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Ein preußischer Edelmann.

Die »Internationale Liga der Völker« hatte Wort gehalten. Noch waren nicht zwei Jahre vergangen: am 24. Februar war der Thron von Orleans in den Staub geschleudert, in Paris all das Wogen des tollsten republikanischen Fraktionskampfes, in Wien am 13. und 14. März die Revolution ausgebrochen und Metternich verjagt, in München und Dresden Emeuten, Schleswig-Holstein hatte sich erhoben und proklamierte eine provisorische Regierung, Mailand und Venedig schwangen offen die Fahne der italienischen Unabhängigkeit und der Losreißung von Österreich.

In Berlin, der sonst so soliden, nur in Satire und Gassenhauern Opposition machenden Hauptstadt des deutschen Nordens, hatte am 18. der Kampf begonnen und war am 19. fortgesetzt worden.

Sonntag Reminiscere! Es war am Abend des 19. März. Der Mond warf sein klares friedliches Licht auf den ruhigen Spiegel des schönen Havelbeckens, das sich zwischen den leichten waldigen Höhen um die grüne Fischerinsel Pichelswerder schlingt, eine Waldidylle der sandigen Mark, wie man sie nicht freundlicher für einsames Träumen sich wünschen könnte.

Das Immergrün der Nadelhölzer auf den südlichen Bergwänden warf dunkle Schatten auf das Wasser; nur hin und wieder ward der funkelnde, sich weithin dehnende Silberstreif des Mondes auf der leise rauschenden Wasserfläche durch die schlanken Stangen und Reifen der Hamen unterbrochen, welche die Fischer ausgestellt.

Dunkel und ruhig lagen die wenigen Fischerhütten auf Gelände und Insel, drüben vom Fischerdorf her bellte ein zänkischer Hofhund, sonst atmete alles Frieden.

Im Fahrwasser an den Höhen entlang von Spandau her kam ein großer vierruderiger Kahn und wendete sich jetzt der Mitte des Beckens zu, um hier die Strömung besser zu benutzen. Der Kahn trug außer den vier Ruderern noch eine gleiche Anzahl von Personen. Auf dem Mittelbrett vor den Ruderern saßen ein Mann und eine Frau. Der erstere war von hoher Gestalt und breiter Brust, so weit es der weite Mantel, in den er sich gehüllt, erkennen ließ. Ein runder Hut war tief in seine Stirn gedrückt.

Die Dame neben ihm hüllte sich schauernd in ihren Pelz, denn die Luft, die über das Wasser her strich, war frisch, ja kalt. Ein dunkler Hut mit dichtem Schleier bedeckte ihr Gesicht.

Im Stern und im Schnabel des Bootes saßen zwei Offiziere in Feldmützen. Der zuweilen vom Luftzug geöffnete Paletot zeigte die Uniform des Genie-Korps, auch die vier Ruderer trugen Pionier-Uniform, waren aber unbewaffnet. Wenn dagegen jener Luftzug die Mäntel der Offiziere hob, konnte ein scharfes Auge den Beschlag der Pistolenkolben im Mondlicht blinken sehen, die aus ihrer Brusttasche ragten. Die Augen der beiden Offiziere spähten fortwährend scharf umher nach den Ufern, nach dem Wasserspiegel, oder bewachten aufmerksam jede Bewegung der Ruderer. Von Zeit zu Zeit gab der Offizier im Stern des Kahns eine leise Anweisung an die Ruderer und ermunterte sie zu größerer Anstrengung.

Plötzlich erhob sich der Offizier an der Spitze des Bootes zu halber Höhe, stützte sich auf ein Knie und schaute, die Augen mit der Hand bedeckend, scharf hinaus auf die spiegelnde Wasserfläche. Dann winkte er mit der Hand zurück nach den Ruderern.

»Halt!«

Die Ruder hoben sich ohne Geräusch aus dem Wasser, bereit, jeden Augenblick wieder eingesetzt zu werden.

»Was giebt es?«

Die Dame preßte sich ängstlich an den Herrn, der die Frage gethan.

Der Offizier im Stern hatte die Pistolen aus der Tasche gezogen; man hörte in der Stille der Nacht zugleich mit dem eigentümlichen Plätschern entfernter Ruderschläge das Knacken der Hähne beim Spannen. Der andere Offizier wendete sich gegen den Herrn auf der Bank.

»Es kommt uns ein Boot entgegen, stromaufwärts oder von Gatow her, ich kann es nicht entscheiden. Dort der dunkle Punkt.«

»Vielleicht ein Fischerkahn.«

»Ich zweifle; Fischer haben in dieser Stunde und um diese Jahreszeit nichts auf dem Wasser zu schaffen.«

»Was sollen wir thun?«

»Ich erwarte Ihre Befehle. Das Boot muß uns bereits im hellen Fahrwasser bemerkt haben; ein Zurückrudern in den Schatten des Ufers wäre kaum ratsam.«

»Und Sie, mein Herr, was ist Ihre Meinung?« Der Mann im Mantel hatte sich an den Offizier im Stern gewandt.

»Vorwärts zu gehen! Wenn Verrat im Spiel ist, über ihn hinweg!«

»Vorwärts denn!«

Die Ruderer setzten auf einen Wink wieder ein. Das andere Boot war bereits so nahe gekommen, daß man seine schwarzen Schatten sich deutlich auf dem Wasserspiegel abzeichnen sah. Es schien vier Personen zu enthalten.

Der zweite Offizier lenkte das Boot etwas zur Seite, um an dem entgegenkommenden in gemessener Entfernung vorüberzufahren, als dieses plötzlich seine Richtung änderte und gerade auf sie losruderte.

Die Dame drängte sich fest an den Arm ihres Begleiters. Die beiden Offiziere ergriffen jeder ein Pistol.

»Ruhig, meine Herren, keine Übereilung! Es ist vielleicht eine Nachricht, die uns entgegengesandt wird.«

»Das ist kaum möglich! Niemand …:«

»Halten Sie einen Augenblick ein, wenn es Ihnen gefällig ist,« sagte eine ruhige, ernste Stimme über das Wasser her. »Ich habe eine Frage an Sie zu richten.«

»Lassen Sie einhalten!« Der Mann im Mantel, der diesen Wunsch oder diesen Befehl ausgesprochen, zog den Kragen höher um sein Gesicht, das war die einzige Bewegung, die er machte. So ließ man den zweiten Kahn ruhig näher kommen; einen Augenblick darauf lag er zur Seite in der Entfernung einer halben Ruderlänge. Die Offiziere, die nur ungern diese Nähe zu dulden schienen, überzeugten sich sofort, daß hier keine Gefahr drohen könne.

In dem Kahn saß ein alter Mann, wie der weiße Schnurr- und Backenbart zeigte, eine große hagere Gestalt in einem einfachen Paletot, eine niedere Jagdmütze auf dem Kopf, neben ihm ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren. Zwei Fischer, gewöhnliche Leute, führten die Ruder.

»Verzeihen Sie, meine Herren,« sagte der alte Mann, »daß ich Sie angehalten. Aber als diese guten Leute« – er wies auf seine Ruderer – »mir sagten, daß Ihr Fahrzeug kein Nachen aus Pichelsberg oder dem Werder sein könne, glaubte ich, daß ich vielleicht einige Nachricht aus Berlin von Ihnen erfahren könne.«

»Was wünschen Sie zu wissen, mein Herr?« fragte der ältere Offizier, ohne auf die indirekte Frage, die in der Anrede des Alten lag, zu antworten.

»Zuerst was machen Seine Majestät der König

»Der König,« erwiderte der Herr im Mantel, »der König befindet sich im Schutz seiner lieben Berliner!«

»Schämen Sie sich, mein Herr,« sagte erzürnt der alte Mann, »solche Worte von nichtswürdigen Rebellen zu gebrauchen, während Sie die Ehre haben, in Gesellschaft preußischer Offiziere zu sein, wie mir die Uniform dieser Herren zeigt. An diese richte ich meine Frage, was machen Seine Majestät?«

»Seine Majestät der König befindet sich, so viel wir wissen, in Berlin und, wie es scheint, in Sicherheit,« antwortete der ältere Offizier, »denn die Truppen haben auf Allerhöchsten Befehl Berlin verlassen!«

»Also wirklich! O, ich wollte es nicht glauben!« Der alte Mann bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, man hörte seine keuchenden, stöhnenden Atemzüge.

»Mein Herr,« sagte der Mann im Mantel mit freundlichem Ton, »wir sind gute Preußen und Freunde des Königs wie Sie. Darf ich Sie fragen, wer Sie sind und wohin Sie wollen?«

Die Gestalt des alten Mannes richtete sich militärisch straff in die Höhe. »Ich habe nie in meinem Leben meinen Namen verschwiegen. Ich bin der Major außer Diensten von Röbel, mein Gut liegt zwischen Barnim und Nauen.«

»Und wie kommen Sie hierher?«

»Ich hole die Leiche meines Sohnes, der gestern im Dienst des Königs von den Rebellen erschossen wurde. Sie soll in der Gruft meiner Väter liegen, nicht unter dem Gesindel!«

Die Worte waren mit fester, ruhiger Stimme gesprochen, nur in dem dumpfen Klange zitterte das Vaterherz.

Eine feierliche Stille folgte den Worten; niemand wagte sie zu unterbrechen, langsam trieben die Kähne mit einander stromab und näherten sich einander.

»Ich habe davon gehört,« sagte endlich der Herr im Mantel, »und beklage Sie aufrichtig. War der Gefallene Ihr einziger Sohn?«

»Mein Herr, ich habe deren drei. Der erste gehört seinem Geschlecht, das ist so Sitte im Hause der Röbel, der zweite dem König, der dritte,« er legte die Hand auf das Haupt des Knaben an seiner Seite, »seiner Mutter und mir. Das muß sich nun ändern!«

Der Herr im Mantel lehnte sich über den Rand des Kahnes und reichte dem alten Mann die Hand. »Leben Sie wohl, Herr Major, und Gott sei mit Ihnen auf Ihrem schweren Wege!«

Kragen und Mantel waren zurückgefallen, das volle Mondlicht beleuchtete das ernste, stattliche Gesicht des Sprechenden.

»Um Gotteswillen …:«

»Still! Möge jeder dem Könige so dienen wie Sie und Ihr Haus!«

Ein Wink mit der Hand: die Ruder fielen ins Wasser, und fort rauschte das Boot.

Der alte Edelmann stand aufrecht in dem seinen, er hatte den Hut abgenommen; der Nachtwind spielte mit seinen weißen Haaren, während er unverwandt dem Boote nachschaute.

Erst als es in der Richtung stromabwärts nach der Pfaueninsel zu aus dem zitternden Lichtkreis des Strombeckens gänzlich verschwunden war, setzte Herr von Röbel sich nieder und gab seinen Ruderern den Befehl, weiter zu fahren.

Lange saß er so stumm und nachdenkend, während die flacher werdenden Ufer an ihnen vorbeizogen, der Knabe wagte nicht, ihn anzusprechen. Erst als aus dem Schatten der Nacht die dunklen Umrisse der Festung hervortraten, brach er das Schweigen und wandte sich an den Knaben.

»Mein Sohn,« sagte er, »Gott allein weiß, welche Zeiten kommen werden; aber wenn einst diese Stunde auch aus dem Gedächtnis derer gestrichen sein sollte, die das Recht haben zu vergessen – dann vergiß Du doch nicht, was Du gesehen hast und heute sehen wirst – Dein Lebelang!«


Es war gegen Mitternacht, als der Kahn des Herrn von Röbel die Unterbaumbrücke passierte und in die Stadt einfuhr, an den Schiffen vorbei, die zu beiden Seiten des Ufers ankerten. An dem Garnisonlazarett vorüber, wohin man die Leichen der an den beiden verhängnisvollen Tagen im Straßenkampf gefallenen Soldaten meist gebracht hatte, unter der Marschalls- und Weidendamer-Brücke her setzte der Kahn ungehindert seinen Weg fort bis zur Brücke, die vom Gießhaus nach dem neuen Museum führt. Dort, in der verhältnismäßig öden Gegend, legte der Kahn auf Befehl des Majors an einer Landungstreppe an, und er stieg mit dem Knaben aus.

»Ihr wißt, was wir ausgemacht, Männer,« sagte er zu den beiden Schiffern; »Ihr verlaßt den Kahn unter keinen Umständen, bis ich oder mein Sohn Euch rufen.«

»Ja, Herr! seien Sie unbesorgt!«

Der alte Edelmann sah nach der Uhr. »Noch eine halbe Stunde Zeit! Laß uns prüfen, wie es in der Stadt aussieht.« Er nahm den Knaben an die Hand und schritt mit ihm am Kanal entlang der Brücke zu. Sein erster Gang galt dem Schloß des Königs.

Trotz der späten Stunde waren die Straßen noch mit wogenden Menschengruppen besetzt; alles schrie, lärmte, erzählte oder hörte den Rednern zu, die sich dem Volke aufdrängten – Arbeiter, die seit Jahresfrist gewohnt waren, das große Wort über soziale Theorieen zu führen oder in vertrauter Stube von Barrikadenbau zu reden; jüdische Handlungskommis, die die Zeitungshalle zu Helden des Liberalismus umgeschaffen; Stadträte, die hofften, Oberbürgermeister zu werden; verdorbene Assessoren und vagabondierende Litteraten; wenige darunter, die ein verständiges, beruhigendes Wort zu dem allgemeinen Thema der Brutalität der Soldateska, dem glorreichen Sieg der Freiheit, den Tellschüssen der Berliner Schützengilde und den bis zum Wahnwitz sich steigernden Forderungen hatten. Männer, Frauen, Kinder durcheinander, zwischen den Bürgern jene unheimlichen Gestalten, die Aasvögel der Revolutionen.

Junge Leute ohne Gedanken und Pflichten rasselten mit dem Schleppsäbel auf dem Pflaster; Spießbürger, die gar zu gern die Courage herausstrecken, wenn die Gefahr vorüber, erinnerten sich noch einmal der Tage ihrer Wehrzeit und schleppten die Muskete; selbst das jämmerliche Geschlecht der Geheimen Räte begann aus dem vierundzwanzigstündigen Versteck hervorzukommen, redete liberal und wollte wieder an der Spitze stehen.

Im ganzen doch bei all diesem Schmutz und dieser Verwirrung ein gewisser Zug militärischer Ordnung und Ringen nach Organisation, bei all diesem betäubenden Raisonnement und den Lügen vom Himmel herab der Wunsch nach etwas Festem, sicher Gestaltetem. Das Soldatenblut in Preußen verleugnete sich selbst nicht in den Sturmwogen der Rebellion und dem Triumph der Selbstverherrlichung.

Bürgergruppen besprachen schon ruhiger den Wechsel des Ministeriums und die gemachten Verheißungen; im ganzen erwartete selbst der Verständigste eine neue goldene Ära, denn der Drang des Reformfiebers, das seit zwei Jahren durch das Mark Europas schlich, hatte alle Nerven mit Elektrizität überladen, und der Druck, unter dem krasser Büreaukratismus und unverständiges Experimentieren der Regierung gegenüber den sozialen umwälzenden Ideen von jenseits des Rheins her das Volk gehalten, hatte auch die Konservativsten verletzt und die Notwendigkeit von Reformen in ihnen zum Bewußtsein gebracht. Der Major war nicht so engherzig, daß er sich diesen Gedanken verschlossen hätte; aber er war zu tief verletzt von allem, was er sah; denn nach seiner politischen Religion konnten Reformen nur vom Könige ausgehen, der unverletzlich geheiligten Macht von Gottes Gnaden, nicht von unten herauf nach dem Thron, und jede Auflehnung gegen Ehrfurcht und Gehorsam für die höchste Autorität war in seinen Augen ein vatermörderisches Verbrechen. Dazu gefielen ihm die vielen Judengesichter unter den Schreiern, die fremden Laute fremder Nationalitäten und Provinzen nicht; er hatte auch eine Volkserhebung mitgemacht, damals, als der König die Nation zu den Waffen rief, und das Bild der Begeisterung von Dreizehn war ein ganz anderes – der Feind war damals die Fremdherrschaft gewesen. Der Krawall, die Emeute aber waren ihm in tiefster Seele verhaßt.

Es sollte noch schlimmer kommen – jeder Schritt weiter grub neue Stacheln in seine Brust.

In den meisten Fenstern brannten noch die Reste der Illumination, mit der am Abend die Stadt den Sieg gefeiert. Je näher die beiden dem Schloß kamen, desto dichter drängten sich die Gruppen.

An der Ecke des Gespensterhauses, aus dessen Fenstern einige Monate nachher wieder die rote Fahne geschwenkt wurde, stand ein Mann auf einem Stein und las der Menge die beiden Proklamationen des Tages vor: den Wechsel des Ministeriums von Männern, welche der Revolution nicht vorzubeugen gewußt, in Männer, welche sie weder zu bändigen noch zu leiten verstanden, – und das Dekret der allgemeinen Bürgerbewaffnung.

Durch die offenen Schloßhöfe, in denen lustig große Feuer brannten, wogte die Menge; die improvisierte Bürgerwehr hielt auf den Korridoren und in den Sälen nominell Posten, aus der Schloßwache kommerzierte eine Bande betrunkener Studenten mit Hiebern und abenteuerlicher Bewaffnung aus den Kellern des Schlosses, oder beschmutzte die Wände mit frechen Sudeleien; Deputationen von Gott weiß was für Korporationen drängten trotz der späten Stunde noch immer nach den Gemächern des zum Tode erschöpften Monarchen und verlangten die Minister zu sprechen. Das Schloß war kein Haus des Königs mehr, sondern die Karawanserei für jedermann.

Aber die erschütterndste, schrecklichste Scene bot der innere Schloßhof. Dort, vor den Gemächern des Königs, lagen auf Bahren die Leichen der Barrikadenkämpfer, die man am Nachmittag, nachdem das Militär entfernt worden, vor das Schloßportal geschleppt und die zu betrachten man den König und die Königin gezwungen hatte.

Noch starrten die Augen der blutigen Toten ungeschlossen empor, die klaffenden Wunden – der brutale Haß hatte die am schrecklichsten verstümmelten ausgesucht! – mit geronnenem Blut und, o bitterer Hohn! mit Blumen bedeckt – die Hände krampfhaft geballt. Dichte Gruppen umdrängten eben wieder die Zeugen des blutigen Tages; denn ein Weib aus dem Volke lag schreiend, jammernd über einer der Leichen und raufte das Haar, während ein einjähriger Knabe auf den Füßen seines Erzeugers saß, mit den Blumen spielte und neugierig auf die Flammen der Pechfackeln schaute.

Noch vor Jahresfrist war die kleine Familie so ruhig, so glücklich gewesen, der Mann bei seiner Hände Arbeit, die Frau mit dem Kinde. Da kam die Politik in dies ruhige, fülle Dasein, das Gift, ärger wie Spiel und Trunk …:

Ein Spitzbubengesicht hatte mit raffinierter Geistesgegenwart die Scene benutzt und neben die halb bewußtlose Frau seinen Hut gesetzt. »Sie wohnt in einem Hause mit mir, meine Herren! Das arme Geschöpf wird verhungern müssen mit ihrem Wurm, nun die Henkersknechte ihren Mann erstochen, wenn Sie sich ihrer nicht erbarmen!«

Und große und kleine Geldstücke flogen von allen Seiten in den schäbigen Hut; es ist eine wohlthätige, gutmütige Nation, diese Berliner, und leichtgläubig bis zur Dummheit!

Dem alten Edelmann lief es wie kalter Schauer durch das Blut. Die verstümmelte Leiche da vor ihm war es vielleicht, die lebendig die mörderische Kugel auf seinen Sohn gesandt, und dennoch war seine Seele tief erschüttert. Seine Hand griff in die Tasche und warf eine ganze Faust voll Münzen in den Hut, selbst Gold darunter.

»Gott segne es Ihnen, Herr, Sie sind ein echter Patriot und teilen mit Ihren armen Brüdern!« winselte der Gauner, von rückwärts her aber schlug eine Hand burschikos auf die Schulter des Edelmanns. »Brav gemacht, alter Schwede! Es wird Dein Herz erfreuen, zu hören, daß wir den armen Kameraden da wacker gerächt! Auf Burschenehre, ich war dabei, als er mit der Fahne fiel und wir sie zweimal von der Barrikade zurückjagten!«

Herr von Röbel wandte sich rasch um, aus seinem zornigen Gesicht war jede Spur des Mitleids verschwunden, seine Augen blitzten unter den buschigen grauen Brauen drohend auf den von Wein und Reden erregten Studenten, der, plötzlich ernüchtert, mit erbleichendem Angesicht ihn anstarrte.

»Um Himmelswillen, Herr Major! Sie hier …:!«

»Dorthin, Herr,« sagte der alte Offizier mit schneidender Kälte, indem er mit dem Finger nach einer menschenleeren Stelle wies. »Da Sie es sind, so habe ich Ihnen einige Worte zu sagen!« Er schritt voran nach dem Säulengang; bleich, zitternd folgte ihm der junge Mann, ohne die Hand des Knaben zu berühren, die dieser ihm bot.

»Herr,« sagte der Edelmann, indem er sich an der Stelle umwandte, »ich sehe, daß ich mich nicht getäuscht habe, wenn ich meine Kinder warnte vor der Freundschaft mit Ihnen. Ich ehre das graue Haar Ihres Vaters, der mit mir in mancher Schlacht zusammen gestanden, aber ich werde ihm sagen, wenn Sie sich noch einmal im Pfarrhaus von Bodendorf blicken ließen, so würde ich Sie mit meinen Jagdhunden aus dem Dorfe hetzen lassen!«

»Hören Sie mich an, Herr Major – Sie urteilen zu einseitig …:«

»Wissen Sie, wo die Leiche meines Sohnes liegt, und wo ich Gottlieb finden kann?«

»Er wartet auf Ihre Befehle, wie er mir sagte …: Erlauben Sie, Herr Major …:«

Der alte Mann machte eine verächtliche Handbewegung. »Bemühen Sie sich nicht, Herr Meißner …: ich weiß in der Residenz meines Königs Bescheid und will Sie Ihren politischen Pflichten nicht entziehen.« Er wandte sich nach dem Schloßthor und winkte dem Knaben, ihm zu folgen.

Mehrere Studenten und Bürgergardisten kamen heran. »Was wollte der alte Kerl von Dir, dem man den Reaktionär auf fünfzig Schritte ansieht? Himmel-Tausend-Teufel sollen ihn holen, wenn er gewagt hat, unverschämt zu sein. Du siehst ja ganz katzenjammerig aus, Bursche! Haltet den alten Halunken fest!«

Der Student sprang ihnen mit einem Satz in den Weg; seine Hand lag am Griff des rasselnden Hiebers. »Daß keiner es wage! Ihr kennt mich! Ach steche jeden über den Haufen, der einen Finger an ihn legt!«

Der Major war mit seinem Sohn durch das Portal geschritten. Er hatte es aufgegeben, bis hinauf in die Vorgemächer des Königs zu dringen, wie er erst beabsichtigt, um sich selbst von der Sicherheit des Monarchen zu überzeugen und seine Person anzubieten. Was konnte er, der einzelne, thun, wo der König seine Treuesten aufgegeben und selbst entfernt hatte?

Ein rascher Schritt holte ihn unter dem Portal ein, unter dem er, noch einen Blick auf das seltsame Schauspiel dieser Volkssouveränität werfend, stehen geblieben. »Lassen Sie uns gehen, Herr von Röbel,« sagte leise die Stimme des Vorüberschreitenden, »hier ist kein Ort für Männer, wie Sie und ich!«

Unter der nächsten unzerbrochenen Laterne erkannte der alte Offizier den jungen Mann, der mehrmals mit dem erschossenen Sohn bei ihm zur Jagd gewesen, obschon er jetzt in einen Civilmantel gehüllt war und den Schnurrbart abgeschnitten hatte. »Wie, Sie sind es, Herr Graf? Wo kommen Sie her?«

»Ich sah Sie im Schloßhof bei den Leichen dieser – Männer und wollte Ihnen eben einen Wink geben, sich nicht zu exponieren, als Sie ein Rencontre mit jenem Studenten zu haben schienen.«

»Es ist der Sohn meines Pastors, eines würdigen Mannes. Wenn die Sonne wieder aufgegangen, wird der Fluch seines Vaters den Abtrünnigen über die Erde jagen!«

»Bester Major! Wenn alle Söhne, die heute anderer Meinung sind, als ihre Väter, deshalb den Fluch derselben erben müßten, die Bergeslast wäre zu groß für die neue Generation! Aber lassen wir das, und sprechen wir von wichtigerem. Es hat Sie leider ein schwerer Verlust getroffen; wir beklagen Sie alle, das Regiment wird untröstlich sein darüber!«

»Er ist für seinen König gefallen, Herr Graf!«

»O, es kann uns allen passieren, dafür sind wir Soldaten. Aber Ferdinand war der Eleganteste, Lustigste von uns allen, ein Kavalier comme il faut! Auf Ehre! Und fallen zu müssen von solcher Bürger-Kanaille, es ist affreus!«

Der Major schwieg; der leichtsinnige herzlose Ton dieser preußischen jeunesse dorée, die das halbe Leben von Kranzler mit den Beinen über den Eisengittern zugebracht, und zu der, wie sein Geldbeutel wohl empfunden, auch sein Ferdinand gehört, beleidigte ihn.

Aber der nächste Augenblick versöhnte ihn wieder. Man ging eben an der Bank vorüber; der junge Offizier faßte krampfhaft seinen Arm, seine Lippen bebten, die Augen funkelten, als er sie auf die Stelle richtete, wo jetzt am Eingang ein Mitglied der neuen Bürgerwehr auf- und abschritt.

»Hier fiel der erste! Ein wackrer Soldat, der seinen Posten nicht verlassen wollte! O, ich kenne den Meuchelmörder, und Gott gnade dem jämmerlichen Volkstribun, wenn er mir je unter die Klinge kommt!«

»Sagen Sie mir, Herr Graf, ich bin erst seit einer halben Stunde in Berlin, und was wir auf dem Lande erfahren, ist nur unvollkommen – wie ist es möglich, daß die Truppen von einer Emeute besiegt werden konnten?«

»Besiegt? Nun, bei meinem Wappen, Herr von Röbel, wenn wir besiegt worden, es wäre eine Ehre gegen das, was wir ertragen haben! Mit dem Pallasch in der Scheide den Hohn des Gesindels dulden zu müssen und hinausgewiesen werden, wie begossene Hunde, während wir nichts sehnlicher wünschten, als ein Ende zu machen – das schmerzt mehr, als die Kugel oder der Messerstich. Auf Ehre! Wenn sich die preußische Armee je bewährt hat, so that sie es heute durch den Gehorsam!«

»Die Überraschung muß alle verblendet haben …:«

»Die Überraschung! Nun, seit vierzehn Tagen schliefen wir auf einem Vulkan. Die Versammlungen der fremden Wühler unter den Zelten und auf Tivoli kannte in Berlin jedes Kind!«

»Aber that denn die Polizei nichts?«

»Die Polizei? Wenn ich der Herr wäre, ließ ich einem Polizei-Präsidenten den Kopf vor die Füße legen, der acht Tage zusieht, wie Stein auf Stein zur Barrikade zusammengetragen wird, und nichts dagegen hat, als Berichte.«

»Aber warum nahm die Militärbehörde denn die Sache nicht in die Hand? Der Gouverneur …:«

»Der Gouverneur besah sich gestern Mittag den Beginn der Revolte mitten im Volk vor dem Schloßportal und hatte dann einige eilige Briefe zu schreiben!«

Der alte Offizier murmelte eine bittere Verwünschung. »Aber wenn, wie Sie sagen, unsere braven Soldaten überall Sieger waren, wer trägt die Schuld an dem Befehl des Rückzugs?«

»Federfuchser,« knirschte der junge Soldat, »Federfuchser und Verrat. Ein Schleier ruht darüber und wird vielleicht niemals gehoben werden. Der Minister selbst, der unfähig gewesen, das Unheil zu verhüten, zwang General Prittwitz, den einzigen, der seine Energie bewahrt, sogar die Stellungen zu räumen, die man zur Sicherung des Königs für das Militär reserviert hatte, als die Deputationen dessen Rückzug erlangt hatten. Ich stand dabei, zehn Schritt von dem General, und weiß, daß Verrat im Spiel gewesen sein muß mit falschen Befehlen an mehr als einer Stelle.«

»Aber der König?«

»O, wenn Sie gesehen, was er gelitten an diesem Tage, in dieser Nacht! keinen Augenblick Ruhe, hundert Ratschläge um ihn her, hundert sich widersprechende Forderungen an sein Herz! Deputationen auf Deputationen, ohne Auftrag und Macht, Menschen sich aufdrängend mit ihren Ratschlägen, die man sonst mit Fußtritten aus dem Schlosse gejagt! nur ein Despot konnte das überwältigen, nicht ein Herz, wie das seine! Glauben Sie mir, Herr Major, als die Truppen das Schloß verlassen mußten, als es entschieden war, daß er nicht fortzog in der Mitte seiner Getreuen aus dieser verhaßten Stadt, als wir die brüllende Meute auf den Höfen und Gängen hörten, wir allein zurückgeblieben, eine Anzahl von Offizieren, bereit, zu sterben, wie einst die Schweizer auf den Treppen und an den Thüren von Versailles für Ludwig den Sechzehnten, Thränen waren in unseren Augen, nicht Thränen über das Scheiden vom Leben, sondern Thränen der Scham und des Männergrimms!«

Der alte Offizier drückte dem Begleiter stumm die Hand. Das sonst so leichtsinnige, süffisante, selbst geckenhaft anmaßende Wesen des jungen Mannes, der nur von Tänzerinnen, Pferden und Parade zu sprechen pflegte, ward durch diesen Ausbruch der edlern Natur Lügen gestraft.

» Voilá – auf Ehre, sehen Sie den Spaß,« – die drei gingen eben über den Gendarmenmarkt, ohne daß der arme Vater wußte, daß er fast die Steine betrat, die das Blut seines Erstgebornen vor wenig Stunden benetzt, »wie sich der Mensch dort beeilt, im Schutze der Nacht sein Hoflieferanten-Schild von der Thür abzunehmen! Der Teufel soll mich holen – ich werde ihm meine Kundschaft entziehen, wenn wir erst wieder zurück sind! Auf Parole! Wenn die Geschichte wieder in Ordnung ist, wird man einen Orden zur Belohnung der Treue für die Hoflieferanten, die Hoteliers und die famose Courage der Beamten gründen müssen!«

Sie setzten einige Augenblicke schweigend ihren Weg fort, » A propos, Herr Major,« schnarrte der junge Graf, »Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie hierher führt und ob ich Ihnen dienen kann?«

»Wenn Sie nicht wissen, wo ich die Leiche meines Sohnes finden kann, so muß ich auf diesen Brief allein meine Hoffnung setzen!« Er reichte ihm ein schlecht zusammengefaltetes grobes Papier, auf dem mit Bleistift einige Zeilen in unorthographischer großer Handschrift standen. Der Offizier las sie am Laternenschein der Ecke:

»Euer Gnaden, Herr Major! Der Teufel hat das Volk geritten in Berlin. Seit acht Tagen nicht aus den Kleidern. Gestern ging die Geschichte ordentlich los, sieben vom Regiment geblieben, leider unser Junker auch. Zweimal blessiert, aber ich habe mir den Höllensakermenter gemerkt, der ihm den Rest gab, eh' ich herbei konnte. Das Militär muß heraus aus der Stadt, aber sie kommen wieder, deshalb bleib' ich beim Junker und versteck' ihn. Schicken Sie mir, was ich thun soll, ich werde um zwölf die Nacht warten hinter der neuen Wache.

Gottlieb.«

»Wer ist dieser Gottlieb? Sollte es nicht etwa eine Falle sein?«

»Unmöglich! der Brief ist vom Burschen meines Sohnes, der auf dem Gut geboren ist. Ein Mann brachte mir den Brief gegen Abend, dem der brave Kerl als Botenlohn seine silberne Uhr gegeben!«

»Merkwürdig – auf Ehre! ich hörte im Schloß diese Nacht, daß er unter den Gebliebenen sei, und daß man die Toten und Verwundeten nach dem Garnison-Lazarett gebracht. Da sind wir am Palais des Prinzen. Wissen Sie, daß die Populace gestern in allem Ernst seine Abdankung verlangt hat? Erst wollte die Canaille das Palais niederbrennen, aber die Studenten haben es gerettet. Sie sagten wegen der Bibliothek daneben!«

»So haben Sie doch eine gute That gethan!«

»Ein Student zeichnete sich aus dabei – ich muß den Namen schon gehört haben, aber der Teufel behalte all die bürgerlichen Namen. Traurig genug, daß selbst Männer von Blut bei dem Schwindel geholfen. Wissen Sie, Major, wer am meisten zu der sogenannten Volksbewaffnung geraten? Fürst Lichnowski!«

»Wer die wilden Gewalten entfesselt, wird oft selbst ihr Opfer.«

»Sehen Sie, was man aus dem Palais gemacht hat! ›Volkseigentum!‹ ›Nationalgut!‹ Bah! die erste Probe von Schreibfreiheit ohne Censur! Man hat ein Bittschriften-Büreau darin etabliert, wie ich höre. Affreus! Bittschriften mit Flintenschüssen geschrieben. Ich wünschte, die Kassette voll Gold, die man Seiner Majestät abgegaunert, käme wenigstens einigen hübschen Witwen zu gute, statt raffinierten Spitzbuben. Können Sie sich denken, daß die Minister wirklich auf die Entfernung des Prinzen gedrungen? Ich hoffe. Seine Königliche Hoheit sind in Sicherheit und bereiten unsere Revanche vor.«

»Er ist es – Gott sei Dank! Kein Mann auf dem Lande, der nicht bereit sein wird, wenn er ruft! Ich wollte, der König wäre es ebenso!«

»Sie erinnern mich, daß ich verteufelt müde bin, Major. Sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen. Ich kam eben aus den Antichambres, als ich Sie traf. Wenn auch das Militär die Stadt verlassen hat, so bewachen wir Offiziere doch in Civil Seine Majestät, ohne daß sie es selbst wissen. Es ist fatal genug in der schlechten Gesellschaft, die man dort findet! Morgen um neun Uhr trifft mich wieder die Reihe, darum excüsieren Sie mich, wenn Sie mich nicht etwa noch brauchen. Ich falle um vor Müdigkeit, auf Ehrenwort!«

»Verzeihen Sie, daß ich Sie so lange aufgehalten, und möge Gott mit Ihnen sein bei der heiligen Pflicht, die Sie übernommen. Leben Sie wohl, Herr Graf!«

»Gott befohlen, Herr Major, und – drücken Sie dem Toten im Namen der Kameraden die Hand!« – Er war schon mehrere Schritte entfernt, als er sich nochmals umwandte und dem über den Platz Schreitenden nacheilte. »Noch eins, Herr Major! Wenn Sie den Fuchs verkaufen, da Ferdinand ihn doch nicht mehr reitet, so erinnern Sie sich, daß ich die Vorhand habe. Ein famoses Pferd – er parierte fünf Fuß Barriere und gewann die zwanzig Friedrichsdors! Vergessen Sie nicht!« – Damit war er verschwunden.

Den Knaben an der Hand, der mit Staunen und Interesse die Scenen umher betrachtete, ging der alte Edelmann quer über den Platz nach dem Kastanienwäldchen zu, das sich hinter der Universität und der Wache erstreckt. Ein Blick auf die Uhr hatte ihm gezeigt, daß noch zehn Minuten an der bestimmten Zeit fehlten, und an militärische Pünktlichkeit gewöhnt, setzte er sich auf eine der steinernen Bänke im Schatten der großen Bäume nieder, um hier den Glockenschlag zu erwarten.

Der Platz war jetzt ziemlich einsam und dunkel, da der Mond hinter den großen Gebäuden stand. Nur wenige Personen benutzten den öden Durchgang, und der Major und sein Sohn blieben, im Schatten sitzend, selbst von den Wenigen unbemerkt.

Der Knabe wollte eben seinen Vater anreden, als ihm dieser die Hand auf den Mund legte und ihm ein Zeichen gab, sich nicht zu regen.

Zwei Männer gingen, kaum fünf Schritt entfernt, hinter ihnen auf und nieder in eifrigem Gespräch, das sie offenbar hier gänzlich ohne Zeugen wähnten.

»Die Schrift,« sagte der Größere in dem scharfen Accent des von Polen gesprochenen Deutsch, »ist übergeben sogleich. Man hat uns versprochen den Erfolg. Wenn meine Brüder nicht sind frei morgen früh, werden wir stürmen das Gefängnis.«

»Unbesorgt, liebster Graf, man wird es nicht wagen, das Geringste abzuschlagen. Wir halten die Sache jetzt in der Hand; vor Mittag muß die allgemeine Amnestie proklamiert sein, da diese Dummköpfe einmal nicht weiter zu treiben waren und sich schon vor dem eigenen Spektakel zu fürchten beginnen, den sie gemacht. Jetzt ist die Hauptsache, den möglichsten Eclat aus allem zu machen und die Regierung an die Spitze der deutschen Revolution zu drängen. Diese Halbheit …:«

»Wir lieben den König,« unterbrach ihn der Pole, »wenn er giebt frei unser Volk, werden wir schlagen mit ihm gegen jedermann!«

»Dann werden Sie bald genug Feinde auf dem Halse haben, so wie nur ein freies einiges Deutschland auf die Fahne geschrieben ist – Monarchie oder Republik ist gleichgültig dabei,« sagte lachend der andere, eine untersetzte starke Gestalt von Mittelgröße. »Die Sache ist so ungeschickt ausgegangen, daß wir nicht einmal unsern Zweck mit dem Zeughaus und den neuen Gewehren erreicht haben. Ich weiß ganz bestimmt, daß die Erfindung existiert und Massen davon im Zeughaus lagern, dessen Bewachung sich jetzt diese Tölpel anmaßen. Hören Sie wohl, Herr Graf! Die Befreiung Mieroslawskis und seiner Gefährten darf nicht eine bloße Begnadigung der Regierung, sie muß eine Demonstration des Volkes, die Gefangenen müssen im Triumph eingeholt werden; damit identifiziert sich die Berliner Revolution im voraus mit allem, was Sie in Polen thun werden. Aber – ich brauche Geld!«

Der andere reichte ihm eine Börse. »Es sind darin hundert Louisdors. Wir verlassen uns auf Sie.«

»Unbesorgt – ich werde selbst dabei sein. Hier ist der Entwurf einer Proklamation, sie muß in deutscher und polnischer Sprache gedruckt werden. Und nun Adieu, Herr Graf, denn ich darf meine Kollegen nicht zu lange aus den Augen lassen, sie haben gewandte Finger. Auf Wiedersehen vor dem Zellengefängnis!«

Die beiden trennten sich; der Major wollte sich erheben und dem einen nacheilen, um sein Gesicht zu sehen, aber in diesem Augenblick trug der Nachtwind den Schlag der zwölften Stunde und das Glockenspiel vom Turm der Klosterkirche herüber, dessen Choral so wenig harmonierte zu den Scenen der bewegten Stadt.

Der alte Edelmann seufzte schwer; was konnte er, der einzelne, helfen und hindern, wo die Großen und Mächtigen auf der abschüssigen Bahn haltlos dahin schwankten? Es war Zeit, an sein eigenes kleines Schicksal, an den eigenen bittern Schmerz zu denken.

Er ging eilig nach dem Ort des Rendezvous.

An der Rückwand der Neuen Wache, aus derem Innern frische Studentenlieder und die Töne eines lustigen Gelages der neuen Bürgerwehr erklangen, schlich eine Gestalt unruhig auf und nieder. Der alte Mann trat hastig auf sie zu. »Bist Du es, Gottlieb?«

»Um Himmelswillen, Sie selber, Herr Major – und der junge Herr! Ach, über das Unglück! aber ich konnte wahrhaftig nicht helfen!« Der ehrliche Bursche schluchzte wie ein Kind, indem er nach der Hand des Gutsherrn haschte, sie zu küssen.

»Wo ist die Leiche? Warum hat man sie nicht mit den anderen ins Lazarett gebracht? Du sollst mir später die näheren Umstände erzählen.«

»Ach, gnädiger Herr, wir hielten es für das beste! Und dann konnten wir sie nicht von ihm trennen, als sie ihn erst gesehen. Es war herzzerreißend, und Herr Meißner meinte selbst, es wäre das Klügste, ihn bei ihr zu lassen.«

»Bei ihr was bedeutet das? – Hat der Bube auch hier seine Hand im Spiel?«

Der Soldat, der einen alten Flausrock und eine Civilmütze trug, begann aufs neue zu schluchzen statt jeder Antwort. Nur einzelne Beteuerungen konnte man daraus vernehmen, wie, daß sie sich so sehr geliebt hätten, daß er seinem jungen Herrn nicht widersprechen dürfen, und daß er nichts daran habe ändern können.

Der Herr von Röbel atmete schwer und gepreßt auf. »Vorwärts denn,« befahl er barsch, »das Reden nutzt nichts, ich muß selbst sehen! Führe uns an den Ort, wo die Leiche sich befindet, sei es, wo es will!«

Der Befehl war so bestimmt und entschlossen, daß der an Respekt gewöhnte Bursche keine Ausflucht weiter versuchte, sondern stumm voranging.

Im hohen Parterregeschoß eines an der Mauer eines Kirchhofes liegenden einstöckigen Hauses, zu dem eine steinerne Vorsprungtreppe führte, befand sich zur Linken des ziemlich breiten Flurs eine kleine Wohnung, bestehend aus zwei Zimmern und einer Küche.

Während das vordere mit seinem eleganten Mobiliar einen kleinen Salon oder ein bequem für Männer- und Frauenbedürfnisse eingerichtetes Wohngemach bildete, war das zweite zum Boudoir einer Dame eingerichtet. Ein breites Bett mit Vorhängen erhob sich etwas abseits von der Wand, ein weicher Teppich bedeckte den Boden, eine hübsche Toilette stand auf der Marmorplatte des Tisches und im Winkel des Gemachs eine neue vollständig eingerichtete Wiege.

Diese Wiege war leer, sie erwartete erst das Pfand, das sie aufnehmen sollte, und die künftige junge Mutter, die mit so vieler Sorgfalt und Liebe dies Lager bereitet – sie stand jetzt an dem Lager eines, der ältere Rechte an ihre Liebe hatte, als das Pfand in ihrem Schoß, das einzige, was ihr von ihm bleiben sollte auf Erden.

Die bunten Gardinen des Bettes, die so oft das stille Liebesglück in ihre verschwiegenen Falten verschleiert, waren zurückgeschlagen, auf der weißen weichen Decke lag lang hingestreckt die Leiche eines Mannes. Das Gesicht, von der Hand des Todes nicht entstellt, wie dies bei Erschossenen der Fall zu sein pflegt, war kräftig und hübsch geformt, und zeigte, daß der Tote in der Vollkraft der Jugend gestanden. Der braune Schnurrbart stach gespenstig von der bleichen Farbe dieses Gesichts ab, die nur durch die blauen blutigen Ränder einer Wunde quer über die Stirn unterbrochen wurde. Der Mund war fest geschlossen, die Brauen noch im Tode drohend zusammengezogen, als zürnten sie dem Verrat, der ihn gefällt.

Man hatte dem Toten die Uniform ausgezogen, sie lag mit geronnenem Blut bedeckt am Boden, ebenso der treue Säbel, welcher der erstarrten Hand erst hatte entwunden werden müssen. Das zurückgeschlagene Hemd zeigte auf der entblößten, kräftig gewölbten Brust einen kleinen runden, bereits schwarzen Fleck, von dem bläulich graue Strahlen verliefen.

Es war die Todeswunde, die Büchsenkugel war so nahe an den edelsten Teilen des Lebens in die Brust geschlagen, daß es nicht mehr des Hiebes über die Stirn bedurft hatte dieses kräftige junge Leben zu enden.

Die Thür zwischen den beiden Zimmern war geöffnet; nahe derselben im vorderen Zimmer saß ein Mann, noch ziemlich jung, vielleicht dreißig Jahre, aber Lüderlichkeit und Abspannung ließen sein Gesicht weit älter erscheinen. Die Stirn war niedrig und gedrückt, durch einen Wall von rotblonden Haaren noch verkürzt, die Augen, die etwas Mürrisches hatten, von braunen Rändern umgeben, tief unter der Wölbung der Brauen liegend; das nicht unschöne Gesicht von einem dichten roten Bart umgeben, der bis auf die Mitte der Brust herabhing. Der Mann, eine schwächliche mittelgroße Gestalt, war mit einer blauen Blouse bekleidet, trug auch im Zimmer einen dunkeln Kalabreserhut mit einer roten Hahnenfeder daran und hatte zwischen den Knieen eine Muskete. Von Zeit zu Zeit richtete sich sein unstätes Auge mit einer gewissen Scheu durch die Thür des Zimmers auf eine Frau, die regungslos an dem Fußende des Bettes stand, die Augen auf die Leiche geheftet.

Es war ein junges Weib von neunzehn Jahren.

Prachtvolle Haare vom schönsten Blond umgaben das mehr gerundete als ovale Gesicht, zwei Flechten, handbreit, von denen die eine diademartig um die freie Stirn locker geschlungen war, während die andere, halb gelöst, wirr über Schulter und Busen niederhing, und eine Menge sonst so reizend geringelter langer Locken zu beiden Seiten der Schläfe jetzt schlaff und feucht niederfielen.

Man sah, daß die schönen, nur etwas starren, lichtblauen Augen, das Zeichen einer stillen, aber gewaltigen Energie, keine jener Thränen mehr zu vergießen hatten, deren Spuren noch auf den bleichen Wangen lagen. Selbst die vollen, üppig zum Genuß gewölbten Lippen des etwas sinnlichen Mundes erschienen fahl und matt.

Die Gestalt des Mädchens – denn ein solches war es, obschon sie die Spuren weit vorgerückter Schwangerschaft trug – war groß und üppig geformt. Das Kleid, das sie trug, zeigte die Spuren höchster Unordnung, gegen welche die Aufregung des Geistes gleichgültig macht, und war über und über mit Blut befleckt.

»Höre, Malchen,« sagte der Mann schmeichelnd, der trotz der Verschiedenheit der Gesichter doch eine gewisse Familienähnlichkeit mit dem Mädchen zeigte – »Du könntest wohl etwas herausrücken, damit ich mir einen Trunk holen könnte – vielleicht findet sich auch noch ein Schluck in Deinem Schrank. Gieb mir den Schlüssel, Kind, oder Geld!«

Das Mädchen achtete nicht auf die Worte, sie schien gar nicht gehört zu haben, daß zu ihr gesprochen worden.

»Der Teufel soll mich holen, wenn ich die ganze Nacht eine solche Leichenwache halten kann, ohne eine billige Herzstärkung,« fuhr der Mann unwirsch fort. »Sei vernünftig, Male, Deine Art weckt den da doch nicht wieder auf, und es wird einem ganz unheimlich so in Gesellschaft von zweien, von denen man nicht weiß, wer eigentlich der Tote ist! Ich muß etwas zu trinken haben.«

Er stieß mit dem Kolben des Gewehrs auf den Fußboden; die Frau wandte ihr bleiches Gesicht langsam nach ihm hin, und der gläserne Blick starrte ihn unheimlich an.

»Das Haus des Todes ist kein Wirtshaus – geh' fort von hier!«

Die Worte klangen ruhig, tonlos.

»Das hast Du gut sagen; zum Vergnügen bin ich nicht hier und wäre viel lieber draußen bei den Kameraden, bei denen es nach der Anstrengung von gestern lustig hergeht. Ich denke, mir gebührt auch mein redlich Teil! Aber ein ehrlicher Kerl hält sein Wort, und ich habe versprochen, die Nacht über Dich und ihn zu wachen. Dann giebt mir Herr Meißner morgen früh zwei Thaler, und die kann ich brauchen, denn ich habe keinen Pfennig mehr, und Amanda kümmert sich keinen Pfifferling um mich, wenn ich ohne Moneten bin.«

»Geh'! ich brauche Dich nicht! Gottlieb ist bei mir!«

»Na, wer weiß, ob er wiederkommt, er wird es auch für das beste halten, seine Haut in Sicherheit zu bringen, wie die anderen. Es könnte ihm und Dir schlimm gehen, wenn man erführe, daß ein Soldat sich hier versteckt hält. Überdies bist Du doch meine Schwester, und ich kann Dich nicht verlassen in Deinem Unglück, obschon Du's wahrhaftig nicht verdienst für die Schande, die Du über die Familie gebracht hast!«

»Schande? – ich – über Dich?« erwiderte das Mädchen erregt. »Über meine Familie? Wo ist sie? außer Dir Verächtlichem?«

»Nun, ich meine nur, wir sind doch ehrlicher Leute Kinder, und bei der Erziehung, die Du gehabt – und jetzt …:«

Er machte eine freche bezeichnende Bewegung.

»Wer hat sich je um mich bekümmert, seit, als ich kaum fünf Jahre alt war, meine arme Mutter starb,« fuhr das Mädchen fort, »etwa Du, der Du zehn Jahre älter warst und selbst froh, als Lehrling in die Werkstätte zu kommen? Wer fragte nach meinem Willen, als man mich zum Schoßhund des reichen Mannes machte, bloß weil mein Haar so golden war, wie das seines toten Kindes? Es ist wahr, er war gut gegen mich, und putzte mich und gab mir Lehrer weit über meinen Stand hinaus! Aber wurde das, was sie eine Wohlthat, ein Glück nannten, nicht zur bittern Grausamkeit für mich, als der alte Mann, der mich als Spielzeug genommen, vom Schlag gerührt an der Tafel der Üppigkeit, tot in sein Haus gebracht wurde, und die harte Hand des Menschengesetzes, die nur gelten läßt, was in ihren Akten schwarz auf weiß geschrieben steht, mich aus diesem Hause jagte, mit neuen Ansprüchen ans Leben, und dennoch – ein halbes Kind, unfähig, sie zu erfüllen!«

»Das kommt davon, wenn Handwerkers-Töchter, wie Du, Französisch lernen,« sagte der liebenswürdige Bruder gleichgültig, indem er sich eine neue Cigarre ansteckte. »Aber habe ich nicht wie ein rechtschaffener Verwandter an Dir gehandelt, als Du in der Patsche saßest, und Dich in der Buchdruckerei als Maschinenmädel angebracht?«

Das schöne Mädchen sah ihn mit Schaudern an. »Wehe der Ärmsten,« sagte sie, »die in solche Gesellschaft gerät, sie ist verloren für ewig! Zehnmal lieber dienen als die niederste Magd, als noch einmal die Hölle jenes halben Jahres erleben!«

»Bah! ist Dir's etwa besser gegangen, als Du eine Nähterin wurdest und bei dem Talglicht Nacht um Nacht Dir die Augen verdarbst?«

Sie faltete die Hände über die Brust. »Es ist wahr, Franz, ich war ein armes Geschöpf, und meine Thränen haben oft genug das trockene Brot befeuchtet, das ich in meiner kalten Dachkammer aß. Aber ich war frei und ehrlich, und der Schmerz und die Not gehörten mir allein! O, die Menschen sind hart, und nur einen gab es, der gut und freundlich gegen mich war, gegen mich, das Mädchen aus dem Volke, und diesen einen habt Ihr, die Ihr Euch das Volk nennt, ermordet

Der Mann wollte hastig etwas entgegnen, unterdrückte es aber. »Du siehst, zu was er Dich gemacht hat!« sagte er giftig.

Sie warf ihm einen Blick unaussprechlicher Verachtung zu. »Was ich ihm gab, gab ich ihm freiwillig, aus der Tiefe meines Herzens, nicht für sein Gold, seine schönen Kleider und all diesen Reichtum um mich her, nicht wie Tausende meiner armen Schwestern thun, deren junges Herz es nicht ertragen kann, die Freude, den Glanz und die Lust zu sehen, und zu darben an dem harten Brot und zu frieren im dünnen Kleide!«

»Champagner und Austern sollen freilich besser schmecken,« murrte der Bruder, »obschon ich darüber nicht urteilen kann, und in Sammet und Seide ist ein anderes Leben, als im Kattunrock!«

»Er liebte mich, Franz! er allein auf der Welt, nicht die anderen, die mit Anträgen mich verfolgten, weil sie sagten, daß ich schön wäre, und mich dann verstoßen hätten zu dem großen Haufen, wenn sie ihrer Lüste überdrüssig geworden. Er liebte mich, und ich liebte ihn seit jenem Tage! Wie heute steht es noch lebendig vor meiner Seele, das große Manöver draußen auf dem Tempelhofer Felde. Wir waren hinausgegangen, ich und zwei Mädchen aus dem Magazin, für das ich nähte. Wir waren weit vorgekommen auf der Chaussee mitten im Gedräng, der Staub verhüllte alles, da erscholl plötzlich der Ruf: »Die Kavallerie kommt – fort! fort!« und auseinander stürzte die Menge, der eine dahin, der andere dorthin. Ich flüchtete allein, ohne Gedanken, wohin. Plötzlich hörte ich's hinter mir donnern, als wenn die Erde bebte, Kommandorufe, Trompetensignale – näher und näher! Ich glaubte wahnsinnig zu werden vor Angst und fühlte die Kniee unter mir brechen, dennoch stürzte ich weiter, wie ich später gehört, der Kolonne gerade entgegen, Reitergestalten stoben an mir vorüber in den Staubwolken, in meinen Ohren dröhnte es – der Boden unter mir erzitterte – ich fiel auf die Knie und schrie laut auf, als ein dunkler Körper an mir vorbeisauste. ›Unsinnige, Du bist verloren!‹ Die Hand ließ die Pistole fallen und packte meine gefalteten Hände, ein gewaltiger Ruck, daß mir die Arme aus den Gelenken zu gehen schienen, dann lag ich quer über dem Sattelknopf des bäumenden Pferdes und im Karriere jagte es davon, keine fünfzig Schritte hinter den Plänklern die geschlossene Kolonne im rasenden Galopp.

»Da, als wir aus der Wolke von Staub brachen und mein Retter querfeldein zur Chaussee jagte und mich niedersetzte im Schutz des Baumes unter dem Jubelruf und dem Klatschen der Menge – da, Franz, da sah ich zum erstenmale in das Auge, das jetzt geschlossen ist für immer! da sprach das erste freundliche Wort zu mir die bleiche Lippe, die so oft warm auf der meinen geruht, und nimmer wieder mich rufen wird!«

Die erschütterte Natur brach sich Bahn in einem heißen Thränenstrom, krampfhaft schluchzend lag das Mädchen an dem Stuhl des wüsten Menschen, ihres einzigen Verwandten.

Der Bruder kraute sich verlegen, unwirsch den Bart. »Es ist wahr,« murrte er endlich, »es war ein teufelsmäßiges Reiterstückchen! Renz selbst hätte es nicht besser machen können! Aber was thut's – dafür hat er Dich doch zur Hure gemacht, und Du wirst jetzt mit dem Bankert ohne Namen und Alimente dasitzen!«

Das Mädchen sprang empor und schüttelte die thränenfeuchten Locken zurück. »Abscheulicher! ich wäre sein Weib öffentlich, wie ich's vor Gott bin, wenn er's bereits gekonnt hätte!«

»Seine Frau – Du eine Edeldame! Du bist verrückt! Man kennt die Redensarten, womit sie Euch ködern.«

»Bube! Du willst ihn zum Lügner machen im Grabe?« Sie flog zum Sekretär, der an der Wand des Vorzimmers stand, die Schubfächer flogen auf, dann das geheime Fach der Mitte. Begierig folgten ihr die Augen des Mannes, als sie aus dem Kasten ein Papier zog und es an die Brust drückte. »Er meinte es ehrlich mit dem armen Mädchen, wenn er auch ein vornehmer Herr war! In einem halben Jahre war er mündig, dann erhielt er das Erbteil seiner Mutter und wir zogen fort, weit weg von hier, wo andere Menschen wohnen, die nicht stolz sind auf den Namen von Jahrhunderten, sondern den lebenden Menschen gelten lassen, wie er ist. Dies Papier gab er mir am Tage, als ich ihm sagte, daß ich sein Kind unterm Herzen trage, und es soll das Erbteil Deines Kindes sein, Ferdinand, wenn uns beide die Erde deckt!«

Sie warf achtlos das Papier zurück auf den Sekretär und ließ sich schluchzend am Lager des Toten niederfallen, dessen Hand sie mit Küssen bedeckte.

»Na, das ist gut, wenigstens kannst Du dem Alten mit dem Papier da eine hübsche Summe herauszwacken. Im Grunde war er eine gute Haut, es that mir leid genug, als ich ihn stürzen sah. Ich hoffe, der Lump, der ihn schoß, gerät mir noch einmal unter die Hände, und dann will ich's ihm anstreichen!«

»So kennst Du ihn, so warst Du dabei?« Sie richtete sich empor; ihre Augen glühten wie Flammen auf den Bruder.

»Nun freilich, ich erzählte Dir's ja, aber Du hörtest nicht. Keine fünfzig Schritt war ich von ihm.«

»Wer that den Schuß?«

»Je nun,« brummte ausweichend der Mürrische, den es ärgerte, sich verschnappt zu haben, »irgend einer von der Barrikade oder aus den Häusern; vielleicht kennst Du ihn gut genug!«

»Wer that den Schuß, Franz? Du weißt, wie gütig er gegen Dich war, wie schändlich Du hinter meinem Rücken seine Güte gebrandschatzt hast, und niemals schlug er Dir's ab.«

»Das ist wahr, Malchen, ich komme mir wirklich manchmal wie ein recht schlechter Kerl vor; aber ich wär's noch mehr, wenn ich einen von unserer Seite verraten wollte! Es ist ja nun egal, tot ist tot!«

Sie war mit einem Sprung vor dem Sekretär und riß eine Schublade auf. Ein Etui mit Schmucksachen flog zur Seite, dann brach sie eine Geldrolle mitten durch und reichte ihm die Hälfte.

»Nimm! aber den Namen! den Namen!«

Der wüste Mensch hatte mit habgierigem Blick dicht hinter ihr den Inhalt der kleinen Kasse verfolgt. »Ich kann es wirklich nicht thun, Male,« sagte er, »mein Gewissen ist mir für die paar Thaler nicht feil und es taugt ohnehin zu nichts!«

Sie schleuderte ihm die andere Hälfte der Rolle zu und stülpte den Inhalt der ganzen Lade in seine Blouse. »Nimm alles, alles, dies Geld, den Schmuck, aber bei unserer Mutter beschwöre ich Dich – den Namen! – den Namen!«

Franz schüttelte den Kopf. »Ich kenne Dich, Male, Du hast im Grunde ein tückisch Gemüt und richtest ein Unheil an!«

»Was kümmert's Dich? Ich gab Dir alles, was ich auf der Welt besitze, aber tausendmal mehr würd' ich Dir geben für den Namen! Den Namen, den Namen, oder ich töte Dich!«

»Nun, im Grunde – was ist dabei? er rühmte sich's heute Morgen ja öffentlich, und es muß doch alles veramnestiert werden. Wenn Du's denn wissen willst – Dein alter Courmacher that's, der schöne Carl, der Dir so lange nachgelaufen ist. Es war eigentlich ein Eifersuchtsstückchen!«

Ihr Antlitz war aschfarben, das Auge starr, durchdringend auf ihn geheftet. »Weißt Du es gewiß?«

»Zum Henker, wenn ich Dir's sage,« murrte der Mann, in seiner Ehre verletzt. »Ich habe einen redlichen Handel mit Dir gemacht. Er stand über mir am Fenster, und ich sah, wie er zielte. Als der arme Mensch gestürzt war, und die Bursche über ihn herfielen, sagte er: ›Der nimmt keinem Bürgerlichen die Mädels mehr weg!‹«

Langsam trat das Mädchen zu dem Lager des Toten, nur in den Augen glühte es. Der rohe Bursche erbebte, als er sie so sah und zog sich unwillkürlich nach der Thür zurück.

»Für mich also bist Du gestorben, Du, mein Geliebter, mein Gatte, für mich, die Arme, Niedere, die tausendmal ihr Leben für das Deine geopfert hätte! So – weil ich's dem Lebenden nicht geben kann, will ich's geben dem Toten! Der Rache gehöre mein Dasein, wenn das Kind geboren, und wie jede Stunde ohne Dich mir zur bittern Qual wird, will ich mit allen Mitteln des Weibes jede Stunde dem Mörder zur Hölle machen, bis er verzweifeln soll!«

Sie wandte sich ihrem Bruder zu: »Und jetzt hinaus mit Dir, Bube! fort von der Stätte des heiligen Todes! Genosse blutiger Mörder und Mörder selbst!«

Der wüste Mensch schlug die Augen nieder und wagte nicht zu widersprechen.

»Wenn Du mich brauchst, Malchen …:«

»Hinaus!«

Er ging. – Als er die Wohnung verließ, murrend über die bezeigte Schwäche, aber seine Beute wohl verwahrend, indem er die Muskete hinter sich drein schleppte, stieß er im Hausflur heftig an einen Mann, dem zwei andere Personen folgten.

»Donnerwetter! haben Sie keine Augen im Kopf, alter Narr?«

Statt der Antwort auf die Impertinenz fragte der Fremde nur mit gepreßter Stimme: »Wo ist es?« und eine dem Barrikadenkämpfer bekannte Stimme antwortete: »Links – gleich die erste Thür!«

»Wenn Sie zu meiner Schwester wollen, Herr,« sagte der Arbeiter etwas weniger barsch, »das arme Wurm ist leidend und kann jetzt niemanden nich sprechen!«

Der Fremde stieß ihn ungeduldig zur Seite und öffnete die Thür. Im Schein der Straßenlaterne erkannte der Mann unter der Hausthür den verkleideten Soldaten, Gottlieb, den Burschen des Toten, und einen Knaben. Der erstere winkte ihm bedeutsam, zu schweigen und zu gehen. Als er an dem Knaben vorüberging, maßen sich im Schein der Gaslaterne ihre Augen; der junge Mensch sah ihm scharf ins Gesicht, als wolle er sich die Physiognomie einprägen, und der Arbeiter erwiderte ebenso den Blick; dann verlor er sich hastig in den jetzt öde werdenden Straßen.

Der Major hatte die Thür geöffnet und war eingetreten ins Zimmer, Gottlieb und der Knabe folgten ihm.

Der alte Mann blieb am Eingang eine Weile stehen, es dunkelte ihm vor den Augen, all der Vaterschmerz kam über ihn, seine Hand griff umher nach einer Stütze, und er blieb eine Zeitlang an der Stuhllehne, die er erfaßt, ehe er die Umgebung erkennen und seine Fassung wiedergewinnen konnte.

Durch die offene Thür sah er im zweiten Zimmer das Bett, auf diesem Bett ausgestreckt eine Gestalt – er fragte nicht weiter, er stürzte dorthin und stand an der Leiche seines Erstgeborenen.

Der alte Mann erfaßte die Hand des Toten und beugte sich über ihn – Thränen rannen über die gefurchten Wangen – der Tote vor ihm war das einzige Erbe des Weibes seiner Jugendliebe, die auch längst im Schatten der alten Linden schlief auf dem Kirchhof seines Dorfes.

Laut schluchzte der Knabe am Lager des Bruders, dessen ritterlich heiteres Wesen er mehr geliebt, als selbst die beiden rechten Geschwister; im Winkel stand der Soldat und schluchzte.

»Der Herr hat ihn gegeben – der Herr hat ihn genommen! Sein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden!«

Ein tiefer Seufzer antwortete hinter den Vorhängen des Lagers dem Gebet – der Major richtete sich empor, sein graues strenges Auge fiel auf die knieende Frauengestalt.

»Wer ist diese Person?« fragte er streng den Soldaten. »Was thut sie bei dem Toten?«

»Gnädiger Herr – es ist, es ist –« stotterte der Bursche. »Sie wissen ja schon! Ach Gott, sein Sie gnädig mit ihr – ich kann nichts davor!«

Das Mädchen richtete sich empor. »Ich bin seine Witwe, Herr,« sagte sie ruhig und fest.

»Und ich bin sein Vater und werde auf dem Namen eines Röbel selbst in seinem Grabe keinen Flecken dulden.« Die Stimme des alten Edelmannes klang noch rauher als seine Worte. »Ich sehe, wie die Dinge hier stehen und wo das viele Geld geblieben ist. Das erklärt mir manches. Sei Sie so gut, uns einige Augenblicke in diesem Zimmer allein zu lassen; ich habe mit dem Toten zu thun. Dann werde ich mit Ihr weiter sprechen!«

Er wies befehlend nach der Thür; langsam, kalt ohne eine Bewegung des Widerstrebens schritt das Mädchen hinaus. Auf einen Wink des Majors schloß der Soldat die Thür.

»Jetzt komm hierher!«

Zitternd trat der Bursche dem Bett näher, zu dessen Häupten sich der alte Edelmann gesetzt hatte, das Auge auf den Toten geheftet, während der Knabe noch immer weinend zu dessen Füßen kniete.

»Steh' auf, Otto, und höre, wie ein Röbel gestorben ist. Jetzt, Mann, rapportiere, wie kam es.«

Unwillkürlich legte der Gottlieb salutierend die Hand an die Stirn, als stände er vor seinem vorgesetzten Offizier. »Wir standen man zwei Eskadrons auf dem Platz, als der Befehl kam, zum Transport von die Gefangenen Unterstützung nach die …:straße zu schicken, wo das erste Bataillon von Seiner Majestät zweitem Königsregiment mit dem Bajonett die Barrikaden der Rebellen nehmen that. An die Ecke der …:straße stand wieder eine große Barrikade aus Wagen, Fässern und Steinen, und der Angriff war schonst zweimal zurückgeschlagen worden, denn die Leute schossen man aus die Fenster und warfen mit Steinen. Es war's Kommando jegeben, ein Jeschütz herbeizuholen und die Artilleristen protzten ab zwei Viertel hinter uns. Da erhielt der Junker die Ordre, mit 'nem Trompeter vorzureiten, dem Gesindel unter die Nase, und es aufzufordern, ruhig nach Hause zu jehn, eh wir Ernst machten. Ich sah, wie der gnädige Junker mit der Hand winkte, aber er konnte den Mund noch nich ufjethan haben, als er die Arme in die Luft streckte und von's Pferd fiel.«

Ein Schluchzen quoll die Kehle des armen Burschen herauf, und erstickte seine Stimme.

»Weiter!« befahl tonlos der alte Offizier.

Gottlieb räusperte sich. »Es hatte so ein nichtswürdiger Kerl aus dem Fenster geschossen,« fuhr er fort, »ick habe den Rauch noch jesehn. Der Junker hatte genug, es war wahrhaftig nicht nötig, daß die Hallunken noch über die Barrikade sprangen und ihm den Hieb über den Kopp jaben. Aber ich habe den schwarzbraunen Schurken mir jemerkt, und wenn ick ihn wiedertreffe …:«

»War der Ferdinand zur Stelle tot?«

Der Soldat wischte sich die Augen mit dem Ärmel seines Flausches. »Der Trompeter hat mich nachher erzählt, er hätte ihn sagen hören: »Ach Jott! ach Jott!« als er vom Pferde stürzte, ehe er selbsten davon ritt. Als wir herankamen und ich ihnst aufhob, zuckte er nicht mehr!

Der Major faltete die Hände. »So ist er gestorben, wie ein braver Soldat und wie ein Sohn seines Hauses. Der Tod sühnt alles andere! Laßt uns beten für seine Seele!«

Kein Laut war hörbar, als das leise Murmeln der Betenden und das unterdrückte Schluchzen des Knaben.

Der Major erhob sich und küßte die Stirn der Leiche.

»Otto, mein Sohn, tritt her zu Deinem Bruder!«

Der Knabe gehorchte.

»Sieben Röbel,« sagte der alte Edelmann, »sind gefallen gegen den Feind, bei Jena, Görschen und Ligny für den König und das Vaterland. Ich bin der Letzte mit meinen Söhnen vom Geschlecht derer von Röbel. Der hier liegt, ist der erste, der gefallen ist von der Hand seiner Landsleute. Aber wenn der Schild mit den Adlerflügeln und dem Baum auch über meinem Grabe zerschlagen werden müßte, so lange ein Röbel lebt, soll er für das Königtum stehen!«

Er nahm die Hand seines Jüngsten und legte sie auf die Todeswunde des Gefallenen.

»Hier, Knabe,« sprach er, »schwöre mir auf diese Wunde, die der Verrat geschlagen, daß Du, zum Manne geworden, den Tod Deines Bruders rächen willst im Kampf gegen die Revolution, wo immer auch sie ihr blutiges Haupt gegen den rechtmäßigen Fürsten erhebt. Schwöre es bei dem Namen Deines Hauses und auf das Evangelium!«

»Ich schwöre es,« sagte der Knabe mit fester Stimme.

Der alte Edelmann nahm seinen blonden Lockenkopf zwischen die Hände und küßte ihn auf die Stirn. »So weihe ich Dich zum Kämpfer des Königtums von Gottes Gnaden und zum Feinde der Revolution. Die Rache ist des Namens von Röbel würdig!«

Eine Thräne, die letzte, fiel auf seine reine Stirn. Der Knabe küßte die Hand seines Vaters und dann die Brust des toten Bruders.

»Du wirst nach dem Kahn gehen, Gottlieb,« befahl der Major, »und einen der Bootsleute hierher führen. Bringt das Brett aus dem Kahn mit Euch und Stricke. Begleite ihn, Otto, oder bleib' vor der Thür. Was ich hier noch zu verhandeln habe, paßt nicht für Deine Ohren.«

Er ging nach der Thür und legte die Hand auf die Klinke. Der Soldat fiel auf die Knie. »Euer Gnaden, Herr Major,« sagte er, »machen Sie's man jnädig mit ihr – um des jungen Herrn willen.«

Der alte Offizier sah ihn finster an. »Narr, in was mengst Du Dich? Thu', was ich Dir befohlen!« Er öffnete die Thür und trat in das vordere Gemach.

Der Soldat schlich wie ein eingeschüchterter Hund hindurch und verließ das Haus, der Junker folgte ihm; aber ein tiefes Mitleid mit dem jungen Mädchen, das er im Hindurchgehen starr und teilnahmlos auf einem Sessel sitzen sah, beschlich sein junges Herz, obschon er noch kaum ihr Verhältnis zu dem toten Bruder zu verstehen vermochte und er weigerte sich, Gottlieb zum Wasser zu begleiten, und blieb, an die Hausthür gelehnt, zurück.

Ein Mann stieg die Stufen herauf – eine warme Hand drückte die seine. »Gott sei Dank, daß ich Dich allein treffe, Otto!«

»Du bist's, Rudolph! Um Himmelswillen, daß Dich der Vater nicht hört. Er ist sehr zornig gegen Dich!«

Es war in der That der Student, der dem Major und dem Knaben im Schloßhof an den blutigen Leichen der Barrikadenkämpfer begegnet war, aber er hatte jetzt die klirrenden Waffen und äußeren Abzeichen abgelegt und sich in einen Mantel gehüllt.

»Darum eben schlich ich ums Haus, Dich oder Gottlieb zu treffen,« sagte der Student. »Vor allem – wie geht es zu Hause und was macht Rosamunde?«

»Der Schmerz liegt über allen,« erwiderte der Knabe, »das Band ist zerrissen, das uns zusammenhielt, und die arme Schwester wird noch mehr weinen, wenn sie hört, was Du gethan, um Dich von uns zu trennen. O Rudolph, wie konntest Du ihm mit den Waffen gegenüber stehen, der Dich so sehr liebte, und vielleicht die Kugel senden helfen in sein treues Herz?!«

Der Student zuckte schmerzlich zusammen und strich mit der Hand über die Stirn. »Knabe,« sagte er heftig, »ich liebte ihn, wie Du ihn nur lieben konntest, ich liebte ihn wie meinen Bruder, und willig hätte ich mein Leben gegeben für das seine. Aber was weißt Du von dem großen Streit der Prinzipien, die uns trennten! Du hörst nur die starre, einseitige Meinung Deines Vaters und begreifst nicht, wie der thatendurstigen Jugend die Brust schwellt, wenn sie den Flügelschlag der neuen Ära hört, die heraufsteigt für das Vaterland. Ein freies, großes, einiges Deutschland, eine Nation, die würdig ist, selbst über ihr Wohl und Wehe zu entscheiden, Freiheit des Menschen und der Entwickelung seiner Kräfte, nicht länger eine schnöde Herrschaft des Aberglaubens, des Reichtums und der Geburt!«

Der Knabe schüttelte trübe den Kopf. »Du gehst andere Wege wie wir, Rudolph,« sagte er schmerzlich. »Ich bin noch zu jung, um zu entscheiden, wo das Wahre und Rechte liegt, aber ich meine, wo Männer wie Dein Vater und der meinige einig sind, da könnte wenigstens nichts Unrechtes sein, und über Mord und Empörung kann unmöglich der Weg zum Guten führen!«

»Das Blut, Knabe, ist von jeher die furchtbar notwendige Taufe alles Großen in der Menschengeschichte gewesen!«

»Wohl! so sei es! Du hast gewählt; Ferdinand, Dein Freund und Bruder, ist erschlagen von Deinen neuen Freunden; der Kummer Deines alten Vaters, der Schwester Thränen, die so aufrichtig an Dir hängt, alles wiegt nichts gegen das, was Du Dir gewählt. Geh' Deine Wege, wir werden die unseren gehen. Ich bin ein Röbel, ein Knabe noch, wie Du sagst; aber Du sollst erfahren, daß diese Stunde mich zum Manne gemacht hat. Fortan ist eine Kluft zwischen uns und allem, was dieser Revolution anhangt; und wenn die Zeit gekommen, werd' auch ich Dir gegenüber stehen!«

»Das walte Gott, es war genug an dem einen! O, Otto! mein Herz ist zerrissen, aber ich kann nicht anders, denn ich bin ein Sohn meines Vaterlandes, und seine Freiheit ist seiner Kinder heilige Pflicht. Grüße Rosamunden und sage ihr – – sage ihr, daß, was uns auch trennen mag, der Freund ihrer Jugend sie nie vergessen wird.«

»Horch!«

Ein schmerzlicher wilder Aufschrei, aus dem Zimmer zur Linken kommend, unterbrach ihre Unterredung.

»Da drinnen,« sagte der Student mit Bitterkeit, »geht etwas vor, das auch zum Kapitel der Standesherrlichkeit und der unterdrückten Menschenrechte gehört. Dein Bruder war ein Demokrat wie wir, auch wenn er die Uniform trug, denn seine Liebe war beim Volke! Möge Gott Deinem Vater das Herz nicht anrechnen, das er da drinnen zerreißt!«


Der Major von Röbel war unruhig einigemale im Zimmer auf- und abgeschritten; er vermochte einen gewissen Einfluß nicht abzuschütteln, den das Wesen des Mädchens vor ihm auf ihn ausübte.

Endlich, unzufrieden mit sich selbst, zeigte er sich in diesem Gefühle noch rauher, strenger, als er vielleicht anfangs beabsichtigt. Er trat auf die Unglückliche zu.

»Wie heißt Sie?«

»Amalie Günther.«

»Wer waren Ihre Eltern?«

»Ehrliche Handwerker, Herr; ich selbst eine Näherin, die für die Leinengeschäfte arbeitete.«

»Da hat Sie ein ehrlich Stück Brot mit einem schlechten Gewerbe vertauscht! Sie weiß jetzt, wer ich bin, und ich sehe, wie hier alles zugegangen ist. Sie war die Maitresse meines Sohnes. Sind die Möbel hier gemietet oder – Ihr Eigentum?«

»Ihr Sohn hat sie gekauft.«

»Sie mag behalten, was er an Sie verschwendet hat. Ich denke, damit werden Ihre Ansprüche genügend bezahlt sein.«

Das Mädchen stand auf. »Herr,« sagte sie ruhig, »ich habe eine Pflicht zu erfüllen gegen das Erbe Ihres Sohnes unter meinem Herzen, sonst würde ich Sie bitten, alle diese Sachen fortnehmen zu lassen.

»Ich sehe, daß Sie schwanger ist,« sprach der Edelmann hart. »Bei Frauenzimmern Ihres Schlages braucht man nicht zu untersuchen, von wem? Sie nimmt den Besten, und der da drinnen muß geduldig herhalten. Ich werde meinen Advokaten beauftragen, wenn das Kind geboren ist, Ihr die gewöhnlichen Alimente auszuzahlen. Sie mag sich an ihn wenden, hier ist seine Adresse. Aber ich bitte mir aus, daß Sie mich und die Meinen in keiner Weise weiter molestiert und den Namen von Röbel nicht mehr in den Mund nimmt.«

»Das Kind, mein Herr, daß ich gebären werde,« entgegnete die Beleidigte unbeweglich, »ist das Kind Ihres Sohnes, und es wird auf seinen Namen getauft werden.«

Das Gesicht des alten Edelmannes wurde wie mit Blut übergossen, und er machte im ersten Augenblick eine drohende Bewegung gegen das Weib. »Unverschämte! wage es! das Kind einer öffentlichen Dirne meinen Namen! – Doch – es ist unnötig, daß ich mich aufrege, für Frauenzimmer Deines Gelichters werden die Freiheitshelden draußen auf den Gassen doch wohl noch das Arbeitshaus gelassen haben!«

»Ihre Beleidigungen, Herr,« entgegnete das junge Weib kalt, »kann ich nicht erwidern. Sie sind der Vater dessen, der selbst im Tode noch mein Gott ist auf Erden. Wäre er lebendig, so würde er Ihnen sagen, daß er selbst dem Kinde das Recht auf seinen Namen gegeben, und daß Sie sein Weib schmähen, das diesen Namen getragen haben würde, wenn er nicht eine starre Leiche da drinnen läge!«

»Lüge! lächerliche Lüge! Ein Röbel und die Schwester eines Barrikadenlumpen, die ihn vielleicht ermorden ließ, um besser ihr Spiel zu treiben – eine Metze – – –«

»Halten Sie ein, Herr!« Die Gestalt der jungen Frau schien zu wachsen, ihr Auge maß sich furchtlos mit dem des erbitterten, tief verletzten Aristokraten. »Ich bin kein feiles Geschöpf, weil ich ein Herz hatte, so gut und treu, wie es Ihre vornehmen Damen nur haben können! Dies Herz gehörte Ihrem Sohne, Herr, und er wenigstens hat es verstanden, wenn es auch in der Brust eines armen und niedern Mädchens schlug. Gott schuf die Menschen gleich mit ihren Ansprüchen und Rechten auf das Glück, nur die Menschen selbst haben es anders gemacht und die Scheidewände erfunden. Der Aufruhr, der da draußen durch die Gassen tobt und der sein Herzblut gekostet – er schwänge vielleicht nicht die blutige Fahne, wenn die Reichen und Vornehmen mehr bedacht, daß die Güter des Herzens den Menschen adeln, nicht der Zufall der Geburt. Sein Weib, nicht seine Maitresse war ich, wenn uns auch des Priesters Segen noch nicht getraut, und sein Wort hat er verpfändet, daß er, wie sein Herz, so auch seinen Namen mit mir und dem Kinde teilen werde. Darum fordere ich ihn für das Kind; ich selbst bedarf seiner nicht, denn mein Weg ist ein anderer!«

»Ein Eheversprechen? Lüge! schändliche Lüge! – so weit hat er sich nicht vergessen, oder mein Fluch würde ihm folgen ins Grab!«

»Ich lüge niemals; Gott vielleicht legte die Ahnung in seine Seele – darum zwang er mich, es geschrieben von seiner Hand anzunehmen, wo doch sein Wort mir mehr galt als hundert Eide.«

Der alte Edelmann zitterte bleich und erschöpft, als sie ruhig an ihm vorüber nach dem Schreibtisch schritt, in dem sie das Dokument bewahrte. Kalter Schweiß stand in Tropfen vor seiner Stirn, als er halbgebrochen murmelte:

»Beweise, Weib, Beweise für Deine Lüge, denn ein Röbel darf niemals sein Wort brechen, ob lebendig oder tot!«

Sie war an den Schreibtisch getreten und zog den Schub auf; das Papier fehlte darin; jetzt erinnerte sie sich daran, daß sie es vorher dem Bruder gezeigt. Hastig warf sie die Sachen durcheinander, riß die Schubladen auf, ihre Finger suchten fieberhaft, ihre Augen glühten ängstlich, nirgends, nirgends das verhängnisvolle Dokument. Die Wahrheit, die furchtbare Wahrheit stieg vor ihr empor – es war fort! – der eigene Bruder –

Da war es, wo jener gellende Schrei, den der Knabe und der Student gehört, sich ihrer gequälten Brust entrang. Die Hände flehend erhoben taumelte sie auf den Edelmann zu:

»Beim ewigen Gott! ich sagte Ihnen die Wahrheit – aber es ist fort – gestohlen vor wenig Augenblicken!«

Der Major trocknete sich den Schweiß von der Stirn. »Spare Sie sich die Komödie, Mamsell,« sagte er hart und strenge. »Es war wie ich dachte; so weit konnte er sich unmöglich vergessen. Die Spekulation auf das Vermögen seiner Mutter war nicht schlecht, aber sie ist mißglückt!«

»Barmherziger Himmel – ich schwöre Ihnen – Ferdinand …:«

»Nenne Sie den Namen nicht mehr,« donnerte der alte Offizier, »oder es wird hoffentlich noch so viel Gerechtigkeit in Berlin geben, um einer Hure den Mund zu stopfen! Fort da –!«

Er stieß sie rauh zurück, so daß sie am Sessel niedersank, und ging nach der Thür, an der es klopfte. Gottlieb und der eine Schiffer standen davor und traten an, seinen Wink herein; sie trugen ein Brett. Der Knabe folgte ihnen. Draußen an der Hausthür verschwand der Schatten des Studenten.

»Hier hinein!« befahl der Major; der Soldat, der einen scheuen Blick auf das unglückliche Mädchen warf, folgte in das zweite Zimmer. Auf den Befehl des Majors schoben sie das Brett an die Seite des Toten und legten diesen darauf. Die Leiche wurde mit Stricken festgebunden und der Major warf das Laken darüber.

»Nehmt ihn auf und folgt mir – es ist Zeit, daß wir diesen Ort verlassen.«

Er ging voran, den Säbel des Toten unter dem Arm. Der Soldat und der Schiffer hoben die Leiche auf; als sie durch die vordere Stube schritten, fuhr das unglückliche Mädchen aus seiner Betäubung empor und stürzte auf sie los. »Was ist das – was tragt Ihr dort?« Ihr irres Auge fiel auf das leere Lager. »Ewiger Gott! Ihr wollt ihn mir nehmen!« Wie eine Wahnsinnige warf sie sich den Männern entgegen. »Er ist mein! mein! ich lasse ihn nicht! Laßt mich noch einmal ihn sehen, wenn Ihr Menschen seid!«

Der Major stieß sie unsanft zurück und öffnete die Thür. »Er hat kein Geld mehr zu vergeuden,« sagte er rauh. »Sie wird sich zu trösten wissen!«

Das Mädchen taumelte wie eine Trunkene. Sie drehte sich um sich selbst, die Arme in der Luft, als sich die Thür hinter der Leiche schloß.

»Ferdinand! Ferdinand!«

Der Schrei war herzzerreißend, dann stürzte sie schwerfällig, ohnmächtig zu Boden.

Noch einmal öffnete sich behutsam die Thür, der Knabe lauschte scheu herein, beugte sich weinend einen Augenblick nieder zu der Ohnmächtigen und folgte dann eilig den Vorangegangenen.

Durch den Thränenschleier, der seine Augen trübte, sah er in einiger Entfernung vor dem kleinen Trauerzuge her einen Schatten gleiten – er sah ihn mit einer Gruppe sprechen, die des Weges daher kam, und die Männer beiseite treten; sein Herz sagte ihm, wer es war, der der Leiche des Freundes – des Feindes den letzten Dienst erwies.

Unbelästigt kam der alte Edelmann mit seinen Begleitern und ihrer traurigen Last an die Landungstreppe, wo der Kahn ihrer harrte.

Als der Student zurückkehrte zu dem Liebesasyl des Toten, getrieben von Besorgnis um die Ärmste, fand er sie noch in derselben Lage bewußtlos am Boden.

An ihrer Seite lag die kleine Börse und die goldene Uhr des Knaben.



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