Gabriele Reuter
Der Amerikaner
Gabriele Reuter

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Elftes Kapitel

Was in aller Welt sollte nun mit dem Mädchen werden? Das war die Frage, die auf aller Lippen schwebte und aller Herzen sorgenvoll bewegte.

August, als wäre er der Überzeugung, daß bei solchen Erwägungen unpassende Dinge zur Sprache kommen könnten, trat zu seiner Frau, sie zart und gütig auffordernd, sich zurückzuziehen. Debberitz hingegen erklärte, daß er ein moderner Mensch sei und als Großstädter weitere Begriffe habe. »Ich für mein Teil fand das Mädchen direkt heroisch,« rief er laut und mit Energie – »ich habe die höchste Achtung vor ihr – das kann ich nur wiederholen – obschon – natürlich . . .« hier wurde seine Stimme leiser und kleinmütiger, ». . . man weiß ja nicht, wie die hohen Herrschaften über die Chose denken!«

»Herr Debberitz,« sagte Trinette sanft überredend, »glauben Sie mir, ich kenne den Herzog – wir haben als Kinder zusammen mit der Puppe gespielt – er würde sich in seinem wahrhaft guten Herzen freuen, wenn diese fatale Angelegenheit – wenn ein edler Mann, wollte ich sagen, sich bereit finden würde . . . kurz, er würde diesem edeln Manne dankbar die Hand drücken . . .«

Debberitz räusperte sich umständlich, und auch Herr von Kosegarten stieß unverständliche Töne aus, von denen es ungewiß blieb, ob sie Zustimmung oder Warnung bedeuten sollten. August war ans Fenster getreten und blickte, als hörte er nichts von dem Gespräch, in den mit Schneeflocken untermischten Herbstregen, der draußen gegen die Fenster schlug.

Debberitz fragte, ob er sich eine Zigarre anzünden dürfe, eine Bitte, die ihm selbstverständlich gern gestattet wurde. Frau Marie brachte ihm Streichhölzer, sie sah ihn dabei mit ihren guten, tränenumflorten Augen bittend an.

Debberitz blies eine Weile seine Rauchringe schweigend in die Luft. Er fühlte sich zu dieser Stunde als nächster Freund der Familie von Kosegarten, fast selbst als ein Glied dieses ehrwürdigen Geschlechts, für die Aufrechterhaltung seiner Ehre zu jedem Opfer bereit . . . Wie aber ließ sich die verletzte Ehre eines jungen Mädchens besser wieder herstellen als durch die Heirat mit einem ehrenwerten Manne? An sich war ihm ja Hilde nur begehrenswerter und pikanter geworden durch diese Liäson mit einem Grafen . . . Denn er zweifelte ja keinen Augenblick daran, daß eine solche wirklich bestanden habe. Übrigens hatte er auch vor kurzem in Erfahrung gebracht, daß Hilde ursprünglich nähere rechtliche Ansprüche auf das Vermögen, das der Tante Trinette zugefallen war, geltend machen konnte – daraus ließ sich denn doch wohl auch ein gelinder Druck auf die alte Dame herleiten und nützlich zur Anwendung bringen. Eventuell drohte man nach der Heirat mit einem Prozesse zur Anfechtung von Onkel Christophs Testament . . . Es war ohnehin unglaublich nachlässig vom alten Kosegarten, sein Mündel so friedlich um ein Vermögen kommen zu lassen. Nun – man kannte ja geschickte Anwälte, glücklicherweise . . .

Debberitz legte die Zigarre beiseite und seufzte, es klang wie ein Ächzen, während er seine Weste straffzog. »Herr von Kosegarten,« sagte er würdig, »ich glaube. Sie haben schon länger bemerkt, daß ich Ihre Nichte, Fräulein Hilde, mit wohlgefälligen Blicken betrachte. Daran hat der eben stattgefundene Auftritt nichts geändert. Ich bin ein Mann von fortschrittlichen Ideen. Es würde mir eine hohe Ehre sein, in Ihre werte Familie einzutreten. Ich bitte Sie also, Herr von Kosegarten, um die Hand Ihres Fräulein Nichte! Wie gesagt – ich werde meine Frau Gemahlin stets in Ehren halten!« Er zog ein Tuch und wischte sich den Schweiß, der bei dieser Ansprache reichlich an Stirn und Schläfen hervorgequollen war.

Der alte Herr schüttelte ihm heftig die Hand. »Na, Debberitz, unter den Verhältnissen – da kann sich das Mädel gratulieren, wenn sie unter die Haube kommt.« Auch er ächzte und pustete, der alte Edelmann. Das Leben war putzwunderlich, und er für sein Teil machte nicht mehr mit – nee, weiß der Deibel – so ne verflixte Schweinerei . . .

Trinette war hinausgeeilt, ihre Nichte zu rufen, hörte indessen von dem Hausmädchen, Hilde sei in großer Erregung in den Park gegangen.

Ein Gang durch Sturm und Wetter wird sie am besten beruhigen, dachte Fräulein von Kosegarten, und aus weit entlegenen Tagen kam ihr die Erinnerung an einen solchen Gang in den Wald hinaus bei Sturm und Regen, um ein stürmisch verlangendes Herz, das entsagen mußte, zu beschwichtigen. Dem Herrn sei Dank, sie war ohne Schuld und Fehle geblieben damals! Im ganzen – die Geschichte mit Hilde war doch widerlich . . . Nun, ein Proletarier wie dieser Debberitz hatte jedenfalls stärkere Nerven und ein abgestumpfteres Gefühl für gewisse zarte Punkte . . . glücklicherweise!

 

Während die Tante sich also beruhigte, eilte der Neffe Fritz mit langen Schritten dem Walde zu. Sein Jägerauge durchspähte die trübe Dämmerung, die schon alle Seitenwege und Fernen zu umhüllen begann. Sein Ruf: »Hilde – Hilde!« klang über die weiten, von körnigem Schnee weiß besprenkelten Wiesen. Der Fuß raschelte durch die Herbstblätter, die der Sturm wirbelnd von den Ästen riß und rauschend durcheinanderjagte. Ihm stand der Blick vor der Phantasie, den Hilde zu ihm gesandt hatte, ehe sie vor die Herzogin getreten war, um der ganzen versammelten Gesellschaft ihre Verachtung vor die Füße zu werfen. Er war Menschenkenner genug, um sich zu sagen, daß dieser Blick der Seelenausdruck eines verzweifelten und zum Äußersten entschlossenen Weibes gewesen war. Einen Esel – einen von Gott verlassenen, verfluchten Esel nannte er sich, wenn er an seinen Ausspruch dachte, von dem Sprung ins Dunkle, der jedes Menschen letzte Rettung vor dem Unerträglichen bleibe, und der Hilde in diesem Augenblick in die ewige Nacht hinaustreiben mochte . . .

In weiten Sprüngen rannte er den steilen Waldpfad zum Heuberg hinauf, dem Brausen des Wasserfalles entgegen, das Herz schlug ihm in wilder Angst. Er hatte es nicht gewußt, nicht begriffen bis jetzt, wie nahe ihm das Mädchen innerlich gerückt war. Während er in vergeblichem Suchen nach Hilde durch den rauschenden Regen eilte, erbitterte sich sein Herz gegen die Armseligkeit der Menschen, die ein unglückliches Geschöpf, das sich nicht wehren kann, ein für allemal ungehört verdammen, weil es in junger Unerfahrenheit gewagt hat, gegen ihren Anstandskodex zu verstoßen. Er hatte die Gesichter der Versammlung um Hilde beobachtet – er war sicher, daß keiner von ihnen allen für sie Partei nahm, daß jeder eine geheime Schuld verzeihlicher fand als dieses öffentliche und rücksichtslose Zugeständnis einer Unbesonnenheit. Sie hatte recht – nur zu sehr recht: niemand würde ihr geglaubt haben, wenn sie trotzdem ihre Mädchenunschuld beteuert haben würde. Der Flecken lag auf ihr und würde auf ihr bleiben . . .

Er verstand es so gut, daß sie nicht mehr der Mühe wert fand, noch einmal neu anzufangen. Wenn zehn Jahre treuer, stiller Pflichterfüllung nichts galten . . . Wie albern, wie nutzlos wäre es gewesen, wenn er selbst vor diesen Leuten für sie eingetreten wäre – er, der Abenteurer, den schließlich daheim doch niemand für ernst nahm . . . Ging es ihm denn besser als ihr? Ein paar Jugenddummheiten folgten ihm nach und legten sich ihm hindernd auf Schritt und Tritt in den Weg. Andern wurde weit mehr verziehen. Aber freilich – die andern, die hatten sich auch nicht in Art und Wesen dem, was daheim als Form und Ideal galt, so weit entwendet . . . Dies war der entscheidende Punkt! Weil Hilde, so fühlte er deutlich, sich unter seinem Einfluß entwickelt hatte, mußte sie zu einer Trennung von dem, was ihr bisher als Autorität galt, gelangen . . . Wie hatte er nur glauben können, in diesem Kreise mit Erfolg zu wirken? Gleich einem scharfen Wind hatte er zwischen sie geblasen, aufrüttelnd, ermunternd, kräftigend. Nun seine Arbeit getan war, wirbelte ihn das Schicksal weiter zu unbekannten Fernen . . . Sollte er gehen mit der bitteren Qual auf der Seele, den Untergang dieses armen Mädels mitverschuldet zu haben?

Aufs neue rief er laut und schmetternd Hildens Namen in die Dunkelheit. Wie war es möglich, sie hier zu finden, wenn sie sich nicht finden lassen wollte? Jeder breite Buchenstamm konnte sie ihm verbergen. Er sah das völlig Unsinnige seines Suchens ein und konnte es doch nicht lassen, weiter zu rufen.

Auf der Waldwiese stand, trübseligem Verfall preisgegeben, der kleine Pavillon, der in schönen Maitagen den Triumph seines Geistes erlebt hatte. Er lachte höhnisch über sich selbst. So ging es ihm immer wieder: er griff das Glück, er hielt es in die Höhe und ergötzte sich kindisch an seinem Glänzen – und ein anderer riß es ihm in letzter Stunde aus der Hand zu eigenem Nutzen.

An den Gebäuden des Elektrizitätswerkes strahlten, als er es erreichte, die Lampen noch blaue Helle durch den Wald und beleuchteten den kläglich verregneten Putz an Fahnen und Girlanden. Er stieg den steilen Felsweg längs des Falles empor, vorsichtig umherspähend, um auf den vom Regen und vom nassen Laub glitschigen Stufen nicht auszugleiten, er starrte, verwirrt und betäubt von Schmerz und Angst, minutenlang untätig in das Brausen und Tosen der weißen stürzenden Wasser. Und dann raffte er sich plötzlich energisch zusammen und kehrte um. Es war vielleicht nur eine verrückte Phantasie von ihm, daß sie gerade den Wasserfall gewählt haben sollte – überhaupt . . . wer konnte denn wissen, ob er sie nicht in der sinnlosen Aufregung, die ihn ergriffen hatte, völlig falsch beurteilte – völlig unterschätzte?

Mit mehr Ruhe kehrte er heim, traf im Flur auf Zipperjahn und hörte von ihm, Fräulein Hilde sei längst zurück.

Fritz wäre dem Jungen am liebsten um den Hals gefallen. »Weißt du, wo ich sie finde?«

»Das jnädige Freilen is auf'n Boden.«

»Auf dem Boden?«

»Ja, sie hat sich ne Laterne bei mich jeholt und machte so'n kurioses Gesicht dazu.«

»Wie lange ist das her?«

»So etwa ein Dreiviertelstündchen wird's schon sein.«

Fritz pfiff scharf durch die Zähne. Er sprang in die Dienerstube und riß dort die Lampe vom Haken an der Wand. Dann stürzte er an Zipperjahn vorüber die Treppe hinauf.

All die Zeit hatte er auf falschem Wege verloren . . . unwiederbringliche Zeit . . . Und die Angst überschwemmte wie eine große Meereswoge aufs neue sein Herz.

 

Zipperjahn begab sich gelassen in den Gartensaal. Dort brannte jetzt nur noch eine Lampe, bei deren spärlichem Licht er die guten Meißner Tassen wieder in die Eckschränke stellte. Er hatte aus manchem Glas die Neige genippt und war in vergnüglicher Stimmung. Zufrieden flötete er vor sich hin die Melodie seines Lieblingsliedes: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus – und du mein Schatz bleibst hier . . .«

Die Tür zum Flur öffnete sich behutsam und schloß sich wieder. Zipperjahn blickte sich um, es war ihm gewesen, als ob jemand eintreten wollte. Als er pfeifend mit dem leeren Tablett hinausging, sah er draußen auf dem Flur niemand. Aber nachdem er in der Dienerstube verschwunden war, trat Hilde hinter dem Kleiderständer, wo sie sich verborgen gehalten hatte, hervor und ging eilig, doch vorsichtig, um kein unnötiges Geräusch zu machen, in den Gartensaal. Sie trug ein dunkles Wollenkleid, einen Regenmantel und einen Filzhut. In der Hand hielt sie ein kleines Köfferchen.

Aufatmend blieb sie in dem nun wieder von seiner gewöhnlichen friedvollen Ruhe erfüllten, dämmerigen Raum stehen und blickte hinüber nach der Ecke am Kamin, wo die vereinzelte Lampe trübe flimmerte. Die leidenschaftliche und heftige Szene, die dort vor kurzem stattgefunden hatte, schien ihr jetzt schon beinahe unwahrscheinlich und höchst verwunderlich. So viele Jahre hatte sie schweigend und dumpf duldend das auf ihr lastende Mißtrauen getragen – war zu stolz, zu tief verletzt gewesen, um sich auch nur mit einem Worte zu verteidigen und die Menschen an die Wunde in ihrem Herzen rühren zu lassen: eine fremde Macht hatte sie plötzlich zu einem Ausbruch getrieben, der ihrer Natur fremd und höchst unsympathisch war, ja, den sie fast lächerlich fand . . . Sie blickte auf das Bild von Fritz, das im kleinen Holzrähmchen auf dem Ständer neben Tante Mariens Sofaeckchen zwischen ihren Arbeitskörben stand – und sie begriff plötzlich wieder jenen Rausch, der sie damals, in der bebenden, demütigen Liebe zu Kessenbrock, alle Formen gesellschaftlichen Anständes hatte beiseite setzen lassen, indem sie lächelnd zu ihm gegangen war – ihm zu beweisen, daß sie den Mut und die Freiheit besaß, die er ihr nicht zutrauen wollte . . . Hilde verzog gramvoll ironisch den Mund, als sie jenes kurzen Besuches dachte, der so viel Anstoß in ihrer kleinen Welt erregte und der ihr so gar keine von den wilden Seligkeiten geschaffen hatte, um deren Genusses willen man sie verdammte. Es war ihr in ihrem mädchenhaften Ehrbegriff so selbstverständlich erschienen, daß Kessenbrock sie verstehen und ihr Erscheinen als ein Symbol ihrer Liebe auffassen würde. Als sie statt dessen den Triumph des Verführers in seinem Gesicht und in seinem Gebaren sah, konnte sie plötzlich nur noch kalte, empörte Abwehr für ihn haben, und so schieden sie aus der Begegnung, die sie aneinander binden sollte, als erbitterte Feinde. Er war ihr Feind geblieben. In dem Wirbel von Verleumdung und Klatscherei, der sich um sie erhob, hatte er nicht ein Wort der Verteidigung für sie gefunden, hatte er nicht einmal versucht, die Menschen von ihrer Unschuld zu überzeugen.

Wie seltsam, daß aus der Wüste toter Gleichgültigkeit in ihrem Herzen noch einmal Glut, Rausch und maßlose Hingebung aufblühen konnten . . .

Aber wenigstens sollte der Rausch ihre skeptische Vernunft nicht soweit umnebeln, daß sie Proben der Liebe, des Glaubens, des Vertrauens von einem Manne zurückerwartete. O nein – heimlich wollte sie sich davonschleichen und niemals, nur um alles in der Welt niemals erfahren, ob Fritz zu ihr gestanden, sie verteidigt, an sie geglaubt hatte . . . Nur sich eine einzige liebe Illusion mit hinausnehmen in den neuen Tag, der sich freudlos vor ihr dehnte.

Sie wollte, um sich unbemerkt zu entfernen, den Weg durch den Park einschlagen, nach einem abseits vom Dorf liegenden Gehöft, dessen Besitzer, wie sie wußte, ein leichtes, ländliches Wägelchen und ein Pferd besaß. Diesen wollte sie bitten, sie zur nächsten Bahnstation zu fahren. Sie hatte deshalb auch nur das alte Köfferchen mit den nötigsten Toilettegegenständen gefüllt – mochte man ihr später von ihrem Eigentum nachsenden, was man beliebte . . . Sie wollte jedenfalls nichts von sich hören lassen, ehe sie eine feste Stellung gefunden hatte. Einige kurze Abschiedsworte, die ihr Vorhaben erklärten, würde Tante Marie ja auf ihrem Schreibtisch vorfinden . . .

Hilde schlich sich, ihr Köfferchen niedersetzend, zu Tante Mariens Sofaplatz, strich liebkosend über das Polster und schüttelte schmerzlich den Kopf über sich selbst und das Abschiedsweh, dessen sie nicht Herr zu werden vermochte. Sie nahm das Jugendbild von Fritz in die Hand, blickte einen Augenblick in die fröhlichen Knabenaugen, drückte einen langen Kuß auf das Glas, setzte es wieder nieder und wandte sich entschlossen ab. »Mut – nur Mut – nur seiner wert sein,« sagte sie leise für sich und wollte den Saal durch die nach dem Garten führende Tür verlassen. Da sah sie, daß Zipperjahn die Glastür schon geschlossen und den Schlüssel abgezogen hatte. Sie öffnete die Tür zum Korridor, um zu sehen, ob sie von dort aus unbemerkt zum Ausgang gelangen könnte, und prallte fast mit Fritz zusammen, der eilig die Treppe vom Oberstock herunterkam.

»Hilde!« schrie er, stürzte auf sie zu, packte sie bei den Schultern und drückte und schüttelte sie – »Mädel – wo in aller Welt hast du gesteckt – du – du – ich hab dich gesucht – das war schon nicht mehr schön – die letzte Viertelstunde da oben auf dem Boden, unter dem alten Gerümpel – du, warum – was wolltest du dort oben? Oder bist du's etwa gar nicht – hat der edle Zipperjahn nur deinen Geist gesehen?«

»Doch –« sagte Hilde erstaunt über sein aufgeregtes Gebaren, – »ich war wohl oben – ich . . . dir will ich's sagen, Fritz, du wirst mich verstehen – ich – ich holte meinen Koffer – ja – ich will . . .«

Aber sie kam nicht weiter, denn sein tolles Gelächter erstickte ihre Erklärung.

»Deinen Koffer – deinen Koffer –,« er riß ihr das kleine Ding aus der Hand und schwenkte es hoch in die Luft. »Gesegnet sei der Koffer, Hilde . . . Ich dachte weiß Gott Schlimmeres – weit Schlimmeres . . . Seit zwei Stunden laufe ich umher und suche dich wie ein Irrsinniger!«

Er war so blaß, wie sie ihn nie gesehen hatte – seine Augen funkelten und glühten unter Tränen.

»Du Lieber,« sagte sie leise und erschüttert, »ich danke dir für alles – für alles . . . Ich habe im Geiste deine Hand gehalten, als ich das – das Schreckliche dort drin sagen mußte . . . Du begreifst, daß ich's mußte, nicht wahr?«

Er machte eine bejahende Bewegung mit dem Kopf. »Für dich war's nötig, nicht für die Puppen und Laffen.

Hilde, mir geht seitdem ein Wort nicht aus dem Sinn, ich glaube, Goethe hat es einmal gesagt:

»Denn du warst in abgelebten Zeiten
Meine Schwester oder meine Frau.«

Na, du verstehst mich schon, so die innere Verwandtschaft zwischen uns beiden – die ist mir in dem Augenblick so recht lebendig geworden . . .«

Sie dankte ihm nur mit den Augen.

»Und wohin befehlen das gnädige Fräulein nun, daß ich den verhängnisvollen Koffer trage?«

Beide lachten, wie Menschen lachen, die eine große Gefahr bestanden haben.

»Fritz,« sagte sie leise und glücklich, denn sie war glücklich, besinnungslos glücklich in diesem Augenblick, »hindere mich jetzt nicht – ich bitte dich um alles in der Welt. Ich will fort, du siehst ja, ich muß fort, und ich kann nicht Abschied nehmen . . .«

»Das ist eine famose Idee – Hilde, das gefällt mir ausgezeichnet. Ich bin auch nicht fürs Abschiednehmen.« Er öffnete die Tür zu dem leeren Gartensaal und zog das Mädchen samt ihrem Köfferchen hinein.

»Hier sind wir ungestörter, deinen Plan zu beraten,« sagte er, und sein schmales, braunes Gesicht gewann schon wieder die alte Gelassenheit. »Du gehst also – und ich denke, es wird das beste sein, du gehst gleich über das Meer. Ich werde dich begleiten und dir für die erste Zeit zur Seite stehen.«

»O Fritz,« rief sie, halb im Zweifel, ob er spaße oder im Ernst rede, »du bist unsinnig!«

»Ich habe nie den Anspruch darauf gemacht, für sinnig zu gelten,« sagte er vergnügt, öffnete die Tür und rief nach Zipperjahn.

Der Junge kam eilfertig herein und empfing von Fritz den Befehl, zu seinem Chauffeur zu gehen und ihn anzuweisen, das Auto umgehend zu einer Fahrt instandzusetzen.

»Er soll dann hier vorfahren, verstehst du mich? Hier an der Rampe, nicht vor dem großen Eingangstor, hörst du? Das ist sehr wichtig! Ich wünsche mit meiner Kusine eine Mondscheinpartie zu unternehmen, ohne daß Tante Trinette uns begleitet. Also reinen Mund gehalten! Bei deiner Mannesehre! Schön! Blaffke soll die Pelzdecken nicht vergessen. Dann gehst du in mein Zimmer – hier hast du meinen Schreibtischschlüssel  . . . Aus dem mittelsten Fach die Kassette und die braune Ledermappe mit Papieren bringe mir hierher. – Ach ja so – mein Frack ist auch ziemlich naß geworden. Also, ich brauche ferner den blauen Rock, der an der Tür hängt und irgendeine Krawatte – du wirst schon was finden. Ich vertraue ganz auf dein Genie . . . Und Mantel und Mütze!«

Der Groom strahlte. Ein Auftrag von so geheimnisvoller Wichtigkeit war ihm noch niemals zuteil geworden. Er stürzte davon, im Kopf alle die einzelnen Teile wiederholend, um keinen zu vergessen.

Hilde aber saß auf einem Stuhl in dem großen, leeren, dämmerigen Gartensaal, in dessen fernster Ecke die hohe Petroleumlampe langsam im Verlöschen war, und hörte dem allen zu und begriff noch immer nicht, wo alles hinauswollte.

Als Zipperjahn das Zimmer verlassen hatte, sprang sie auf, stand vor ihrem Vetter und sagte energisch, als müßte sie ihn aus einem unerhörten Traumzustand aufwecken: »Fritz – um Gottes willen, nimm Vernunft an! Dies alles ist unmöglich! Wir beide dürfen nicht zugleich von hier gehen – wir beide zuletzt!«

»Und warum wir beide zuletzt?« fragte er mit einer weichen Betonung.

»Weil – Fritz – o – du weißt ja . . .« sie brach in Weinen aus.

»Kind,« sagte er lächelnd und herzlich ihre Hand in die seine nehmend, »ich habe in meinem Leben so viel Dummheiten gemacht, da werde ich deine eine Dummheit wohl verstehen können! Übrigens finde ich, daß man mit dieser albernen Geschichte nun zu Ende kommen sollte. Man hat schon zu viel Wesens davon gemacht. Du sollst noch darüber lachen lernen! Sieh mal, wir sind ja doch von einem Schlage, wir werden ein paar gute Kameraden abgeben! Durch dick und dünn marschieren . . . Aber du, erst muß ich sehen, ob du auch nicht beim ersten Kuß wieder Weinkrämpfe bekommst!«

Er hielt sie im Arm, noch ehe sie sich wehren konnte, und wenn die Tränen aufsteigen wollten, so küßte er auch sie eilends fort. Und sie wollte nichts anderes mehr, als was er wollte.

Zipperjahn kam mit den Kleidern und der Kassette, schloß diensteifrig die Gartentüren auf und war Fritz behilflich, den Frack gegen einen trockenen Rock zu wechseln und einen Mantel umzuwerfen. Dabei flüsterte er ihm atemlos zu: »Das gnädige Fräulein Trinette hat mich gesehen. Sie fragte, was ich mit der Kassette wollte. Ich glaube, sie kommt mir nach!«

»Donnerwetter!« entfuhr es Fritzens Lippen. »Also, dann schnell hinaus mit der Geschichte, wir steigen im Schuppen ein!«

»Fritz, ohne Abschied von deinen Eltern?«

»Um Gottes willen, Mädel, keine Tränenszene! Übers Jahr kommen wir zum Besuch!«

Das Automobil brauste stampfend und fauchend auf den Kiesplatz, und Fräulein Trinette trat erregt in den Gartensaal mit der vorwurfsvollen Frage: »Hilde – Fritz – ihr beide hier – was soll das – in Hut und Mantel? Ich bitte um eine Erklärung!«

»Und ich bitte uns nicht zu stören, liebe Tante, ich bin eben im Begriff, meine Kusine Hilde zu entführen. Ich hoffe, du stimmst mir bei, daß dies im gegebenen Augenblick für alle Teile das einzig Richtige ist . . .«

Der Scherz verging ihm bei dem gellenden Hilferuf, den das alte Fräulein ausstieß. Durchdringend wie Feuersignale hatte ihre Stimme binnen einer Sekunde einen Lärm von eilenden Schritten und angstvollen Rufen vor der Tür und auf der Treppe entfesselt. Fritz sah ein, daß er im Übermut seines Glückes sehr unvorsichtig gewesen war, aber er fühlte sich Manns genug, jetzt dem ärgsten Familiensturm standzuhalten.

Und ein Sturm von Ausrufen, Fragen, Durcheinanderschreien und Sprechen brach wirklich in der nächsten Minute um ihn her aus. Fritz erklärte kurz, er habe eingesehen, daß das Unternehmen hier ohne ihn bestehen würde – beschienen von der Gnadensonne des hohen Landesvaters – ja daß seine Teilnahme daran diese Gnadensonne nur an ihrer vollen Wärme hindern könne. Er habe deshalb die Generalvertretung der Hamburger Automobilfabrik für die Vereinigten Staaten angenommen und werde binnen zwölf Tagen in Neuyork erwartet. Inzwischen seien bekannte Ereignisse eingetreten, die auch seiner Kusine Hilde ein ferneres Bleiben unter den alten Verhältnissen nicht mehr angenehm erscheinen ließen, und deshalb werde sie ihn begleiten.

Soweit nahmen seine Eltern, August und Debberitz seine Erklärung schweigend entgegen. Als Hildens Name genannt wurde, entstand eine allgemeine Bewegung.

»Fritz – Hilde – ihr verrückten Kinder, ihr wißt ja nicht,« rief seine Mutter. »Das ändert ja alles . . .«

»Was weiß Hilde nicht, Mama?«

»Daß Debberitz soeben bei Vater um Hildens Hand angehalten hat!«

»Ja,« rief Debberitz mit seiner vollsten Stimme und trat in seiner ganzen stattlichen Prächtigkeit vor die Erwählte, »mein jnädiges Fräulein, das Haupt der Familie, Ihr verehrter Herr Onkel, hat mir gegründete Hoffnung gemacht, so daß ich mir schmeicheln darf, Sie werden Ihren Plan, den Ihnen eine momentane Verlegenheit eingegeben haben dürfte, nunmehr ändern . . .«

»Das glaube ich kaum,« sagte Fritz freundlich und schlug Debberitz treuherzig auf die Schulter, »weißt du, lieber Thete, man macht mit dir Geschäfte, aber man heiratet dich nicht . . .«

»Oho – Herr von Kosegarten – dieser Ton . . .«

»Diesen Ton darf ich mir schon erlauben, denn ich bin über die Geschmacksrichtung meiner Braut wohl besser unterrichtet, als du es sein dürftest!«

Hilde hatte sich bei Fritzens Erklärung in Tante Mariens Arme geworfen und küßte und herzte sie so stürmisch, daß die Gute kaum zur Besinnung kam und den letzten Abschiedskuß des Sohnes nur wie in wirrem Traum und Taumel empfing.

Der alte Herr schüttelte verwundert den Kopf, er fand diesen jähen Aufbruch zwar keineswegs in der Ordnung – aber – so waren nun einmal diese Amerikaner – und was konnte man von Fritz jemals anderes erwarten als törichte und tolle Dinge!

Tante Trinette sagte seufzend: »Er bleibt einmal der verlorene Sohn!«

»Der verfluchte Yankee – hat mich doch wahrhaftig begaunert,« schimpfte Thete Debberitz, all seine Würde und Feierlichkeit vergessend.

Fritz zog Hilde geschickt aus dem Kreis der Verwandten. »Mädel – bind' den Schleier um die Ohren, die Luft geht scharf da draußen! – Ha,« rief er lustig, die Mütze schwenkend, »ich freue mich auf die harte, scharfe Luft da draußen!«

Zipperjahn schlug die Tür des Kraftwagens zu; die großen Lichter glühten durch die Regennacht, stampfend setzte sich die Maschine in Bewegung. Hildens weißes Tüchlein wehte als letzter Gruß durch Sturm und Dunkelheit.

 

Ende

 


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