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Die Männer, die auf den Booten mit den starkfarbigen Segeln den Namen ihres düsteren Städtchens Chioggia viele Geschlechter lang bis zu den fernsten Inseln und Küsten des Mittelmeeres trugen, diese chioggiotischen Seefahrer, die heute noch wie in den großen Zeiten der Seerepublik in allen Häfen der Adria wohlbekannt sind, sind ein sehnsüchtiger, wilder und unruhiger Menschenschlag. Man erzählt, daß in den Zeiten, da die Erde noch voll lockender, geheimnisvoller Länder war, überall, wo Wagnis und Abenteuer zu erhoffen waren, Chioggioten auftauchten und daß auf allen Schiffen der Entdecker und Conquistadoren ihrer welche gewesen seien.
Zuweilen brachte einer dieser fernesüchtigen Männer von seinen Fahrten einen Freund mit heim, der dann wohl auch sein Schwiegersohn wurde. So blühen fremdartige Namen in Chioggia noch weiter, freilich oftmals allmählich dem Klange der heimischen angeglichen. Ein Gäßchen unter den vielen winkeligen der zur Verteidigung zusammengedrängten kleinen Stadt Chioggia heißt Calle Duse. Welch wunderlicher Name! Er sei armenischer Herkunft, behaupten manche. Aber wer kann verfolgen, welchem Volke der Erste dieses Namens angehört haben mag, der, aus der ewig bewegten Völkerwirrnis der levantinischen Küsten kommend, sich in diesem Städtchen niedergelassen hatte, soweit dies Wort auf seefahrende Leute Anwendung finden kann. Sicher ist, daß es lange schon Duses in Chioggia gegeben hat und daß deren Männer alle mit Leib und Seele dem Meere verfallen waren, bis nach einem kurzen mißglückten Versuche in bürgerlicher Seßhaftigkeit die unstete Sehnsucht dieses Geschlechtes sich zu neuer unrastvoller Lebensgestaltung Bahn brach.
Jener Luigi Duse, der dem Gäßchen in Chioggia seinen Namen gab, wurde, weiß Gott aus welchen Gründen, von seinem Vater nicht mehr zum Seemanne bestimmt. Er wurde in Schulen geschickt, um dann als Beamter ein enges, aber sorgenloses Dasein zu haben. Solange er sein Amt in Chioggia selber übte, ging es, als ob die Nähe des Meeres sein Blut besänftigt hätte. Aber als dann Padua sein Wohnsitz wurde, begann alsbald dieses wunderliche Gären in ihm, die Sehnsucht nach einem anderen, abenteuerlichen Tun: es verlangte ihn so gierig nach dem Bretterboden des Theaters wie alle die vor ihm nach dem ihrer Schiffe.
Wer kann ergründen, was für Triebe das sein mögen, die einen Menschen aus seinem Leben fortlocken in ein anderes, dessen Sinn es ist, ein paar Stunden jeden Tag vor anderen Menschen nicht mehr er selber, sondern ein anderer zu sein, so sehr ein anderer, daß alle die, die seine Verwandlungen miterleben, an sie glauben? Überfülle des Herzens, dem ein einziges Dasein nicht genügt? Unheimatlichkeit im Hause des eigenen Lebens und Flucht in den Rausch, ein anderer sein zu dürfen? Sicher ist es dies und vieles noch aus der Geheimniswelt jener Kräfte, die die Leben formen, was sich zu jenem anderen geheimnisvollen Drängen, etwas zu machen, das über Gebrauch und Zweck hinauswachsen soll, hinzufügen muß, damit aus alledem ein Schauspieler werde. Luigi Duse hat sich so wenig wie die meisten wirklichen Schauspieler Rechenschaft darüber gegeben, was ihn zum Theater lockte. Er mußte Theater spielen, und er tat es. Erst noch mit schlechtem Gewissen, als Dilettant, der Gleichgestimmte zu dem ersehnten Tun vereinigte. Aber es gefiel ihm zu sehr, und daß er so sehr gefiel, entzündete die Lust am Wagnis. Er ließ Amt und Würde und die Hoffnungen auf ein umfriedetes Bürgerschicksal und wurde Komödiant. Nach ein paar Jahren schon hatte er seine eigene Schauspielgesellschaft zusammengebracht, jene Compagnia Duse, die jahrzehntelang weiterbestand und in der hernach, da ihre Glanzzeit lange vorbei war, ein fünfjähriges Mädchen, Eleonora Duse geheißen, das erstemal Theater spielte.
Wenig Jahre, nachdem Luigi Duse geboren worden war, erlosch die venezianische Republik, und in den nun folgenden Jahren der Fremdherrschaft gedieh das venezianische Theater noch einmal zu schönem Blühen. Dieses lebhafte Volk, in kleiner wie großer Politik nunmehr zu Schweigen und Untätigkeit verurteilt, mag sich des Theaters von neuem als eines Spielplatzes für Verstand und Einbildungskraft besonnen und in ihm einen in seiner Gefährdetheit noch bedeutsameren Ausdruck seiner Wesensart zu sehen erlernt haben; ferner mag es wohl ein starker Anreiz zum Theaterbesuch gewesen sein, daß man sich an diesen Stätten ungestört versammeln, murren und spötteln und erbost und erfreut zugleich von der Bühne herab in politischen Anspielungen alles das hören konnte, was Rednern und Zeitungen sonst zu sagen verwehrt war. Bei alledem aber gedieh das Theater selber prächtig, der Zusammenhang so intimer Art gab ihm eine neue Lebendigkeit. Die neu emporkommenden Autoren sparten in ihren Texten den Platz für die Äußerungen der von Allen gedachten Gedanken aus, und die Schauspieler strengten Witz und Phantasie an, um diesen wohl auszufüllen. Wie die Fiorituren und Koloraturen die Arie, umwucherten nun die Improvisationen die Rollen. Die nie vergessene Commedia dell'Arte war mit neuen Gestalten und der alten süßen Theaterlust wieder da.
Luigi Duse hatte zu Anfang in allerlei modisch-pathetischen Stücken gespielt – aber sein Komödiantenherz ahnte ein anderes Theater. Und er fand es, sobald er das erstemal auf der Bühne Venezianisch gesprochen hatte, die Sprache seiner Welt, den Dialekt seines Herzens und seines Verstandes. Nun gab es auch sogleich die rechten Stücke für ihn, neue voll herrlicher Möglichkeiten zu Erfindung und eigenen Zutaten, und dann den alten, unerschöpflichen Goldoni, in dem das ewige Venedig seines unzerstörbaren Volkes sich selber spielt. Padua und Venedig wurden die Stätten seiner Triumphe. Und allmählich wuchs ihm aus all seinen Improvisationen und Scherzen eine Gestalt, die ihn ganz und gar zum Liebling seines Publikums machte und die er in immer neuen Soloszenen immer wieder darstellen mußte: der Giacometto, die Verkörperung des venezianischen Humors. Er hatte ihm eine Maske aus der Goldoni-Zeit gegeben, die glatte schwarze Perücke mit einem dünnen Zöpfchen daran, zwei schwarze Punkte über den Augenbrauen, ein weißes Tüchlein um den Hals, einen lichtblauen langen Rock, dazu die geblümte Weste, rote Kniehosen, weiße Strümpfe, schwarze Schnallenschuhe und den Dreispitz in der Hand. Von Jahr zu Jahr wuchs sein Anhang, die größten Theater standen ihm zu Gebote, seine Gastspiele dauerten dreimal so lange als alle sonst üblichen, und wenn er spielte, hatten selbst Ensembles von höchstem künstlerischen Rang, wie jenes, in dem die große Adelaide Ristori damals wirkte, wenig Aussichten auf ein volles Haus. Seine Goldoni-Aufführungen galten für unerreichbar, und die Berichte über sie zeigen Luigi Duse als einen Regisseur von unermüdlicher Arbeit und unfehlbarem Geschmacke und seine Truppe in der Zusammensetzung und Schulung als vorbildlich. Dieser künstlerische Ernst schuf ihm Ansehen, das weit über das heimatliche Venetien hinauswuchs, – aber Liebe und Begeisterung dankte er seinem Giacometto, der jedem ein vertrauter Freund war, den jeder immer wieder sehen und hören wollte, was immer er auch tun oder reden mochte. So erzählte dieser Giacometto denn auch zuweilen allerlei recht Intimes aus dem Leben Luigi Duses selber, von seinen häuslichen Sorgen, von gelegentlichen Geldnöten, drängenden Gläubigern und dergleichen. Und als er einmal auf seine unwiderstehlich komische Weise seinem Publikum über die Fälligkeit eines Wechsels vorjammerte, geschah es, daß aus dem Zuschauerraume statt des sonst üblichen Gelächters und der Zurufe ihm so viel Geld zuflog, daß er damit sogleich der Augenblickssorge ledig war.
Ruhm und Beliebtheit aber vermochten ihn nicht vor Neid und Tücke zu schützen. Er wurde um politischer Anspielungen willen, die er auf der Bühne getan hatte, denunziert. Die großen Theater schlossen sich darauf für ihn, und in den kleinen, die ihm noch übrigblieben, vertat er Kräfte und sein Erspartes, sich und seine Truppe auf der erreichten Höhe zu erhalten. Verbittert und rasch alternd kämpfte er noch eine Weile den aussichtslosen Kampf gegen die Tücke der Feinde und die Vergeßlichkeit derer, die ihn geliebt hatten. Dann ließ er das Theater, das sein Leben gewesen war, ließ Venedig, das für ihn alle Kunst war, und zog sich nach Padua zurück, wo er bald, schon im Jahre 1854, starb.
Das war Luigi Duse, der Gefeierte, der erste dieses Namens, der kein Seemann, sondern ein Schauspieler geworden war. Neben ihm und nach ihm gab es dann viele Duses, die, sei es von seinem Ruhme verführt, sei es, weil sie schon in der Welt des Theaters aufgewachsen waren, Schauspieler wurden. Es gab Begabte unter all den Anverwandten und Söhnen, aber keiner hat sein Talent, keiner seinen Erfolg erreicht. Nach flüchtigen Glanzzeiten, nachdem einen glücklichen Schicksalsaugenblick lang der in sie gelegte Funke an Sehnsucht in einer flüchtigen Kunst aufgeleuchtet hatte, verloren sich die meisten von ihnen absteigend in den Dunkelheiten ihres Standes. Bis dann nach Jahrzehnten dieses Fünklein, das in jedem Gliede dieser endenden Familie geglommen hatte, sich zu einem ganz großen schöpferischen Ingenium verklärte, mußte noch eine ganze Generation durch Elend und Mittelmäßigkeit fahrenden Theatervolkes hindurchgehen.
Unter Luigis Söhnen war der stillste und ärmste der Auserwählte, obgleich sein Leben alle Nöte und Erniedrigungen eines Komödiantendaseins erfahren hatte, das nach außen hin sich in nichts mehr von dem der Jahrmarktsgaukler, Seiltänzer und Spaßmacher unterschied. Dieser Alessandro hatte im Gegensatz zu den anderen Kindern Luigis wenig Neigung zum Theater empfunden. Er wollte Maler werden. Doch der Wille des damals mächtigen und strahlenden Vaters zwang ihn zu den Geschwistern auf die Bühne. Als dann der Vater nach jähem Abstiege starb, war ihm der Weg schon vorgezeichnet, und er ging ihn, ohne Begeisterung, ohne den Trost eines Glaubens an seine Sendung. Er hatte, anders als alle seine Anverwandten, ein Mädchen geheiratet, das nicht Schauspielerin war, Angelica Cappeletto aus Vicenza, ein zartes Wesen, das ihm in hingebender Liebe anhing und ihn auf seinen mühevollen Wanderfahrten begleitete. Diese Ehe war ein rastloses Unterwegs, ein Hasten dahin, wo ein kleines Theater frei stand, ein Jahrmarkt oder Fest einen Ertrag versprach, und ein Weitermüssen, auch wenn nichts lockte, weil man an keinem Orte lange bleiben konnte. Unterwegs geschah es, daß den beiden ihr einziges Kind geboren wurde, ein Mädchen, das am 3. Oktober des unruhevollen kriegerischen Jahres 1859 zur Welt kam. Dieses Kind der Wanderschaft wurde in Vigevano im Lombardischen auf den Namen Eleonora getauft. Der Pate war der Oheim Enrico, Schauspieler wie der Vater. Beim Taufgange ereignete sich eine Begebenheit, in der der Vater, wie alle, die davon erfuhren, ein glückhaftes Zeichen sehen wollte. Das Kind wurde nach der Sitte der Gegend in einem kleinen, von Goldleisten gehaltenen Glasschreinchen zur Kirche getragen. Als der Zug an österreichischen Soldaten vorbeikam, vermeinten diese, einen Reliquienschrein vor sich zu haben, und leisteten ihm die militärische Ehrenbezeigung.
Als das wie die Mutter zarte Kind aus den großen dunklen Augen sehen zu lernen begann, gewahrte es eine Welt, in der nur ein paar Menschen die gleichen blieben, während Häuser und Landschaften immer wieder wechselten. Und als Gehörtes sich im ersten Gedächtnisse einzuprägen begann, war auch schon das Wort Theater da. Mit Wanderschaft und Theater begann dieses Leben, und jene Worte, die dann fünfundsechzig Jahre später in Pittsburg von dem letzten Atem hervorgehaucht nach Aufbruch und neuer Wanderschaft verlangten, hätten auch die ersten sein können, die an sein Herz gedrungen waren. Schon das Kind ist völlig in dem Gesetze, das dieses Leben und Schicksal ausmacht. Weitermüssen, immer Weitermüssen sind seine ersten Erfahrungen an der Welt. Ein solches Fortgehenmüssen ist Eleonora aus dem Morgengrauen ihres Seins her gleichnishaft in der Erinnerung geblieben. Sie hatten bei guten Leuten gewohnt; draußen war stürmischer Regenwinter, im Hause aber gab es beglückende Wärme und Zärtlichkeit, worin das Kind zum erstenmal ein süß-schmerzliches Gefühl von Heimat erfuhr. Und die freundliche Wirtin schenkte ihm ihre erste Puppe, eine schöne, aller Liebe eines kleinen Herzens würdige Puppe. Eleonora ließ sie nicht mehr aus ihren Armen, schlief mit ihr und hatte sie noch an ihrem Herzen, als wieder der Aufbruch dawar, das Weitermüssen in die kalte, unwirtliche, morgengraue Welt. Erst hatte das Kind heftig geweint, dann wurde es still, begreifend, daß man dem Fortgehen nicht entrinnen könne. Die geliebte Puppe wurde unter dem Mäntelchen an die Brust gebettet, und so verließ Eleonora mit den Eltern das gute Haus. Nach ein paar Schritten jedoch riß sie sich los, lief in das verlassene Zimmer zurück, legte die Puppe in das Bett, in dem sie selber geschlafen hatte, und deckte sie gut zu. Später sagte sie dann: »Ich habe sie dort gelassen, damit sie wenigstens es warm hat.«
Wie die Mannschaften der Chioggioter Segler durch die Meere, zieht nun die Truppe durch Venetien, die Lombardei, Piemont, die Romagna, geht bis nach Istrien und Dalmatien – die Häfen sind das Theaterspielen. Bittgänge zu Behörden, ein paar eilige Proben, Zettelaustragen, Zittern vor Mißfallensäußerungen und nach dem Gelingen eines Abends die Angst, ob auch der nächste das bißchen Einnahme nicht versagen werde, das ist das Leben, darum gehen alle Gespräche ... Und bald sind es nicht nur mehr die Gespräche, die das Theater zur Welt machen: es selber fordert das Kind für sich. Eleonora Duse ist noch nicht vier Jahre alt, da ihr Name zum erstenmal auf einem Theaterzettel genannt wird. Dies geschieht, da die von ihrem Oheim und Paten Enrico Duse und dem Schauspieler Lagunaz geleitete Truppe in Zara eine Dramatisierung der Hugoschen »Misérables« aufführt, in der sie die kleine Cosette darzustellen hat. Da man sie in den Szenen bei den bösen Zieheltern Thénadier auf der Bühne zu weinen zwingt, fragt sie dann schaudernd: ob das denn den Menschen da unten Freude machen könne, ein Kind weinen zu sehen.
Bald mußte dieses Kind nicht nur auf der Bühne weinen. Mit unfaßbarem Schrecken tut sich die Welt ihm kund. Die Mutter, die ihm alle Geborgenheit und Güte des Lebens ist, wird oft plötzlich so furchtbar anders. Ihr Gesicht verzerrt sich im Kampfe gegen würgenden Husten, dann flackern die Augen, die tröstliche Hand ist brennend heiß, und immer öfter muß sie im Bette bleiben. Und dann bringt die Schule neues Grauen. Dieses kleine Wesen, das eine sehr zarte und leicht erschreckbare Seele hat, das, im Dunkelwerden allein gelassen, sich aus dem Fenster neigt und in langen Gesprächen mit den Sternen Trost gegen die ungeheuerliche Einsamkeit in der Finsternis sucht, dieses großäugige, scheue, leicht fröstelnde Kind wird, wo ein Gastspiel eine Rast verstattet und die Lehrer es für eine kurze Frist nehmen wollen, in Schulen geschickt. Und dann betrachten immer wieder die anderen Kinder Eleonoras Fremdartigkeit und Scheu als Hochmut und jagen hernach auf den Gassen hinter ihr her und schreien ihr »figlia di commedianti« nach.
Freundlos, geängstigt von der Welt, in der es kein Vertrautwerden mit einem Garten oder einer Landschaft gibt und in der nur die seltenen Rasten in der Väterheimat Chioggia Zutraulichkeit zu einer Stätte einflößen, wandert Eleonora Duse durch die erste Kindheit, und nur die große Liebe der Eltern ist Trost und Hilfe und wärmendes Wanderkleid. Oft sind die Einkünfte des Vaters erbärmlich, dann droht der Hunger – aber immer sucht die Mutter, der jeder Bissen Nahrung ja ein Tropfen Öl mehr für das dünn und flackernd brennende Lebenslicht wäre, einen Teil ihres mageren Teils dem Kinde zuzuschieben. Doch dieses Mädchen mit dem überzarten Körper und dem kleinen, beinah nur aus Augen bestehenden Gesichte ahnt nun allmählich, was Krankheit ist, und betreut die Mutter, soweit sie es zwischen Schule und dem oftmaligen Rollenlernen und Theaterspielen vermag. Und allmählich wird dieses Theater, das Lebenspflicht und Lebensnot gewesen war, immer geheimnisvoller, erregender. Sie hat dem Dichter, den sie geliebt hat, dann von dieser Zeit erzählt, und er berichtet in dem Buche, das ihr so weh getan hat, mit Worten davon, die die ihren sein müssen: »... Nach der Vorstellung kamen wir, meine Mutter und ich, in das Wirtshaus und setzten uns auf die Bank bei einem Tische. In mir war noch das Weinen, das Schreien, die Raserei aus dem Theater her, ich war durch Gift oder eine Klinge gestorben. In meinen Ohren klangen die Verse weiter, mit einer Stimme, die nicht die meine war; in meiner Seele war ein fremder Wille mächtig, den ich nicht verscheuchen konnte, es war, als ob eine Gestalt in mir versuchte, aus meinem ungeformten Wesen jene Schritte und jene Gesten hervorzuzwingen. Das vorgetäuschte Leben war mir noch in den Gesichtsmuskeln geblieben, die sich an manchen Abenden gar nicht zur Ruhe bringen lassen wollten. Das war die Maske, damals schon wuchs in mir jener Sinn der lebendigen Maske ... Maßlos öffneten sich mir die Augen ... Zähe Kälte ist mir in den Wurzeln meiner Haare geblieben ... ich vermochte das volle Bewußtsein meiner selbst und dessen, was um mich geschah, nicht wiederzufinden ... ich kann es nicht sagen ... vielleicht war schon die dunkle Gegenwart jener Kräfte in mir, die sich nachher entwickeln sollten, jenes Gefühl des Auserwähltseins und der Besonderheit, mit dem die Natur mich gezeichnet hat. Zuweilen empfand ich dies Andersgeartetsein so tief, daß es mich beinahe von meiner Mutter trennte; Gott möge mir das verzeihen, daß es mich fast von ihr entfernte ...«
Ein Kind ohne Geschwister und fast ohne Gespielen, das stets mit Erwachsenen lebt, lernt zeitig schauen und ahnen – wie viel mehr aber noch ein Theaterkind, das, vom ersten Wachwerden des Bewußtseins an, Sorgen, Nöte und Tun seiner nächsten Menschen wirkend und leidend getreulich miterlebt. So sind in dieser Seele bald schon alle die Elemente, die das menschliche Teil ihrer Größe sind, vorhanden: das Immer-Weiter-Müssen, das Theater, die Krankheit und die Sehnsucht nach Güte. Und um sie wachsen die Träume und Phantasien dieser Lebensfrühe, keine kindhaften Fluchten in Märchen und süßen Seelenmüßiggang, sondern sich immer mehr verdichtendes Wirken des Gesetzes eines tiefen Lebens, das in den hohen Seelen offenbar wird, sobald sie angetreten.
Die Jahre werden düsterer. Selbst die gelungenen Unternehmungen der Truppe sind noch Enttäuschungen. Der Vater beißt die Zähne zusammen, gibt, was er hat, tröstet, soviel er es mit seinem traurigen Herzen kann, in dem kein Glaube an sein Tun ihm selber Trost gibt und in dem nur ein zager Traum zuweilen aufleuchtet: dies alles lassen zu dürfen und zu malen. Hunger umlauert die Wanderschaft. Einmal kann Eleonora ihn nicht mehr ertragen und schleicht sich zusammen mit einem Jungen in die Küche des fremden Hauses und stiehlt Polenta, um sich einmal satt zu essen. Schlimmer aber war anderes. Immer öfter fällt die Krankheit über die Mutter her, das Fieber läßt ihren ausgezehrten Körper kaum mehr, und immer öfter ist der erste Gang an einem neuen Rastort die Suche nach einem Spitale, um der Leidenden in ihm ein wenig Ruhe und Pflege zu schaffen. Aber wenn die Anderen weiter müssen, will auch sie mit ihnen – und sie schleppt sich mit, sanft, ohne Klage.
Eleonora spielt nun regelmäßig Theater, alle Rollen, für die ihr schmächtiger Körper hinreichend ist. Dann eines Abends während der Vorstellung, sie stand in ihrem vierzehnten Jahr, sagte man ihr, daß die Mutter tot sei; sie war in der Stadt, in der sie hatte zurückbleiben müssen, einsam im Spitalbette gestorben. Ihr Körper straffte sich, die Augen wurden sehr groß – aber es war erst nach dem zweiten Akte, da sie das Furchtbare erfuhr. Und sie spielte das Stück zu Ende. Dann ging sie allein in die Winternacht hinaus. Erst als ihre Hand die noch von der Mutter geflickte Manteltasche fühlte, war das Geschehene Wirklichkeit. Und sie lehnte lange an einem Laternenpfahl und weinte.
Dann war auch nicht einmal das Geld für ein Trauerkleid da. Die Frauen in der Truppe redeten von Gefühllosigkeit, und eine sagte laut, sie hätte sich eher verkauft als auf das Trauerkleid verzichtet. Eleonora schwieg noch tiefer. Sie hatte das unauslöschliche Bild der Geliebten im Herzen; und sooft sie allein war, holte sie die Photographie von ihr hervor, die von nun ab immer mit ihr war. Eine Vergrößerung von dieser wird wohl das eifersüchtig behütete, keinem gezeigte Bild gewesen sein, das sie auf ihren letzten Fahrten begleitete.
Nun war alles doppelt schwer. Vereinsamt gingen Vater und Kind im gleichen Schmerze – innigste Liebestraurigkeit verband sie, aber keiner fand ein Wort für den anderen. Oh, wie gut verstand Eleonora die bittere Huldigung an die Hingegangene, als der Vater eine bald nach dem Begräbnisse der Mutter in seine Hände gelangte Erbschaft (es waren ein paar Häuschen in Chioggia und Geld, alles zusammen die phantastische Summe von fünfzehntausend Lire) zurückwies, da das ja nun für sie zu spät sei.
Es wehte ein Hauch von Einsamkeit und Ernst um dieses Mädchen Eleonora, das nun kein Kind mehr war, der scheuchte Mitleid und Bemutterung. Sie war nun als letzte Naive in der Truppe Enrico Duse-Lagunaz engagiert. Wo der Vater es vermag, bewahrt er sie vor harten Worten während der Proben und den Plumpheiten der Anderen. Aber besser bewahren sie ihre Traurigkeit und die ahnungsvolle Sehnsucht ihrer Seele.
In Verona war es ihr geschehen, daß sie zum erstenmal dem Tode begegnet war, in der Stadt Romeo und Julias, und hier geschah es ihr auch, daß jene Sehnsucht zum ersten Male zu der Flamme aufloderte, die von da ab immer reiner in ihr brannte und die endlich als ein heiliges inneres Licht so groß in ihr leuchtete, daß heute noch, da ihr Dasein lange zu Ende ist und der Leib, der ein so vollkommenes Werkzeug großer Schauspielkunst war, vergangen ist, noch immer allen denen, die ihr Wesen verspürt hatten, eine läuternde Kraft von diesem Licht geblieben ist.
Sie spielte in Verona die Shakespearische Julia. Davon, wie dieses zarte, blasse Mädchen an der Schwelle der Kindheit die schicksalshafte Liebe seines Lebens in sich aufglühen fühlt, die Liebe zu dem Theater, das ihr von nun ab als eine gnadenvolle Sendung im Dienste der Sehnsucht ahnte, von diesem Geschehnisse erzählt ihr Dichter, wie sie es ihm berichtet hatte: »... An einem Maiabende betraten wir durch das Palio-Tor Verona. Angst würgte mich. Ich preßte das Heft, in das ich mit eigener Hand die Rolle der Julia abgeschrieben hatte, an mein Herz. Und ich wiederholte unaufhörlich die Worte des Auftretens:
Wer ruft mich? Hier bin ich.
Was ist Euer Wille?
Meine Einbildungskraft war von einem sonderbaren Zusammentreffen erregt: ich wurde gerade an jenem Tage vierzehn Jahre wie Julia. Das Geschwätz der Amme klang mir in den Ohren, und allmählich verschwamm mir mein eigenes Schicksal mit dem der Veroneserin. An jeder Straßenecke meinte ich, ich müßte einen mir entgegenkommenden Leichenzug sehen, der einen mit weißen Rosen bedeckten Sarg geleitete. Als ich die mit Drahtgittern verschlossenen Skaliger-Bogen erblickte, rief ich ...: ›Das ist Julias Grab!‹ Ich brach jäh in Schluchzen aus und hatte ein verzweifeltes Verlangen zu lieben und zu sterben ... Dann an einem Sonntag in der ungeheuren Arena, dem alten Amphitheater unter freiem Himmel, vor einer Menge Volkes, das schon mit der Atemluft die Legende von Liebe und Tod eingesogen hatte, war ich die Julia. Kein erregtes Beben, kein rauschender Erfolg, kein Triumph ist für mich je wieder der Trunkenheit jener großen Stunde gleichgekommen. Wahrhaftig, als ich Romeo sagen hörte: ›Sie ist es, die die Fackeln brennen lehrt‹, da entzündete ich mich, da wurde ich zur Flamme. Von meinen Spargroschen hatte ich auf dem Blumenmarkte unter dem Brunnen der Madonna Verona einen großen Strauß von Rosen gekauft. Diese Rosen waren mein einziger Schmuck. Sie mischte ich unter meine Worte, unter meine Gebärden und meine Bewegungen. Eine von ihnen ließ ich zu Romeos Füßen fallen, da wir uns begegneten. Die Blätter einer anderen streute ich über ihn vom Balkone herab, und mit allen zusammen deckte ich dann seinen Leichnam in der Gruft. Der Rosenduft, die Luft, das Licht rissen mich hin. Die Worte gingen mir mit einer wunderlichen Leichtigkeit gleichsam ohne mein Dazutun vom Munde, wie im Fieberdelirium, und ich hörte sie von dem Rauschen in meinen Adern begleitet. Ich sah das tiefe Gefäß des Amphitheaters halb in der Sonne, halb im Schatten vor mir und in dem erleuchteten Teile ein Funkeln wie von tausend und aber tausend Augen ...«
Ein anderer Erzähler mag hier fortfahren, Graf Giuseppe Primoli, der hernach Eleonora Duse durch viele Jahre ein Freund gewesen ist und aus ihrem Munde jenes Erlebnis in Verona vernommen hatte. Er schreibt: »... Romeo naht sich nun, er ist unter dem Balkone, und sie entblättert über seine brennende Stirn die Rosen ihres Straußes. Und dieses Liebesbekenntnis berauscht nun auch ihn ... dann wird das Rampenlicht angezündet, sein Flackern erhellt unheimlich den Friedhof. Nun steigt keine Lerche mehr mit jubelndem Gesange zum Himmel empor, nur noch die Fledermäuse stoßen mit klagenden Rufen gegen die Gräber. Auf einem Blumenbette ruht Julia. Erwachend findet sie Romeo zu ihren Füßen; und wie früher vom Balkon aus streut sie nun die Blumen über ihn, die ihn als duftendes Leichentuch bedecken, dann sinkt sie selber tot hin über den geliebten Toten, inmitten der Blumen ... Das Rampenlicht war erloschen, die Menge hatte sich zerstreut, da erhob sich Julia noch zitternd aus ihrem Sarge ... sie war zu erregt, um heimzukehren, so irrte sie lange durch die Gassen; ihr Vater folgte ihr, er achtete ihr Schweigen und redete nicht zu ihr. Sie ging nun Stunden und Stunden. Es schlug Mitternacht von allen Glockentürmen Veronas. ›Komm abendessen, Kleine!‹ drängte der Vater. Sie ließ sich heimführen und sank auf ihr Bett. Der Eindruck war zu heftig für sie gewesen, er erstickte sie fast. Die Dachkammer, das Elend ringsum, alles war verschwunden ... sie war Julia geworden ... das war ihre Offenbarung gewesen, in der sie den Zustand der Gnade erfahren hatte ...«
Freilich brannte in Alltag und Not nach diesem ersten Aufglänzen das Flämmlein dieser Gnade wieder klein, aber es glomm weiter, unauslöschlich. Und sie bedurfte seiner, denn es waren graue Jahre, durch die sie nun hindurch mußte. Es gab nicht immer die Julia zu spielen, und meist war die Arbeit freud- und aufschwunglos. Die Gagen waren erbärmlich, und zum Hunger gesellte sich die Sorge um das Allernötigste an Kleidung. Dann war endlich auch der Vater nicht mehr da, dessen schweigsame Nähe ein Stück Heimat gewesen war, noch der Oheim Enrico, der doch nachsichtiger als die Fremden gewesen war. Die Truppe Enrico Duse-Lagunaz war aufgelöst worden, und nun hieß es für sie, allein weiterzukommen. Ihre ersten Schritte einer elenden Selbständigkeit tat sie bei einem Ensemble Benincasa, dem es nicht besser in der Welt erging als dem ärmlichen, das die Heimat ihrer Kindheit gewesen war. Dann findet sie in der Truppe Luigi Pezzana Aufnahme, was insofern ein bedeutsamer Aufstieg war, als sie damit in ein wohlgeordnetes Schauspielunternehmen aufgenommen war, das in großen Städten und ansehnlichen Theatern spielte. Sie selber hatte freilich nicht viel Freude davon, denn Hunger und Not waren dieselben wie unter den Jahrmarktskomödianten; dazu aber kamen immer bitterere Demütigungen, denn jeder in der Truppe sah auf das ärmlich gekleidete, hagere und häßliche Mädchen herab, und jeder tat es dem Direktor gleich, der in ihr einen stummen Widerstand verspürte und sich keine Gelegenheit entgehen ließ, sie zu demütigen. Sie war mit großen Erwartungen in dieses Ensemble gekommen, mit der heißen Hoffnung, daß hier nun alles ein Dienen für jenes Theater sein werde, das ihr damals in Verona geoffenbart worden war. Aber was sie nun mitzumachen gezwungen war, war schlimmer als jenes Spielen auf den Jahrmarktsbühnen, wo doch zuweilen in den Enttäuschten und Hoffnungslosen ein Ton des Herzens aufgeklungen war. Hier aber herrschte die wohldisziplinierte Mittelmäßigkeit, ein leer pathetisches Deklamieren, übernommene Gesten, Hohlheit des Herzens und des Verstandes. Sie war allein und bettelarm und mußte schweigen. Aber sie konnte nicht lügen, und was von ihr ausstrahlte, verriet sie. Bei der Probe eines Stückes, in dem sie die Rolle der seconda donna zu spielen hatte, kam es dann zu der unausweichlichen Empörung der Mittelmäßigkeit. Inmitten einer Szene unterbrach der Direktor ihr Spiel: »Diese Stelle gehört nicht so, zum Teufel, sie gehört, wie ich es sage.« Und er sprach sie ihr auf seine verständnislose Routinierweise vor. Das Mädchen wandte ein, daß die Stelle ja so zu keiner Wirkung komme. Er bestand auf seiner Auffassung, und als sie weitere Einwände wagte, brach es wütend aus ihm hervor: »Was wollen Sie denn weiter beim Theater? Begreifen Sie denn nicht, daß das kein Geschäft für Sie ist? Suchen Sie sich einen anderen Beruf.« Sie würgte an ihrer Antwort. Sie wußte, daß sie nach dieser keine Gnade zu erwarten hätte. Und wo dann schnell ein Engagement finden? Woher das Geld nehmen, um auch nur eine Woche warten und suchen zu können? Sie schwieg. Aber sie wußte, daß hier keine Stätte für sie sei, daß hier nachzugeben Verrat an dem wäre, um dessentwillen sie all die Demütigungen und all das Elend auf sich nahm, und daß sie in dieser Art von Theater wirklich nichts zu suchen habe.
Sie ging nun, sobald sie es vermochte; nach einer kurzen Spielzeit in der Truppe Enrico Belli-Blanes und Francesco Ciotti, wo sie als erste Jugendliche engagiert war und sich in dem neuen Fache durchgehungert hatte wie in dem alten, packte sie wieder ihr ärmliches Köfferchen und fuhr nach Triest, wo sie bei der Compagnia Adolfo Drago nun wieder als seconda donna verpflichtet war. Das bleiche Mädchen, das durch seine gedrückte Haltung noch unansehnlicher wirkte, mißfiel schon beim ersten Auftreten dem Triestiner Publikum. Der Direktor trug ihr den Mißerfolg nach, und auch unter den Kollegen fand die Verschüchterte und wenig Umgängliche keine Freunde, die ihr den bitteren Weg der eben nur geduldeten und immer vom Hunger bedrohten kleinen Schauspielerin erleichtert hätten. Dennoch begann mit diesem Engagement ihr freilich noch für lange schmerzensreicher Aufstieg.
Eines Abends mußte sie für die plötzlich erkrankte Primadonna einspringen – es war in Neapel als Maia in »Fourchambault« von Augier –. Sie gefiel nicht wirklich, dazu war sie zu befremdlich, zu leidenschaftlich, zu ungewöhnlich mit ihrem Äußern eines hungrigen Zigeunermädchens – aber sie fiel auf. Unter den Zuschauern dieses Abends war einer der angesehensten Schauspieler seiner Epoche, Giovanni Emanuel, ein Künstler voll Intelligenz und Eigenart, dem die Befreiung des italienischen Theaters von den erstarrten Konventionen am Herzen lag. Ihm machte die Persönlichkeit, die er hinter dem ungefälligen und leidenschaftlichen Spiele dieses Mädchens spürte, Eindruck. Als er dann bei der Fürstin Santobuono, der napolitanischen Theatermäzenatin dieser Zeit, die Bildung eines neuen Ensembles für das Teatro dei Fiorentini, das vornehmste Schauspielhaus Neapels, erwirkte und Giacinta Pezzana, eine der größten Tragödinnen von damals, dafür gewonnen hatte, engagierte er auch dieses sonderbare junge Wesen, das Eleonora Duse hieß, für das neue Ensemble.
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