Gabriele Reuter
Aus guter Familie
Gabriele Reuter

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X.

Onkel Gustav war gestorben. Mama hatte ihn heute morgen tot im Bett gefunden – fast in derselben Stellung, in der sie ihn am Abend zum Schlaf zurechtgelegt hatte. Er war sehr leidend gewesen in der letzten Zeit, aber der Arzt versicherte stets, er könne bei der guten Pflege noch Monate, ja noch Jahre leben. Mama und Agathe saßen still zusammen und flochten an einer Guirlande. Frau Heidling reichte ihrer Tochter kleine Sträuße von Grün und Blumen, aber sie machte es oft ganz verkehrt. Beide sahen müde und abgezehrt aus – besonders Mama konnte sich kaum noch aufrecht halten. Ihre Kräfte waren durch die Anforderungen des Kranken bis auf den letzten Rest verzehrt.

Was sie und Agathe sich auch ausdachten an guten stärkenden Bissen – nichts hatte ihm geschmeckt. Verdrießlich schob er den Teller zurück und erzählte von diesem oder jenem Hotelkoch, der gerade das eine Gericht so wunderbar schön zu bereiten verstand. Beständig wollte er unterhalten sein und unterbrach doch meistens die Bemühungen seiner Nichte mit der trübseligen Bemerkung: »Ach, Kind – das interessiert mich ja gar nicht!« Für nichts auf der Welt empfand er Teilnahme. Es war fast noch ein Glück zu nennen, daß die Pflege seines Körpers viele Stunden des Tages ausfüllte, denn sauber und appetitlich blieb »die Kirschblüte«, wie Onkel Gustav bei Agathes Freundinnen genannt wurde – bis zuletzt. Freilich sank die arme Mama, die dem alten, schwachen Herrn allein bei der Toilette helfen durfte, immer halb ohnmächtig vor Ermattung hinterher aufs Sofa.

Nun war der große Lehnstuhl am Fenster, in dem Onkel Gustav, mit einem langen, grauen Schlafrock bekleidet, ein halbes Jahr hindurch gesessen, leer geworden. Auf dem Tisch lag seine hübsche blonde Perrücke, ohne die er sich der Nichte niemals gezeigt hatte.

Die Angehörigen sprachen wehmütig über das Leben, das so still zerronnen. Frau Heidling erzählte von der strahlenden Jugendblüte ihres Schwagers. Zu der Zeit habe man gemeint, es könne ihm an Erfolg nicht fehlen. Jeder habe ihm eine reiche Heirat prophezeit.

Der Regierungsrat ging ernst im Zimmer auf und nieder.

»Das war sein Unglück,« bemerkte er, stehen bleibend. »Gustav stellte seine Hoffnung und seine Pläne auf die Frauen, statt auf sich selbst. Dabei konnte natürlich nur ein verfehltes, thörichtes Leben herauskommen. Man soll von den Toten ja nichts Uebles reden – aber was hat die menschliche Gesellschaft, was er selbst von seiner Existenz gehabt? – Keine Pflichten – kein Beruf – kein Streben nach eigener Vervollkommnung . . Nur immer die Frauen – die Frauen! Schließlich haben die Frauen ihn auch nur genarrt!«

Der Regierungsrat schwieg – vor Agathe durfte man den ferneren Gedankengang nicht gut laut werden lassen.

Agathe nahm ihre Guirlande und trug sie hinüber in das Sterbezimmer, wo der gute Onkel im Sarge lag. Mit leisen, vorsichtigen Bewegungen schlang sie das Grün um sein weißes Kissen. Wie er zusammengefallen war, nun man ihm auch die falschen Zähne herausgenommen hatte. Ein sehr alter Mann – und doch hatte er noch nicht die Sechzig erreicht.

Niemand grämte sich über seinen Tod – auf der weiten Welt niemand – die Frauen hatten ihn nur genarrt.

Wer wird sich einmal um sie grämen? Niemand – auf der weiten Welt niemand. Die Liebe hatte sie auch nur genarrt.

* * *

Bei Onkel Gustavs Begräbnis holte Mama sich eine Erkältung, und nun brach sie vollends zusammen.

Das war eine andere Pflege, als die von Onkel Gustav. Schlaflose Nächte – wochenlang in tätlicher Aufregung, ein zitterndes Bangen und Erwarten . . . . O Gott – o mein Gott – mußte sie von hinnen?

Agathe verzweifelte fast bei der Vorstellung.

Nein – dann war das Leben länger nicht zu ertragen – dann machte auch sie ein Ende! Sicherlich! Papa konnte zu Eugenie und Walter gehen.

»O Herrgott – o barmherziger Heiland – strafe mich nicht um meines Unglaubens willen! Laß mir doch mein liebes Mütterchen noch! Ich habe ja weiter nichts – weiter nichts!«

Sie wollte auch, gar kein Verständnis, keine geistige Gemeinschaft – nur das bißchen Liebe und Zärtlichkeit nicht verlieren.

Der gleiche Kampf, Tag und Nacht . . . . Agathe war es oft, als ringe sie Körper an Körper mit dem Tode und als müsse sie siegen, wenn sie alle Kräfte bis aufs äußerste anspannte – keine Sekunde nachließ – immerfort auf der Wacht blieb . . . .

»Wie Agathe das aushält, ist mir unbegreiflich,« sagte Eugenie. »Ich hätte dem Mädchen so viel Stärke gar nicht zugetraut.«

»In der Not sieht man erst, was in dem Menschen steckt,« bemerkte Walter achtungsvoll.

Sie sollte eine Diakonissin zur Hilfe nehmen.

Ja – schon gut! Aber was wußte die Krankenschwester von dem heimlichen Kampf? Würde sie mitten in der Todesangst sich das Hirn zermartern, welche Listen nun angewendet werden mußten, um das Furchtbare zu vertreiben, das da unsichtbar und wartend im Zimmer stand – dicht neben Agathe – sie fühlte es – sie roch es – sie spürte seine Gegenwart ungreifbar in ihrer Nähe – entsetzte sich mit kalten Schauern, die durchs innerste Mark drangen . . . Und doch fand sie dabei ein liebes und tröstendes Wort für die Kranke.

Nein – das würde die fremde Pflegerin nicht thun – das konnte sie einfach nicht. Sie wußte ja doch nicht, was davon abhing, daß die alte, müde, traurige Frau nicht starb! Und darum half ihre Gegenwart Agathe auch nichts. Allein mußte es durchgeschafft werden.

– – In der letzten Zeit betete Agathe nicht mehr. Ihr Herz war gefühllos geworden, wie in allen Krisen ihres Lebens, sie glaubte auch nicht, daß sie ihre Mutter wiedersehen werde. Sie vermochte sich das geduldige Antlitz, den alten, schmerzensvollen Leib, welchen sie mit tausend Zärtlichkeiten pflegte, nicht in verklärter Gestalt zu denken. Das würde ja doch nicht ihre Mutter mehr sein.

Die Kranke sprach oft vom Himmel und von ihren gestorbenen Kinderchen, die sie dort erwarteten. Dann nahmen ihre Augen einen so sehnsüchtigen Ausdruck an, daß man ahnen konnte, wie viel von ihrem Herzensleben die Frau mit ihnen ins Grab gelegt hatte. Sie war mit dem lebenden Sohn und der Tochter nicht gewachsen – sie war immer die Mutter der kleinen Kinder geblieben. In lichten, schmerzfreien Augenblicken erzählte sie Agathe Geschichtchen aus deren Säuglingsalter und flüsterte ihr die Kosenamen zu, in denen sie einst mit dem unbewußten, zappelnden kleinen Tierchen auf ihrem Schoße gespielt hatte.

Unzählige Male mußte Agathe ihr versprechen, für den Papa zu sorgen, daß er alles genau so bekäme, wie er es gewohnt sei, immer bei ihm zu bleiben, ihn zu pflegen und lieb zu haben. Und Agathe versprach alles – wie sollte sie auch nicht? Sie war ja nun mit ihrem Vater vereinigt in einem Kummer.

Als Mama gestorben war, klammerten sie sich aneinander und weinten zusammen, wenigstens in den ersten Stunden nach ihrem Tode. Später fand Papa seine ruhige, würdige Haltung wieder, und Agathe verbarg ihre Thränen, um ihn nicht noch mehr zu betrüben.

Ihr ganzes tägliches Dasein, ihre geringsten Handlungen waren nun gleichsam überschattet von dem Andenken der Toten. Unsichtbare Geisterhände regierten im Hause und leiteten nach wie vor alles dem Willen und den Eigentümlichkeiten der Dahingeschiedenen gemäß.

Wie zu ihren Lebzeiten bürstete Agathe jeden Abend den Teppich im Wohnzimmer ab und rollte ihn zusammen, und jetzt fielen Thränen der Sehnsucht nach der Vergangenheit darauf nieder.

Sie hätte nun den Haushalt führen können, wie sie wollte. Aber sie fand keine Freude mehr an diesem Gedanken. Sie leitete ihn auch nicht für sich, sondern betrachtete ihn als ein ehrwürdiges Vermächtnis der Toten. Die Verantwortung, welche sie übernommen hatte, peinigte sie, und sie hetzte sich ab in einer fieberhaften Thätigkeit, damit niemand ihr vorwerfen könne, sie zeige sich ihrer heiligen Aufgabe nicht gewachsen.

 


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