, und als Nellie den ihrigen öffnete, lag auch für sie ein kleines Briefchen darin.

 

»Meine liebe Nellie«, schrieb Ilses Mama, »ich darf Sie doch so nennen als meiner Ilse liebste Freundin? Mein Mann und ich möchten Ihnen so gern einen kleinen Beweis geben, wie dankbar wir Ihnen sind für die Liebe und Freundschaft, die Sie stets unserem Kind zuteil werden ließen. Zwei Freundinnen müssen aber auch gleiche Freuden haben, und mit diesem Gedanken bitten wir Sie herzlich, den Inhalt der Kiste freundlich anzunehmen.

Mit dem aufrichtigen Wunsch, daß Sie auch fernerhin unserer Ilse eine treue Freundin bleiben mögen, grüßt Sie herzlich

Anne Macket.«

 

Nellie fiel Ilse um den Hals und vermochte kein Wort hervorzubringen. Die Rührung schnürte ihr die Kehle zu; Tränen waren seltene Gäste bei unserer Nellie. Wer hätte auch auf ihre Tränen achten sollen! »Dein Mutter ist ein Engel!« brachte sie endlich, halb schluchzend, heraus. »Wie soll ich sie für alles danken!«

»Ja, Mama ist sehr gut«, bestätigte Ilse, und zum erstenmal stieg ein warmes, zärtliches Gefühl für die Mutter in ihrem Herzen auf.

»Seid ihr fertig, Kinder? Habt ihr alle eure Kisten ausgepackt?« rief Fräulein Raimar und unterbrach das Gewirr von Stimmen, das laut und lebhaft durcheinanderklang.

»Ja, ja!« kam es zurück, und nun begann ein allgemeines Zeigen und Bewundern der Geschenke. Die Vorsteherin blickte in lauter freudig erregte und zufriedene Gesichter. Nur Flora sah etwas enttäuscht aus. Sie hatte anstatt Jean Pauls Werke, die sie sich so glühend gewünscht hatte, Schlossers Weltgeschichte erhalten. Ihr Vater schrieb dazu, daß sie das gewünschte Werk erst erhalten werde, wenn sie reifer für solche Lektüre sei.

Reifer! Es klang wie bitterer Hohn. Sie fühlte sich mit ihren sechzehn Jahren schon überreif, da sie selbst poetische Werke schuf, und sie sollte nicht Jean Paul lesen!

Nun nahmen die Mädchen die Gaben der Lehrerinnen in Empfang. Und zum Schluß kamen endlich die versiegelten und verpackten Überraschungen an die Reihe.

Da gab es allerhand drollige und lustige Dinge, und der Jubel und das Lachen wollte kein Ende nehmen.

Flora wickelte aus zahllosen Papieren einen langen, blauen Strumpf und hielt ihn hoch in der Hand. Sehr verwundert drehte sie diese sonderbare Gabe nach allen Seiten, die ironische Anspielung, die darin zum Ausdruck kam, fiel ihr nicht gleich ein. »Ein Strumpf?« fragte sie. »Was soll ich damit?«

»Er ist dein Wappen, lieber Blaustrumpf«, belehrte sie Orla. »Der Einfall ist wirklich famos!«

»Er ist von dir«, beschuldigte sie Flora.

»Leider nein«, entgegnete Orla.

Annemie lachte so laut und herzhaft, daß sie sich als die Geberin verriet. »Bist du mir böse, Flora?« fragte sie gutmütig.

Sonderbare Frage! Ganz im Gegenteil, Flora fühlte sich sehr geschmeichelt, daß man sie zu den Blaustrümpfen zählte. Der gestickte Schlips, der in dem Strumpf steckte, erfreute sie nicht halb so wie die dichterische Anerkennung. – In bester Stimmung löste sie jetzt den Bindfaden von einem Pappkasten. Auf den Deckel war ein Weinglas gemalt und mit großen Buchstaben stand »Vorsicht!« daneben geschrieben. Ganz behutsam nahm sie dann auch den Deckel ab, warf die Papierschnitzel heraus und fand, in feines Seidenpapier eingeschlagen, ein zerbrochenes Herz von Biskuit. »Wie abscheulich von dir, Nellie!« rief sie gekränkt.

»Nicht so hitzig, Flora!« rief Grete. »Sieh doch das zerbrochene Herz erst näher an!«

Sie entschloß sich nur zögernd, aber als sie geschickt darin verborgen ein reizendes kleines Nadelkissen entdeckte, söhnte sie sich mit der bösen Nellie aus.

Aber nicht nur Flora, auch all die übrigen mußten manche kleine Neckerei in Kauf nehmen. Nellie stand vor einem großen Berg Eßwaren, die sie aus ihren Paketen herausgewickelt hatte: Schokolade, Marzipan, Apfelsinen, Rosinen und Mandeln, Lebkuchen und in einer reizenden Porzellandose zwei saure Gurken, ihre Lieblingsspeise. Sie lachte und fragte, ob sie ein so hungriges Mädchen sei. »Oh, da ist ja noch ein Paket!« fuhr sie fort. »Was für ein leckerer Bissen wird darin sein?«

Aber sie irrte sich, diesmal kam ein Buch zum Vorschein, und als sie es aufschlug, las sie auf dem Titelblatt: »Deutsche Grammatik«. Ein Blatt Papier mit einem Gedicht lag dabei. Nellie las es vor:

»Lerne fleißig die deutsche Sprache,
Willst du begreifen holde Poesie!
Dies Buch ist einer Verkannten Rache,
Die du verstanden hast noch nie.«

»Flora«, rief Nellie, »du hast mir mit deine edle Rache sehr beschämt. Ich werde lernen aus dieses Buch und dir verstehen. Komm, gib dein' Hand! Ich verspreche dich, daß ich nie wieder deine holde Poesie auslachen will, und wenn sie voll lauter zerbrochene Herzen ist.«

Orla erhielt unter anderem eine Brille und – o Schrecken! – auch eine Schachtel Zigaretten.

Fräulein Raimar stand neben ihr und sah das verräterische Ding. »Was ist denn das?« fragte sie. »Ich will nicht hoffen, Orla, daß du rauchst. Du würdest mich sehr erzürnen, wenn dies der Fall wäre. Doch«, unterbrach sie sich, »wie komme ich dazu, einen Scherz für ernst zu nehmen! Am Weihnachtsabend sind dergleichen Witze erlaubt.« Leiser und nur für die Russin vernehmbar setzte sie hinzu: »Ich habe das feste Vertrauen zu dir, daß du niemals rauchen wirst.«

Die Angeredete schwieg und senkte die Augen. Der Tadel traf die Wahrheit, sie rauchte wirklich manchmal im verborgenen eine heimliche Zigarette.

Melanie liebäugelte mit einem zierlichen Handspiegel. Sie freute sich sehr über ihn, noch mehr aber über ihr eigenes Bild, das ihr entgegenlachte.

Grete blickte ihr über die Schulter. »Das ist eine Anspielung auf deine Eitelkeit, Melanie. Ich habe nichts bekommen, was mich ärgern oder wodurch ich mich betroffen fühlen könnte.«

»Nun glaubst du dich wohl fehlerfrei, liebe Grete?« spottete Melanie. »Bilde dir das ja nicht ein, liebes Kind! Du bist noch lange kein vollkommenes Wesen. Es gibt sehr vieles an dir auszusetzen.«

Als sollten ihre Worte sofort in Erfüllung gehen, rief Fräulein Güssow: »Grete, da steht noch eine Schachtel auf deinem Platz. Es lag Papier darauf, und du wirst sie deshalb übersehen haben.«

Vergnügt und erwartungsvoll öffnete Gretchen die Schachtel. O weh. Als sie den Deckel abhob, lachte sie ein glänzendes, zierlich gearbeitetes Vorlegeschloß boshaft an.

»Das ist eine Anspielung auf dich, teures Plappermäulchen«, rief Melanie mit schwesterlicher Schadenfreude und hielt das Schloß an Gretes Lippen. »So, damit du in Zukunft hübsch schweigst und nicht so vorlaut bist.«

Ilse holte aus einer mächtigen Kiste, die bis obenhin mit Heu gefüllt war, einen Hund. Keinen lebendigen, o nein! Es war nur einer aus Pappe. Er war braun und hatte weiße Pfötchen. Um den Hals trug er an einem roten Band einen Zettel, auf dem mit großen Buchstaben »Bob« geschrieben war.

»Orla!« erriet Ilse sofort. Orla zog sie oft genug mit ihrem Hund auf. Es kam ihr jetzt selbst recht lächerlich vor, wenn sie sich ihren Einzug in der Pension mit Bob auf dem Arm ausmalte.

Ilse fand noch eine Überraschung vor. In einem reizenden Arbeitskorb fand sie einige Äpfel aus Marzipan.

Nellie stand neben Ilse und flüsterte ihr zu: »Diese sind Äpfel von der Baum – weißt du noch?«

Ilse blickte ängstlich zur Seite, aber Nellie fuhr beruhigend fort: »Du darfst nicht Angst haben, niemand hört uns.«

Sie hatte recht. Die allgemeine Aufmerksamkeit war auf einen Vogelkäfig gerichtet, in dem eine Lachtaube saß. Annemie hielt ihn freudig überrascht in der Hand.

»Nun könnt ihr um die Wette lachen«, scherzte die Vorsteherin, »denn das Täubchen darfst du behalten und in deinem Zimmer aufhängen. Aber vergiß niemals, Annemie, daß du das Tierchen regelmäßig füttern mußt!«

So erhielt eine jede ihre scherzhafte Rüge, nur Rosi nicht. Die Pensionärinnen hatten sich den Kopf zerbrochen, um einen Tadel an ihr zu entdecken, aber zu ihrem Bedauern keinen gefunden. »Ganz ohne Scherz darf sie nicht sein«, hatte Nellie erklärt und ein Bilderbuch gekauft, auf dessen Titelblatt in goldenen Buchstaben drei Worte glänzten: »Für artige Kinder.« –

Nachdem die Bescherung zu Ende war, wurde der Tee eingenommen und kurze Zeit darauf zur Ruhe gegangen. Lilli wurde es schwer, sich von ihren schönen Dingen zu trennen; sie wollte nicht zu Bett gehen, aber der Sandmann kam und streute ihr den Schlaf in die Augen.

Es wurde still und dunkel im Haus. Der Christabend war zu Ende mit seiner frohen Erwartung und seinem Lichterglanz.

 


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