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Früh, wenn Frau Butz und ihre Jungen noch warm in den Federn lagen und wohl eine Stunde noch schliefen, ging Mignon bereits in die kalte Nacht hinaus. In einem Korbe, den sie am Arme trug, lag das Weißbrot, das sie abliefern mußte. Einen Morgen war sie mit Gottlieb gegangen, dann mußte sie allein durch die dunklen Straßen trippeln. Sie mußte manche Treppe hinaufsteigen und sich tüchtig dazuhalten, damit sie ja zur rechten Zeit zur Schule kam.
Christel jammerte die Kleine, und so viel sie es vermochte, erleichterte sie deren hartes Los und tat ihr Liebes und Gutes.
Ehe Mignon fortging, mußte sie heißen Kaffee trinken am Küchenofen, dann packte Christel sie warm ein. Die Jacke von Frau Steinbach war ihr noch nicht warm genug. Sie nahm ein Umschlagetuch, das ihr gehörte, und band es dem Kinde darüber. Die Kapuze von dickem Stoff wurde mit einer Nadel über dem Munde zusammengesteckt, so daß nur die Augen frei blieben; »damit du nicht so viele scharfe Morgenluft einatmest,« sagte sie fürsorglich. Zuletzt zog sie Mignon noch ein paar wollene, gestrickte Handschuhe an, die sie noch neu im Kasten liegen gehabt, und band dieselben über der Hand an dem Arme fest.
Doch – trotzdem sie so gut versorgt war, drang die grimmige Kälte durch die warme Verhüllung und durchschüttelte die zarten Glieder Mignons, die ja nicht gewohnt war, bei Eis und Schnee und scharfem Ostwind hinaus auf die Straße zu müssen. Füße und Hände bekamen dicke Frostbeulen, die heftig schmerzten. Die Stiefel drückten darauf und machten das Übel schlimmer, es wurden offene Wunden daraus.
Die Kleine wimmerte vor Schmerz, und mit allen Mitteln, die Christel anwandte, konnte sie keine Besserung verschaffen. Endlich faßte sie sich ein Herz und sagte es ihrer Herrin.
»Quengelei!« gab ihr die zur Antwort, »was machst du für Umstände wegen solcher Kleinigkeit! Das Mädchen muß sich an die Kälte gewöhnen, in Baumwolle können wir es nicht packen! Genug, daß es hier durchgefüttert wird.«
Christel ärgerte sich über die Herzlosigkeit, obgleich sie schon im voraus wissen konnte, daß sie vergeblich an diese Tür klopfen würde.
»Frau Butz,« platzte sie ohne Überlegung heraus, »wenn unsre Kinder Bruno und August kranke Füße hätten und sollten dabei des Morgens in aller Frühe hinaus und Semmeln austragen ...«
Weiter kam sie nicht in ihrer Rede. Die Frau Bäckermeister sah sie mit einem so empörten Blick an, daß ihr das Wort im Munde stecken blieb.
»Ich verbitte mir ein für allemal solche unverschämten Vergleiche! Bist im so einfältig, daß du keinen Unterschied machen kannst! Meine Kinder haben geachtete und angesehene Eltern und werden einmal etwas in die Milch zu brocken haben; sie werden niemals in die Lage kommen, Gnadenbrot essen zu müssen.«
Und sie warf bei ihren Worten den Kopf so stolz in den Nacken, als ob sie eine Königin wäre.
Was sollte Christel daraus erwidern? Still ging sie zur Stube hinaus. Aber sie nahm von ihrem Ersparten und kaufte noch am selben Tage ein Paar Filzschuhe für Mignon. Die zog sie ihr des Morgens statt der Stiefel an, damit sie wenigstens ohne Schmerzen laufen konnte.
Die Tage gingen hin, und das schöne Weihnachtsfest kam heran. August schrieb einen langen Wunschzettel und forderte Mignon auf, ein Gleiches zu tun.
Die schüttelte das Köpfchen und sagte: »Nein, August, ich habe keinen Papa und keine Mama, ich darf keinen Wunschzettel schreiben. Deine Mutter würde mich schelten.«
»Aber ich schenke dir etwas, Mignon,« er nannte sie stets bei ihrem rechten Namen, trotz der Mutter Verbot, »weil sie so hieß,« sagte er und blieb dabei. »Ich schenke dir etwas, ganz gewiß! Von meinem Taschengelde!«
Als am Christabend der Weihnachtsbaum brannte, als die Klingel die Kinder und Leute hereinrief, stand Mignon schüchtern an der Tür und blickte still auf den brennenden Baum und auf den Engel von Wachs, der oben an der Spitze schwebte. Er gefiel ihr am besten von allen Herrlichkeiten.
Kein Mensch kümmerte sich um sie, ein jedes hatte mit seiner Bescherung zu tun, zu schauen und sich zu freuen.
»Ist denn für Mine nichts aufgebaut, Frau?« fragte endlich der Bäcker.
»Doch,« sagte die und wies verächtlich über die Schulter nach einem Stuhle, »da liegt, was sie haben soll. Du hast doch nicht gedacht, daß sie mit unsern Kindern an einem Tische beschert haben soll?«
Es war ihm nicht recht und er murmelte so etwas in sich hinein wie ›Zurücksetzung‹, aber laut sagte er nichts. Am heiligen Abend wollte er keinen Streit anfangen, und so ließ er es hingehen.
August nahm Mignon bei der Hand und führte sie an den Stuhl, der hinter dem Schrank in einer dunklen Ecke stand.
Lieber Gott, viel lag nicht daraus; ihr könnt es euch schon denken, liebe Kinder. Eine Schiefertafel, vier Rechenstifte, zwei Schreibhefte und ein Paar Lederstiefel, plump und ungeschickt gemacht, mit Nägeln unter den Sohlen, wie sie die kleinen Bauernjungen tragen, dann noch ein kleiner, brauner Pfefferkuchen und einige Äpfel, das war alles. Keine Puppe, kein Spielzeug! Es war eine dürftige Bescherung inmitten der vielen reichen Gaben, die alle übrigen erhielten. Bruno gönnte ihr selbst das Wenige nicht, August aber hatte Wort gehalten.
»Mignon,« sagte er und sein liebes Gesicht strahlte vor kindlicher Freude, »da hast du dein Weihnachten von mir. Ich habe es ganz allein gekauft! Wickle nur auf, es ist etwas Schönes darin!«
Neugierig traten Bruno und Kurt hinzu, sie brannten darauf, zu wissen, was das Paketchen enthielt, das August ihr eben gegeben hatte. Wäre nicht der Vater im Zimmer gewesen, sie würden ihr dasselbe entrissen haben.
Sie hielt es in der Hand und sah schüchtern von einem zum andern. Nimmer würde sie gewagt haben, dasselbe zu öffnen. August mußte das selbst tun.
Mit stolzer Freude entfaltete er das Papier und siehe da! ein schönes feuerrotes Seidenband kam zum Vorschein.
Er nahm es und schlang es ihr durch das lockige Haar, und an der Seite band er es mit einer großen Schleife zu.
»Siehst du schön aus!« rief er und blickte verwunderungsvoll das kleine Mädchen an.
Kurt und Bruno brachen in ein lautes Gelächter aus, und Frau Butz riß unsanft Mignon das Band aus dem Haar.
»Was soll denn dieser Mummenschanz, du einfältiger Junge!« zankte sie und warf das Band auf die Erde. »Wie kannst du dich unterstehen, dein Geld für solchen Firlefanz auszugeben!«
August sah betrübt zu Boden, das Weinen war ihm näher als das Lachen. Kurt hatte das Band von der Erde aufgenommen und band es ihm um die Stirn; über diesen kindischen Einfall lachten die Jungen von neuem los.
»Schämt euch, daß ihr ihn auslacht, ihr beiden!« verbot Herr Butz in strengem Tone, »August hat es von Herzen gut gemeint. Da, Mine, nimm das Band,« wandte er sich freundlich an diese, »es gehört dir, du kannst damit machen, was du willst.«
Und Mignon nahm es und bewahrt es noch heutigen Tages auf.
Erst als Christel, nachdem sie in der Küche fertig war, mit ihr die Treppe hinaufstieg, atmete das Kind frei auf.
»Hast du heute geheizt, Christel?« fragte es leise.
»Du wirst schon sehen!« antwortete die und machte ein ganz geheimnisvolles Gesicht.
Als sie die Tür zu ihrer Stube aufgeschlossen hatte, sagte sie: »Warte noch einen Augenblick, bis ich dich rufe.« Dann trat sie ein und Mignon stand harrend vor der Tür.
Nach kurzer Zeit rief Christel: »Nun komm herein. Minchen!«
»Ah!« rief Mignon und schlug überrascht die Hände zusammen. »Ah! ein Christbaum!«
Und so war es. In der Mitte des Tisches, der mit einem weißen Tuch gedeckt war, stand ein kleines Bäumchen, das mit Äpfeln und Nüssen behangen war. Gelbe Wachslichter brannten daran und beleuchteten hell allerhand Geschenke, die darunter aufgebaut waren. Es waren hübsche und nützliche Sachen.
Ein fertiges Kleid, aus einem alten von Christel gemacht, – sie hatte es zugeschnitten und ihre Schwester, die Schneidersfrau, hatte dasselbe aus der Maschine genäht, – eine schwarzwollene Schürze, ein Paar warme Handschuhe, ein Bilderbuch und eine Puppe. Erst in der letzten Nacht hatte Christel dieselbe angezogen, als Mignon zu Bette lag und schlief. And damit auch nichts bei der Bescherung fehle, hatte das gute Mädchen eine große, weiße Pfefferkuchenscheibe dabei gelegt, auf der mit roten Zuckerperlen deutlich geschrieben stand: Minchen. Sie hatte den Bäckergesellen darum gebeten und er hatte aus Freundschaft für Christel ihren Wunsch erfüllt.
Glückselig fiel Mignon ihr um den Hals. »Meine gute, liebe Christel!« rief sie, »du bist so gut, so gut wie mein Papa!«
Das war der höchste Ausdruck ihrer Zärtlichkeit. Und die brave Christel drückte die Kleine an sich und hatte ein solches Bewußtsein von Zufriedenheit und Glück in ihrem Herzen, wie es nur Menschen fühlen, die eine gute Tat vollbracht haben.
Von der Puppe trennte sich Mignon den ganzen Abend nicht. Sie mußte aus ihrem Schoße sitzen, als sie Schokolade, die Christel zur besonderen Feier gekocht hatte, trank; und als ihr endlich die müden Augen zufielen und sie in ihr Bett stieg, da mußte die Puppe ihr Lager teilen.
Christel räumte ihr Stäbchen noch auf, und als sie dabei in die Nähe des schlafenden Kindes kam, blieb sie einen Augenblick stehen und sah es an.
Wie rosig lag das kleine Wesen da, wie sorglos schlummerte es mit der Puppe im Arme, dem neuen Tage entgegen. Seine Wangen waren vom Schlafe gerötet und ein Lächeln lag um die roten Lippen.
»Armes Kind,« dachte Christel, die dasselbe liebgewonnen hatte, als wenn es ihr eigenes wäre, »wer weiß, wie du morgen wieder gequält wirst. Aber ich will dich nicht verlassen, niemals! Und wenn sie es gar zu arg mit dir treiben, dann mache ich ein Ende!«
Und nun gingen allerhand Pläne durch ihren Kopf, wie sie sich und das Kind durchbringen könne, wenn sie den Dienst verließ. Ob sie den Bäckergesellen wohl heiratete? Er wollte sie gern zur Frau; bis jetzt hatte sie sich noch nicht dazu entschließen können. Sie wollte sich's überlegen. Wenn sie das Kind mit in sein Haus bringen dürfte – ja, dann wollte sie morgen noch ›ja‹ sagen.
Dieser Gedanke beschäftigte sie sehr und verließ sie auch nicht, als sie sich schon niedergelegt hatte. Und als sie endlich einschlief, träumte ihr, sie fahre in einer großen Kutsche, die ganz von Glas war, mit dem Bäckergesellen zur Kirche. Das Kind saß auf ihrem Schoße, aber sie verlor es unterwegs. Als sie vor dem Altar stand und der Pastor sie trauen wollte, verstand sie ihn nicht, statt dessen rief sie laut, daß es durch die Kirche schallte:
»Mein Minchen ist fort! Wo ist mein Minchen?« Und sie weinte, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen, das heißt alles nur im Traume. Und Träume sind Schäume? Nicht wahr?