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Die Villa Marina war einem Engländer verkauft worden, den die phantastische Grotte bezaubert hatte. Die venezianischen Möbel mit ihren Jagd- und Liebesszenen standen nun fremdartig im kleinen Wohnzimmer eines grauen Miethauses in der grauen einförmigen Straße der deutschen Mittelstadt. Irmgard und Erich hatten um diese geliebten Altertümer einen harten Kampf mit dem Justizrat führen müssen. Sie waren unter dem Beistand der Mutter Sieger geblieben, doch es war etwas wie Haß gegen den praktischen Onkel und in ihm eine spöttische Antipathie gegen diese aufsässige junge Brut und die Schwäche ihrer Mutter zurückgeblieben. Frau Luises verödetes Herz hatte nach dem Tode ihres Gatten nur noch einen Wunsch: in das Land zurückzukehren, wo die Menschen ihre Sprache redeten, in der Nähe der Schwester zu weilen, mit der sie Kindheitserinnerungen tauschen konnte, für die Michael niemals genügende Teilnahme bewiesen hatte.
Doch diese Erinnerungen waren bald erschöpft, und man wußte sich nicht mehr viel zu sagen. Die Frau Justizrat lebte mit ihren zwei Töchtern in den Interessen ihrer kleinstädtischen Geselligkeit und ihres Haushaltes. Die verwitwete Schwester erschien ihr fremdartig, und daher mißbilligte sie sie. Frau Luise bediente sich oft italienischer Worte, und ihre Art, sich und Irmgard zu kleiden, fiel bei aller Einfachheit doch immer wieder aus dem Rahmen des Herkömmlichen irgendwie heraus.
Irmgard spürte das leise, verborgene Mißbehagen der Verwandten eher als die Mutter und lernte früh, sich zu verschließen.
Über Frohnstedt lag schwer ein trüber, grauer Himmel. Es gab wenig Schnee, unendlicher Regen rieselte eintönig vor den Fenstern und erfüllte die Welt mit einer feuchten, durchdringenden Kälte. Ging Irmgard mit der Mutter vor die Stadt die lange Chaussee hinunter, dehnten sich unendliche abgeerntete Felder zu beiden Seiten, mißfarbene Rübenblätter faulten am Wege und Scharen von Krähen hockten auf der braunen Ackerkrume, erhoben sich bisweilen flügelschlagend in die nasse Luft und stießen ein wildes Krächzen aus. Die leeren Äste der alten Pappeln knarrten im rauhen Winde, der sie schüttelte.
Warum ging man hier? Es war doch so maßlos traurig. Zuweilen würgten die Mutter und ihre Tochter an ihren Tränen, und keine wollte es doch die andere sehen lassen. Der Arzt hatte für das zarte Mädchen ein Wandern in frischer Luft verordnet. Mit einem letzten Rest von Energie drang die Mutter darauf, daß das Gebot ausgeführt werde. Es war, als ob bei der noch nicht alten Frau die Lebenskraft in der langen Pflege des geliebten Kranken völlig aufgebraucht worden sei. Kleiner schien sie geworden, dürr und ergraut. Schwer war es für Irmgard, sie durch ein Gespräch zu unterhalten. Wie ein Häuflein Asche kam ihr die Mutter vor, und wenn sie sich auch mit einer müden, schmerzlichen Zärtlichkeit an die Tochter klammerte, diese fand keinen Weg aus ihrem jungen Herzen in das ausgebrannte der in ihren Kummer versenkten Frau.
Ihr Gefährte war fern, und zuweilen überkam sie die Sehnsucht nach dem Bruder in einer heißen Welle, die über sie hinschlug wie ein Schwaden heißen Dampfes, der sie zu ersticken drohte. Aber sie wußte nie, war es das Verlangen nach seinem hellen Gelächter, seinem kindlichen Geplauder, nach dem Geflüster all ihrer kleinen Geheimnisse – oder war es das verzweifelte Sehnen nach Sonne, nach Farbe, nach leuchtender Weite der See und den kühnen Formen der Landschaft, in der sie aufgewachsen war? Aus selig träumender Kindheit war das Mädchen jäh und allzu früh in das Reich der Erwachsenen herausgerissen und fand sich noch nicht darin zurecht. War es nicht erfüllt von Krankheit und Trauer oder von wunderlich törichter Wichtigkeit und kleinen Bosheiten?
Pilgerte sie an jedem Sonntagnachmittag durch die leeren grauen Straßen zu den Verwandten hinaus – der Justizrat Lodger bewohnte eine stattliche Villa in dem neuen Stadtviertel –, so saßen sie um den runden Sofatisch, stickten und häkelten bunte Gegenstände, die Irmgard häßlich und überflüssig erschienen. Der Onkel las die Zeitung, oder er hielt der Schwägerin kleine ermahnende Reden über Sparsamkeit. Das Kapital, welches noch vorhanden sei, müsse für die Zukunft seiner Mündel sorgsam aufbewahrt werden. – Zuweilen nahm Kusine Cläre, ein hübscher, fröhlicher Backfisch, Irmgard mit in ihr Schlafzimmer, erzählte ihr dort mit eifriger leiser Stimme von kleinen Liebeserlebnissen, von Schülerküssen und Stelldichein im Stadtwald. Irmgard sah sie mit großen Augen verständnislos an und fühlte nur einen leichten Ekel.
Sie war zufrieden, daß der Vormund nicht darauf bestand, sie die oberen Klassen der Töchterschule durchmachen zu lassen. Ihr graute vor all diesem Geplapper und Gekicher der vielen Mädchen. Sie saß lieber allein und las wahllos die Bücher aus des Vaters Bibliothek, dachte oder träumte darüber.
Erich war zu einem Pfarrer aufs Land zur Vorbereitung für die Aufnahme in eine gerühmte Erziehungsanstalt gegeben worden. Der geistliche Herr schrieb stets erfreut über des Knaben Dienstwilligkeit und seine mannigfachen Fähigkeiten. In Wahrheit benutzte er seine beiden Pensionäre zum Ziegenhüten, zu Gartenarbeiten und zu Gängen in die Nachbardörfer und auf fernliegende Bauernhöfe, um die Deputate in Lebensmitteln, die ihm zustanden, einsammeln zu lassen.
Erich gefiel es nicht übel bei den freundlichen Pfarrersleuten, die keinerlei geistige Anstrengung von ihm verlangten. Als er heimkam, erklärte er Mutter und Schwester, er habe genug gelernt und wolle nun zur See gehen. Das Hocken in einem engen Schulzimmer würde er niemals ertragen. Wenn man ihm nicht den Willen täte, würde er sicher sterben aus Sehnsucht nach dem Meer. Die Mutter lächelte und schüttelte den Kopf. Irmgard verstand ihn gut und wußte doch, man dürfte seinem Willen nicht nachgeben. Der Onkel Justizrat hielt den Jungen mit drohenden Blicken und strengen Aussprüchen über Pflicht und Verantwortung gegenüber seinem toten Vater, dem er keine Schande machen dürfe, in einer Art von widerwilligem Respekt. Erich mußte zugeben, er sei vielleicht noch zu jung, um auf einem Schiff aufgenommen zu werden, und ließ sich herab, mit Irmgard Geschichtszahlen und lateinische Verben zu üben. Es gelang ihm, im Examen einige gute Antworten zu geben, die seine Aufnahme in das berühmte Internat ermöglichten. Zu seinem Unglück. Denn es standen keinerlei feste Kenntnisse hinter diesen Zufallstreffern. Schon nach Beendigung des ersten Schuljahres sandte man Erich endgültig heim. Sein Zeugnis wurde von einem Schreiben des Direktors begleitet, in dem dieser ausführte: Erich Glenns Vorkenntnisse entsprächen durchaus nicht den Anforderungen der Schule; der hohe humanistisch-klassische Geist, der hier gepflegt werde, mache keinerlei Eindruck auf den Knaben. Man beschuldige ihn sogar, sich über die als hehre Vorbilder an den Wänden der Schulräume angebrachten Porträts hervorragender Männer der Philosophie und sonstiger Wissenschaften, die der Anstalt ihre Ausbildung dankten, spöttisch-respektlos geäußert zu haben. Daß er ihnen den eigenen Vater als gleichbedeutend gegenübergestellt habe, möge mit der Blindheit kindlicher Liebe entschuldigt sein. An sich nicht unbegabt, an Lebenserfahrungen – auch solchen unerwünschter Art – seinen Altersgenossen weit voraus, zeige sich Erich leider nicht im mindesten geneigt, durch Eifer und Fleiß die Lücken seines Wissens zu ergänzen. Beschönigend fügte der Direktor an dieser Stelle hinzu: Erich teile das Schicksal vieler Knaben von Auslandsdeutschen, die, in allzu großer Freiheit aufgewachsen, sich dem strengen deutschen Schulregiment nicht einzufügen vermöchten. Nehme er sich in Zukunft mehr zusammen, überwinde er seine Trägheit und Träumerei, könne er am Ende eher den Anforderungen einer Mittelschule genügen.
Das wurde ein böser Tag. Der Justizrat, in seiner Eigenschaft als Vormund der Glennschen Unmündigen, war von Frau Luise benachrichtigt worden, wie die Dinge standen.
Er saß neben ihr am Fenster, las mit strengem Gesicht den verhängnisvollen Brief, ließ sich darauf von dem Neffen das Zeugnis bringen und studierte dessen lange Zahlenreihen, die sich meist zwischen den Nummern vier und fünf bewegten.
Erich hatte sich zu seiner Schwester an das zweite Fenster zurückgezogen und stand dort düster-trotzig, der unvermeidlichen Strafpredigt entgegenharrend. Er haßte in diesen Augenblicken nichts auf der Welt so leidenschaftlich wie den Onkel, gegen den er von der ersten Bekanntschaft in Venedig an eine dumpfe Abneigung, einen kaum gerechtfertigten Groll empfand.
Durch die blitzende Brille richtete der Justizrat einen kalten Blick auf Erich, während sich seine Oberlippe zu dem fatalen ironischen Lächeln auseinander zog, das die beiden goldenen Eckzähne sehen ließ – diesem Lächeln, mit dem er vor Gericht seine Gegner vernichtete.
»So – so – da hast du ja deiner Mutter und Schwester eine rechte Ferienfreude gemacht«, begann er mit einer, wie es Erich schien, teuflisch höhnischen Freundlichkeit »Unerwünschte Lebenserfahrungen« – also lasterhaft bist du auch – schau, schau! Und extra wird hier konstatiert, daß dir keineswegs die Begabung – nur Wille und Fleiß fehlen . . . Eine Mittelschule – für den Sohn des berühmten Michael Glenn eine Mittelschule . . . reizendes Resultat dieser Erziehung in Freiheit.«
Der Justizrat stieß einige meckernde Kichertöne aus und erhob sich, indem sein Gesicht ernst, ja drohend wurde; langsam und gewichtig reckte er sich auf, denn seine Knie waren bereits etwas steif.
»Komm einmal her, mein Sohn«, sagte er ruhig und beinahe freundlich.
Erich zögerte eine Sekunde. Er war blutrot geworden. Dann ging er, lang und zart aufgeschossen, mit seinen elastischen Schritten durch den breiten Lichtbalken, den die Nachmittagssonne schräg in das Zimmer sandte, und in dem sein helles, leicht gelocktes Haar wie Gold aufglänzte. Er trat vor den großen dicken Mann und hob das edel geschnittene, noch so weiche Kindergesicht mutig zu ihm auf. Er war ohne Arg, er dachte, der Onkel werde jetzt neue Gelübde von ihm fordern, vielleicht Abbitte an die Mutter – er war bereit, dies alles zu leisten und einmal wieder neu zu beginnen, denn es war wirklich eine schauderhafte Sache, und die Mama tat ihm schrecklich leid.
Der Onkel hob die große, mit dem Siegelring geschmückte Hand, in der er das Zeugnisheft zusammengerollt hielt, beugte sich vor, faßte mit der Linken Erichs Schulter, und klatschend sauste die Rolle ihm rechts und links auf die Backen, auf die Ohren nieder, zerpeitschte sein Gesicht, so daß ihm die Tränen des Schmerzes und der Scham aus den Augen stürzten.
Vor Entsetzen stand er ohne Gegenwehr, ließ die Schläge auf sich niederprasseln. Aber Irmgard war mit zwei Sprüngen neben der eiskalt strafenden Gerechtigkeit, hängte sich mit aller Kraft an den erhobenen Arm, riß, zerrte und schrie unter Tränen: »Laß ihn los – laß ihn los, du Ungeheuer, du schlägst ihn ja blind und taub –!« Und als der Justizrat, seinerseits von dem unvermuteten Angriff verblüfft, den Griff an Erichs Schulter lockerte, riß sie ihm die Hand vollends fort und schrie: »Lauf, Erich, lauf – schließ dich ein, damit er dich nicht findet.«
Erich zögerte nicht, ihrem Rat zu folgen. Erst als die Tür hinter ihm zuschlug, sanken des Mädchens Arme kraftlos herab.
Der Justizrat fuhr sich mit dem Finger zwischen Kragen und Hals und murmelte etwas von Schlaganfall.
Er sah seine Nichte, dieses sanfte, stille Wesen, erstaunt an. »Du niederträchtige, wilde Kröte«, schrie er, nun wirklich vom Zorn übermannt. »Wer hätte von dieser kleinen Hexe so etwas erwartet.« Während er seine Manschetten hervorzog und in Ordnung brachte, wandte er sich der Schwägerin zu. Frau Luise hatte während der peinlichen Exekution das Gesicht mit dem Tuch verhüllt. Nun hob sie das kleine, zuckende, schon von Runzeln durchzogene Sorgengesicht zu dem Schwager aus und fragte hilflos:
»Was soll denn nun werden?«
»Wir wollen die Flinte nicht gleich ins Korn werfen«, erklärte ihr Herr Lodger ernst und würdig. »Ich werde wohl noch mit zwei widerspenstigen Bälgern fertig werden – habe ich doch auch meinen eignen Jungen durch zielbewußte Strenge gebändigt. Du tust mir leid, Luise – wirklich leid –, obwohl du keineswegs ohne Schuld bist. Kinder müssen unter strenger Zucht aufwachsen. Nun – ich will sehen, wie ich dir am besten helfen kann. – Ich werde die Sache durchdenken und dir dann Bescheid geben.«
Nach dieser, mit volltönender Stimme gehaltenen Rede reichte der Onkel und Vormund der Glennschen Unmündigen Frau Luise die Hand zum Abschied. Irmgard hatte das Zimmer verlassen.
Der Justizrat entbot einige Tage später Frau Glenn in sein Büro. Er teilte ihr dort seine Entschlüsse mit. Erich sei für die höhere Bildung und Karriere wohl nicht geeignet. Es komme nun eine Realschule und die Vorbereitung für einen technischen Beruf in Frage. Der Justizrat ließ durchblicken, daß er unter einem solchen nur ein Herabsteigen auf der sozialen Stufenleiter, gewissermaßen eine Art von Strafversetzung erblicken könne. Auch für den Eintritt in die Realschule müsse der Junge ja noch vorbereitet werden. Es befinde sich in der Stadt eine Presse, in der Knaben aus den Volksschulen zum Übertritt in die Realschule gedrillt würden, die könne Erich für das nächste halbe Jahr besuchen. Damit der Junge dort nicht wieder Schiffbruch leide, habe er sich mit Einwilligung seiner guten Frau entschlossen, Erich zu sich ins Haus zu nehmen, um mit männlicher Energie auf ihn einzuwirken, ihn zum Arbeiten zu erziehen. Der Junge wisse ja nun, daß er nicht mit sich spaßen lasse. Es sei ein großes Opfer für ihn, das könne sich die Schwägerin ja denken. Doch halte er es für seine Pflicht als Vormund, sein Äußerstes zu versuchen, und so werde er denn auch die Hälfte der Kosten für die Presse auf sich nehmen.
Der Justizrat sprach ehrlich. Er war ein gewissenhafter Pflichtenmensch – daß auch seine Eitelkeit schwer gelitten haben würde, wenn sein Mündel, wie er sich ausdrückte, vor die Hunde gegangen wäre, trat ihm weniger deutlich in das Bewußtsein.
Er lächelte abwehrend zu Frau Luises weinender Dankbarkeit, die ihn dennoch erfreute.
Erich gebärdete sich wie ein junges Tier, das zum Metzger geschleift werden soll. Er schrie, schluchzte, stampfte mit den Füßen, seine Augen hatten den Blick eines Irren. »Ganz wie sein Vater, wenn der Jähzorn ihn packte«, rief die Mutter, fast ebenso fassungslos schluchzend wie der Sohn. Am Ende ließ sie sich von beiden Kindern bewegen, den Vormund noch einmal zu bitten, Erich den Weg zur See frei zu geben. Der Justizrat lachte laut über die tolle Idee. Der Junge habe Gehorsam zu lernen – in drei Tagen werde er bei ihm antreten. Übrigens könne die Mama ihm mitteilen, daß, um einen etwaigen Fluchtplan zu verhindern, bei der Polizei in Hamburg sein Signalement abgegeben werde.
Erich empfing diesen Bescheid in einer plötzlichen befremdenden Ruhe. Seine Lider waren gesenkt, sein üppiger roter Mund fest verschlossen. Er wendete sich ab, vergebens versuchte die Mutter, eine Antwort zu erhalten. In den zwei Tagen, die folgten, hielt er sich fern vom Haus, lief draußen im Herbststurm über die Rübenfelder, strolchte durch den Stadtwald, stellte sich auch zu den Mahlzeiten nicht ein, erschien nur auf Augenblicke und ließ sich von der Köchin ein Stück Brot geben, worauf er eilig wieder davonrannte. Irmgard wollte ihn halten, doch er stieß sie rücksichtslos zur Seite. Sie war viel zu erschöpft, sich dem verzweifelten Jungen gegenüber zu behaupten. Was hier geschah, bedeutete Verderben für eine empfindliche, seltsam zusammengefügte Natur, in der neben den schönsten Anlagen soviel Unvermögen und Trotz lagen. Das Herz erzitterte ihr, dachte sie an die widerlichen Szenen, die zwischen dem unerbittlichen Manne und dem jähzornigen Knaben stattfinden würden. Wie sie die Schläge, die auf Erichs Gesicht niedersausten, gefühlt hatte, als seien sie ihr selbst geschehen, schluchzte sie innerlich unter den Erniedrigungen, die ihm bevorstanden.
Abenteuerliche Pläne bewegten sich in ihrer Phantasie. Ob man Erich zur Flucht verhelfen sollte? Viele Jungen waren strengen Erziehern davongelaufen und aus eigener Kraft tüchtige Männer geworden. Aber Erich? Der Verwöhnte –! Der zarte, schmale Junge mit dem seidenblonden Gelock über der Stirn und den verschleierten Augen? War er einem Abenteuerleben gewachsen? Auch würde ihn der Onkel als Justizbeamter schnell auffinden lassen. Nein – alles würde auf diese Weise nur verschlimmert werden.
Leidenschaftlicher, inbrünstiger als die zermürbte Mutter hatte das Mädchen in hundert Träumen die Hoffnung genährt, Erich werde sich am Ende doch als Sohn und Erbe des Vaters bewähren, die Arbeit, die jenem aus den kraftlosen Händen gefallen, glorreich weiterführen. Verknöchert erschienen ihr des Justizrats Ansichten über die Technik! Sah er denn nicht, daß sie die Herrschaft der Welt antrat? Indessen, auch zu einem technischen Beruf mußte man lernen, und das eben wollte Erich nicht. Oder war dieser Widerwille auch nur Trotz gegen den Befehl? Sie konnte es sich nicht vorstellen, daß Erich, ihre zweite Hälfte, die Bücher nicht lieben lernen sollte, in denen sie selbst ihr eigentliches bestes Leben fand. Dies eine konnte sie nicht glauben.
*
Erich war spät am Abend heimgekommen und hatte sich in seine Schlafkammer geschlichen. Die Mutter, aufgeregt scheltend, wollte zu ihm. Irmgard hielt sie zurück. Wann hatte die Mutter ihre Kinder je verstanden – was wußte sie von ihnen? Irmgard hatte geglaubt, ihren Bruder und Gefährten zu kennen wie sich selbst – und heute – wußte sie denn, was in ihm vorging – durchschaute sie auch nur einen der Gedanken, die seine Seele bewegt hatten, während er sich in Sturm und wüstem Wetter todmüde lief?
Sie hörte ihn rufen und ging zu ihm. Er lag im Bett, die Decke bis zum Halse hinaufgezogen. Auf dem Nachttisch brannte in einem Handleuchter eine dünne Kerze. Als Irmgard sich auf den Rand des Bettes setzte, blickte der Junge sie aus weit geöffneten Augen mit einem Ausdruck hoffnungsloser Verzweiflung an, und sie schluchzte: »Erich – Erich – nicht so – –«. Sie faßte sein Gesicht zwischen beide Hände, küßte es mit zuckenden Lippen, zitternd hielten sie sich umfaßt, bis Erich, ruhiger geworden, zurücksank und die Augen schloß.
Sie begann mit ihrer süßen Mädchenstimme zärtlich kosend ihn zu trösten: sie bleibe ja in seiner Nähe – alles könne gut werden, wenn er nur ein wenig Geduld haben wolle . . . Und fühlte dabei, wie ihre Mahnungen unnütz waren und etwas Lehrhaftes bekamen, ohne ihren Willen. Erich warf sich nervös unter der Decke. Als sie streichelnd die braune Knabenhand fassen wollte, riß er sich ungestüm los.
»Irmgard – nie bin ich geschlagen worden«, keuchte er. »Der Pastor hat es nie gewagt – in der Anstalt gab es andere Strafen. Nie, nie vergesse ich ihm das. In Mamas und deiner Gegenwart, solch ein Vieh! Ich kann nicht mit ihm an einem Tisch essen. Fühlst du das nicht?«
Irmgard nickte leise. Und mußte hören, daß Cläre und ihre Freundinnen Erich begegnet seien, gelacht und geflüstert hätten sie, und Cläre sei ihm nachgelaufen, habe ihn höhnisch willkommen geheißen als Hausgenossen – nun würde er ja den Vater in all seiner Herrscherglorie kennenlernen.
»Sie wird sich irren«, schloß er den heiß hervorgestoßenen Bericht. »Sie wird sich sehr irren.«
»Was willst du tun, Erich? Um Gottes willen – was willst du tun?«
Er lachte kurz. »Sei ruhig – ich schlage ihn nicht tot – und Gift habe ich nicht. Ich habe auch keine Lust, jahrelang im Gefängnis zu sitzen.«
»Geh nur und schlaf«, sagte er jäh mit veränderter rauher Stimme. »Du weißt ja keine Hilfe für mich.«
Nein – sie wußte keine und schlich mit nassen Augen davon, hörte ihn noch flüstern: »Allein – ganz allein«, und fiel weinend in ihr Bett.
»Ihr seid törichte exaltierte Kinder«, sagte Frau Luise müde aus ihren Kissen, »der Onkel meint es doch gut.«
Irmgard lauschte gequält in die Dunkelheit. Nach einer Weile der Stille hörte sie ein Poltern und Bewegen nebenan.
Sie sprang auf, warf den Schlafrock über, stürzte hinaus, griff nach der Tür, fand von innen einen Stuhl oder Tisch davorgeschoben. Ein Lichtschein glitt durch den Spalt am Boden. Sie klopfte heftig.
»Erich – was tust du?«
»Geh doch und schlafe endlich«, hörte sie eine sehr müde Stimme. »Was störst du mich immer? Weckt mich morgen nicht – hörst du?«
Sie schlich zurück. Er hatte den Schlaf nötig, das arme Kerlchen. Ach – er war ja doch nur ein Kind – würde sich zuletzt schon fügen, und – vielleicht war es auch wirklich zu seinem Besten. So dachte sie zur eigenen Beruhigung. Der Schlaf überfiel sie mit unwiderstehlicher Gewalt.
Plötzlich fuhr sie auf, ihr Herz klopfte rasend. Graues Morgenlicht sickerte durch den Vorhang. Sie hörte ein tiefes, röchelndes Stöhnen und war aus dem Bett, lief im Nachthemd hinüber – es gab keinen Schlüssel zum Türschloß, ein Möbel war gegen die Tür geschoben. Sie warf sich mit aller Gewalt gegen das Holz und stürmte beinahe fallend in die Kammer. Die Kerze auf dem Nachttisch war fast heruntergebrannt. Neben ihr auf dem Bettrand saß Erich, der Kopf hing ihm auf die Brust – eine Waschschüssel hatte er vor sich auf den Stuhl gestellt und hielt die Hände hinein.
Irmgard riß den Mund auf, wollte schreien – die Stimme war tot. Das Waschbecken war mit rotem Blut angefüllt. Erich hob den Kopf, sah sie mit irrem Blicke an.
»Laß mich in Ruhe«, murrte er und wehrte sich gegen die schwesterlichen Hände, die nach seinen blutenden Pulsen griffen. Der rote, warme Lebenssaft lief ihr zwischen den Fingern hindurch. Laut hallten jetzt ihre Hilfeschreie durchs Haus. Frau Luise kam gestürzt. Die Magd rannte herbei. Mit ihrer Hilfe umwickelte man Erichs Arm mit Binden und Tüchern, die sich schnell braunrot färbten. Man legte den Jungen, der sich nicht wehrte und in beginnender Schwäche alles mit sich geschehen ließ, flach auf das Bett. Während die Magd zum nächsten Arzt rannte, hielten Mutter und Schwester ihm die Arme in die Höhe. Keines sprach ein Wort. Auf dem Boden neben dem Bett lag das frisch geschliffene Taschenmesser. Erich atmete unregelmäßig aus offnem Munde, zuweilen zuckte seine Kehle wie bei Kindern, wenn sie sich müde geweint haben. Die Augen hielt er geschlossen, man konnte beim Licht der Lampe, welche die Magd gebracht hatte, nicht unterscheiden, ob er bei Bewußtsein war. Sein Gesicht schimmerte schneeweiß.
Der Arzt kam. Die Wunden wurden sachgemäß behandelt, die Blutung war gestillt, eine Injektion half dem ermatteten Herzen zu neuer Tätigkeit. Erich öffnete die Augen, blickte gleichgültig die um ihn bemühten Menschen an und schloß sie wieder. Ein Ausdruck von Ekel ging über seine Züge. Der alte Sanitätsrat saß neben dem Bett und beobachtete den Jungen. Er hatte tröstend bemerkt, die Schlagader sei nicht verletzt, trotz der ziemlich tiefen Wunden, die sich der junge Herr beigebracht – die Hände würden ihm wohl gezittert haben. Er murmelte etwas von dummen Schulgeschichten und trug dem Dienstmädchen auf, einen starken Kaffee zu bereiten, denn er sah, daß Frau Glenn sich nicht mehr aufrecht halten konnte.
Irmgard ging mit dem Mädchen hinaus. In der Küche lehnte sie den Kopf gegen ein Bord und wimmerte leise. Als das Mädchen ihr von dem heißen Getränk aufnötigen wollte, wehrte sie ihm schweigend mit der Hand.
Nach der Verordnung des Arztes sprach weder Mutter noch Schwester mit Erich von dem Vorgefallenen, doch ließen sie ihn in den nächsten Tagen nicht allein. Die Mutter hatte ihr Bett in seine Kammer tragen lassen, er wurde gepflegt, wie man ihn in irgendeiner andern Krankheit umsorgt haben würde. Er ließ es sich schweigend und beschämt gefallen.
Als er sich etwas gekräftigt hatte, brachte ihm Irmgard die Prospekte der Seemannsschule, bei der ihn die Mutter angemeldet hatte.
Frau Glenn begleitete ihren Sohn nach Hamburg. Sie wollte ihm noch viele gute Lehren geben, doch als er sie zum Abschied küßte, fühlte sie, wie fern er ihr schon war, ganz hingegeben dem neuen selbstgewählten Leben. Von der Enttäuschung, die alle schüchternen Hoffnungspflänzchen aus der Mutter Seele riß, spürte er nichts.
Da stammelte sie nur befangen: »Sei brav und denk an uns.«
Den Justizrat und die übrigen Verwandten bekam Erich vor seiner Abreise nicht mehr zu sehen. Die vormundschaftliche Genehmigung, die zur Aufnahme erforderlich war, sandte der Onkel schriftlich ein. Er fühlte sich im Grunde erleichtert, der Verantwortung für dieses störrische, wilde Blut ledig zu sein.