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Vierzehn Tage waren seitdem verflossen. Dem ersten Tage waren andere gefolgt, die nicht besser, eher schlimmer waren. Mignon hatte ein trauriges Los im Bäckerhause. Von der Frau nur mit zornigen Worten angefahren, von Bruno geschimpft und geschlagen, von Kurt geneckt und gehöhnt, war sie fast immer in angstvoller Flucht, bald vor dem einen, bald vor dem andern. Der Bäckermeister kümmerte sich nicht weiter um sie; er war ein guter, aber sehr beschäftigter Mann. Er hatte das Kind in sein Haus aufgenommen, es in die Schule gebracht und damit hatte er seine Pflicht getan, das übrige überließ er seiner Frau.
Das Weinen hatte Mignon bald verlernt. Frau Butz litt keine Tränen, aber Mignons Scheu und Ängstlichkeit war dafür mit jedem Tag gewachsen. Nur mit August verkehrte sie ruhig und unbefangen, er war stets lieb und gut zu ihr. Jeden guten Bissen teilte er mit ihr, natürlich heimlich hinter der Mutter Rücken, die streng darüber wachte, daß ihre Kinder mit der ›Geigenmine‹ keine Gemeinschaft hatten.
Zuweilen des Mittags, wenn Frau Butz ihr Schläfchen machte und August keine Schule hatte, spielten die beiden Kinder in der Küche bei Christel zusammen, gewöhnlich ›Musikanten‹. Mignon nahm ein kleines Hackbrett in die eine, einen Stock in die andere Hand und tat, als ob sie die Geige spiele, August blies auf seiner Flöte dazu, und bei dieser hölzernen Musik machten die Kinder so ernsthafte Gesichter, als führten sie ein wirkliches Konzert auf, besonders Mignon, deren große Augen sehnsüchtig träumend in die Ferne blickten. In Gedanken spielte sie alle die Weisen, die der Vater sie gelehrt.
»Das ist das Präludium, August,« sagte sie ganz vertieft, »hörst du?« oder –
»Jetzt spiele ich die Serenade, die ist schwer – sehr schwer! Aber sie ist schön, nicht wahr?«
Und August fand das auch, er fand überhaupt alles schön, was sie ihm auf dem Hackbrett vorspielte.
»Ach, August,« seufzte sie oftmals nach solch einem Konzert, »wenn ich doch meine Geige hätte! Weißt du denn nicht, wo deine Mutter sie versteckt hat? Gib sie mir doch wieder, ich spiele dir dann alle meine Stücke vor.«
Wie gern hätte er es getan, wenn er sie nur gefunden hätte. Mehrere Male hatte er sich auf den Boden geschlichen und gesucht, aber immer vergeblich. Die Kiste, in der sie lag, hatte er noch gar nicht bemerkt, sie war weit unter das Dach geschoben und stand im Dunkeln. So mußte denn Mignons sehnlichster Wunsch noch unerfüllt bleiben.
Der einzige ungetrübte Lichtblick in ihrem jetzigen Leben war ihr Zusammensein mit Christel, an die sie sich mit inniger Liebe angeschlossen hatte. Zuweilen, wenn es gar zu kalt war, heizte dieselbe den Ofen in ihrem Zimmer, das waren Festtage für das Kind. Dann setzten sich die beiden nach dem Abendbrote an den Tisch, dicht an den Ofen, und Mignon machte entweder ihre Schularbeiten, bei denen Christel ihr nach besten Kräften half, oder sie nähte und besserte ihre Sachen aus, denn auf Ordnung hielt Christel streng.
»Kleine Mädchen dürfen kein Loch im Strumpfe haben,« sagte sie einmal, »sonst zeigen die Leute mit Fingern auf sie. So mußt du es zustopfen,« und sie zeigte dem Kinde, wie es gemacht werden müsse.
»Da ist ein Band von deiner Schürze abgerissen,« sagte sie ein andermal, »gleich nähe es wieder an. Du darfst es niemals mit der Nadel feststecken. Das tun nur faule und unordentliche Kinder.«
Zuweilen fehlte ein Knopf oder ein Haken, Christel sah alles, nichts ließ sie durchgehen. Jeden Abend sah sie Mignons Sachen durch, und wenn sie das Geringste fand, gleich mußte es ausgebessert werden.
Geduldig nahm Mignon die guten Lehren an und gab sich ohne Murren die größte Mühe beim Stopfen und Flicken. Leicht wurde es ihr nicht, die kleinen Finger stellten sich erst ungeschickt dabei an, nach und nach aber ging es, und allmählich gewöhnte sie sich unter Christels Leitung daran, in allen Dingen Ordnung zu halten.
Eines Sonntags um die Mittagszeit stand sie bei Christel in der Küche und wischte Messer und Gabel nach, die letztere eben geputzt hatte. Sie machte ihre Sache ordentlich und sauber und Christel hatte sie eben dafür gelobt, als die Tür geräuschvoll geöffnet wurde und Frau Butz mit Bruno eintrat.
»Was tust du hier?« fragte sie in barschem Tone, »faulenzen, nicht wahr? Das soll ein Ende haben von jetzt an, zu einer Prinzessin sollst du nicht erzogen werden. Es wird endlich Zeit, daß du das Brot, was du hier ißt, verdienst! Morgen gehst du mit Gottlieb,« so hieß der Bäckerlehrling, »und trägst Frühstück aus. Einen Tag wird er dir die Kunden zeigen, und dann gehst du allein!«
»Sie muß doch in die Schule, Frau Butz,« wandte Christel ein.
»Das weiß ich wohl,« entgegnete diese ärgerlich, »kann sie nicht früh aufstehen? Um sechs geht sie fort, bis um acht trägt sie aus, dann macht sie, daß sie in die Schule kommt. Was siehst du mich so verstockt an, hast du nicht verstanden, was ich sprach?«
Bruno, der mit seiner Mutter diese neue Quälerei ausgesonnen hatte, schnitt ihr ein Gesicht.
»Bäh,« machte er und streckte die Zunge heraus, so lang er konnte, »weißt, wie du aussiehst, Geigermine! Wie unser Kater, wenn er kratzen will. Willst du kratzen, he? Warte, ich will es dir vertreiben, schöne Geigermine!«
Und dicht trat er an sie heran und zog so fest an ihren Locken, daß sie aufschrie. Anstatt daß sie den bösen Buben tüchtig strafte, fuhr die Bäckerfrau auf das unschuldige Kind los.
»Laß das Schreien, es geht mir durch Mark und Bein!« rief sie und gab Mignon eine Ohrfeige. »Warum hast du die Haare so wüst und lang um den Kopf hängen? Das ist gar nicht schicklich für deinen Stand, vornehme Leute mögen Locken tragen, du darfst es nicht. Herunter damit! Bruno, eine Schere her!«
Er ließ es sich nicht zweimal sagen. Blitzschnell war er hinaus, und ebensoschnell kehrte er mit einer großen Papierschere zurück.
»Jetzt schneiden wir dir den Kopf ab!« sprach er boshaft und machte mit der weitgeöffneten Schere eine Bewegung, als wolle er wahr machen, was er drohte.
Wie zum Schutz hielt das Kind den Arm über den Kopf und verkroch sich hinter Christel. Kein Laut kam über seine Lippen, aber es zitterte wie Espenlaub.
»Hier stell dich her!« befahl Frau Butz. »Schnell, ich habe nicht Lust, auf dich zu warten!«
»Ich halte sie, Mutter,« sagte Bruno und zog Mignon bei den Schultern hervor. »Stillgestanden, Geigermine! oder wir schneiden dir, eins, zwei, drei, den Kopf ab!«
Schnapp, schnapp! Da fielen die schönen glänzenden Locken, die ihres verstorbenen Vaters Stolz und Freude gewesen waren, eine nach der andern auf die Erde, und in wenigen Minuten stand Mignon da mit kurz geschnittenen Haaren, wie es die Buben tragen.
»Nun ist der Pudel geschoren!« frohlockte Bruno. »Ha, ha, ha, wie sie nun aussieht! Kahlkopf, Kahlkopf! Dich werden sie in der Schule schön auslachen, Geigermine!« und er wollte sich ausschütten vor Lachen.
»Es war ein zu großartiger Gedanke von dir, Mutter! Schade, daß der Spaß nun schon vorbei ist.« Und er hing sich wohlgefällig an seiner Mutter Arm.
»Fege das Haar zusammen, Mine, aber ordentlich! Daß ich kein Härchen aus dem Fußboden finde, das rate ich dir! Stecke das Zeug in den Ofen und verbrenne es,« sprach diese in befehlendem Tone.
And nach dieser Heldentat gingen Mutter und Sohn aus der Küche.
Das blasse, bis auf den Tod geängstigte Kind nahm gehorsam Besen und Schippe und kehrte seinen geraubten Schmuck, die Locken, die geringelt am Boden lagen, zusammen.
Als sie im Begriffe war, dieselben in das Feuer zu werfen, hielt Christel ihr die Hand fest.
»Laß sein,« sagte sie und ihre Stimme zitterte ordentlich vor innerer Erregung, »das Haar soll nicht verbrannt werden! Ich werde es aufheben! Es wird vielleicht eine Zeit kommen, mein kleines Minchen, wo du der hartherzigen Frau es unter die Augen halten kannst und sie daran erinnern, wie grausam sie dich einst gemißhandelt hat. – Man kann nicht wissen, wie es kommt! Aber es müßte ja keinen Gott im Himmel geben, wenn so viel Ungerechtigkeit unbestraft bleiben könnte!«
Und sie nahm einen großen Bogen weißes Papier aus dem Schubkasten und wickelte das Haar sorgfältig hinein, band auch einen Bindfaden darum und nun schrieb sie mit einer Bleifeder und mit großen ungeübten Buchstaben darauf:
Minchens Locken. Abgeschnitten von Frau Bäckermeister Butz in Frankfurt, am Markte. Den 2. Dezember 18..
»So,« sagte sie und steckte das Päckchen in die Tasche, »damit es niemand findet.«
»Mein Kopf ist so leer, Christel,« klagte Mignon und lehnte sich an dieselbe an.
»Ich glaube es wohl, armes Kind,« antwortete Christel mitleidig und hob es zu sich empor und – wahrhaftig! – als Mignon ihr Köpfchen an sie lehnte, drückte sie verstohlen ihre Lippen darauf.
»Laß gut sein, Minchen, gräme dich nicht darum! Die Locken wachsen wieder, viel, viel schöner! Und dann kaufe ich dir ein Netz, da stecken wir sie hinein und heute abend heize ich oben ein, und dann koche ich Schokolade, und Kuchen bekommst du auch dazu.«
So plauderte sie alles durcheinander und tröstete, wie sie es konnte. Ihr gutes Herz war voll zum Zerspringen, es floß über vor Grimm und Zärtlichkeit.