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Fräulein Trinette kehrte in höchst erregtem Zustande von ihrem Spaziergang im Parke heim. »Denkt nur, ihr Lieben,« rief sie empört, indem sie eine Flasche mit einem Gewimmel kleiner Lebewesen darin leidenschaftlich und zornig schüttelte, »was mir begegnet ist! Ich sitze friedvoll an der Wiese unter der großen Tanne, da wo der Wald beginnt, und bin im Begriff, mir einige Ameisen zu fangen . . . Ich halte viel von Ameisenspiritus gegen Rheuma und Reißen. Diese guten, alten Mittel sind so viel wirkungsvoller als all das teuere Zeug, das in den Zeitungen angepriesen wird, und Gott schenkt uns die nützlichen Tierchen ganz umsonst . . . Ich habe also mein Fläschchen auf den Weg gelegt, wo die kleine Karawane hinüberspaziert, und bewundere die Klugheit der Tiere, die trotz der süßen Lockspeise von Bierhefe und Zucker in der Flasche die Gefahr zu ahnen scheinen und enthaltsam über das Hindernis hinwegklettern. Eine Menge gieriger Genüßlinge gab's aber doch unter ihnen, und so war ich ganz zufrieden mit meinem Fange – da sagt plötzlich eine grobe Stimme neben mir: ›Freilein von Kosegarten, wenn Sie Ameisen fangen wollen, denn kommen Sie man mit in den Wald! Da weeß ich nen jroßen Haufen . . .‹ Nun, was sagt ihr dazu? Empörend, nicht wahr?«
»Aber, Tante,« rief Hilde lachend, »der Mann wollte dir doch augenscheinlich nur gefällig sein.«
»Gefällig?« fragte Tante Trinette, »ich wundere mich, daß du die Beleidigung in dieser ungenierten Anrede nicht fühlst! Wozu fordert ein Mann eine Dame auf, ihm in den Wald zu folgen? Sittliche Absichten leiten ihn dabei keinesfalls! Ich habe dir immer gesagt, Friedrich, du sollst den Park für das Publikum schließen.«
»Hallo, Tante,« rief Fritz, »sollte das vielleicht der geheimnisvolle Debberitz gewesen sein?«
Kosegarten bekam einen roten Kopf. »Das Mistvieh!« schimpfte er. »Wenn der sich untersteht, hier herumzustrolchen, dann lass' ich den Park wirklich schließen, und zwar sofort. Habe keine Lust, mich ausspionieren zu lassen von dem gemeinen Lumpen.«
»Lieber Papa,« antwortete Fritz kühl, »Gefühl ist Gefühl, und Geschäft ist Geschäft. Man darf beides niemals vermischen. Ein Mann, der Rauschenrode in seinem jetzigen Zustand von Vernachlässigung, nimm's mir nicht übel, Papa, ich weiß, du hattest kein Kapital hineinzustecken, ich konstatiere einfach nur eine Tatsache . . . also, ein Mann, der Rauschenrode kaufen will, so wie es jetzt ist, den muß ich für einen deutschen Idealisten halten.«
»Idealist?« brummte Kosegarten, »Idealaas! Blutsauger! Ist nun mein Gläubiger, kann mich nach Noten schinden! Wo ich das Geld hernehmen soll, um die Hypothekenzinsen zu zahlen, das mag der Deibel wissen!«
Trinette setzte die Flasche mit den Ameisen auf den Frühstückstisch und trat auf ihren Bruder zu. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, indem ihr mit Haaren besetztes Kinn vor Bewegung zu zittern begann: »Mein guter Friedrich, ich sehe, ich muß das Opfer bringen!«
In dem Gesicht des alten Herrn sah man die Freude aufglimmen. »Trinette, Schwesterherz! Wolltest du wirklich? Na, weißt du, das – das vergess' ich dir nie!«
Er faßte sie um die Taille und gab ihr einen Kuß auf die gelbe, lederartige Wange.
»Es wird mir nicht leicht,« sagte das Fräulein von Kosegarten bedächtig, »nach der Ablehnung von neulich . . . Aber ich werde doch noch einmal an die Herzogin schreiben.«
Der alte Herr ließ seine Schwester schnell genug aus seinen Armen frei und wandte sich enttäuscht von ihr fort. »Die Herzogin?« brummte er. »Ich dachte, du hättest nun endlich Vernunft angenommen und wolltest selbst in den Beutel greifen.«
»Lieber Bruder,« sagte Trinette und fuhr sich mit dem Zeigefinger glättend über den Scheitel, »ich halte mich nur für die Verwalterin eines mir vom Höchsten anvertrauten Gutes. Es würde leichtsinnig sein, euer bequemes Wohlleben hier zu unterstützen . . .« Ihr Blick haftete strafend auf der Schale mit goldhellem Honig vor ihr auf dem Frühstückstisch.
Herrn von Kosegartens Lippen entfuhr ein Wort, das weniger wie »Schwesternherz« und mehr wie »Giftkröte« klang.
»Ich hatte doch ganz vergessen,« begann Fritz, »welche Rolle in der deutschen Geschäftswelt die Frauen spielen. Das Geld der Tante, das Geld der Herzogin, das Geld der Braut . . . man ist den deutschen Anschauungen mit der Zeit recht fremd geworden!«
»Du willst doch nicht behaupten, daß das Geld in Amerika keine Rolle spielt?« fragte Trinette spitz.
»Das Geld, das der Mann sich verdient, Tante,« antwortete Fritz, »gewiß, das spielt eine gewaltige Rolle! Darum interessiert es mich auch kolossal, wie der Mann, dieser Debberitz, es gemacht hat, in so kurzer Zeit vom armen Dorfjungen und Sohn eines kleinen Beamten zum reichen Mann aufzusteigen. Denn es ist keine Frage, nach den Erkundigungen, die ich über ihn eingezogen habe, hat der Mann Geld wie Heu, so viel, daß er es augenscheinlich schon wieder los werden möchte . . . Nach welcher Richtung wandte er sich, als er dich verließ, Tante?«
»Er ging rechts hinunter, an der Fohlenkoppel entlang.«
Kosegarten fuhr empor. »Fritz, ich verbiete dir . . .«
Fritz wandte den Kopf ein wenig zurück nach seinem alten Herrn. »Papa, ich bin mündig,« sagte er mit der verbindlichsten Stimme von der Welt und ging schnellen, leichten Schrittes, den kleinen, weißen Strohhut auf dem Kopf, über die Rampe und die Freitreppe hinunter.
Frau Marie von Kosegarten war heute einmal recht zufrieden mit ihrem lieben Gott. Alle ihre Lieben waren um sie versammelt. Fritz hatte sie zur Feier seines Geburtstages, den sie sonst in verborgenen, heißen Tränen zu verbringen pflegte, unter viel Gelächter und harmlosen Scherzen in Großmutters altem Fahrstuhl, der freilich einigemal bedenklich in allen Fugen krachte, den Heuberg hinaufgeschoben.
Nun saßen sie auf der mit verblichenen Amoretten bemalten Veranda des baufälligen Pavillons im herrlichsten Buchenwald, hörten das Rauschen des prächtigen Falles aus der grünen Schlucht herübertönen und atmeten die laue, vom Duft des jungen Buchenlaubes fein durchwürzte Bergluft.
Unter dem Einfluß eines guten Kaffees, den Hilde auf der Spiritusmaschine soeben gebraut hatte, und Mamsell Wärmchens vorzüglichem, braunglänzendem Butterkuchen geriet auch der alte Herr in eine menschenfreundlichere Stimmung. Er begann seine nettesten Jagdgeschichten zu erzählen. Man glaube nicht, daß das ehrwürdige Alter solcher Anekdoten ihren Wert in der Familie verringere; das tut es nur Fremden und entfernten Seitengliedern der Verwandtschaft gegenüber. Besonders heute, wo Fritz in dem Abenteuer des auf Schloß Rauschenrode eingeladenen Schriftstellers mit der Wildsau und in jener andern Geschichte vom Herzog Ernst und der Hasendublette längst vergessene Freunde aus der Kinderzeit mit ungeheucheltem Vergnügen neu begrüßte, wurde auch ihre Wirkung auf die andern Zuhörer beträchtlich erhöht. Fern hinter dem Gewoge des grünen Blättermeers lagen so zuwidre Sachen wie Hypotheken-Transaktionen. Herr von Kosegarten lachte sein behaglichstes, tiefes Weidmannslachen bei Fritzens Bericht, wie er auf der Landenge von Panama beinahe mal einen Puma geschossen habe, schließlich sei es aber ein Kanalarbeiter gewesen, und er danke seinem Schöpfer noch heute, daß der Schuß danebengegangen sei. Die verblaßten Amoretten, die so viele Jahre einsam vergilbte Rosengirlanden um den abbröckelnden Plafond des kleinen, zierlichen Gartenhäuschens gewunden hatten, blickten heute ordentlich lebenslustig auf die jungen Mädchen hinab, die fröhlich durch den antiken Säulenportikus aus und ein flatterten und sich in ihren hellen Sommerkleidern und blumengeschmückten Hüten zwischen den umkränzten Altären, den Flöten und Hirtenstäben an den Wänden hin und her bewegten. Von der Sonne erhitzt und durchglüht, hatten Hilde und Mimi etwas wie Frühlingsblüte erster Jugend zurückgewonnen, die sich nun lieblich mit der belebtern Intelligenz reiferer Jahre in ihren Gesichtern verband.
Fritz begann sie zu reizen, indem er erklärte, kein deutsches Mädchen verstehe den Flirt so leicht, frei und anmutig wie die Amerikanerin. Das sei eine Kunst, die seit frühester Jugend geübt sein müsse, und übrigens, seiner Ansicht nach, der edelste Sport für eine junge Dame. Eine amerikanische Freundin habe ihm einmal erklärt, sie fange einen Mann »mit einer Wimper«.
Hilde, die heute übermütig war, wie man sie nur selten sah, begann darauf die wunderlichsten Augenverdrehungen, auf die Fritz mimische Antworten erteilte, so daß die Mutter nicht aus dem Lachen herauskam und selbst Zipperjahn, den man zur Bedienung mitgenommen hatte, verschiedene Male laut herauspruschen mußte. Es war ein Glück für ihn, daß der gestrenge Herr Schottenmaier nicht zugegen war, der ihm solche Ungehörigkeit streng verwiesen haben würde.
Mimi blickte bei dem Augenspiel zwischen Fritz und Hilde träumerisch in die Ferne. Sie mußte der Unterhaltung denken, die sie am Abend zuvor mit ihrer Mutter gehabt.
»Du bist mündig, Mimi,« hatte Frau von Rahlen gesagt; »wenn du zu mir kämest und mir sagtest, daß du eine Wahl getroffen hättest, die ich mit dem Verstande nicht billigen könnte, so würde ich mich, wenn auch schweren Herzens, dennoch deinen Wünschen fügen. Was unser Glück ausmacht, das weiß nur jeder von uns allein, und niemand, selbst deine Mutter nicht, hat in dieses Geheimnis den richtigen Einblick. Aber warnen möchte ich dich, mein Kind. Wir alle freuen uns mit den alten Freunden, daß ihr Sohn als ein Mann heimgekehrt ist, der sich sehen lassen darf, dem man überall Interesse entgegenbringen wird. Dennoch frage ich mich, ob er nicht für sie ein Verlorener bleiben wird, gerade weil er sich so gut in das neue Leben hineingefunden hat . . . Du bist in einem engen Kreis erwachsen, du wurzelst fest im Erdboden deiner Heimat und in allen ihren Anschauungen. Ich glaube nicht, daß du dich dem Amerikanertum so leicht und schnell anpassen würdest. Ich meine mit diesem Ausdruck eine neue Sinnesart, die auch bei uns vielfach emporwächst, die mir aber niemals so stark und deutlich entgegengetreten ist wie in der Erscheinung und in dem Wesen dieses Sprößlings einer unserer besten aristokratischen Familien.«
Frau von Rahlen hatte den Kopf ihrer Tochter zwischen ihre Hände genommen und sie auf die Stirn, auf die gesenkten Augenlider geküßt. Die Worte klangen in Mimis Herzen nach, gerade weil sie so gemäßigt und gütig waren.
August fragte sie leise, warum sie so schweigsam sei und was ihr die Stimmung trübe.
Sie hob den Kopf mit einem freundlichen Lächeln, aber sie wußte nichts zu antworten.
Dann erfolgte ein allgemeiner Aufbruch. Fritz begann zu August wieder von seinen Plänen zu reden, die Wasserkraft des Rauschenfalles zu einer elektrischen Anlage auszunutzen.
»Natürlich habe ich schon hundertmal daran gedacht,« sagte August bedächtig, »aber woher das Kapital nehmen?«
»Hast du in Berlin, wo du dich doch oft genug aufgehalten hast, niemals Fühlung mit kapitalkräftigen Leuten gesucht?«
»Ich gestehe,« sagte August hochmütig, »daß mich der Ton in den Kreisen dieser Herren zu wenig reizte, als daß ich hätte suchen wollen, ihre nähere Bekanntschaft zu machen.«
Fritz zog seine hochgewölbten Brauen noch etwas höher. »Du bist eben immer Edelmann geblieben, mein Lieber,« sagte er. »Mit diesem abgeschlossenen Wesen, das jedes andere als minderwertig betrachtet, reicht man vielleicht aus, um als Krautjunker seine Scholle zu beackern, kaum als Diplomat. Und daß du nun gar Techniker geworden bist, der ohne die Hilfe der Industrie überhaupt nichts beginnen kann, das, verzeih mir, war ein arger Mißgriff.«
»Nein,« rief Mimi plötzlich lebhaft dazwischen, »er soll auch als Ingenieur bleiben, was er ist: ein deutscher Edelmann! Er soll sich nicht amerikanisieren. Warum können wir es nicht in unserer Art auch zu etwas bringen?« Sie stockte, blickte August an und wurde plötzlich rosenrot.
Beide Brüder lachten, aber mit einem verschiedenen Klang. August war ein wenig verlegen, doch glücklich, und küßte ihr die Hand. Fritz wandte sich zu seiner Mutter und sagte, indem er seinen Arm unter den ihren schob und sie über den Platz führte: »Nun, die Teilnahme scheint ja da drüben sehr warm.«
»Ach nein,« klagte Frau von Kosegarten, »du irrst dich! Wie lange wirbt der arme Junge schon hoffnungslos um das Mädchen!«
»Mimi leidet an allzu großer Treue,« warf Hilde hin.
»Oh!« machte Fritz bedauernd, »eine Krankheit, zu der ich keinerlei Anlage habe.« Indem seine Blicke die Augen seiner Kusine suchten, wiederholte er zweimal: »Du irrst dich, du irrst dich ganz gewiß! Vielleicht irrt Mimi auch. Mein Gott, Gefühle sind niemals so reinlich zu scheiden – oder meinst du?«
»Ich weiß nicht,« murmelte Hilde verwirrt.
In Fritzens Augen war ein seltsames Funkeln, aber man konnte bei ihm nie wissen, was Scherz und was Ernst war, und das Sichere blieb jedenfalls, man nahm alles als Scherz und Neckerei. Darum, als er sich ein wenig zu ihr beugte und ihr ins Ohr flüsterte: »Du siehst heute einfach siebzehnjährig aus, Kusinchen!« machte sie eine schnelle abschüttelnde Bewegung mit dem Kopf und rief: »Alter koketter Bengel! Hier kennt man deine Art zu gut, sie verfängt nicht mehr!«
»Kratzbürstchen!« gab er gut gelaunt zurück.
August und Mimi waren nach dem Bach hinuntergegangen.
»Ich danke dir,« hatte August zu ihr gesagt, »daß du so warm für mich eingetreten bist.«
»Habe ich dir nicht versprochen, deine Freundin zu sein?« gab sie ernst zurück.
Er seufzte. »Mimi,« gestand er, »Fritzens Art reizt mich unmäßig. Ich will ihn ja nicht bei dir verleumden, aber ich fühle, ich werde schlecht durch seine Gegenwart. Hilf du mir darüber hinweg, Mimi!«
»Ich?« flüsterte sie verzagt und hatte die Augen voll Tränen, »ich kann wohl jetzt niemand helfen, bin selbst viel zu hilfsbedürftig.« Ihr feines, blondes Gesicht wandte sich schüchtern zur Seite, indem sie flüsterte: »Das alte Gefühl ist nicht tot, aber es paßt nicht mehr zu dem neuen Menschen . . .« Erschrocken hielt sie inne: »O Gott, August, daß ich dir das sage!«
Er warf einen Blick zurück, und weil er sah, daß die andern im Gespräch hin und her wandelten und niemand auf sie achtete, nahm er Mimis Rechte zwischen seine beiden Hände und drückte sie innig. »Ich bin dir so dankbar, daß du offen zu mir sprichst. Wenn es auch weh tut, dein Vertrauen ist doch das Schönste, was du mir schenken kannst.«
Sie atmete schnell und schneller. Wäre er selbst nicht zu bewegt gewesen, so hätte er sehen müssen, wie ihre gesenkten Lider bebten, wie ihr Mund sich öffnete und wieder schloß, ohne ein Wort finden zu können. Plötzlich machte sie sich stark und zog ihre Hand hastig aus der seinen.
»Nein, August, nein,« sagte sie bestimmt, »nicht jetzt, nicht heute! Laß mir Zeit . . .«
Er trat ein wenig zurück und blickte traurig. Eine Kühle senkte sich wie ein seiner Nebel zwischen sie.
»Ich finde euch wohl heute abend wieder an dem gleichen Platz?« sagte er zu seiner Mutter tretend. »Entschuldigt mich bis dahin, ich habe noch zu arbeiten.« Nach kurzem Gruß entfernte er sich, und Mama Kosegarten begleitete sein Fortgehen mit einem kleinen Gefühlsausbruch über seine Gewissenhaftigkeit und seine Pflichttreue.
Man stieg dann zur Lichtung hinauf. Um die Baumstümpfe der im letzten Jahr geschlagenen Buchen wucherten Blumen und Gekräut. Die Mädchen begannen große Sträuße zu pflücken.
Bei Gelegenheit des Hin- und Herschweifens kamen denn auch Fritz und Mimi in ein längeres Gespräch. Sie war erstaunt zu hören, daß er August ohne jede Ironie lobte und die Hoffnung aussprach, es werde sich bald eine Gelegenheit finden, wo sein Bruder sich ruhig und stetig, wie es seinem Wesen angemessen sei, betätigen könne. Er blickte eine Weile nachdenklich vor sich nieder, sah darauf seine Nachbarin etwas prüfend von der Seite an und begann vorsichtig: »Ich möchte wohl wissen, Mimi, ob du noch genug Freundschaft aus früherer Zeit für mich übrig hast, um mir einen großen Gefallen zu tun?«
Sie senkte den Kopf und ordnete an ihrem Strauß. »Was könnte ich für dich tun?« fragte sie mit bedeckter Stimme.
»Es scheint mir,« sagte Fritz, »daß mein Bruder viel auf dein Urteil gibt, und da wäre es in diesem Augenblick für mich und auch für August selbst von großem Wert, wenn du ihn ein wenig zu meinen Gunsten beeinflussen könntest!«
Fritz beobachtete, wie sie blasser wurde und wie ihr Gesicht einen ablehnenden Ausdruck bekam.
»Ich wüßte nicht, wie ich das beginnen sollte,« sagte sie mit einem Anflug von Hochmut.
»Ich lese dir die Gedanken von der Stirn,« rief Fritz, ». . . ›da müßte ich selbst erst eine gute Meinung von dir haben‹, willst du sagen. ›Und wodurch sollte ich mir die verschafft haben oder verschaffen?‹ . . . Ich gebe zu, ihr wißt wenig von mir. Mein Erscheinen in eurer Mitte muß euch befremdend und verdächtig vorkommen. Sieh, mich hat wirklich die ehrliche Absicht hergeführt, mit August zusammen etwas zu unternehmen, einen Plan auszuführen, der uns beiden, meiner Ansicht nach, nicht nur eine tüchtige Arbeit, sondern einen tüchtigen Gewinn verschafft. Dazu brauche ich vor allen Dingen sein Vertrauen und seinen guten Willen, überhaupt erst einmal mit mir an die Sache heranzugehen. Nun also, wie dieses Problem zu lösen sei, beschäftigt meine Gedanken jetzt fortwährend.«
»Um dir als Werkzeug zu deinen geschäftlichen Plänen zu dienen willst du mich gewinnen?« sagte Mimi mit so viel Bitterkeit im Ausdruck, daß Fritz sie überrascht anblickte.
»Ja, gewiß, was ist dabei Verletzendes?« fragte er leichthin.
»Von deinem Standpunkt aus gewiß nichts, nur ist mir der so fremd, wie du mir überhaupt geworden bist.«
Fritz machte eine ungeduldige Bewegung.
»Sage du nicht auch dasselbe, was ich auf Schritt und Tritt zu hören bekomme! Natürlich hab ich mich entwickelt, aber ich bin meiner Grundnatur doch treu geblieben, und wenn du für die einmal Sympathie gehabt hast, so wüßte ich nicht, was dich hindern könnte, sie auch jetzt noch zu haben.«
Mimi öffnete die Lippen, schloß sie wieder, schluckte ein wenig und sagte schließlich: »Vielleicht bin ich es, die sich verändert hat!«
»Das Gesetz der Schwere, das über euch alle regiert, hat dich nicht verschont,« bemerkte Fritz lächelnd. »Was warst du einmal für ein begeistertes, glühendes Mädchen!«
»Und nun bin ich alt und langweilig geworden – sag's nur gerad heraus!«
»Das nicht, nur so eigentümlich befangen. Du gehst umher, wie in weiße Schleier gewickelt, die dir jede Bewegung lähmen. Wenn du mit mir zusammen bist, macht dein feierlicher Ernst mich förmlich beklommen.«
Mimi lachte kurz auf. »Du und beklommen!«
Fritz sah sie mit seinen hübschen, etwas tiefliegenden braunen Augen prüfend an. »Es ist doch so. Im Augenblick der ersten Begrüßung kamst du mir so freundlich entgegen. Was hat dich seitdem so verändert? Nein, nein, lauf mir nicht davon! Oder wollen wir zu der Buche dort hinaufklettern und sehen, ob wir an ihrem Stamm ein gewisses Herz noch finden? . . .«
Mimi war sehr rot geworden, schüttelte hastig den Kopf und blickte vor sich nieder, bange atmend. Sie hob den Strauß und drückte ihr Gesicht hinein, um Zeit zu gewinnen, dann flüsterte sie scheu: »Ich kann es nicht abschütteln, es ist stärker als ich, es legt sich über mich wie ein Bann, sobald ich in deiner Nähe bin. Ich begreife mich ja selber nicht . . . Als wir dich erwarteten, da – da freute ich mich so unmäßig und meinte, alles müßte wiederkommen mit dir: Lachen – und Jugend und Glück – eben alles, was du mit dir übers Meer genommen hast.« Die Tränen stürzten ihr unaufhaltsam aus den Augen, während sie die leidenschaftlichen Worte heftig hervorstieß.
Fritz wandte diskret den Kopf zur Seite. Er wollte diese Tränen nicht sehen und ihr Zeit geben, sie zu trocknen.
»Mimi,« sagte er mit dem Versuch, dem Gespräch eine leichtere Wendung zu geben, »du willst doch nicht sagen, daß ich dein Lachen und deine Jugend und dein Glück damals mit in meinen Koffer gepackt hätte?«
»Ich will dir ja keinen Vorwurf machen,« stammelte das Mädchen verwirrt, »es war eben Notwendigkeit.«
»Einen Vorwurf?« fragte Fritz. »Wir wollen uns doch wohl keinen Vorwurf machen aus unserer fröhlichen Liebe, an die ich immer gedacht habe wie – nun wie an einen blühenden Baum, an dem man im Frühling vorüberging.«
»Du bist vorübergegangen,« sagte Mimi – »mir war die Erinnerung mein Leben.«
»Elf Jahre lang Erinnerung,« rief Fritz erschrocken – »mein Gott, Mimi, wenn das wahr ist, dann ist's schauerlich.«
»Es hatte auch seine Süße,« flüsterte Mimi träumend.
Sie gingen beide in einer wunderlichen Ergriffenheit den grünen, moosigen Waldweg entlang, den Fritz eingeschlagen hatte.
»Was seid ihr Mädchen für seltsame Geschöpfe!« rief er plötzlich lebhaft, als wollte er mit dieser hellern Stimme etwas – eine Stimmung, die keine Herrschaft über ihn gewinnen sollte – verscheuchen. »Ihr seht doch andere Männer, ihr werdet doch begehrt . . .«
»Wir sehen sie nicht,« sagte Mimi in Erinnerungen verloren, »und wenn man uns begehrt, so wird es uns lästig.«
Fritz blieb stehen. »Ich nehme meine Behauptung von vorhin zurück,« sagte er leise. »Ihr deutschen Mädchen versteht einen weit gefährlicheren Flirt als die Amerikanerin.«
Mimi zog die Schultern hoch, sie fühlte einen feinen Schmerz am Herzen. »Armer Fritz, kennst du keine andere Erregung mehr als die durch einen geschickten Flirt?« fragte sie traurig.
»Doch, Mimi«, antwortete Fritz ernst. »Bei meinem Besuch in Niedernrode vorgestern, als ich dich dort beobachtete, während wir durch die Ställe gingen, wie du mit Knechten und Mägden sprachst als die kluge, tüchtige Herrin – da überkam mich ein Gefühl aufrichtiger Achtung und Bewunderung für meine liebe Jugendfreundin, und ich war sehr stolz darauf, daß du mich einmal liebgehabt hast – du sollst dich nicht entwerten und dich jetzt als eine überspannte Schwärmerin hinstellen, die du ja gar nicht bist.«
Mimi seufzte.
»Fritz,« sagte sie resigniert, »ich habe gelernt, Arbeit anzupacken und zu bewältigen, weil . . . Ach, es ist ja lächerlich! Es kommt mir so unbeschreiblich unsinnig vor, alles, was ich gedacht und geplant und gehofft habe die vielen Jahre hindurch . . . Ich dachte, ich dürfte dir nicht nachstehen und müßte tüchtig werden für ein Leben, das vielleicht hart und entbehrungsreich werden konnte da draußen – mit dir . . .!« Die letzten Worte kamen nur noch wie ein Hauch über ihre Lippen, aber Fritz hatte sie doch verstanden. Er nahm ihre freie Hand und küßte sie mehrmals herzlich und lange.
»Dear girl,« sagte er leise, »ich wollte, ich hätte mehr Ahnungsvermögen besessen!«
»Ach, Fritz!« sagte Mimi lächelnd mit zurückkehrender Ruhe, »jetzt denk ich, daß dich das nur gehindert haben würde!«
»Wer weiß?« fragte Fritz und blickte ihr tief in die Augen. Ein Schwindel ergriff sie dabei, ein inneres Erzittern. Was sollte aus dem allen werden? War sie noch bereit für ihn? Jedes Gefühl in ihr verlor sich in grenzenloser Unsicherheit. Etwas dergleichen mußte er wohl in ihrem Blick lesen, denn er reckte sich plötzlich straff zusammen und ließ ihre Hand nach kurzem Druck los.
»Man muß nicht getrocknete Blumen wieder lebendig machen wollen . . . Ich glaube, Mimi, das ist dein Geschmack so wenig wie der meine. Sieh mal, da draußen in der Schonung, wo das alte Holz niedergeschlagen ist, da wächst das junge Grün am tollsten.«
Er lächelte jetzt, und sie nickte ihm zu mit tränenglänzenden Augen. Dann hob sie noch einmal die Hand und reichte sie ihm mit gutem Druck.
»Auf neue Freundschaft!« rief sie mit einem wunderlichen kleinen Lachen, drehte sich dann schnell um und lief eilig davon, als könnte sie ihren eigenen widerstreitenden Empfindungen entfliehen, wenn sie sich in die Obhut von Tante Kosegarten zurückbegeben würde.
Fritz ließ sie gehen und verfolgte langsamen Schrittes den Waldweg weiter. Er zog eine der großen starken Zigarren, die er zu rauchen pflegte, aus der Brusttasche und steckte sie sorgsam in Brand. Er befand sich in dem behaglichen Geisteszustand eines Mannes, der sich aus einer schwierigen Situation glücklich gerettet und sie nach seinen Wünschen gelenkt hat. Mimi war nun auf dem Weg, auf dem er sie haben wollte.
Fritz kam nach einer Weile auf den Platz am Pavillon zurück. Er fand dort niemand von den Seinen mehr vor. Zipperjahn war beschäftigt, unten am Bach die Tassen und Teller zu spülen und für den Abend neu herzurichten. Es lag Fritz im Augenblick nicht viel daran, wieder mit den Damen und seinem Vater zusammenzutreffen. Er setzte sich vor den Portikus des baufälligen kleinen Gebäudes und überdachte seine Pläne und Absichten für die Zukunft. Debberitz war sehr erfreut gewesen, ihn zu sehen, und sie waren auch schnell wieder in den alten kameradschaftlichen Ton gekommen. Aber als Fritz das Gespräch auf geschäftliche Dinge lenkte, hatte Herr Debberitz sich doch sehr vorsichtig und zurückhaltend gezeigt. Die pompöse Überheblichkeit des guten Theodor, die des alten Herrn Zorn so sehr herausgefordert hatte, amüsierte Fritz außerordentlich. Ja, sie freute ihn beinahe. Er wußte längst, wie die Eitelkeit der Menschen die beste Handhabe bietet, um sie daran zu leiten und sie nach dem eigenen Willen zu regieren. Und er überlegte jetzt nur, auf welche Weise er ihr in diesem Fall die nötige Nahrung zuführen könne, um Thete Debberitz gefügig zu machen und zugleich die Antipathie in seiner Familie zu schonen. Fritz war wie alle Menschen eines unsteten abenteuerlichen Lebens ein wenig abergläubisch. Er vertraute seinem guten Stern, wartete bestimmt auf unvorhergesehene günstige Zufälle, die da helfend eingreifen würden, wo sein Verstand im Augenblick noch keinen Ausweg sah, und war jetzt wie immer fest entschlossen, wenn sein Stern sich ihm nicht günstig erweisen würde, wenn der Zufall ihm hindernd, statt fördernd in den Weg treten sollte, das Unternehmen, um dessentwillen er herübergekommen war, binnen kurzem aufzugeben und irgendeinen neuen Weg zu Glück und Erfolg einzuschlagen.
Als er in seinem Gedankengange bei solchen Erwägungen angelangt war und aufblickend die gewichtige und stattliche Erscheinung des Herrn Theodor Debberitz sich über die Brücke auf den Platz zu bewegen sah, verwunderte ihn dieses Zusammentreffen nicht weiter. Es erfüllte ihn nur mit der ruhigeren Sicherheit, daß sein Glücksstern ihm diesmal treubleiben werde. Er ging dem in seiner Leibesfülle langsam Daherschreitenden mit einem ziemlichen Aufwand von Herzlichkeit und Freude entgegen und rief ihm schon von weitem zu: »Na, alter Junge, du kommst ja wie gerufen! Weißt du, daß wir im Begriff sind, hier meinen allerhöchsten Geburtstag zu feiern, daß aber meine werten Angehörigen in ungebändigter Naturschwärmerei sich im Wald zerstreut haben und mich mit der Maibowle hier ganz allein ließen! Du mußt durchaus ein Glas mit mir trinken. Zipperjahn, hebe die Bowle aus dem Korb im Bach, und bringe Gläser her. Sie wird gerade gut angekältet sein!«
»Nee, nee,« machte Debberitz abwehrend, »Fritzeken, laß jut sein! Du bist ja ein janz famoser Kerl jeblieben, aber mit deinem Ollen, nee, mit dem möcht ich doch hier nicht zusammentreffen!«
»Das sind so kleine Mißverständnisse,« rief Fritz munter, »die gleichen sich schon wieder aus. Mein Vater ist ein jähzorniger, alter Herr, aber seine Ausbrüche sind nicht so ernst zu nehmen.«
Debberitz stemmte die Arme in die Seiten. »Siehste, Fritz, das ist eine vernünftige Anschauung. Im Grunde meine ich's ja jut mit deinen Leuten, man hat doch die alte Anhänglichkeit . . . Aber wie einen Wucherer und Blutsauger mag man sich doch nicht behandeln lassen!«
Fritz lachte. »Das mußt du meinem Vater schon zugute halten,« meinte er gemütlich, »das ist nun mal die alte Anschauung der Landjunker . . . In jedem Geschäftsmanne sehen sie einen Blutsauger oder einen abenteuerlichen Spekulanten. Betrachtet mich denn mein Vater anders? Na also . . . Zipperjahn, schenk ein!« Er hatte seinen Freund untergefaßt und nach dem Pavillon gezogen, nahm nun zwei Gläser aus dem noch unausgepackten Korb und ließ sie von dem herbeigeeilten Zyprian mit Maibowle füllen. »Junge, die scheint gut, da müssen wir uns dranmachen!« rief er lustig. Debberitz stand noch zögernd. »Was wird aber die olle Jnädige dazu sagen?« meinte er, doch schon das Glas aufnehmend.
»Meine Geburtstagsbowle reklamiere ich als Privateigentum!« rief Fritz. »Also – Prosit!«
Debberitz schmunzelte vergnügt. Die Erinnerung an manchen mit Fritz auf heimlichen Schleichwegen erbeuteten guten Tropfen stieg mit dem Duft des Maitranks lieblich in seiner Phantasie empor, und die Begeisterung für den intelligenten, feinen, immer zu tausend überraschenden, tollen Streichen bereiten Jugendkameraden wachte in seinem leeren Herzen wieder auf.
»Prost, alter Junge!« sagte er behaglich mit seiner fett und satt gewordenen Stimme.
Die Gläser klangen aneinander. Debberitz bewegte nach einem langen Zuge schmatzend die Lippen und wischte sich mit seinem Batisttuch die Tropfen aus dem Schnurrbart. »Vorzüglich,« lobte er. »Nee weißte, Fritz, deiner Mutter ihre Bowlen – alle Achtung! Man hat ja so manche Pulle Sekt und so manche Bowle getrunken, aber so 'n Rauschenroder Maitrank, der hat's in sich!«
»Ja,« sagte Fritz und füllte die Gläser aufs neue, »der hat einen Geschmack wie erste Liebe und überdies noch den Vorzug, daß er immer wieder gebraut werden kann, während die erste Liebe . . . Na, reden wir nicht weiter darüber! Was vorbei ist, ist vorbei! Das zweite Glas auf unsere alten und unsere neuen Streiche!«
Debberitz hatte sich nun schon auf einen der breiten weißen Gartenstühle behaglich niedergelassen. Er lachte und schlug sich vergnügt auf die Schenkel. »Nee weißte, Fritzeken, mit den dummen Streichen, da is es bei mir zu Ende! Überlegt wird, aber sehr gründlich, ehe ich ne Chose anpacke – aber denn auch rin ins Geschäft und nich wieder locker jelassen!«
»Scheint dir ja mächtig geglückt mit deinem Grundsatz,« bemerkte Fritz humoristisch, »präsentabler Kerl!« Er schlug ihm lustig mit der flachen Hand auf den stattlichen Bauch.
»Es macht sich, es macht sich,« wehrte Debberitz bescheiden ab. Er holte sein Zigarrenetui hervor und bot es Fritz an. »Echte Importen, feine Jelegenheitschose,« sagte er mit der Miene eines Mannes, der zu leben weiß und die guten Dinge der Welt zu genießen gelernt hat. Fritz bediente sich und lobte die Marke. Debberitz aber sagte, sinnend in das blaue duftende Rauchgewölk blickend, das vor ihm in der Luft wirbelte: »Schade, Fritzeken, daß du noch nicht hier warst, als ich mit deinem Vater wegen des Verkaufs von Rauschenrode anfing. Zwischen uns beiden wäre die Sache jlatt abgeschlossen, und das wäre auch das beste für deinen Vater jewesen.«
Fritz nahm eine kühlere und verschlossenere Miene an. »Das fragt sich doch sehr, mein lieber Junge,« gab er zurück. »Auf den Preis, den du meinem Vater geboten hast, hätte ich mich jedenfalls nicht eingelassen.«
»Aber Mensch!« rief Debberitz, »du kommst hierher und weißt jar nicht, wie die Sachen hier stehen. Jlaube man, ich weiß hier besser Bescheid wie dein Vater selber.«
»Das ist leicht möglich,« meinte Fritz trocken. »Es gibt aber noch andere Wege, um aus der Verlegenheit zu kommen, als den allerletzten, den wir einschlagen würden, nämlich den, unser altes Familiengut für einen Schleuderpreis fortzuwerfen.«
Debberitz faßte mit seinen großen Händen beide Armlehnen seines Stuhls, beugte sich vor und rief höhnisch: »Welchen denn, wenn ich bitten darf? He, welchen denn? Da wär ich doch sehr neugierig! Ich will dir mal was sagen, mein Lieber, ihr seid in meiner Hand, ihr seid janz in meiner Hand! Wenn ich deinem Vater heut abend die Hypothek kündige, da ist er morgen bankrott, verstehste mich? Bankrott ist er, da jibt's keine Rettung! Ihr tätet wirklich vernünftig, den Vergleich, den ich euch aus alter Anhänglichkeit angeboten habe, mit Dankbarkeit anzunehmen.«
Fritz erhob sich von seinem Stuhl und blickte so auf seinen erregten Jugendkameraden nieder. Er begriff in diesem Augenblick, daß sein Vater dem Mann in wildem Zorn die Tür gewiesen hatte. Sein Gesicht blieb ganz ruhig, nur die Mundwinkel zogen sich ein wenig herab und die Brauen in die Höhe, und die Augen bekamen statt der liebenswürdigen Freundlichkeit, die sie sonst widerspiegelten, einen kalten, klugen, überlegenen Blick. »Wir sind also deiner Ansicht nach ganz in deiner Macht . . .« begann er langsam und so gelassen, daß der vom Siegesgefühl berauschte Mann ihn erstaunt anblickte. »Ich kann mir denken,« fuhr er weiter fort, »daß es dir ein teuflisches Vergnügen bereitet, mit uns zu spielen wie die Katze mit der Maus. Ja, ja, ich kann mir das sehr gut vorstellen. – Übrigens sehe ich da eben August herankommen, und es liegt mir daran, über alle diese Dinge einmal eingehend mit dir unter vier Augen zu sprechen. Erlaube also, daß ich dich einen Augenblick verlasse, um meinem Bruder zu sagen, wo er die andere Gesellschaft im Walde finden wird.«
Er ging auf August zu, der in der Ferne stehengeblieben war und ihn mit einem Gesicht, das eitel Mißbilligung ausdrückte, empfing.
»Ich weiß alles, was du sagen willst,« rief ihm Fritz halblaut zu, »ich will auch heute abend noch deine Vorwürfe und Warnungen geduldig über mich ergehen lassen, nur im Augenblick würden sie mich entsetzlich stören.«
August, der blaß und nervös aussah, hatte bei Fritzens Anrede eine Bewegung gemacht, als träte er vor etwas Widerlichem zurück.
»Ich bitte dich, diesen frivolen Ton zu mäßigen,« sagte er heftig, wenn auch leise, »oder . . . oder ich vergesse, daß du mein Bruder bist.«
»Nanu?« fragte Fritz erstaunt.
»Ja,« sagte August, vor ihm stehenbleibend, mit mühsam unterdrückter Leidenschaft, »mögen sie dich alle verhätscheln und um dich herumtanzen, ich will dir nur sagen, daß du mir gar nicht imponierst, daß ich keinen Menschen auf der Welt so wütend hasse wie dich!«
»Herrgott,« sagte Fritz ungeduldig, »das begreife ich ja vollkommen, ich will mich ja heute abend gern mit dir über deine Gefühle auseinandersetzen. Dort oben sucht Mimi Rahlen Maiblumen – sie würde sich freuen, wenn du ihr dabei helfen möchtest! Ich glaube, sie ist gerade in einer Stimmung, die mit der deinen höchst sympathisch zusammenklingen wird!«
August zog gepeinigt das Gesicht zusammen und rieb nervös die Finger. »Ich bitte dich, laß das Mädchen aus dem Spiel, du bist gar nicht wert . . .«
»Sehr richtig,« unterbrach ihn Fritz lebhaft, »ich bin ihrer gar nicht wert, davon ist sie jetzt auch überzeugt. Ich sagte dir ja schon, in eurer Antipathie gegen mich werden eure Herzen harmonisch zusammenklingen!«
August machte eine verzweifelte Gebärde. »Mit dir ist kein ernstes Wort zu reden!«
»Lieber Junge,« rief Fritz, »um Reden handelt sich's hier nicht, es gibt ein besseres Zeitwort, das heißt ›handeln‹. Und wenn du jetzt nicht handelst und die günstige Stimmung zur Eroberung ausnutzest, so bist du der größte Schafskopf, der mir noch begegnet ist! Also adieu und verzeih, wenn ich dich deinen Sternen überlasse, um den meinen zu folgen.«
Er winkte ihm mit der Hand und ging eilig zu Debberitz zurück. August starrte ihm bestürzt nach. In dem Wort ›Schafskopf‹ hatte ein Ausdruck von Herzlichkeit gelegen, der ihn verwirrte und stutzig machte. Jedenfalls würde er bei Mimi Aufklärung finden, und so war es denn schon das beste, er suchte sie auf, wozu er ja auch eigentlich gekommen war, denn er hätte es doch nicht ertragen können, sie dem Einfluß dieses unberechenbaren Bruders für einen ganzen Nachmittag zu überlassen.
Was war denn mit deinem Bruder los?« fragte Debberitz neugierig, als Fritz zu ihm zurückkehrte, »der schien ja ganz aus dem Häuschen.« Er saß in dem weißen Stuhl zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, den Rauch der schweren Zigarre behaglich vor sich hinblasend, ein Bild breiter, würdevoller Ruhe, die die Dinge dieser Welt gemächlich an sich herankommen läßt.
Fritz lächelte. »Der Mensch hat so Stimmungen,« warf er leicht hin, ». . . es könnte sein, daß wir nächstens Verlobung auf Rauschenrode feiern.«
Debberitz nahm die Zigarre aus dem Mund und horchte auf.
»Verlobung? Was du sagst! Doch nicht etwa auf Rauschenrode und Niedernrode?«
Fritz zuckte die Achseln. »Da fragst du mich zuviel! Diskretion Ehrensache!«
»Donnerschock!« stieß Debberitz heraus, »so ein Schlaumeier! Jetzt jeht mir erst ein Dalglicht auf! Hätte den August nie für solchen Schlaumeier jehalten!« Er kaute wütend an seiner Zigarre und warf sie dann mit einer bösen Bewegung beiseite. »Zieht nicht mehr, das Biest,« murmelte er verdrießlich.
»Du meinst, mit der reichen Schwiegertochter im Hintergrunde kann mein Vater den Verkauf von Rauschenrode ruhig abwarten?« fragte Fritz liebenswürdig.
»Hä,« murrte Debberitz, »so gewaltig ist das Rahlensche Vermögen denn doch nicht, und der Bruder kriegt das meiste. Die überschuldete Klitsche hier zu halten, dazu langt's nicht, dazu langt's bei weitem nicht. Da macht euch nur keine Illusionen.«
»Ich glaube auch nicht,« sagte Fritz, »daß August solche Absichten hegt . . . Aber sage mir einmal, was veranlaßt dich denn eigentlich, dein Geld hier hineinstecken zu wollen? Wenn du immer solche Geschäfte machst, versteh ich nicht, wie du zu deinem Kapital gekommen bist.«
Debberitz lachte ein behagliches, sattes Lachen. »Ja, Fritzeken, das is nu sozusagen ne Jemütschose.«
»Solchen Luxus wie Gemütschosen kannst du dir also schon leisten?« fragte Fritz.
»Kann ich, Jungchen – kann ich,« wurde ihm geantwortet.
»Gratuliere!«
Herr Theodor Debberitz strich sich mit der fleischigen Hand, an deren kleinem Finger ein breiter Goldreif mit einem Diamanten blitzte, den hochgedrehten Schnurrbart. »Siehst du, Fritzeken,« begann er zu erzählen, »daß ich Besitzer von Rauschenrode werden wollte – das habe ich mir schon vorgenommen, als ich hier noch auf dem Hof mit nem zerrissenen Hosenboden rumflankierte und meine Mutter in der Küche half. Das war nu immer so eine Phantasie von mir – un dadruff hab ich auch immer hingearbeitet . . . Weeßte, so Sonntags nach der Kirche so als Gutsherr durch die Ställe jehn, so mit der Frau Jemahlin am Arm, de seidene Schleppe übern Kies, un de Kinderchens um einen rumspringen – un denn so durch den Park nach de Jräbers von de Vorfahren – un da so nen Kranz niederlegen . . . weeßte Fritze, unsereens hat ooch sein Herz in der Brust.«
»Hab ich ja vorhin erst gesagt,« bemerkte Fritz ernsthaft, »du bist ein deutscher Idealist.«
Thete Debberitz nickte einverstanden mit dem Kopf. »Na also, nich wahr, wenn man's doch haben kann . . .«
»Gewiß, gewiß,« bestätigte Fritz. »Ich begreife ja auch vollständig, daß man für seine Ideale Opfer bringt . . . Aber, Thete, wenn man alles haben könnte, was man sich wünscht, und daneben noch ein ausgezeichnetes Geschäft machen, das würdest du doch nicht von der Hand weisen? Was? Mit der Landwirtschaft allein ist heutzutage nichts mehr anzufangen, darüber sind wir uns doch beide klar . . .«
»Dadruff laß ich mich schon gar nicht ein,« lachte Debberitz vergnügt. »So schlau sind wir hier auch noch, wir alten Europäer. Wenn du aber meinst, ich soll dir meine Pläne verraten – nee, mein Lieber, so dumm sind wir hier ooch nicht.«
»Ganz wie du willst,« meinte Fritz kühl, »ich habe keine Geheimnisse vor dir. Ich gestehe dir ganz offen und ehrlich, daß ich mit dir Hand in Hand gehen möchte, und daß, wenn ich deine Unterstützung finde, ich auch August und meinen Vater für meine Pläne gewinnen werde. Also höre mal zu: die Wasserkraft des Rauschenfalles wird für ein Elektrizitätswerk ausgenutzt, dem August als Direktor vorsteht. Unten im Tal, wo jetzt die magern Haferfelder liegen, erhebt sich bald ein großes Sanatorium, das die Kraft zu seinen elektrischen Bädern und sonstigen Scherzartikelchen aus dem Elektrizitätswerk empfängt. Die Villen des neuen Kurortes gruppieren sich naturgemäß um das Sanatorium. Eine elektrische Bahn unten im Bogen um die Berge und durch Niedernroder Gebiet bringt uns in direkte Verbindung mit der Residenz Langenrode, mit dem dortigen Hof und der Welt. Denn von Langenrode ist man in vier Stunden in Berlin. Diese Sache wird gemacht, ob mit oder ohne deine Hilfe ist mir gleich. Aber gemacht wird sie! Darauf kannst du dich verlassen! Ist auch eine Jemütschose! Und darum werde ich auch meinem Alten nicht erlauben, daß er Rauschenrode jetzt aus der Hand gibt.«
»Du hast wohl noch ein Fräulein van Gould in Aussicht, die dir die Millionen zu deinen Plänen bereit hält?« fragte Debberitz hämisch.
»Ich mache solche Geschäfte mit Männern. Wenn deutsche Kapitalisten sich nicht dazu bereitfinden, so hole ich mir allerdings das nötige Geld aus Amerika. Ich war nicht zehn Jahre drüben, um ohne Verbindungen zu bleiben. Glaubst du, ich bin nach Deutschland gekommen, um bei Muttern mal wieder Maibowle zu trinken?«
Debberitz hatte lauernd zugehört. Jeder von beiden Männern achtete gespannt auf jede Schattierung im Wort des andern, beobachtete aufs schärfste jede Bewegung der Gesichtsmuskeln des Gegners: zwei Kämpfer, die argwöhnisch und listig gegenseitig ihre Kräfte abschätzen, ehe sie auf den Kampfplatz treten, auf dem jeder zu siegen entschlossen ist. Der eine hatte die breite, brutale Wucht seiner Geldsäcke einzusetzen, der andere die geschmeidige Gewandtheit seiner Intelligenz, und hinter beiden lag die Erfahrung von wechselnden Erfolgen und Niederlagen.
Debberitz stand schwerfällig aus seinem Stuhl auf und reckte die mächtigen Glieder. »Das klingt allens janz schön,« sagte er in einem wegwerfenden und ablehnenden Tone, »wo der Vorteil herausspringen soll, ist mir noch sehr schleierhaft. Nee, nee, ich will mir mit Rauschenrode eine stille Ruhestätte für meine alten Tage erwerben.«
»Ein Kerl wie du,« sagte Fritz, »und spricht von Ruhestätte für seine alten Tage? Du solltest dich was schämen! Mein alter Herr, der hat ein Recht auf Ruhestätte und auf stille Träume bei den Gräbern der Vorfahren. Dem lassen wir das alte rumplige Schloß, den Park – die Jagd.«
»Sonst nicht noch was?« fuhr Debberitz dazwischen.
»Nein, sonst nichts,« sagte Fritz unbewegt. »Das übrige Terrain kaufst du ihm ab. Du gehörst mitten hinein in deine Gründung. Ich sehe schon die Villa Debberitz sich in der Nähe des Bahnhofs erheben. Kolossal – der Palast der modernen Industrie mit allem Komfort der Neuzeit.«
»Nee, nee,« machte Debberitz, »ihr auf dem Schloß bleibt doch immer die Herrschaft.«
Fritz trat an ihn heran und schlug ihn auf die Schulter. »Komme mir doch nicht mit so abgestandenen Begriffen. Bis deine Villa steht, wird dir ein Flügel im Schloß eingeräumt. Du hast deinen eigenen Diener, nimmst teil an den Mahlzeiten der Familie oder nicht, wie es dir paßt . . . kurz, geehrter Gast – Familienmitglied . . .«
Debberitz lachte. »Dazu werden sich deine hochmütigen Leute jerade herablassen. Nee, Fritz, alles oder nischt, is mein Wahlspruch. – Du fängst mich nicht mit deinen schönen Vorspiegelungen! Verschafft ihr euch nur euer Kapital zu eurer Gründung von deinen Yankeefreunden. Wollen mal sehen, ob's rechtzeitig eintrifft, wenn ich die Hypothek kündige.«
In diesem Augenblick ertönte ein ängstlicher Schrei, und man hörte eine Frauenstimme rufen: »Ich rutsche ja, halten Sie mich doch, Kunze, aber so halten Sie mich doch!« Fritz war aufgesprungen und eilte der Gegend zu, woher der Schrei ertönte. Zu seinem äußersten Erstaunen fand er auf einem etwas steilen, vom Heuberg niedergehenden Waldpfade, der zudem durch altes, vermoderndes Laub schlüpfrig gemacht wurde, die Prinzessin Karoline, hochrot im Gesicht, mit ganz verängstigten Augen und krampfhaft den Arm des sie begleitenden Lakaien umklammernd. Die korpulente Dame in ihrem falbelreichen lila Seidenkleid war augenscheinlich wenig an Bergpartien gewöhnt und begrüßte Fritz wie einen Retter in höchster Gefahr.
»Ach, mein lieber, junger Freund!« stöhnte sie, »welch ein Glück, daß ich Sie gefunden habe! Ich habe Ihretwegen diese halsbrecherische Partie unternommen! Hörte durch Trinette, daß heute Ihr Geburtstag ist, wollte Ihnen Glück wünschen. Nett von mir, was? Ohne Gefolge durchgebrannt, was sagen Sie?«
»Vorzüglich, Hoheit,« rief Fritz, »wie soll ich für solche Gnade danken?«
Sie hatte ihre Fröhlichkeit schon wieder gewonnen und kicherte jugendlich kokett, indem sie sich schwer auf ihn stützte; trotzdem glitten ihr die Füße aus, und sie mußte, auf der einen Seite von Fritz, auf der andern vom Lakaien halb gestützt und halb getragen, auf der Wiese und auf sicherm Terrain angelangt sein, ehe sie wieder zu Atem kam.
»Nun sagen mir Hoheit,« fragte sie Fritz, »warum Hoheit diesen unbequemen Weg wählen statt des gutgeebneten Waldwegs, der vom Schloß hierher führt, denn ich nehme doch nicht an, daß Hoheit von Nassenstein aus zu Fuß gekommen sind?«
»Ach, was trauen Sie mir zu. Sie junger Springinsfeld,« rief die Prinzessin und erzählte, ihr Wagen warte vor dem Schloß. Dort habe man ihr mitgeteilt, wo sie die Familie finden werde, und so sei sie denn nach dem Wald aufgebrochen. Ein schmaler, moosiger, grüner Seitenpfad, der ihr so viel romantischer geschienen als die breite Straße, habe sie in die Irre gelockt, und so sei sie auf diesen unbequemen Abstieg geraten.
Fritz führte die fürstliche Dame mit der liebenswürdigen Sorglichkeit, die ihm Frauen gegenüber eigen war, nach dem Pavillon und zu einem bequemen Stuhl, in dem sie sich erschöpft und ächzend niederließ.
»Mon Dieu, bin ich echauffiert!«
Er neigte sich über ihre Hand und küßte sie ehrfurchtsvoll etwas länger und zärtlicher, als es die Etikette gerade geboten hätte. »Hoheit sehen mich sehr beglückt von so viel unverdienter Gnade,« beteuerte er dabei.
Die Prinzessin Karoline betrachtete mit einem wehmütig komischen Gesichtsausdruck ihren Handrücken, der den Kuß empfangen hatte, nickte ein wenig mit dem Kopf und sagte weich und träumerisch: »Ach Jugend, Jugend!«
Fritz fand es nötig, sie ihren gefährlichen Träumereien nicht zu lange zu überlassen, und fragte, ob er nicht Tante Trinette rufen dürfe, sie müsse sich irgendwo in der Nähe auf der Ameisenjagd befinden. Die Prinzessin aber zog Fritz unbefangen an der Hand auf den Sitz neben sich, hielt die kräftige Männerhand zwischen ihren weichen, warmen Fingern und strich mütterlich zärtlich darüber hin, »nein, nein, lassen Sie Tante Trinette nur, wo sie ist. Ich bin nicht Tante Trinettens wegen gekommen.«
Plötzlich aber blickte sie ängstlich um sich. »Kunze, schnell meinen Umhang, es zieht hier ein wenig! Ach, so wird man gemahnt! Gicht, Rheuma – Trinettens Ameisenspiritus! Ach, man ist eine alte, fette Ruine!« Sie blickte Fritz mit ihren sonst so muntern Augen kläglich und hilfesuchend an, als könnte er sie auf irgendeine Weise von diesem unabwendbaren Schicksal befreien, und er wußte sie nicht besser zu trösten, als indem er sich aufs neue über ihre Hand beugte und noch einen Kuß darauf drückte. Dies schien ihr auch wohlzutun. Sie blickte um sich und bemerkte nun erst Herrn Theodor Debberitz, der seinerseits höchst spannende Augenblicke durchlebt hatte.
Er, Thete Debberitz, stand kaum drei Schritte von einem wahrhaftigen Mitglied seines angestammten Fürstenhauses! Obschon er in Berlin der freisinnigen Partei angehörte und den vorgeschrittensten Grundsätzen huldigte, überfiel ihn dieses Bewußtsein wie ein berauschendes Glück. Was hatte man nicht seinerzeit für Geschichten von der Prinzessin Karoline zu berichten gewußt! Wie oft war nicht ihr Name tuschelnd von Ohr zu Ohr geführt worden unter der tugendsam entrüsteten Bürgerschaft von Langenrode-Hirschburg-Nassenstein. So mischte sich denn in Theodor Debberitz die atembeklemmende Achtung vor dem hohen Range der Dame mit einem pikanten Interesse an ihrer Person. Es war abscheulich, daß er vor Spannung und Erregung ganz verlegen wurde, von einem Fuß auf den andern trat und nicht wußte, ob er sich durch irgendeine Anrede bemerkbar machen dürfe oder bescheiden warten müsse, bis Fritz ihn vorstellen würde.
Indessen ließ dieses Ereignis auch nur wenige Sekunden auf sich warten. Dann legte Fritz den Arm um seine Schultern, zog ihn näher zu der Prinzessin heran und fragte sie, ob er die Ehre haben dürfe, ihr seinen alten Jugendfreund Herrn Theodor Debberitz aus Berlin vorzustellen.
Die Prinzessin nahm die Lorgnette vor die Augen und betrachtete mit der Versicherung, daß sie Jugendfreunde rührend finde, den prächtigen Herrn Debberitz von oben bis unten. Er hatte sich mit strahlendem Gesicht tief verneigt und stammelte als Erwiderung die Entschuldigung, man sei ja sozusagen auf dem Lande. Womit er wahrscheinlich andeuten wollte, daß er bedauere, nicht sofort in Frack und weißer Binde vor der Hoheit erscheinen zu können.
»Es muß Hoheit aufs äußerste interessieren,« rief Fritz eindringlich erklärend, »in Theodor Debberitz einen jener Männer kennenzulernen, deren geschäftliches Genie einen großen Anteil hat an dem kolossalen Aufschwunge, den unser Vaterland in den letzten Jahren genommen hat, und der die ganze übrige Welt mit Furcht und Bewunderung erfüllt.«
Hier fand Herr Debberitz, von der Fülle dieses Lobes überwältigt, es an der Zeit, einzugreifen und zu erklären, daß er ein bescheidener Mann sei, obschon er ja manches vor sich gebracht habe. Die Prinzessin aber winkte ihm ab und rief ungeduldig, mit ihren muntern Augen von einem zum andern blickend: »Nicht stören, weiter, weiter! Sehr interessant alles dieses! Handel, Industrie – Industrie ist Trumpf, sagt mein Bruder, der Herzog. Ich bin begeistert, in Ihnen, Herr von Debberitz, einen Vertreter jener Kreise kennenzulernen.«
Theodor Debberitz schmunzelte.
Das Wörtlein »von« gefiel in so naher Verbindung mit seinem Namen seinen Ohren allzu wohl.
Fritz aber sagte: »Hoheit fühlen mit Recht, daß ein Mann, der im Begriff steht, seiner engern Heimat von unermeßlichem Nutzen zu werden und durch ein neues riesiges Unternehmen diese Gegend zu ungeahnter Blüte zu bringen, ihr sozusagen die Goldströme des internationalen Verkehrs zuzuführen, in erster Linie den Adel verdient und sicher auch in nicht allzuferner Zeit von seinem Fürsten für seine immensen Verdienste damit belohnt werden wird.«
»O,« rief die Prinzessin, »immense Verdienste! Gewiß wird mein Bruder, der Herzog, nicht verfehlen . . . wenn ich auch selbst natürlich wenig Einfluß habe.«
Es geschah Herrn Debberitz, daß er errötete wie ein junger Bursche, während der Regen von Fritzens Lobeserhebungen sich über sein Haupt ergoß. Noch vor wenigen Minuten würde er diese reklamehaften Anpreisungen als ein plumpes Geschäftsmanöver einfach verlacht haben. Er erkannte sie auch jetzt als ein solches, aber sie eröffneten ihm zugleich neue Ausblicke, die ihm mit einem Male einen ganz neuen Weg für seine Ziele zeigten. Durch die neckische Art, in der Fritz mit der Prinzessin verkehrte, hatte Debberitz ja erst einen Einblick gewonnen, wie es eigentlich unter diesen Leuten herging, wie nahe sie zusammenhingen, wie fest und sicher das Band geschlungen war, das diesen Kreis verband. Nein, nicht indem er die Familie von Kosegarten aus ihrem Besitz vertrieb und sich an ihre Stelle setzte, würde es ihm gelingen, Einlaß in den heiligen Zirkel zu finden, sondern im Gegenteil, im Anschluß an sie, von ihr geschoben und geführt, mit ihr durch tausend Interessen verknüpft und, wer weiß – am Ende gar durch Familienbande verbunden. Alle diese Erwägungen zogen, wenn auch nicht ganz klar formuliert, blitzschnell an seinem Geist vorüber. Und so geschah es, daß er Fritzens Vorschläge in einem andern Licht erblickte und mit einigen Möglichkeiten zu rechnen begann, die ihm bisher noch nicht aufgegangen waren.
Die bei Herrn Debberitz stattfindende innere Veränderung in der Betrachtungsweise von Fritzens Vorschlägen wurde äußerlich von ebendiesem durch eine verlockende, mit den heitersten Farben geschmückte Ausmalung des neuen Weltbades Rauschenrode-Hirschburg-Nassenstein begleitet.
Die Prinzessin zeigte sich begeistert von dem Bilde, das er ihr im Stil eines amerikanischen Reporters entwarf. Sie klatschte in die Hände wie im Theater und tief mehrfach: »Bravo, bravo, bravissimo! Das wird ein anderes Leben hier werden, da werden wir uns amüsieren können. O, man wird Toiletten hier sehen – nicht nur die gehäkelten Tücher der Sommerfrischenmütter. Wir werden doch Kurkonzerte haben, nicht wahr? Könnten Sie nicht eine Rulette aufstellen lassen? Ach, bitte, bitte! Das wär so nett!«
»Wer weiß, was alles im Schoß der Zukunft verborgen ruht,« orakelte Fritz munter drauflos.
Debberitz aber sagte ernst und gewichtig: »Hoheit, die Chose ist noch nicht spruchreif. Solche Gründung will überlegt werden. Der Deubel auch! Dabei handelt sich's nicht um einen Pappenstiel.«
»O, Herr von Debberitz,« rief die Prinzessin bittend und die Lippen aufwerfend wie ein schmollendes Kind, »überlegen Sie nicht zu lange! Es wäre süperb, wenn wir nächsten Sommer schon die Kurkonzerte hätten – und ein kleines Jeuchen!«
Sie beugte sich vor, blickte ihn mit einem ihrer koketten Schelmenblicke in die Augen und tippte ihn aufmunternd mit dem Fächer auf den Arm.
Obwohl Prinzessin Karoline dem fünfzigsten Jahre näher stand als dem vierzigsten, rann Theodor Debberitz dennoch bei dieser leichten Berührung ein Schauer der Wonne durch die Glieder. Er bemühte sich, gnädig gewährend und zugleich dankbar beglückt zu lächeln, und sagte mit einem tiefen Atemzuge: »Hoheit können versichert sein, daß Theodor Debberitz alles tun wird, was in seinen Kräften steht, um Hoheits Wünsche zu erfüllen!«
Die Prinzessin schlug mit einem kleinen jugendlichen Jauchzer in die Hände und rief: »Das wird schrecklich . . . Nun wird man wieder niemals genug Geld haben!« Sie wandte sich vertraulich zu Fritz: »Ach, Herr von Kosegarten, diese ewigen Geldkalamitäten! Gar nicht nett, gar nicht nett für eine Prinzessin!«
»Begreife ich vollkommen . . . Sollte auch niemals einer Dame, wie Hoheit sind, nahetreten. Aber es gibt da eine Abhilfe . . .« Und sich zu der Prinzessin niederbeugend, flüsterte er ihr mit dem zärtlichsten Tonfall seiner liebenswürdigen Stimme ins Ohr: »Haben Hoheit schon einmal das Wort ›‹Aktien gehört?«
»Gewiß doch,« rief die Prinzessin stolz, »Aktionäre – Millionäre, ist das nicht etwas Ähnliches?«
»Nun, Hoheit,« sagte Fritz, während Debberitz in ein pruschendes Lachen verfiel, »zuweilen trifft beides zusammen, zuweilen weniger, zuweilen auch gar nicht! Wer aber eine genügende Anzahl der Aktien des Elektrizitätswerkes Rauschengrund sowie des Weltbades Rauschenrode-Nassenstein erwirbt, der, Hoheit, das darf ich wohl mit der Überzeugung eines ehrlichen Mannes behaupten, dürfte dem Millionär um eine beträchtliche Stufe nähergerückt sein!«
Die Prinzessin griff nach Fritzens Arm und drückte ihn in der Freude ihres Herzens ungeniert an ihre Brust. »Lieber Herr von Kosegarten, verschaffen Sie mir von diesen netten Aktien! O, seien Sie lieb, verschaffen Sie mir von diesen netten Aktien, so viel, wie Sie können!«
»Hoheit,« sagte Fritz, »nicht ich bin der Verfüger über diese Aktien. Hier steht der Gründer!« er wies auf Debberitz. »Mein Freund wird dafür sorgen, daß das Wort »Geldverlegenheit« niemals wieder in Hoheits Umkreis genannt werden darf. Thete, was sagst du zu unserer ersten Aktionärin?«
Debberitz strich sich mit sichtlicher Befriedigung den Schnauzbart. »Donnerschlag, nicht übel, gar nicht übel! Bist doch ein ganz jeriebener Hund, Fritzeken!«
»Wo die Prinzessin vorangeht,« sagte Fritz, »da folgt auch der Hof, folgt sicher die Bürgerschaft. Hoheit, dürfen wir auf Ihre Bundesgenossenschaft rechnen? Dürfen wir Sie zu den Mitgründern unseres Projektes zählen?«
Die Augen der Prinzessin blitzten, sie erhob sich mit einem plötzlichen Ruck aus ihrem Sessel und rief begeistert: »Bundesgenossenschaft, süperb! Ich, ich werde Ihre Bundesgenossin sein!« Sie reichte jedem der Männer eine ihrer weißen warmen, ringgeschmückten Hände, Fritz neigte sich über die ihm gebotene und drückte feurig seine Lippen darauf und – Deibel auch – warum sollte Debberitz nicht das gleiche tun?
Er war entschlossen, Fritzens Pläne zur Ausführung zu bringen. Die Prinzessin Karoline war wahrhaftig immer noch eine schöne, verführerische Frau, und wilde Hoffnungen durchwogten die Brust von Theodor Debberitz.