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August ritt durch das Dorf, durch die maiengrünen Saatfelder. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu einer kleinen Szene aus ihrer Kinderzeit zurück. Ihr gemeinsames Spielen war ein unaufhörliches Streiten gewesen, und Fritz hatte immer herrisch seinen Willen durchzusetzen verstanden. Einmal baute er aus Tuffsteinen, Erde und Brettern eine Burg im Garten, auf der sich ein künstlicher kleiner Turm befand. Um die Spitze dieses Turmes zu schmücken nahm Fritz eine blaue Glaskugel, die in Augusts Spielschränkchen stand und seine höchste Wonne bildete. Fritz hatte ihn gar nicht darum gefragt, Vater und Mutter, Hilde und Mimi Rahlen mußten das Kunstwerk bewundern, und alle fanden, gerade die blaue Glaskugel auf der Spitze des Tuffsteintürmchens gäbe den wirkungsvollsten Abschluß.
August stand dabei, finster und verdrossen, verzweifelte innerlich an sich, weil er nicht den Mut fand, seinem Bruder in die Haare zu fahren und vor aller Augen die Kugel herunterzureißen, begnügte sich aber schluckend und schluchzend zu stammeln: »Die Kugel ist mein! Die Kugel ist mein, und Fritz hat sie mir gestohlen!«
Die Mutter sagte, es sei häßlich, seinen Bruder mit solchen Worten zu beschuldigen. Fritz habe sie gefragt, und sie habe ihm erlaubt, die Kugel zu nehmen. Alle redeten auf August ein und verlangten von ihm, er solle etwas bewundern, was ihn doch nur mit Zorn und Schmerz erfüllte. Er war nun einmal so, er mochte sein Spielzeug kaum benutzen, alles, was er besaß, hielt er sorglich bewahrt in seinen Schränken und Schubladen, sich ruhig und zufrieden des Besitzes erfreuend, während Fritz schon damals die wunderlichsten und gewagtesten Dinge mit seinem und anderer Leute Eigentum unternahm.
August bog in die Ulmenallee, die am Niedernroder Park entlang führte, und ritt in einer Art von dumpfen Träumen langsamen Schrittes unter den Bäumen dahin.
Als er sich dem Torweg näherte, durch den man den Blick auf das weiße, breit am Ufer des großen Teiches hingelagerte Schloßgebäude hatte, faßte er die Zügel fester und wollte schnell vorüber, denn er war nicht in der Stimmung, mit den Bewohnern nachbarliche Grüße zu tauschen. Doch ein Diener war beschäftigt, die Torflügel zu öffnen, und dicht dahinter hielt Mimi auf dem Rücken ihrer braunen Stute, den Reitknecht neben sich, zu ihrem täglichen Morgenritt durch die Felder bereit. Sie winkte mit der Gerte und rief ihm einen fröhlichen Gruß zu. Er konnte nicht anders, als warten und sie herankommen lassen.
»Verzeih,« sagte er etwas verlegen, »ich bin eilig, ich muß zum Zwölfuhrzug auf die Bahn.«
»Wen erwartet ihr denn?«
August wurde rot. »Es ist vielleicht ein Käufer,« murmelte er und fühlte den Blick des Mädchens beobachtend auf seinen Zügen.
Sie beugte sich zu ihm herüber.
»August,« fragte sie herzlich, »was hast du? Du siehst aus – ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll . . . Ja, es ist etwas so Hartes, Drohendes in deinem Gesicht, was ich gar nicht an dir kenne.«
»Ich glaube nicht, daß du mein Gesicht so genau beobachtet hast, um alle seine Ausdrucksfähigkeiten zu kennen,« antwortete August traurig.
»Doch, doch!« versicherte sie. »Ich will dir ja eine gute Schwester sein, da muß man den Bruder ordentlich kennenlernen. Meinst du nicht auch?«
Er seufzte und blickte nach dem Reitknecht, der diskret zurückgeblieben war. »Das mit dem Bruder- und Schwesterspielen bleibt ja nur Komödie.«
Mimi lächelte. Die warme Morgenluft gab ihrem zarten, blonden Gesicht einen Teil der Frische wieder, die die Jahre schon zu nehmen begonnen hatten. »Wenn es auch anfangs nur Komödie ist,« sagte sie heiter, »so wollen wir uns dadurch nicht hindern lassen, und aus der Komödie wird mit der Zeit hoffentlich eine gute Wahrheit. Also, lieber August, ich will einmal deine Vertraute sein, und nun beichte mir auf der Stelle, was dich so erschüttert hat!«
Sie sah, den Kopf zu ihm hinwendend, mit einem lieben Blick in seine Augen. Er starrte ihr feindlich ins Gesicht.
»Willst du wissen, wen ich erwarte?« fragte er und machte eine Pause. »Fritz kommt mit dem Mittagzug aus Amerika zurück. Da hast du es.«
Das rosige Gesicht vor ihm wurde weiß, die Lippen zitterten, und in den weitgeöffneten Augen sammelten sich Tropfen, die langsam auf die erblaßten Wangen niederglitten. Er sah das alles, und in dem unerträglichen Schmerz, den es ihm verursachte, entdeckte er mit Genugtuung, wie sehr er Mimi liebte; weiß Gott, es war nicht ihr Vermögen, das ihn zu ihr hingezogen hatte.
»Fritz kommt! Fritz kommt!« wiederholte sie zweimal ganz leise, wie etwas das sie auswendig lernen mußte, um es zu begreifen. Sie hatte völlig die Herrschaft über sich verloren. August griff nach den Zügeln ihres Pferdes.
»Mimi, geht dir das so nahe?« fragte er, und sie senkte den Kopf und ließ ihre Tränen strömen. So ritten sie eine Weile dicht nebeneinander, indem er ihr Tier am Zügel führte und ihr Zeit ließ, sich zu fassen. Dann sah sie ihn mit dem hilflosen Blick eines kleinen Kindes an und murmelte demütig: »Du bist so gut zu mir, und ich danke es dir so schlecht.«
»Du kannst ja wohl nicht anders,« murmelte er, »aber du tust mir leid. Ob Fritz einer so treuen Erinnerung würdig ist?«
»Ach – würdig!« sagte Mimi, und ihr Gesicht wurde wieder rosig und bekam ein verklärtes Lächeln, »was heißt denn würdig? Auf würdig kommt es doch gar nicht an in der Liebe!«
Er zog einen Bogen, der arg zerknittert, mit vielen Tränenspuren bedeckt war, aus der Brusttasche und gab ihn Mimi.
Sie las das kurze Schreiben. Plötzlich blickte sie mit gänzlich verändertem, glückstrahlendem Ausdruck zu ihm auf. »Siehst du,« rief sie jubelnd, »das ist Fritz, wie er immer war. Ich finde es geradezu wundervoll.«
»Nein, Mimi – deine Auffassung ist törichte Mädchenschwärmerei. Ihr alle werdet es mir einmal danken, wenn ich Fritz deutlich mache, daß er in unsern Kreis nicht mehr gehört.«
»Nun,« rief Mimi heftig, »wenn seine Familie ihm die Aufnahme verweigert, so wird er an einem andern Ort eine Heimat finden. Ja, August, dagegen kannst du nun gar nichts tun! Ich werde auf dem Bahnhof sein, und Fritz wird als mein Gast mit mir nach Niedernrode kommen!«
»Und weißt du denn, ob Fritz auf dieses großmütige Anerbieten wird eingehen wollen?«
Ihr Antlitz leuchtete vor Freude.
»Ich weiß es, ich fühle es,« rief sie erglühend, »ein Gefühl, so lange festgehalten, kann nicht täuschen!«
Sie ritten in scharfem Trab weiter. Keins hatte dem andern mehr ein Wort zu sagen.
Endlich begann August: »Mimi, du weißt, daß ich dich sehr liebhabe, und darum will ich nicht, daß du Torheiten begehst, deren Folgen sich gar nicht absehen lassen. Ich verspreche dir, daß ich Fritz heute abend nach Rauschenrode bringe. Aber nun bitte ich dich, sei vernünftig, kehre um und lasse mich Fritz allein empfangen!«
Sie hob den Kopf und blickte ihn zweifelnd an.
»Ob ich dir vertrauen darf?« fragte sie sacht.
»Ich glaube, daß ich dir noch niemals Gelegenheit gegeben habe, an mir als Ehrenmann zu zweifeln,« antwortete August kalt.
»O, August, gewiß nicht! Und was du heute tust, das will ich dir nie vergessen, dafür werde ich dich immer liebhaben, so lieb, wie du es gar nicht glauben kannst!«
Er schüttelte mit einem gequälten Ausdruck den Kopf, und sie rief: »Jetzt reite ich nach Rauschenrode hinauf und sage Tante Kosegarten, daß sie zwei herrliche Söhne hat!«
Sie nahm ihre Gerte unter den Arm und reichte die Rechte August zu festem Druck. Dann wendete sie und sprengte in lebhaftem Tempo die Allee zurück.
August strich mit der Hand über die Stirn, an seinen Schläfen hatten sich kalte, feuchte Tropfen gesammelt. Er biß die Zähne übereinander und dachte wie in einem Krampf immer nur an das eine: Man muß schließlich ein Ehrenmann sein.
Mimi fand Rauschenrode in unruhevollen Vorbereitungen zum Empfang des fürstlichen Gastes. Ein Gärtnerbursche rannte eilfeltig an ihr vorüber die Rampe zum Gartensaal hinauf. Aus der geöffneten Küchentür am Ende des Seitenganges drang das Klirren und Klappern von Töpfen und Porzellan und Schottenmaiers würdevoll befehlendes Organ. Der Flur selbst, wo sonst eine behagliche Unordnung alter Mäntel, vertragener Hüte, abgenutzter Regenschirme und alter Wagendecken zu lagern pflegte, war sorgfältig von all den Kleidungsstücken befreit und machte in seiner ungewohnten Kahlheit einen beinahe feierlichen Eindruck. Auch das Wohnzimmer war leer.
»Die gnädige Frau ist bei der Toilette,« berichtete ein stürmisch an Mimi vorüberlaufendes Hausmädchen, »und Fräulein Hilde ist in der Küche. Die Prinzessin Karoline wird ja zum Frühstück erwartet, wissen das gnädige Fraulein es nicht?«
»So – die Prinzessin?« sagte Mimi verwundert. Indem sie verwirrt dastand und überlegte, ob es statthaft sei, Frau von Kosegarten bis in ihr Schlafzimmer zu verfolgen, trat Marie selbst ins Zimmer, in schwerer Seide rauschend, das große, gütige Gesicht von weißen Spitzenbarben umflattert. Zu allem stattlichen Prunk trug sie einen Haufen abgetragener Männerkleider auf dem Arme. Mimi flog ihr entgegen und warf sich ihr mit einer stürmischen Bewegung um den Hals.
»Tante, Tantchen, liebstes, bestes Tantchen, er kommt! er kommt! Ja, freust du dich auch so unmäßig wie ich?«
»Ach, Mimi, Kind, ich weiß nicht mehr, ob ich mich freuen darf! Es ist zu viel auf einmal! Mein Kopf kann es nicht bewältigen!«
Mimi sah die alte Frau gerührt an. Es war seine Mutter, die Mutter des Mannes, dessen Bild sie jeden Abend in diesen vergangenen elf Jahren geküßt hatte. Sie streichelte ihre Hände, nahm ihr die Kleider vom Arm, fragte, ob sie ihr in irgendeiner Weise helfen könne, und was es für eine Bewandtnis mit diesen alten Sachen habe. Und dazwischen sagte sie plötzlich, ohne eine Antwort abzuwarten: »Tante, übrigens es war ein Glück, daß ich August auf der Chaussee begegnet bin. Weißt du, was der für Absichten hatte? Er wollte dir deinen Jungen mir nichts, dir nichts übers Meer zurückschicken, ohne daß du ihn zu sehen bekommen hättest. Ja, weiß Gott, das wollte er! Ich bin ganz irre an August geworden!«
Frau von Kosegarten hatte eine von den abgetragenen Männerhosen aufgenommen und hielt sie gegen das Licht.
»Meinst du, daß die Hose noch ginge?« fragte sie verzagt, »sie scheint mir schon reichlich schäbig. – Mimi, Kind, vielleicht wäre es schließlich das beste gewesen, der Junge wäre drüben geblieben . . . Er bringt uns nur Unfrieden ins Haus.«
Mimi lachte ein kleines, helles, aber etwas unnatürliches Lachen. »Tante, du wirst doch nicht so feige sein, du wirst doch Mut haben?«
»Ach, Mut,« murmelte Marie Kosegarten zerstreut, »das sagt sich so . . . Kind, Kind, ich kann mich mit dem lieben Gott einmal wieder gar nicht einigen! Nun erhört er mein Gebet, schickt mir den Jungen und schickt ihn mir so . . . daß man die alten Sachen, die man im Dorfe verschenken wollte, für ihn heraussucht . . .«
Mimi richtete ihre schlanke Gestalt in dem schwarzen Reitkleid noch höher auf und machte ein verächtliches Gesicht.
»Du hast zu viel Angst vor August, Tantchen!« sagte sie mit einer liebenswürdigen Lehrhaftigkeit im Tone. »Glaube mir, der ist nicht halb so unnahbar, wie er aussieht, den kann man um den Finger wickeln, wenn man nur will!«
Trotz ihrer Verwirrung blickte Frau von Kosegarten das junge Mädchen mütterlich beobachtend an.
»Ja, Mimichen, wenn du meinst, daß du ihn um den Finger wickeln kannst,« sagte sie bedächtig, »warum versuchst du es denn nicht?«
Mimi lachte verlegen. »Du, Tante,« sagte sie ablenkend, »wir wollen wirklich sehen, was von diesen Geschichten noch für Fritz zu brauchen ist. – Darf ich dir die Strümpfe hier stopfen?« fragte sie schmeichelnd mit einem so innigen, weichen und lieben Ton, daß Frau von Kosegarten nicht anders konnte, als ihr einen schnellen Kuß auf die Wange zu drücken.
Hilde kam herein, zwei Vasen mit großen Blumensträußen im Arm balancierend, und hatte für hundert wirtschaftliche Anordnungen in aller Eile die Genehmigung der Tante einzuholen. Etwas erstaunt beobachtete sie Mimi, die sich nach einer flüchtigen Begrüßung auf den Tisch ans Fenster gesetzt hatte und aufs eifrigste an einer grauen Männersocke stopfte. Ohne die wirtschaftliche Konferenz der beiden andern Frauen zu beachten, begann sie verträumt vor sich hinzusingen:
»Und wär ein König ich, und wär die Erde mein,
Du wärst in meiner Krone doch der schönste Stein!«
Marie zog Hilde zu sich heran und flüsterte ihr mit einem kleinen verschmitzten Lächeln ins Ohr: »Sieh mal, ich war wirklich ganz böse mit dem lieben Gott, und nun – ja, Hilde, sollte der liebe Gott am Ende doch wissen, was er tut?«
Hilde ordnete freundlich die weißen Spitzen auf dem grauen Scheitel von Frau von Kosegarten und antwortete dabei munter: »Tantchen, es scheint mir beinahe, als habe er seine Absichten. Aber was soll denn das alte Zeug hier?«
»Ja, ja,« rief Frau von Kosegarten, »es ist ja ganz dämlich von mir, die Sachen hierherzuschleppen, ich bin überhaupt vollständig von Sinnen, sage gewiß lauter Dummheiten zur Prinzessin, und dann sind mein Mann und Trinette böse mit mir. Mimi, Kind, du bleibst doch auch zum Frühstück?«
Mimi sprang vom Tisch herunter und kam mit der fertigen Arbeit angelaufen. »Tantchen, ich bin ja nicht in Toilette! Ich bliebe sonst heute so gern bei euch. Der Reitknecht könnte nach Niedernrode Botschaft bringen, damit sie mich nicht zu Mittag erwarten. Wenn mir Hilde irgend etwas Helles borgen könnte?«
»Aber natürlich, Kind,« rief Marie herzlich, »es ist mir solch ein Trost, wenn du bei mir bist!«
In diesem Augenblick hörte man einen Wagen auf den Hof fahren, und Zipperjahn stürzte herein. »Gnädige Frau, der herzogliche Landauer! Der Herr und Schottenmaier stehen schon vorn an der Haustür!«
»Ich komme! Ich komme!«
»Aber die Hosen laß hier, Tantchen, sie sind ja doch nicht für die Prinzessin bestimmt!« rief Hilde lachend und entriß Frau Marie das Kleidungsstück, das sie in ihrer Aufregung und Verwirrung auf dem Arme behalten hatte, indem sie zum Empfang des hohen Gastes hinauseilte.
Die Mädchen stopften in aller Eile die umherliegenden Kleider in irgendeine Schublade, ordneten die Blumen auf den Tischen und liefen dann, um nicht mit dem fürstlichen Gaste zusammenzuprallen, durch die hinteren Korridore in Hildens kleines Zimmer. Als Mimi sich ihrer schwarzen Taille entledigt hatte und eben eine von den seidenen Blusen anproben wollte, die Hilde ihr zur Auswahl gereicht hatte, warf sie plötzlich beide Arme um den Hals der Jugendfreundin und küßte sie stürmisch. »Hilde, Hilde, er kommt ja! Er kommt ja!«
»Unsere Jugend bringt er uns nicht zurück,« sagte Hilde leise.
»Mädchen – mein Herz klopft so – bin ich alt – bin ich häßlich geworden?«
Hilde schüttelte den Kopf. »Mimi – kommt es denn auf dich an? Wie kommt er zurück . . .«
»Glücklos, damit ich ihm Glück schenken kann!«
Ein ganz feiner, spöttischer Zug glitt um Hildens klugen Mund. »Wird er das Glück auch noch von dir wollen?« fragte sie zögernd.
»Hilde, hat er mich nicht in seinem vorletzten Briefe grüßen lassen? Siehst du, dieser kurze Gruß hat so viel in mir geweckt, hat nach allem Schwanken, Bangen und Zagen mich wieder so sicher gemacht!«
Hilde reichte mit ihren schnellen, festen Bewegungen einen hellen Rock aus ihrem Kleiderschrank und bemerkte kühl ablehnend in die freudige Begeisterung hinein, man müsse sich jetzt anziehen, denn sie habe unten noch zu tun.
Während sie sich selbst das Haar ordnete, konnte sie doch nicht umhin, die Bemerkung zu machen: »Ich verstehe es nicht ganz, Mimi, daß du einem Manne so eisern die Treue hältst, der dich doch verlassen hat!«
»Verlassen?« rief Mimi heftig, »sage das häßliche Wort nicht. Von Graf Kessenbrock kann man's sagen, der sich feige zurückzog, als die ganze Meute der Klatschweiber über dich herfiel. Das war erbärmlich, darüber sind wir uns alle einig!«
»Nenne den Namen nicht,« murmelte Hilde, »ich kann ihn nicht hören!«
»Ja, ja, gewiß, verzeih! Aber sieh, Fritz mußte gehen, er mußte sich eine Stellung zu erwerben suchen, in der er vor meinen Vater treten und um mich werben konnte.«
»Nun, deshalb allein ging er doch wohl nicht,« bemerkte Hildes nüchtern.
»Freilich, freilich nicht, er war ja ein wenig leichtsinnig gewesen, das muß ich schon zugeben . . . Er war ja auch sehr jung damals . . . Sieh, jetzt bin ich Herrin meines eigenen Vermögens und kann dem folgen, was mein Recht und mein Glück ist . . .«
»Ich meinte,« sagte Hilde nachdenklich, »oder es kam mir in der letzten Zeit oft so vor, als ob deine Gefühle sich verändert hätten.«
Mimi hielt ihre beiden, ein wenig zu mageren Arme erhoben, um ihr schönes blondes Haar auf dem Kopfe zu einem Knoten zu winden. Indem sie mit etwas unnötiger Energie eine Schildpattnadel hindurchsteckte, sagte sie: »Hilde, wenn man zweimal lieben könnte . . .«
»Kann man es nicht?« fragte Hilde, »es gibt Beispiele in der Geschichte . . . Nun, August ist ja viel zu stolz, wie er uns heute morgen erzählte, jemals um ein reiches Mädchen zu werben.«
Mimi brach in helles Gelächter aus. Hilde sah sie überrascht an und rief: »Er hat also doch . . .«
»Ich verrate nichts,« sagte Mimi, und die Rosenröte, die ihr feines, blondes Gesicht übergoß, vollendete den Satz in unzweideutiger Weise.
»Aber, Hilde, das kannst du mir glauben,« sagte sie ernsthaft, »wir Mädchen fühlen es ganz deutlich, ob ein Mann uns um unseres Geldes willen heiraten will, oder ob er uns liebt. Ich halte August viel zu hoch, um auch nur einen Augenblick anzunehmen, das Geld, das ich vielleicht in die Ehe bringe, könnte irgendeine Rolle bei ihm spielen.«
»Du sprichst ja sehr warm für einen Mann, dem du eben einen Korb gegeben hast,« bemerkte Hilde.
»August ist mein Freund,« sagte Mimi ernst.
Hilde half der Freundin die Bluse schließen und zog sie dann hinaus. »Wir müssen uns eilen,« mahnte sie. »Wenn nur dieser schreckliche Prinzessinnenbesuch erst überstanden wäre! Ich sehe für die nächste Zeit keine behagliche Stunde voraus. Daß du für die beiden Brüder so warme und doch so verschiedene Gefühle hegst, wird die Wiedersehensfreude zwischen ihnen auch nicht gerade steigern!«
Mimi starrte Hilde erschrocken an. »Du – ich habe vielleicht eine große Dummheit gemacht? August ist eifersüchtig wie ein Satan; ja – du kennst ihn eben nicht! Euch scheint er immer so gelassen, aber er ist eifersüchtig! Ich werfe mich aufs Pferd und reite hin. Laß nur, ich schürze mir das Kleid und ziehe deinen Regenmantel darüber, das habe ich hundertmal schon getan! Ich muß! Ich kann hier nicht sitzen und essen und trinken, während Fritz kommt und als erste Begrüßung feindliche und böse Worte hört. Also bitte, hindere mich nicht. Alles ist einmal aus den Fugen, und darum mag auch das Ungewöhnliche entschuldigt werden!«
Hilde blickte ihr kopfschüttelnd nach, während sie behende davonlief, um selbst den Reitknecht zu benachrichtigen, daß er ihr Pferd wieder sattle. Hilden, die seit so vielen Jahren nur noch der Vernunft ein Recht über ihr Empfinden eingeräumt hatte, war Mimis verworrener Gefühlszustand einigermaßen verwunderlich und nicht sehr sympathisch.