Gabriele Reuter
Aus guter Familie
Gabriele Reuter

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XIII.

Papa spielte Domino mit einem Herrn, der ihn kürzlich angeredet hatte, einem vielseitig gebildeten Mann, Professor in Zürich. Heut war er von einigen seiner Schüler im Vorüberwandern aufgesucht worden. Die jungen Männer tranken ihren Wein und aßen ihren Käse gleichfalls auf der Veranda.

Die Thüren nach dem Eßsaal waren geöffnet.

Plötzlich setzte einer der Studenten hastig seinen Kneifer auf und beugte sich vor. Drinnen ging ein Mann in einem grauen Anzug mit einem Strohhut vorüber.

»Herr Professor,« rief der Student eifrig, »da ist er – ich hatte doch recht! Warten Sie – er wird gleich unten aus der Thür treten.«

Der Züricher Professor warf seine Dominosteine um in der Hast, mit der er aufsprang und sich über das eiserne Geländer bog. Auch die jungen Männer sahen hinaus. Dann wandte der Professor sich zurück und setzte sich wieder nieder.

»So – so – also das war der Greffinger . . . Hat mich doch interessiert, ihn gesehen zu haben!«

»Welchen Namen nannten Sie da?« fragte der Regierungsrat.

»Greffinger!« sagte der Professor, als genüge das und es brauche keine weitere Erklärung hinzugefügt zu werden.

»Papa!« rief Agathe mit der plötzlichen Lebhaftigkeit, die sie zuweilen erfaßte, »ob es am Ende Martin war?«

»Ich habe einen Neffen dieses Namens,« erklärte Regierungsrat Heidling obenhin.

Die schweizer Studenten beobachteten den alten Herrn und die Dame mit Interesse. Es schienen wahrhaftig Verwandte von Martin Greffinger zu sein – und dabei wußten sie es selbst nicht einmal genau!

Heidling spielte mit der Hand in dem weichen grauen Bart.

»Ich habe lange nichts von dem jungen Manne gehört,« sagte er, überlegend, wieviel er den Fremden von seinen Beziehungen zu Martin mitteilen dürfe, »es freut mich aber, zu bemerken, daß Sie mit Achtung von ihm reden. Wenn wir in der That dieselbe Persönlichkeit meinen . . .«

»Haben Sie Martin Greffingers letztes Buch nicht gelesen?«

»Halten Sie etwas davon?« erkundigte sich der Regierungsrat.

»Zweifellos! Ich bin nicht mit allem einverstanden. Aber es ist ein tüchtiges und bedeutendes Buch. Es wird seinen Weg schon machen – in zwanzig Jahren wird man mehr davon reden als heut. Dieser Greffinger ist eine ganze, feste Persönlichkeit. Ich wollte, wir hätten mehr ihresgleichen.«

»Nun – das freut mich – das freut mich.« Der Regierungsrat beschloß, gelegentlich einmal in das Werk hineinzusehen. Er hielt es für richtiger, die Frage, ob er es kenne, offen zu lassen.

»Ich denke mir, daß Greffinger heut Abend wieder hier vorspricht,« meinte der Student, der den Professor auf den Vorübergehenden aufmerksam gemacht hatte.

»Wir wollen doch unsere Frau Wirtin fragen, ob er Nachtquartier genommen hat,« rief der Professor lebhaft. »Es sollte mich wirklich freuen, wenn ich durch Sie Gelegenheit fände, den Mann persönlich kennen zu lernen!«

»Wir sind uns ziemlich fremd geworden,« bemerkte der Regierungsrat ausweichend.

Agathe amüsierte sich heimlich. Ihr Vater wurde den Menschen bedeutungsvoll, weil er ein Verwandter von Martin war! Man erbat sich von ihm die Freude, Martin kennen zu lernen! Wer das je gedacht hätte . . . . Das warme Gefühl für den Jugendfreund erwachte wieder. Käme er doch!

Der Nachmittag wurde ihr lang bei dem stillen Warten. Sie nahm ihren Hut, ein Stückchen durchs Dorf zu gehen.

Die Studenten standen jetzt vor dem Hotel beieinander und unterhielten sich lachend.

»Köstlicher alter Kunde,« hörte Agathe den Aeltesten sagen, als sie vorüberging.

Sie wußte, daß er damit ihren Vater meinte – ihren Vater, der ihr trotz allem, wodurch er sie gekränkt, als ein Mann erschien, an den ein abfälliges Urteil sich überhaupt nicht heranwagen würde.

Köstlicher alter Kunde – sagte der Student von ihm . . . . Das Wort schnitt Agathe ins Herz. Sie fand es roh. Doch der junge Mann hatte ihr vorher keinen rohen Eindruck gemacht – er sah im Gegenteil intelligent und begeistert aus.

Traurig ging sie an hohen Steinmauern entlang. Sie umgrenzten die Gärten der wohlhabenden schweizer Bürger, welche hier ihre Villen besaßen, und schlossen sie vor allem Fremden ab. Dicker, alter Epheu hing an ihnen nieder. So bestand der Ort aus einem weitläufigen Labyrinth enger Gänge. Niemals konnte Agathe sich zurechtfinden und wußte selten, in welchem Teil sie herauskommen würde.

Am Ende der feuchten, grauen Gasse schimmerte bläulich der See.

Agathe ging schnell und immer schneller, als fliehe sie vor etwas hinter ihr Liegendem, diesem fernen blauen Schein entgegen. Freilich würde es zu spät sein, ihn heut noch zu erreichen, aber sie wollte wenigstens einen ungehemmten Ausblick gewinnen.

Und sie konnte nicht mehr traurig sein. Wenn sie heim kam, würde sie Martin finden! Sie war ganz sicher, daß sie ihn sehen würde!

Plötzlich ließ sie den Gedanken an den See, wendete sich um und lief eilig heimwärts. Aber nun hatte sie einen falschen Gang eingeschlagen, und es dauerte ziemlich lange, bis sie das Hotel erreichte.

Als sie heim kam, sah sie am Geländer der Veranda einen Herrn neben der Kellnerin stehen und über die roten Nelken zu ihr hinunter blicken.

Sie erkannte Martin gleich, obschon er voller und älter geworden war. Mit ausgestreckten Händen kam er ihr entgegen.

»Agathe! Das freut mich aber, Dich hier zu sehen!«

Lachend, bewegt und erhitzt standen sie voreinander und blickten sich glücklich an. Es war, als seien die Jahre ausgelöscht und sie wieder der begeisterte Schüler und der frische Backfisch, die unter der Sommersonne im hohen Grase lagen und von Freiheit und Menschenglück träumten.

Martin ließ Agathes Hände nicht aus den seinen.

»Du hast Dich gar nicht verändert,« behauptete er kühn.

»Ist es denn wirklich so lange her, daß wir uns nicht gesehen haben? Unglaublich!«

Sie konnten nicht mehr nachrechnen, wie lange es wohl war.

»Seit ich Dir die verbotenen Bücher brachte? – Ach, war das ein Unsinn! Du warst doch viel zu fest angekettet. Sag' mal – bist Du denn jetzt allein hier?«

»Nein – natürlich mit meinem Vater,« antwortete Agathe erstaunt.

»Ach so – natürlich! Ich vergaß – junge Damen reisen ja nicht allein.«

Er sah sie schalkhaft von der Seite an. Die Stelle seiner früheren Herbheit nahm nun eine lächelnde Ironie ein, welche Agathe sehr gut gefiel.

»Ja – also, denke Dir: Ich komme von meinem Spaziergang zurück, da sagt mir die Kellnerin, eine Gesellschaft warte auf mich, und eine junge Dame wäre mir entgegen gegangen.«

»Aber – keine Rede . . . . Ich bin Dir nicht entgegen gegangen,« rief Agathe.

»Was – keine Rede . . . . Und ich stehe hier und vergehe vor Neugierde, wer die schöne junge Dame sein kann, die mich suchen will! – Da mögt ihr am Ende gar nichts von mir wissen?«

»O doch – vorhin haben uns ein paar Herren gesagt, Du hättest so ein bedeutendes Buch geschrieben?«

Martin Greffinger lachte hell auf.

»Und Ihr dachtet, ich säße irgendwo im Zuchthaus? Das ist ja ausgezeichnet! – Wer waren die Herren?«

»Professor Bürkner aus Zürich.«

»So – ja! Der hat mein »Buch der Freiheit« besprochen. – Ist er noch hier?«

»Ja – er hat sich mit Papa angefreundet. Sage nur, Martin – bleibst Du heut Abend?«

»Heut Abend?« rief Greffinger vergnügt, »ich habe mich vorhin für eine Woche hier in Pension gegeben.«

»Ach, das ist hübsch!«

»Ihr wohnt auch hier im Haus?«

»Ja.«

Ein Schatten ging über Greffingers charaktervolles Gesicht. Seine Augen blickten nachdenklich zu Boden. Und als sie dann wieder auf seiner Cousine weilten, war die Freude und der Glanz aus ihnen verschwunden.

* * *

Das Urteil des schweizer Professors über Greffinger blieb nicht ohne Einfluß auf den Ton, in dem der Regierungsrat Heidling seinen Neffen begrüßte. Martin schien sich ja doch aus seinen früheren Verirrungen herausgearbeitet zu haben! Man befand sich zudem im Ausland, und an der Carriere war nichts mehr zu verderben. Der Regierungsrat unternahm es, die Herren mit Greffinger bekannt zu machen.

Bei dem schwankenden Schein der Windlichter verlebte man einen vergnügten Abend unter der Edelkastanie des Hotelgartens.

Goldenen Asti im Glase, stieß Greffinger mit Agathe an, auf ihr Wiedersehen in der freien Schweiz.

Eine Fülle von Kindheitserinnerungen überkamen den Heimatlosen – ein Gedenken an die ersten beklemmenden süßen Gefühle, an den ersten Sinnenrausch, den das Mädchen da neben ihm geweckt . . . . Was hatte er empfunden, als sie miteinander den Herwegh deklamierten im sommerheißen Parke von Bornau!

Er fand plötzlich wieder Interesse für alle die Menschen, an die er jahrelang nicht gedacht.

»Wie geht es Eugenie?«

»Drei Kinder – und Walter wird demnächst Hauptmann.«

»Mimi? – Diakonissin? Wenn es sie glücklich macht. Der Geschmack ist verschieden!«

»Und Du, Agathe, wie lebst Du?«

»Wie's so geht . . . . Onkel Gustav war krank, ein halbes Jahr, dann Mama ein Vierteljahr.«

»Du hast es schwer gehabt.«

Es antwortete ihm kein Blick. Ihre Augen senkten sich, und ihr verblühtes Antlitz wurde noch dürftiger und spitzer.

»Agathe, soll ich Dich morgen auf dem See rudern?«

»Ach Martin, willst Du wirklich?«

—   —   —   —   —

Sie fuhren auf dem Wasser, oder sie saßen in der Veranda der kleinen Wirtschaft unten am See und sprachen mancherlei. Agathe war dem Professor Bürkner unendlich dankbar, daß er ihren Vater zu weiten Ausflügen beredete, an welchen Damen nicht teilnehmen konnten. Auch Martin hielt sich zurück. Er hatte zu arbeiten. Dann kam er später und holte Agathe ab. Der Gerichtsrätin ältliche Tochter sah ihnen neidisch nach.

Greffinger behandelte Agathe wie eine alte Freundin, der man Vertrauen schenken konnte.

Und sie war nicht verliebt in ihn – Gott sei Dank!

Aber was er ihr von seinem Leben, seinem Streben und Denken sagte, interessierte sie brennend und regte sie beinahe ebenso auf, als machte er ihr den Hof. Es war ihr alles so neu, so überraschend, so ganz verschieden von dem, was sie sich vorgestellt hatte.

Die Parteibande der Sozialdemokratie hatte er schon längst durchbrochen.

»Das ist auch ein Wahn und eine Form der Tyrannei, die die arme Menschheit erst gründlich durchkosten und dann überwinden muß . . .«

– Warum er Agathe so tief in sein absonderliches Grübeln hineinsehen ließ? Das fragte sie sich mit Verwunderung. Sie konnte ihm selten antworten, sie redete nicht seine Sprache. Sie verstand seine Ausdrücke oft nicht einmal und stellte sich etwas anderes unter seinen Worten vor, als er meinte.

Und doch erfüllte seine Freundschaft sie mit tiefer, heißer Befriedigung.

. . . . Nein, sie liebte Martin nicht, Gott sei Dank.

Darum konnte sie ihm auch viel von dem sagen, was sie bedrückte. Nicht alles. Aber von dem Verhältnis zu ihrem Vater sprach sie, und er hörte den angesammelten Zorn in ihrer Stimme klingen.

»Der alte Mann wird Dich stets an allem hindern, womit Du Dir helfen willst. Wenn er seinen Bücherschrank vor Dir abschließt, und wenn er Dir das Leben abschließt . . . . Du mußt Dich von ihm frei machen! Geh' von ihm fort und suche Dir Arbeit und Freude, die Dich befriedigt.«

»O Martin! Das ist ganz unmöglich.«

»Ja – Du fühlst Dich doch unglücklich bei ihm. Man sieht es Dir an. Dein Dasein ist unerträglich. Gut – so ändere es.«

»Aber lieber Martin, sei doch nur vernünftig. Wie soll ich denn plötzlich meinen Vater allein lassen – ohne Geld und ohne Kenntnisse in die weite Welt hineinlaufen? Er braucht mich. Wer soll ihn erheitern und pflegen? Da draußen in der Fremde, da braucht mich niemand.«

»Nein!« antwortete Martin sehr ernst, »da braucht Dich niemand, und Du wirst Zeit bekommen, Dich endlich einmal auf Dich selbst zu besinnen – Dich wiederzufinden – die Du Dich ganz verloren hast!«

»Damit fänd' ich auch was Rechtes!« klagte Agathe kleinlaut.

»Kannst Du noch gar nicht wissen! Glaube mir, es ist sehr überraschend, sich selbst kennen zu lernen.«

– Sie wollte ihm doch zeigen, daß es wert sei, sich um ihr Wohl zu sorgen. Ging er, müde und abgearbeitet, nur schweigend neben ihr, so begann sie, ihm vorzuplaudern. Die kleinen Künste wendete sie auf, mit denen sie ihren Vater unterhielt. Das war nun ein Gebiet, auf dem sie Uebung besaß. Sie konnte mit harmlos-drolligen Bemerkungen auch Martin oft zum Lachen reizen und seine düstern Stimmungen verscheuchen.

Der Regierungsrat sah den Umgang seiner Tochter mit Martin nicht ungern. Es war ihm eine tiefe Kränkung gewesen, daß der Sohn seiner einzigen Schwester sich so ganz seinem Einfluß entzog. Vielleicht war er jetzt durch die Tochter wiederzugewinnen.

»Diesen jungen Männern, die toll ins Leben stürmen, thut es am Ende doch wohl, einmal wieder mit gebildeten Frauen zu verkehren,« setzte er Agathe auseinander. »Du hast da eine schöne Aufgabe zu erfüllen, mein Kind. Es würde mich freuen, wenn es Dir gelänge, Martin wieder mehr in unsere Kreise zu ziehen.«

So arbeiteten in dem stillen Bergasyl zwei Welten daran, sich gegenseitig zu retten.

– Zuweilen wollte es Agathe scheinen, als verfolge Martin einen heimlichen Plan. Im Gespräch versank er oft in Nachdenken oder blickte sie lange forschend an.

Manches andere Mädchen würde sich auf seine Freundschaft viel eingebildet haben. Ging er nicht durch den Garten, stieg über den Zaun und kam heraus in den Wald, wo sie saß und las, während der Professor aus Zürich vorn in der Veranda auf ihn wartete, um sich mit ihm zu unterhalten?

Nun – Gott sei Dank – sie war nicht verliebt in ihn. Sie sah gern auf seine Hände, wenn er die Worte mit ausdrucksvollen Bewegungen begleitete. Es freute sie, daß er gutgepflegte weiße Hände besaß, die dabei kräftig und männlich waren. Aber das konnte man doch nicht Verliebtheit nennen.

Sie prüfte sich ehrlich.

Ganz gewiß nicht? Unter keinen Umständen? – Sie war doch noch widerstandsfähig! Glücklicherweise.

Es handelte sich jetzt auch um ganz andere Dinge als um Liebe.

—   —   —   —   —

Wie sich die Beziehungen zu Martin durch ihr ganzes Leben zogen.

Das erste kindische Wohlgefallen und Sehnen, es hatte ihm gegolten, wenn sie es sich auch damals nicht zugestand.

Die erste Prüfung ihrer jungen, spröden Tugend – von ihm.

Die große Leidenschaft hatte sie auseinandergerissen – zur selben Zeit die gleichen Schmerzen ihnen beiden.

Und dann der einsame Kampf, sich aufrecht zu halten: er draußen in wilden Wettern und Stürmen die Seele geweitet und befreit – sie daheim im engen Raum die Seele wundgestoßen und zermürbt.

O – es war etwas weit Höheres als Liebe, das sie jetzt zusammenführte.

Nichts von alledem, was sie von Martin erwartet und gefürchtet, war aus ihm geworden. Kein Volksverführer und Aufwiegler zu wilden Thaten – kein Verschwörer und Bombenwerfer – und auch kein feige und vorsichtig zum Alten Zurückkriechender – kein müder Entsager.

Nur ein freier Mensch war er geworden. Weiter nichts.

Und was das heißen wollte – ein freier Mensch. Welche Kluft zwischen einer ganz auf sich gestellten Persönlichkeit, die nach eigenem Gesetz und eigener Wahl das eigene Leben führt, und den Kreisen ihrer Gesellschaft! An solchem Maß gemessen – besaß jede That, jeder Gedanke ihres Daseins überhaupt noch Wert? Das ahnte sie nun erst. Es war ein schauderndes Aufwachen mit ungeduldigem Flügelschlagen ihrer Seele.

Wie reif und fest und ruhig er geworden, fiel Agathe besonders auf, wenn sie ihn im Verkehr mit dem Vater beobachtete. Nichts mehr von dem zornigen Auftrumpfen. Zwar suchte Martin kein längeres Zusammensein mit dem Onkel. Und der Frohsinn, die Jugendlichkeit seines Wesens traten nur hervor, sobald er allein mit Agathe in die Berge wanderte. Aber er wußte ungefährliche Gesprächsstoffe zu finden. Er verstand auch zu schweigen bei den sentenziösen Ausfällen des Regierungsrats gegen die Immoralität und die mangelnde Idealität der jungen Generation.

»Du mußt es mir hoch anrechnen, daß ich hierbleibe,« sagte er einmal zu Agathe. »Aber ich habe noch viel zu thun, bis ich alle Raupen aus diesem dummen, kleinen Mädchenkopf heraushabe. Ich Raupentöter!

– Wenn Du nur ernstlich wolltest!«

»Ich will ja, Martin.«

»Willst Du wirklich? Ach – ich gebe mir ganz umsonst Mühe mit Dir. Schließlich bist Du auch wie die andern alle.«

»Wenn Du das glaubst, warum giebst Du Dir da Mühe?«

»Ja, das frage ich mich selbst! Eines Morgens gehe ich doch auf und davon.«

—   —   —   —   —

Endlich machte er ihr den Vorschlag, den Vater allein heimreisen zu lassen und in der Schweiz zu bleiben – bei ihm in Zürich. Sie solle sich dort ein Zimmer nehmen. Er habe eine Arbeit, bei der sie ihm helfen könne. Das heißt, wenn es ihr zusagte. Denn falls sie ihre Kräfte allein erproben wolle, so stehe ihr das natürlich frei. Nur keinen Zwang – keine gegenseitigen Rücksichten.

Bestürzt saß Agathe ihm gegenüber, die Augen gesenkt, ihre Handarbeit im Schoße ruhend, die Finger gegeneinander gepreßt, mit einem innern Erzittern. Was meinte er? – Was bedeutete sein Anerbieten?

Er brachte es mit einer so ruhigen Stimme vor.

– Wußte er nicht, daß er ihr etwas Ungeheures zumutete?

Er hatte nachgedacht. Das ging aus der Sicherheit hervor, in der er auch auf die praktische Seite zu reden kam.

Er wisse ein Restaurant mit guter Hausmannskost. Dort verkehrten viele Studentinnen, tüchtige Mädchen, die das Leben ernst nahmen, von denen die eine oder die andere ihr gefallen würde.

– Was ihr Unterhalt zu Haus kostete, würde ihr Vater ihr doch nicht verweigern?

»O Martin – das würde er auf jeden Fall. Er würde ja außer sich sein!«

»Ja – ohne Kämpfe geht so ein Schritt nicht ab. Sieht er, daß Dein Entschluß unerschütterlich fest steht, wird er schon nachgeben. Sprich vorläufig nur von einem Jahr, meinetwegen nur von einem Winter!«

Agathe schwieg.

. . . . Ohne Unterhalt würde ihr Vater sie am Ende nicht lassen. Er nahm zu viel Rücksicht auf das Urteil der Menschen und war gewohnt, harte Thatsachen zu verschleiern.

– – Aber fühlte Martin nicht, daß er selbst – seine Gegenwart in Zürich den größten Anstoß erregen mußte?

Wie merkwürdig, daß er's nicht fühlte . . . . Sie konnte ihn doch unmöglich darauf hinweisen?

Der Schritt war ein Bruch mit allem Vorhergegangenen. War er gethan, so gab es keine Rückkehr nach Haus – wenigstens keine innere Rückkehr.

Wollte sie denn überhaupt Rückkehr? Sicher nicht.

»Dein Vater ist ja nicht krank. Würdest Du heiraten, müßte er sich auch behelfen!«

»Darin hast Du Recht!«

»Du brauchst Dich in dieser Stunde nicht zu entscheiden. Aber thue es bald. Und dann schnell gehandelt! Nicht erst noch zurück in die alten Verhältnisse.«

Er war doch stark erregt. Sie sah es, als er aufstand von der Bank, auf der er an langem Brettertisch ihr gegenüber gesessen und die Wirtin rief, um Wein und Brot zu bezahlen.

Schweigend kehrten sie heim, einen weiten Weg über fahlgrüne, schwerduftende Matten, auf denen der Sonnenglanz flimmerte. Martins Augen waren tief ernst, sein Blick in sich gekehrt, sein Antlitz ohne Freundlichkeit. Zuweilen hob Agathe den Kopf und befragte stumm sein Profil. Aber er ging schweigend voran. Er hatte gesprochen – sie mußte wählen.

Nur noch einen aufmunternden, überredenden Blick!

Sie fürchtete sich vor ihm.

Oft hatte das Harte, Herrische in seinem Wesen sie abgestoßen, nun empfand sie es wieder.

– Um seinetwillen . . . .?

– Nein – nicht um seinetwillen – was geschah, sollte sie für sich selbst thun. Konnte sie das nicht aufnehmen, ihr Denken und Fühlen davon durchdringen lassen? Sie vergaß es immer wieder, und die Gewohnheit der früheren Anschauungsweise behielt ihr Recht. Was man nicht um eines anderen willen that, war verwerflich.

Um ihrer Selbst willen . . .

– – Wie dachte er sich das Zusammenarbeiten? Wußte er nicht, wofür ein jeder sie halten würde?

Das war ihm wohl ganz gleichgültig, auf das Urteil der Welt hatte er niemals viel gegeben. Dort in Zürich mochte auch der Verkehr von jungen Männern und Mädchen freier sein, als bei ihnen. Und sie war ja auch nicht mehr jung. Hielt er sie für so ganz ungefährlich? – Aber wie würde man in der Heimat über sie urteilen?

Immer hatte sie geglaubt, der große Mensch, der heroischer Entschlüsse fähig sei, schlafe nur in ihr. Jetzt rief Martin ihn mit starker Stimme an. Nun mußte es sich zeigen, ob er überhaupt noch da war – nicht längst verschrumpft und verdorrt.

Es war schauerlich aufregend und anziehend, sich das vorzustellen: Alle Welt hielt sie für eine Gefallene – nur sie selbst trug das Bewußtsein ihrer kühlen Reinheit in sich. Und Martin, der hatte natürlich eine unbegrenzte Hochachtung vor der stillen Kraft, mit der sie, allen Verläumdungen zum Trotz, den gewählten Weg weiter schritt. Solche Frau war ihm denn doch noch nicht vorgekommen.

– – Er bat sie um Liebe – bat sie immer wieder – flehte – wurde leidenschaftlich . . . . Sie sah ihn vor sich wie nach Eugeniens Trauung, den Kopf in die Gardine gepreßt – schluchzend, durchschüttelt von wildem Verlangen . . .

Aber in eine bürgerliche und nun gar in eine kirchliche Trauung würde er wohl niemals einwilligen.

Gott sei Dank – sie liebte ihn nicht . . . .

Nur irgendwie kam ihr der Wunsch, ihre Wange gegen seine Hand zu lehnen, sich von dieser kräftigen weißen Hand über Stirn und Brauen streichen zu lassen.

– Von solchen weiblichen Schwächen durfte sie nicht träumen, wenn sie es wagen wollte, ihren Plan auszuführen.

– – – Nun war es mit dem Schlaf in der Nacht überhaupt zu Ende.

 


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