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Die Waise

Der Abend brach herein und Mignon saß noch auf derselben Stelle. Es war dunkel und kalt im Zimmer geworden, der Wind pfiff in den Schornstein herunter und heulte schauerlich durch die Ofentür. Es wurde ihr bange, und sie fürchtete sich. »Wenn nur der Vater erst aufwachte,« dachte sie und horchte, ob er sich noch nicht rühre. Nach einigen Augenblicken rief sie leise: »Lieber Papa, schläfst du?«

Sie erhielt keine Antwort. »Schläfst du noch, Papa?« rief sie lauter und erfaßte seine Hand.

Entsetzt fuhr sie zurück, die Hand war kalt, und der Vater lag starr und unbeweglich. Es wurde ihr angst und unheimlich zumute und sie fing an zu weinen.

»Mein Papa, mein Herzenspapa, so höre doch!« rief sie wieder und schüttelte leicht seinen Arm. »Bitte, bitte, wache auf, ich fürchte mich ja so!«

Des Kindes Schluchzen und seine angstvollen Rufe wurden endlich von der Nachbarin, einer Wäscherin, die aus demselben Stock wohnte, gehört. Sie ging hinein, holte ihre Lampe, und als sie damit an das Bett leuchtete, sah sie, daß der arme Mann tot und kalt war.

Die alte Arbeitsfrau verstand es nicht, dem armen Kinde das Unglück zart und schonend mitzuteilen, sie brach gleich mit der Tür ins Haus.

»Dein Vater ist tot,« sagte sie, »er hat keine Hilfe mehr nötig. Ein Glück, daß der elende Mann von seinen Leiden erlöst ist. Er hat einen schönen Tod gehabt.«

Mignon sah die Frau starr an, und als sie das Wort ›tot‹ hörte, stieß sie einen entsetzlichen Schrei aus.

»Es ist nicht wahr, – mein Papa ist nicht tot!« rief sie außer sich, und warf sich über ihn. »Mache die Augen auf, lieber Papa, sieh mich an! – Ach, sei nur nicht tot!«

»Die Toten muß man in Ruhe lassen,« sagte die Alte und zog das Kind zurück. »Dein Vater hat die Ruhe verdient, er hat sich genug im Leben geplagt. Für dich wird der liebe Gott sorgen, er verläßt die Waisen nicht.«

Mignon schluchzte laut und herzzerreißend. Was die Frau sprach, verstand sie nicht, nur das Eine hatte sie begriffen, daß jetzt die schwarzen Männer den Vater forttragen würden, wie sie die Mutter fortgetragen hatten.

Die alte Wäscherin strich mit ihrer runzeligen Hand mitleidig über des Kindes Wangen.

»Komm mit zu mir hinüber,« sagte sie, »hier kannst du doch nicht bleiben, oder hast du Verwandte, zu denen ich dich hinbringen kann?«

Mignon schüttelte das Köpfchen. Sie hatte hier und nirgend auf der Welt Verwandte, die sich um sie kümmerten. Die Mutter war aus fernem Lande her gewesen, der Vater hatte sie aus Italien mitgebracht. Zwölf Jahre war es her, als er mit einem deutschen Kapellmeister, um Konzerte zu geben, als Geigenspieler hinaus in die Fremde gezogen war. In Turin wurde er krank und mußte zurückbleiben. Er wohnte bei einer Witwe, die ihn mit ihrer Nichte pflegte. Er gewann das zarte Mädchen lieb und nahm sie zu seiner Frau. Mignon hatte sie geheißen, und nach ihr wurde das einzige Kind genannt.

Die Tante war längst gestorben, und von andern Verwandten war niemals die Rede gewesen. Vielleicht hatte die junge Frau niemand weiter und hatte so allein gestanden wie ihr Mann, nachdem er die Eltern verloren. Nicht einmal Bekannte konnte Mignon nennen, mit niemand hatte der Vater verkehrt. Kränklich und dabei in dürftigen Verhältnissen lebend, war es ihm unmöglich gewesen, Verkehr anzufangen.

»Das ist schlimm!« meinte die Alte und zog ihr faltiges Gesicht noch krauser; »wenn du keine Verwandten hast und sonst kein Mensch sich um dich bekümmert, so wird man dich in das Waisenhaus bringen. Vielleicht nehmen sie dich dort nicht auf, da dein Vater zugezogen und kein hiesiger Bürger war. Nun, es wird sich schon ein Unterkommen für dich finden, auf der Straße können sie dich nicht sitzen lassen.«

Mignon war dicht am Bette in die Knie gesunken und hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt.

»Steh auf und komm mit mir,« fuhr die Frau fort, aber Mignon erhob sich nicht. Wie im Krampfe zuckte ihr kleiner Körper zusammen, und plötzlich fiel sie lang auf die Erde nieder und lag nun mit geschlossenen Augen regungslos da. Der übergroße Schmerz, der so unerwartet über sie hereingebrochen war, war zu viel für ihre jungen, zarten Nerven gewesen und hatte ihr die Besinnung geraubt.

Die Alte erschrak, sie dachte im ersten Augenblick, das Kind wäre auch gestorben; aber als sie es vom Boden aufhob, überzeugte sie sich, daß es lebte und schwach atmete. Sie trug es hinüber in ihr Stübchen, zog es aus und legte es in ihr Bett.

Nach ewiger Zeit schlug Mignon die Augen auf. Verwundert sah sie die Frau dasitzen, – wie kam sie in das fremde Bett? Was war nur mit ihr vorgegangen? Auch war sie hungrig, sie hatte ja den ganzen Tag fast noch nichts zu sich genommen.

»Ich bin so hungrig,« sagte sie, und Frau Steinbach reichte ihr Brot und Milch. Mit Hast verzehrte sie beides, dann legte sie sich wieder nieder, schloß die Augen und schlief ein, fest und tief.

»Das muß ich sagen,« murmelte die Alte, »bei solch einem Kinde sitzt der Schmerz nicht tief, das kann bei seinem Kummer essen und schlafen. Am Ende ist es gut so eingerichtet vom lieben Gott; die kleinen, zerbrechlichen Dinger können nicht viel Herzeleid ertragen.«

Sie beugte sich über Mignon, und als sie deren ruhige und gesunde Atemzüge hörte, ging sie zur Tür hinaus, stieg die Treppen hinunter, ging über den Hof in das Vorderhaus und klopfte wenige Augenblicke darauf an die Stubentür ihres Wirtes.

Als sie eintrat, fand sie die Familie beim Abendbrot versammelt. Die dampfende Suppe mitten auf dem Tische roch kräftig, und eine mächtige Schüssel mit frischer Wurst daneben lud höchst appetitlich zur Mahlzeit ein. Von der Decke hing eine Gaslampe herab und verbreitete ein helles Licht ringsum. Alles im Zimmer machte einen wohlhabenden, behaglichen Eindruck.

Frau Steinbach blickte sich um und unwillkürlich verglich sie das Elend und die Dürftigkeit im Hinterhause, die sie soeben gesehen, mit dem Reichtum und dem Überflusse, den die Leute hier besaßen. Nach ihrer Meinung hatten sie alles, was der Mensch sich wünschen kann. Ein eigenes Haus, ein gutes Geschäft und drei Jungen, denen kein Finger weh tat. Mann und Frau sahen ebenfalls so gesund aus, wie das Leben.

Frau Butz hatte den Suppenlöffel in der Hand und war eben im Begriff, die Suppe auszuteilen. Etwas ärgerlich, daß sie bei diesem wichtigen Geschäft unterbrochen wurde, blickte sie die Eingetretene an.

»Nun, was gibt's denn, Frau Steinbach?« fragte sie.

»Der Musikant ist eben gestorben,« sagte diese, »das war es, was ich Ihnen melden wollte, weiter nichts.«

Herr Butz legte den Löffel hin und erhob sich.

»Tot,« sagte er ernst und bedauernd, »ist es denn möglich! Vor wenigen Stunden saß er noch dort, freilich elend genug, aber so schnell hätte ich sein Ende nicht gedacht! Was soll nun aus dem Kinde werden?«

»Ja, was soll aus dem Kinde werden, Herr Butz,« wiederholte die Wäscherin und nickte nachdenklich mit dem Kopfe, »ich habe das auch schon gedacht. Der Tote ist besser daran, als das arme Ding, das nicht weiß, woher und wohin. Jetzt liegt es in meinem Bette und schläft, aber wie lange? Ich kann's nicht behalten, ich bin selbst arm und muß auf Arbeit gehen. Ja, Frau Butz,« und sie sah mit ihren strengen, ehrlichen Augen dieselbe an, »wenn ich reich wäre wie Sie, dann wüßte ich, was ich täte, dann nähme ich das hübsche Kind zu mir und verdiente mir einen Gotteslohn. Ja, das tät ich, Frau Butz.«

»Meinetwegen,« sagte die Bäckerfrau mit vollem Munde, »meinetwegen mögen Sie tun, was Sie wollen, was geht das uns an! Fremde Kinder ins Haus nehmen, hat noch selten Glück gebracht. Warum hat der Musikant nicht für sein Fleisch und Blut gesorgt? Das muß jeder rechtschaffene Vater tun. In seiner langen Krankheit hatte er Zeit genug, darüber nachzudenken.«

»Vielleicht hat er das auch getan, Frau,« warf Herr Butz etwas ungeduldig seiner Frau entgegen. »Warte doch erst ab, ob er nichts Schriftliches hinterlassen hat.«

»Mir kann das gleichgültig sein und dir auch,« erwiderte sie. »Das Abendbrot brauchst du dir darum nicht kalt werden zu lassen. Komm, setz dich her und iß.«

»Nein, Frau, ich kann nicht essen. Der Tod ist mir nahegegangen. Kommen Sie, Frau Steinbach, ich will gleich mit Ihnen hinaufgehen und nachsehen, wie es oben steht. Vielleicht hat der Selige aufgeschrieben, wohin sein Kind gebracht werden soll.«

»Ist denn nicht nach dem Abendbrote auch noch Zeit dazu? Warum willst du dich überhaupt in Sachen mischen, die dich gar nichts angehen? Fege doch jeder vor seiner Tür und stecke seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten!« Die Röte stieg ihr schon wieder bis an die Stirn hinauf bei ihren zornigen Worten, und als Herr Butz seiner zanksüchtigen Frau keine Antwort gab und ruhig mit Frau Steinbach das Zimmer verließ, da keifte sie laut hinter ihm her, daß man es fast im Hofe noch hören konnte.

»Ist das eine böse Frau,« dachte die Wäscherin, und sie bedauerte den Mann, der mit ihr leben mußte und ebenso gut, wie sie herzlos war.

In dem Nachlasse des Musikanten fand sich nichts. Kein Buchstabe von seiner Hand und ebensowenig Geld. Drei Mark, dieselben, die er am heutigen Tage geschenkt erhalten, waren sein ganzes Vermögen. Herr Butz sah sich im Zimmer um und meinte, daß aus dem Verkaufe der wenigen Habseligkeiten nur eine geringe Summe herauskommen würde, nicht ausreichend, das Begräbnis zu bezahlen.

»Nun, besorgen Sie, was nötig ist, Frau Steinbach,« sagte er, »und wenn es an Geld fehlt, klopfen Sie bei mir an. Der stille Mann da,« und er zeigte aus den Verblichenen, »soll nicht wie ein Bettler aus der Armenkasse begraben werden.«

»Und das Kind?« fragte die Frau.

»Das bringen Sie zu mir herunter, bis sich ein weiteres Unterkommen findet. Und nun gute Nacht, Frau Steinbach.«

Sie leuchtete ihm die Treppe hinunter, und trotzdem sie eine Feindin von überflüssigen Worten war, konnte sie nicht unterlassen, ihm nachzurufen: »Gottes Segen über Sie, Herr Butz, Sie sind ein braver Mann!«

Früh am andern Morgen – es war noch dunkel, – wurde Frau Steinbach herausgeklopft. Die Tischler kamen und brachten den Sarg. Der Tote wurde hineingebettet, hinuntergetragen und dann fortgefahren nach dem Totenhause auf dem Kirchhofe. Ganz still, ohne Sang und Klag, ohne Blumen und Kranz – der arme Musikant!

Und als sie ihn fortgetragen hatten, als Frau Steinbach allein zurückgeblieben war, da sah sie sich nach einem anständigen Anzuge um für das Kind. An einem Haken hinter der Türe hing ein schwarzes Kleid, der Sonntagsstaat Mignons. Sie nahm es herunter und besah es. Schön war es nicht, fuchsig und fadenscheinig, sogar an mehreren Stellen zerrissen. Unter einem Stuhle fand sie ein Paar kleine Stiefel, staubbedeckt und mit abgerissenen Bändern. Sie schüttelte den Kopf über die unordentliche Wirtschaft und meinte, daß Gott den kranken Mann zur rechten Zeit abgerufen habe, sonst wären er und das Kind verkommen und verdorben.

Sie ging in ihre Stube hinüber, machte Feuer an in dem kleinen Ofen und kochte Kaffee. Dabei setzte sie sich an den Tisch und besserte beim Lampenschein das Kleid aus. Als sie damit fertig war, putzte sie die Stiefel blank und schnürte auch frische Bänder hinein.

Mignon hatte die ganze Nacht geschlafen und war nicht einmal aufgewacht. Sie hatte die Tischler nicht klopfen hören, ja, sie hatte nicht einmal gemerkt, daß die Alte das Bett mit ihr teilte. Die Natur verlangte ihr Recht; nach der großen, erschütternden Aufregung brachte ihr der Schlaf die beste Stärkung. Jetzt aber war es vorbei mit dem Schlafe; sie saß hoch in dem Bette und verlangte nach ihrem Papa.

»Deinen Vater haben die lieben Englein geholt, du kannst nicht mehr zu ihm gehen,« beruhigte sie die Wäscherin. »Er ist im Himmel bei deiner Mutter. Sei nur immer ein braves und folgsames Kind, dann kommst du auch einmal dahin.«

»Komme ich bald in den Himmel?« fragte die Kleine. »Die Englein sollen mich auch holen. Ich will gleich zu meinem Papa, bringe mich hin,« schluchzte sie.

»Ja, ja, sie holen dich auch,« tröstete Frau Steinbach und dachte vielleicht, daß es das Beste wäre, wenn sie es täten. »Du kannst jetzt aufstehen, und wenn du Kaffee getrunken hast, dann wollen wir deine Sachen zusammenpacken. Die Bäckersleute wollen dich vorläufig zu sich nehmen; du kannst dich freuen, nun bekommst du alle Tage schönes Essen und hast eine warme Stube, Not wirst du nicht mehr haben.«

Was verstand Mignon von Not! Bis jetzt hatte sie dieselbe noch nicht kennengelernt. Was Mangel und Entbehrung war, wußte sie nicht. War auch die Kost manchmal knapp genug gewesen, es hatte sie nicht bekümmert, teilte doch des Vaters Hand ihr die schmalen Bissen zu. Und wie hatte sein Auge mit zärtlicher Liebe auf ihr geruht, wenn ihr die dürftige Kost so herrlich schmeckte. Das wird nun anders, arme kleine Waise; Vater und Mutter liegen in der kühlen Erde, – wer wird dich je so lieben, wie sie es taten!

Als Mignon aufgestanden war, wollte sie gleich, wie sie es gewohnt war, ungewaschen, nur mit dem Unterrocke bekleidet, ihren Kaffee trinken. Aber sie kam schön an bei der alten Frau.

»Erst waschen und anziehen mußt du dich, dann schmeckt es,« sagte sie, »weißt du das nicht? Du machst es nicht ordentlich,« fuhr sie nach einem Augenblicke fort, als Mignon das Gesicht nur so flüchtig abspülen wollte. – »Komm, ich werde dich waschen und dir zeigen, wie du es machen mußt.«

Und sie nahm einen harten, wollenen Lappen, seifte tüchtig aus und rieb Gesicht, Hals und Arme der Kleinen, daß die zarte Haut rot wurde. Es schmerzte sie, aber sie wagte nichts zu sagen, sie hatte Scheu vor der Frau, die alles so ernst und bestimmt sagte und tat.

»So, nun bist du rein, jetzt will ich dich kämmen und dir einen Zopf flechten, mit dem verwirrten Haar kannst du nicht mehr gehen, das schickt sich nicht.«

Aber die schönen Locken wollten nicht glatt werden, immer von neuem kräuselten sie sich.

»Da wollen wir uns helfen,« sagte Frau Steinbach, holte eine Bürste, machte sie tüchtig naß und fuhr damit durch das Haar. Nun wurde es weich und glatt, und ließ sich auch flechten. Am das Ende des Zopfes band sie einen schwarzen Zwirnsfaden, damit er nicht aufging.

»Nun zieh dein Kleid über und die Stiefel an. So, nun bist du fertig und kannst deinen Kaffee trinken.«

Wie würde der Musikant erstaunt gewesen sein, wenn er jetzt sein Kind am Tische hätte stehen sehen können! Er würde es nicht erkannt haben. Sauber und blank sah es aus, das ist wahr, aber der Kopf war so fremd geworden, und der kurze, dicke Zopf, der hinten fast gerade abstand, entstellte die hübsche Kleine. War dies denn seine Mignon mit dem schönen Lockenhaar?

Als sie den Kaffee getrunken hatte, ging Frau Steinbach mit ihr in die verlassene Wohnung hinüber; aber wie hatte es sich dort in der kurzen Zeit, daß sie darin gewesen war, verändert! Kein Stück stand mehr an seinem Platze, und zwei Männer und eine Frau zankten sich um die Sachen.

Kaum hatten nämlich der Schuhmacher, der Schneider und die Fleischerfrau, denen der Verstorbene jedem eine Kleinigkeit schuldete, von seinem Tode gehört, als sie sich sofort einstellten, um sich bezahlt zu machen. Die Frau hatte die Betten, in denen noch eben die Leiche gelegen, und die wenigen Stücke Wäsche, die sie vorfand, in ein großes Bündel gepackt und stritt sich nun um die Bettstelle, die sie auch haben wollte.

Die wenigen Möbel waren zum Teil schon fortgeschafft, nur das Klavier stand noch da und die Geige lag darauf.

Mignon hielt sich fest an Frau Steinbach. Fremd sahen sie die Räume an, in denen sie gestern noch traut und heimisch war. »Wo ist mein Papa?« fragte sie leise, indes die Wäscherin blieb ihr die Antwort schuldig. Empört musterte sie die Eindringlinge, ihr gerades Gemüt konnte deren dreistes Benehmen nicht fassen.

»Schämt euch!« rief sie erbittert, »der Mann ist noch nicht unter der Erde und ihr brecht wie die Spitzbuben in seiner Behausung ein. Hier steht das Kind, soll es denn gar nichts behalten? Ihr dürft nichts forttragen, wißt ihr das nicht? Ich werde die Gerichte holen.«

»Ach was!« sagte der Schuster, »wenn wir erst auf die Gerichte warten wollen, dann kriegen wir keinen Pfennig. Wir haben doch Schaden genug dabei.«

»Das ist wahr,« ergänzte die Fleischerfrau, »die Hälfte büße ich ein. Ich habe auch Kinder und muß für sie sorgen. Geld gibt es doch nicht, da nehmen wir die Sachen.«

Und der Schneider meinte, das Gericht könne ihnen ja die Sachen wieder holen. Es solle nur kommen, er würde ihm schon eine Antwort geben. »Wer nimmt denn den Klapperkasten?« fragte er die andern. »Ich kann ihn nicht gebrauchen, Klavier spielen wir nicht. Aber hier, die Fiedel werde ich mitnehmen. Solch Ding hat sich mein Martin schon lange gewünscht.« Und er zog ein paar schreckliche Töne mit dem Bogen darauf.

Mignon fing an laut zu weinen und streckte die Hand nach ihrer Geige aus.

»Nimm sie nicht mit, Mann, gib sie mir, bitte! bitte!« bat sie flehentlich und sah ihn mit tränenvollen Augen an.

»Mir kann's recht sein! Da hast du das unnütze Möbel,« sagte der Schneider, in dessen Herzen doch ein Funken Mitleid für das blasse, elternlose Kind erwacht war.

Und sie ergriff das kleine Instrument und nahm es liebevoll in den Arm. Mehr wünschte sie nicht, und als Frau Steinbach mitleidig zu ihr sagte: »Armes Kind, sie haben dir alles genommen! Wie du gehst und stehst muß ich dich zum Bäcker bringen,« da schaute sie gleichgültig drein. Was fragte sie nach Kleidung und Wäsche, solange sie ihre geliebte Geige besaß!


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