Gabriele Reuter
Irmgard und ihr Bruder
Gabriele Reuter

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X

Ereignislose Jahre dehnten sich zu unendlicher Länge, schlichen am Ende doch dahin, eines nach dem andern. Irmgard begann wieder zu malen. Selten nach der Natur. Weil ihre Seele mit Farben und Formen ferner Dinge erfüllt war, trieb es sie, dieses Innenleben irgendwie zu fassen, nach außen zu werfen. Auf eine Weise, die ihr erreichbar war, mußte sie es Tat werden lassen. Sonderbare Blätter entstanden. Mit Ölfarben konnte sie ohne jede Anleitung nicht umgehen. Mit Wasserfarben, auch durch bunte Pastellstifte gelang es ihr, besser auszudrücken, was sie bewegte. Zuweilen nur ein Gewoge von Farben ohne Gegenstand – Wellen von Blau, die gegen ein dunkles Gelb stürzten, jubelnd schimmernde Lichter ausspritzten – oder ein weiches tiefes Grün, das sie sehr liebte, in dessen Behandlung und Umwandlung sie niemals müde wurde. Vor dem Rot fühlte sie Grauen – sie wußte wohl warum. Dagegen schwelgte sie gern in allen Tönen des zartesten Grau, und es gelang ihr, den sanften Schimmer einer milden Entsagung über ein Blatt zu hauchen, Entsagung, die doch nicht stumpf wurde, sondern in silberner Verklärung schimmerte. Dabei empfand sie ein tiefes Gefühl der Verzückung. Farben wirkten auf sie gleich Musik – schwangen in leidenschaftlichen oder hinflutenden, in leise verrinnenden, klagenden Tönen durch ihre Seele. Allmählich entstanden aus den Farbenorgien auch Formen, die Blättern und Blüten oder dem Geäder eines Baumstammes oder einer Tiergestalt glichen. Niemals wurden sie zu realistischer Natur, blieben phantastische Traumgebilde. Sah sie Irmgard wieder an, so schienen sie ihr von einem eigentümlichen Zauber, und vor einigen von ihnen erschrak das Mädchen, so inbrünstig sangen sie ihr von heißem Erleben, von bitteren Kämpfen, von rankender Sehnsucht, von Gefühlen, die weit über alles hinausgriffen, was sie in sich spürte und erkannte. Zeigte sie der Mama einige von den Blättern, schüttelte die alte Frau den Kopf, ihr Gesicht wurde bekümmert.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie leise, »was soll es? Ich bin wohl zu dumm für dergleichen. Kind – du bist so viel allein, nimm dich in acht, daß die Träume in dir nicht überhandnehmen. Halte dich an die Wirklichkeit.«

»Ach – Wirklichkeit«, seufzte Irmgard, »was ist denn Wirklichkeit! Wissen wir es?«

Und sie verschloß die Blätter in ihrer Lade – die Blätter, in denen ihr Leben war.

Ein toter Vogel, den sie im Stadtwald auf ihren einsamen Wegen fand, regte sie zu Versuchen an. Der Ausdruck von Ergebenheit in sein Geschick um den Schnabel, in der schlaffen Biegung des fedrigen Halses ergriff das Mädchen unsäglich, und die Malerin reizte es, die feine bläuliche Haut, die halb über den gebrochnen Äuglein hing gleich einem zarten Schleier, nachzubilden. Viele Tage war sie mit der Arbeit beschäftigt, ermüdete nicht, immer aufs neue zu versuchen, was sie in dem Tierchen sah, das Leid der Kreatur, der wehrlosen, wiederzugeben, wie sie es fühlte. Wohl ein Dutzend Blätter zeigten das kleine Vogelköpfchen, einige nur eine schmerzgekrümmte Kralle oder den gebrochenen Flügel mit dem feinen Farbenschmelz der Federn.

Ein Fisch, den die Köchin zum Mittagstisch zu bereiten im Begriff stand, erinnerte Irmgard an den aus trüben Augen sie anglotzenden Kapitän in dem kleinen Schifferkneipchen, wo sie so gern mit dem Bruder gesessen. Sie suchte sich seines abgestorbenen, von Sonne und Sturm gegerbten Gesichtes zu erinnern, deutete es mit flüchtigen Strichen und Tupfen an und führte nur die Augen in Farben genau und sorgfältig aus, diese Augen in der grenzenlosen Gleichgültigkeit ihres blicklosen Starrens. Auf solche Weise näherte sie sich in ihren Arbeiten der Wirklichkeit. Sie begann auch Interesse an Tieren zu nehmen, ihr Wesen, ihre Gesichter schienen ihr das Geheimnis der Schöpfung klarer, unschuldiger auszudrücken, als Menschen vermochten. Niemals wurden ihre kleinen Bilder Porträts – es waren Träume über Rätsel, die aus den stummen Geschöpfen sich offenbarten.

In solcher einsamen Arbeit verloren sich die Qualen, die Irmgard umfangen hielten. Ihr Sein streckte sich nach einem Ziel, obwohl sie es noch nicht erkannte. Sie glaubte noch immer, ihr Schicksal sei nur ein Warten – Warten – Warten – und sie wußte, daß dieses Warten ohne Worte auch die alte Frau erfüllte und deren Lebenskraft langsam aufsog.

Man machte neue Bekanntschaften. Man sah Menschen, und sie wurden gute Freunde, kamen ins Haus, lachten, plauderten – Menschen, die von Erich nichts wußten, die niemals nach ihm fragten. Auch die Verwandten hatten sich gewöhnt, die leidige Angelegenheit in Schweigen zu begraben. Irmgard sah sie selten. Tante und Kusinen wußten nicht recht, was sie mit dem schweigsamen Mädchen, das augenscheinlich keinerlei Interessen hatte, beginnen sollten. Das unverheiratet gebliebene Fräulein Lodger versuchte sie für soziale Arbeit zu gewinnen. Das alternde Mädchen lief unermüdlich mit einer ledernen Aktentasche unter dem Arm, einen Klemmer auf der Nase, mit viel Wichtigkeit von einer Versammlung in die andere und arbeitete in Fürsorgeheimen und Suppenküchen. Das alles erschien Irmgard als sehr vorzüglich, und sie hegte einen scheuen Respekt für die tatkräftige Verwandte. Doch bei Versuchen in dieser Linie, zu der sie sich zwang, versagte sie kläglich – verstand in keiner Weise mit den Leuten zu reden – glaubte bei Recherchen, die sie bei armen Familien machen sollte, jedes Wort, was man ihr vorschwindelte, kehrte mit leerem Portemonnaie heim und lieferte verwirrte oder falsche Berichte. Sie mußte die Sache aufgeben und ergriff mit gesteigerter Lust Pinsel und Farben. Die Mutter seufzte, sie war die Anregerin zu der mißglückten Tätigkeit gewesen. Heimlichen Eigensinn trug ihre scheinbar so gefügige Tochter in sich, und wenn man sich dessen nicht versah, beharrte sie in einer unscheinbaren Weise auf ihrem Willen.

*

Ein geringfügiger Umstand sollte eingeschlummerte Schmerzen zu frischem Leben erwecken. – Irmgard bestellte eine Waschfrau – die alte war gestorben. Das Weib war gesprächig und mitteilsam, wie diese Art Frauen zu sein pflegt. Irmgard, die ihr einen Auftrag zu geben hatte, stand neben ihr, während sie ihr Mittagessen verzehrte, und hörte zerstreut auf ihr Geschwätz, in dem sie sich darüber ausließ, daß der Name Glenn ihr sonderbar und fremd vorkomme. Irmgard warf die kurze Bemerkung hin, sie seien auch wohl die einzigen in der Gegend, die ihn führten.

Da meinte das Weib, sich den Mund mit der Schürze wischend, das möge doch wohl nicht stimmen, denn vor kurzem erst habe sie den Namen in ein Halstuch gestickt gefunden. E. Glenn – sie besinne sich noch deutlich, es sei zwischen den Sachen eines Matrosen gewesen, der oben bei den Hoffmanns, die das kleine Häuschen am Stadtwald besäßen, zum Besuch gewesen sei, der Sohn oder ein Vetter, das wisse sie nicht mehr genau, und das Halstuch sei mächtig schmutzig gewesen, dreimal habe sie es vornehmen müssen, ehe sie es sauber bekommen habe.

Irmgard sah erschrocken auf ihre Mutter, die während des Schwatzens eingetreten war und schwer auf einen Stuhl fiel.

»Es wird ein Irrtum sein, ganz sicher ein Irrtum«, stotterte sie, die Stimme gehorchte ihr nicht – die Augen der Mama hingen an ihr wie die eines kranken, flehenden Tieres.

»Meinst du Kind – sollte man nicht . . .

»Ich hab' doch meine Augen«, knurrte die Frau beleidigt. »Mit blauem Garn war der ganze Name hineingestickt in Kettelstich. Ja!«

»Wo wohnen diese Hoffmanns?« fragte Irmgard kurz, ihr Ton war kalt in der Bemühung, ruhig zu erscheinen. Die Frau beschrieb das Häuschen. »Sie können nicht fehlen, Fräulein, in der Wilhelmstraße, wo's nach dem Wald in die Höhe geht – das mit dem Rosenbogen über der Tür – und gleich daneben die Gärtnerei.«

Irmgard dankte, half der Mama aufstehen, führte sie hinaus in ihr Schlafzimmer, wo sie in ein klägliches Weinen und Wimmern verfiel.

Die Frau sah das Dienstmädchen an. »Na, was war denn das – die Herrschaften wurden ja blaß wie zwei Leichname . . .«

»Ach – das ist doch wegen dem Sohn – der ist doch auf See verschollen – schon an die acht Jahre – und nun – das mit dem Tuch und mit dem Namen – das ist doch zu merkwürdig, und ein E noch dazu – er hieß Erich.«

Diese Mitteilung erregte die Neugier der Wäscherin nicht wenig und gab Stoff zu einem längeren Gespräch. Die Frau vermutete gleich einen Mord und beteuerte, sie wolle nichts gesagt haben, und wenn es vor Gericht käme – nein, sie könne sich weiß Gott an nichts mehr erinnern, und ob der Name in dem Tuche Glenn geheißen, das werde ihr doch jetzt auch ungewiß.

Eine halbe Stunde später verließ Irmgard das Haus und schlug die Richtung nach dem Stadtwald ein. Sie kannte die Wilhelmstraße gut genug. Dort wohnten einfache Leute, Handwerker, Kleinrentner und dergleichen. Die Straße stieg ein wenig bergan bis zu einer hochgeschwungenen Eisenbrücke, die über eine Schlucht führte, durch welche die Schnellzüge brausten und ihren weißen Dampf in großen Wolken hinaufsandten. Jenseits begann der Wald, aus Tannen, Buchen, Birken und Haselgebüsch anmutig gemischt. Viel hatte Irmgard in diesem Wald gesessen und geträumt. Von den breiten Spazierwegen abgewichen, hatte sie sich in das dichteste Gebüsch vergraben – der Wald war ihr Freund geworden, in den herben Gerüchen, den Farben der wechselnden Jahreszeiten hatte sie sanfte Erquickung genossen.

Oft stand sie an den Gartenzäunen der windschiefen Häuschen, die ihre Gebrechlichkeit hinter einer Gardine grüner Weinreben schamhaft bargen. In den Gärten blühte es von zahllosen Blumen, die Irmgard mit ihrer durcheinander wuchernden Buntheit entzückten. Wohl kannte sie auch den Rosenbogen, der allein in seiner Art über dem bräunlichen Gittertürchen in der Höhe des Sommers wie eine rosige Wolke paradiesisch prangte und seine zarten Düfte in die warme Luft atmete.

Nun durchschritt sie ihn und drückte die Hand auf das hämmernde Herz. So zweifelnd und mutlos sie den Weg begonnen – in diesem Augenblick überschüttete sie Hoffnung und Freude. Vor der Haustür saß ein Kind und enthülste junge Schoten. Auf die Frage, ob sie hier recht zu Hoffmanns komme, erhielt Irmgard zur Antwort, die Mutter sei ausgegangen und die große Schwester auch.

»War es dein Bruder, der kürzlich bei euch zum Besuch war?« fragte Irmgard.

Das Kind nickte.

»Ist er Matrose?«

Wieder nickte die Kleine vor Verlegenheit stumm.

»Der konnte wohl viel erzählen? Hatte er auch einen Freund bei sich?«

Wieder nur das Kopfschütteln, und Irmgard schalt sich töricht, daß sie die Frage getan. Es war doch unmöglich, daß Erich in der Stadt gewesen und sie nicht aufgesucht haben sollte.

»Wann treffe ich die Mutter daheim, ich wollte sie etwas fragen – etwas Wichtiges«, sagte Irmgard leise, doch klar.

»Oben is die Tante Trude – die weiß alles.«

»So rufe sie doch!«

»Nee – die kann nich runter.«

»Warum nicht?«

»Die kann doch nich laufen.«

»Dann führ' mich zu ihr! Also schnell, Kind – mach zu!«

Das Kind warf die Erbsenhülsen vom Schoß auf den Boden, wobei es die fremde Dame unaufhörlich anstarrte, klinkte dann die niedere Haustür auf und lief vor Irmgard her durch einen säuerlich riechenden Flur und eine steile, ausgetretene Stiege hinan. Oben riß es eine Tür auf, schrie: »Tante, hier is wer«, stand und glotzte neugierig.

Irmgard trat in ein kleines Giebelzimmer mit schrägen Wänden und einer sehr abgenutzten, verblichenen Tapete. Es enthielt nur ein schmales Bett, einen Waschtisch, ein paar Strohstühle.

Die Sonnenstrahlen des Nachmittags strömten warm und golden durch das kleine, von einer sauberen Mullgardine umgebene Fenster. In der Nische, welche die schräg ansteigenden Wände bildeten, stand ein Lehnstuhl mit einem Fußbänkchen. Dort saß ein Mädchen, nicht mehr jung, mit einem schmalen, schneeweißen Gesicht. Das zu einem glatten Scheitel gestrichene Haar war zwar blond, doch ebenfalls ohne jeden Glanz, ja beinahe ohne Farbe. Die Hände, die müßig im Schoße lagen, erschienen durch das Leiden verfeinert und blutlos wie Wachsgebilde. Auf dem Fensterbrett lag eine Häkelarbeit und ein Heftchen mit einem Christuskopf, wie fromme Vereine sie zu verteilen pflegen.

Die Kranke wendete ihre sanften großen Augen auf Irmgard.

»Oh – Besuch – das ist aber schön«, sagte sie freundlich, bedeutete das kleine Mädchen, einen Stuhl heranzurücken und wieder an ihre Arbeit zu gehen. Sie bat um Vergebung, daß sie nicht aufstehe, um dem Gast die Höflichkeit zu erweisen, aber die Beine seien gelähmt. Des Morgens ziehe die Schwester sie an und hebe sie auf diesen Stuhl – da sitze sie den lieben langen Tag. Die Dame käme wohl wegen einer Häkeldecke. Ja – mit solchen Arbeiten beschäftige sie sich und habe einen hübschen Verdienst, seit sie die Hände wieder bewegen könne – denn auch die seien viele Jahre gelähmt gewesen.

»Und wie lange ist es, daß Sie in diesen Zustand geraten sind?« fragte Irmgard erschüttert.

»Ach – das ist lange her«, sagte die Kranke mit ihrer milden Stimme. »Ich war ein junges Ding und so wild, mußte immer springen und rennen – da bin ich einmal die steile Treppe hinuntergestürzt und habe mir einen bösen inneren Schaden getan – im Rücken und auch im Unterleib. Anfangs mußte ich im Bett liegen viele Jahre – ja, das war schwer. Ich war siebzehn Jahre damals und so heftig . . . die Schwester hat's hart mit mir gehabt.«

»Und – wie alt sind Sie nun?« fragte Irmgard leise.

»Nun –? warten Sie mal, Fräulein – ja, nun bin ich sechsunddreißig.«

»Achtzehn Jahre«, murmelte Irmgard.

Die Kranke nickte mit dem farblosen Kopf.

»Was nützt es, nachzuzählen«, sagte sie geduldig. »Es geht ja besser – die Schmerzen sind geringer. Der Arzt gibt ja Hoffnung, daß ich noch einmal hinunter kann – ins Freie. Darauf warte ich denn . . .«

Irmgard seufzte.

»Sie können wenigstens in das Gärtchen sehen, das ist gut«, flüsterte sie mit ihrer weichsten Stimme, hob zögernd die Hand und strich linde über die abgezehrten trocknen Hände, die auf den Falten des grauen Wollkleides lagen.

Ein Lächeln schimmerte aus den stillen Augen und über die dürftigen Züge.

»Das ist wohl schön – das ist eine Gnade. Sehen Sie nur den Rosenbogen. Den beobachte ich vom ersten Frühling an, wenn die kleinwinzigen grünen Blättchen kommen und immer größer werden, und dann die Knospen! Ja, Gott sei Dank, ich habe gute Augen, alles kann ich von hier aus sehen – auch wenn die Knospen rot werden – und eine zuerst aufspringt, und die andern alle schnell folgen! Jetzt ist er in seiner vollen Schönheit. Ist er abgeblüht, und die gelben Blätter fallen so naß und häßlich herunter, muß ich manchmal weinen.«

»Der Winter wird schwer für Sie sein«, murmelte Irmgard.

»Ja – der ist lang. Da träume ich immer von dem Frühling. Am Ende kommt er doch immer wieder. Man muß nur geduldig warten können. Sehen Sie, Fräulein, so habe ich hier immer meine stille Freude. Der Rosenbogen ist ja alles, was ich von der Welt sehe.«

Irmgard legte still den Arm um den schon alten abgezehrten Hals des kranken Mädchens und küßte sie leise auf die Wange. Sie lächelten sich beide zu.

»Ich kenne das Warten«, sagte Irmgard vertrauensvoll und erzählte ihr von dem Bruder, und daß sie seit acht Jahren ohne Nachricht von ihm seien. Nun habe sie von dem Tuch gehört . . .

Aber Gertrud konnte keine Auskunft geben. Ein altes Tuch, das hatte ja nicht so viel Wichtigkeit, man redete nicht darüber. Vielleicht habe der Friedrich es geschenkt bekommen oder gefunden.

Auf die Frage, ob ihr Neffe niemals von einem Freunde namens Glenn gesprochen habe, sann Gertrud eine Weile nach, schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir so leid – ich kann mich nicht erinnern . . . aber die Schwester weiß gewiß mehr – würden Sie morgen – nein, morgen hilft sie bei einer Hochzeit – geht früh fort – wenn Sie übermorgen vorsprechen wollten?«

Irmgard nannte eine Stunde, in der sie kommen würde, stieg die gefährlich-steile Treppe hinab – ohne Hoffnung.

Unter dem Rosenbogen wendete sie sich zurück, schaute zu dem Mansardenfensterchen empor, hinter dessen Glas sie das bleiche Gesicht mehr ahnte als sah, und winkte mit der Hand grüßend hinauf. Sie stand unter der blühenden Pracht, rosige und schimmerweiße Blüten drängten sich in Büscheln durcheinander, hingen an dornigen Ranken zwischen den kleinen grünen Blättern.

Auf dieses kurze selige Blühen wartete ein armer Mensch ein ganzes langes Jahr – mußte dann seine Sehnsucht nach Schönheit jeden Herbst aufs neue begraben . . .

Ich warte . . .

Die entsagende Geduld der Kranken war wohl bewundernswürdig. Ein Beispiel – ein großes Beispiel . . . Nein! Irmgards Brust brannte in heftiger Auflehnung – Gefühle, die zusammengeballt wie ein schwerer Stein auf ihrem Herzen lagen, gerieten in Bewegung. Und in diesem Augenblick begann sie den Bruder zu hassen, der ihr die Jugend und das Leben verdorben, zerschlagen hatte. Sie biß die Zähne aufeinander, daß sie sich knirschend rieben, ihre blauen Augen wurden dunkel von Zorn.

Ich will nicht – will nicht mehr warten! schrie es in ihr, Leidenschaft stürmte in ihrem Innern empor. – Mag er denn tot sein – soll er tot sein für mich – ist er es nicht längst? Überwinden muß ich ihn – einen Deckel auf sein Grab – und fort mit allem, was an ihn gemahnt – Mitleid – Sehnsucht – Geduld – fort, fort! Nur Leben – Leben! Sich ganz überströmen lassen von Wogen des Lebens, darin untertauchen – sich berauschen – sich ausbreiten zum Genuß . . . Herrliches gibt es auf der reichen Welt . . . Es mußte erreichbar sein mit dem Willen, der sich kämpferisch aufreckt.

Sie hob ihre dünnen, feinen Arme, griff über sich in die Rosen, riß heftig Büschel um Büschel herab, fetzte sich die Hände blutig, achtete es nicht, barg das Gesicht in dem duftenden Strauß, küßte die Blumen, und Tränen der Leidenschaft drängten sich unter den Wimpern hervor.

Schnell ging das Mädchen den Rückweg nach Haus.

Nicht mehr warten – nicht mehr warten, rief es in ihr gleich dem Refrain eines stürmischen Liedes.

Als sie die Tür ihrer Wohnung hinter sich schloß, zuckte sie die Schultern – lächelte ironisch über den heftigen Aufschwung. Es blieb ja doch alles, wie es war. Während sie ihren Hut abnahm und aufhängte, wurde sie ruhig und kühl. Mit gelassener Miene trat sie zur Mutter, ihr zu sagen, daß die Aussicht auf eine Nachricht von Erich wahrscheinlich vergebens sei. Frau Luise weinte in ihr Tuch – sie hatte wohl schon lange mit der Hoffnung abgeschlossen, den Sohn noch einmal zu sehen. Sie war sehr schwach an dem Tage. Die Tochter brachte sie zu Bett, gab ihr Wein, pflegte sie, wie sie gewöhnt war, die Hinfällige zu betreuen. Zum erstenmal betrachtete sie sie heute mit Kälte.

Wird sie sterben, dachte das Mädchen, bleibt mir nur eins: selbst ein Ende zu machen – schnell – schnell. Mir das Leben zu erobern, dazu reicht die Kraft nicht mehr – ausgehöhlt, verblüht, armselig, wie ich geworden bin.

Sie dachte es nicht mehr mit entsagender Wehmut, sondern mit heftiger Bitterkeit. Es war schön, den Ingrimm zu fühlen gegen das Schicksal, das sie zu zerquetschen drohte.

Nach eigenem Willen wollte sie sterben –. Oder nach eigenem Willen leben – – menschliches Sein in seinen tiefsten Zuckungen erkennen! – An ihre Kunst dachte sie nicht – ihre Versuche schienen ihr eitel Dilettanterei.

Niemand sah an dem gehaltenen Mädchengesicht, das deutliche Spuren des Welkens trug, den Kampf, in den ihr Wesen urplötzlich gerissen war. Die Selbstzucht einsamer Jugend lag gleich einer freundlichen Maske über ihr. Sie hat ein ruhiges Temperament und leidet nicht sehr, dachte die Mutter. Irmgard meinte dasselbe von der Mutter. –

Als Irmgard am übernächsten Morgen der Frau Hoffmann in ihrem sauberen Stübchen am Tisch mit der weißen Häkeldecke gegenübersaß, hörte sie, daß der Matrose Glenn, mit dem ihr Sohn die Fahrt durch die chinesischen Gewässer gemacht habe, in seinem Alter, also etwa zwanzig Jahre alt sein mochte. Ihr Sohn habe ihn zuweilen Eduard genannt. –

Irmgard nahm die Gewißheit gleichmütig entgegen.

Am Nachmittag erlitt Frau Luise einen Schlaganfall, von dem sie sich nicht wieder erholte. Das wenige an Hoffnung, was der gestickte Name in einem alten Halstuch in ihr aufgerührt hatte, war eine zu heftige Erschütterung gewesen. Einige Monate noch siechte sie hin, gelähmt, in einem dumpfen geistigen Traumzustand befangen, der sie in die ersten Zeiten junger Ehe zurücktrug und zuletzt in die eigene Kinderzeit. Erich schien sie vergessen zu haben. Zuweilen fragte sich Irmgard, ob die Mutter sie noch als Tochter erkenne oder nur als eine freundliche Pflegerin. Ein letzter Händedruck gab ihr dann doch die Gewißheit, daß die Sterbende sich ihr tief vereint wußte. –

Irmgard stand zum letztenmal zwischen den venezianischen Möbeln, blickte auf die weiße Reiterin mit dem Federhut, auf das sich bäumende Pferd – den kühnen Jäger mit dem Speer, die Hunde und den Eber, das unwirkliche und so eindrucksvolle Baumgeäst, die Felsen mit der kauernden Eule – auf die alte naive Kunst, an der sie sich mit Erich sooft ergötzt hatte, die ihrer beider Phantasie beflügelte, sich in fremde Welten zu versetzen und in ihnen zu leben, bis sie den Kindern zu Wirklichkeiten wurden. Mit ihren langen dünnen Fingern strich Irmgard liebkosend über das glatte Olivenholz, das einen feinen Duft besaß, und es war ihr, als nehme sie nun in dieser Stunde, da sie ihre Jugend beendet glaubte, noch einmal Abschied von dem Bruder, von all den kindlichen und süßen Erinnerungen, in denen sie bisher gelebt hatte wie unter zarten, gütigen Gespenstern.

Kisten und Kasten füllten die Wohnung, Latten und Stroh lagen auf dem Boden. Während Irmgard in ihrem Gemüt noch Abschied nahm, griffen kräftige Männerfäuste schon nach dem lieben Schreibschrank, dem Tisch mit den Liebesszenen und den Stühlen, sie einzuhüllen für ein langes Ruhen auf einem Speicher. Bis Irmgard sich ein neues Heim gründen würde. Wann und wo würde dieses geschehen?

 


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