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Der Wolf im Schafspelz.

In dem uns wohlbekannten Zimmer auf der Jesusgasse saß zu später Nachtstunde Pater Mariano, das Habichtgesicht mit den scharfen, stechenden Augen auf das Manuskript gerichtet, das er von Doktor Malder erhalten hatte. – –

Pater Marianos Augen glitten eifrig und unverwandt über die Zeilen, welche die Geschichte der unglücklichen Schutzbefohlenen des deutschen Arztes enthielt. Zuweilen zuckte ein verächtliches Lächeln um seinen Mund, zuweilen erschienen finstere Falten des Zornes auf seiner Stirn.

Der Inhalt der Schrift war mit Hinweglassung aller Abschweifungen und subjektiv gehaltener Argumente folgender:

In Boulogne sur Mer lebte ein Schiffskapitän – ich will ihn Montal nennen – mit seiner Familie im Besitze der erstrebenswertesten Erdengüter: häuslichen Glückes, einer Heimstätte von paradiesischer Schönheit und, last not least, eines wohlgefüllten Geldbeutels. Die zahlreichen Handelsreisen, welche er unternommen hatte, waren von Neptun sowohl, wie von Merkur, mit freundlicher Hand geleitet worden, und jede erneute Rückkehr in das traute Heim und den Kreis seiner Lieben ließ immer mächtiger den Wunsch in ihm erwachen, das unstete und gefahrvolle Leben eines Seemannes aufzugeben und nur noch von dem Giebel seines Hauses mit den Augen den in die Ferne segelnden Schiffen zu folgen.

Der Wunsch sollte endlich zum festen, unwandelbaren Entschlusse reifen. Er bereitete sich zu seiner letzten Seereise vor, welche seine Karriere als Schiffskapitän abschließen sollte. Doch dieser Schlußakt sollte auch ein besonders würdiger sein, und so ward denn das Schiff reicher befrachtet, denn je zuvor, und auch die Anzahl der Matrosen ward demzufolge um ein Bedeutendes verstärkt. Je größer aber das Unternehmen war, um so mehr ließen sich auch die Gefahren fürchten. Um nun seine Familie für alle Fälle sicher zu stellen und möglichst vor Schaden zu bewahren, hielt es Montal für geraten, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, in der Person eines Notars für die Dauer der Reise einen Verwalter über sein Vermögen und seine Besitzungen aufzustellen, damit während seiner Abwesenheit seine Familie aller Sorgen und geschäftlichen Scherereien los und ledig sei, für den Fall aber, daß er nicht mehr zurückkehre, seine Witwe bis zur Volljährigkeit seines ältesten Sohnes auch einen treuen Beschützer und Ratgeber habe.

Nun genoß der Kapitän das (oft etwas zweifelhafte) Glück, einen Hausfreund zu besitzen. Er selbst freilich hatte in diesem Falle keinerlei Veranlassung, in dieses Glück irgendwelchen Zweifel zu setzen, denn der Frieden seiner Ehe konnte von hausfreundlicher Seite nicht getrübt werden, da seine Gattin ein edles, treues und liebendes Weib, der fragliche Hausfreund aber – ein Mönch war, und zwar dem Orden des heiligen Ignatius von Loyola angehörig.

Man muß wissen, wie trefflich die priesterlichen Ordensbrüder in Frankreich sich ihre Nester im Schoße der Familien zu bauen verstehen, namentlich wo sie Vermögen wittern, um beurteilen zu können, welche wichtige Rolle jener Mönch, den wir Pater Benedictus taufen wollen, in dem Hause des Kapitän Montal spielte. Ohne im rituellen Sinne des Wortes der Beichtvater der Familie zu sein, waren seinem Ohre die intimsten Familiengeheimnisse erschlossen, und der Kapitän insbesondere setzte ein so unbegrenztes Vertrauen in den frommen Mann und schätzte dessen scharfen Verstand und praktischen Sinn in so hohem Grade, daß er nichts unternahm, ohne vorher den Rat dieses mönchischen Orakels eingeholt zu haben. Es war fast undenkbar, daß er jemals dem Rate des Pater Benedictus zuwiderhandeln konnte. Die Gattin des Kapitäns liebte und verehrte ihren Mann zu sehr, um nicht seine Neigungen zu teilen, und so genoß denn der Mönch, welcher fast stets in der Familie anwesend war, mochte der Kapitän verreist sein oder nicht, auch ihr unbeschränktes Vertrauen.

Nun hatte dieser priesterliche Freund schon früher einmal, bei Gelegenheit einer Reise des Kapitäns, diesem den Gedanken nahegelegt, daß es doch weise und vorsichtig sei, während seines oft sehr langen Fernbleibens von der Heimat, einen Verwalter für seine Gelder und seine Besitzung zu bestellen. Freilich hatte Pater Benedictus seitdem den Punkt niemals wieder berührt, trotzdem hielt es der Kapitän für selbstverständlich, auch in diesem speziellen Falle den Priester um seine Ansicht zu befragen.

Montal war ein wenig erstaunt, daß der Mönch versuchte, entgegen seinen früheren Auseinandersetzungen, ihm die Idee ausreden zu wollen. Er begreife nicht, sagte der fromme Herr, weshalb er für dieses Mal einen Verwalter bestellen wolle, er sei ja jedesmal wieder glücklich zurückgekehrt und werde mit Gottes Hilfe auch dieses Mal wohlbehalten sein Heim und die Seinigen wiedersehen. Seine treffliche und umsichtige Gattin habe aber bisher mit Hilfe ihrer Untergebenen und Dienstboten alles geleitet und werde es zweifellos auch weiterhin mit demselben guten Erfolge tun können.

Der Kapitän war, wie gesagt, über diesen Einwand etwas überrascht, doch er sollte sehen, daß der fromme Pater schwerwiegenden Vernunftgründen außerordentlich leicht zugänglich war. Dieser lenkte nämlich alsbald ein und bemerkte, daß, wenn sein werter Freund, der Kapitän, es wirklich für durchaus notwendig und ratsam erachte, die Verwaltung seiner Angelegenheiten, während seines Fernseins vom Hause, fremden Händen anzuvertrauen, dann wolle er ihm den Mann empfehlen, der sich einzig und allein zur Übernahme dieser verantwortlichen und wichtigen Aufgabe eigne.

Er nannte den Namen eines Notars und fügte hinzu, daß Montal diesem trauen könne, wie seinem eigenen Sohne. Er kenne ihn schon lange und wisse, was an ihm sei. Nur sei es notwendig, daß er, Pater Benedictus, erst selbst mit dem Notar über die Sache spreche, weil sich derselbe höchst ungern auf Dinge einlasse, die ihm eine so große Verantwortung aufbürdeten, wie die Vermögensverwaltung einer Familie es tue.

Selbstverständlich stimmte der Kapitän jedem Worte seines priesterlichen Freundes zu, und versicherte wiederholt, wie außerordentlich lieb es ihm sei, einen vertrauenswerten Mann gefunden zu haben, der sich auf eine so maßgebende Empfehlung, wie die des Pater Benedictus sei, stützen könne.

Er fügte nun die Bitte hinzu, der Pater möge so schnell wie möglich die nötigen Präliminarien bei dem Notar erledigen, und ihm alsbald Nachricht geben, wann er selbst mit diesem in Unterhandlungen treten könne. Die Sache habe Eile, weil er bereits in zwei Tagen abzureisen gedenke.

Es verging denn auch kaum ein Tag, als Pater Benedictus wieder bei dem Kapitän erschien und ihn aufforderte, sich mit ihm zu dem Notar zu begeben. In dem letzteren fand Montal einen Mann von außerordentlich einnehmendem, bescheidenem, kurz in jeder Beziehung vertrauenerweckenden Wesen. Natürlich kam infolgedessen das Geschäft sehr rasch zum Abschlusse. Ohne die geringsten Skrupel stellte der Kapitän dem Notar eine Vollmacht zur Verwaltung seiner sämtlichen Güter und seines ganzen Vermögens aus, und zwar ging sein Vertrauen soweit, daß er sich mit einer schriftlichen Gegenerklärung seitens des Notars, ohne jede gerichtliche Bestätigung, begnügte, in welcher der Notar deponierte: er mache sich verbindlich, am Tage der Rückkehr des Kapitäns diesem alles so wieder zu übergeben, wie er es am heutigen Tage in Gegenwart des Paters von ihm übernommen habe.

Sehr zufrieden mit diesem Resultat und mit dem Gefühle aufrichtiger Dankbarkeit für den Pater Benedictus im Herzen begab sich Kapitän Montal nach Hause, um im Schoße seiner Familie die letzten Stunden vor seiner Abreise hinzubringen. Mit um so ruhigerem Bewußtsein konnte er dies tun, als er ja das Geschick seiner Familie für alle Eventualitäten in guten Händen wußte. Das Papier in seiner Brieftasche flößte ihm ein Gefühl unendlicher Beruhigung ein.

Es galt nun, seiner Gattin Mitteilung über den Schritt zu machen, den er getan, und er wartete zu diesem Zweck den Augenblick ab, wo sich die Kinder zur Nachtruhe zurückgezogen und er mit seiner treuen und geliebten Lebensgefährtin allein war. Doch die Aufgabe, deren Erfüllung er sich vorgenommen, stellte sich als keineswegs so leicht heraus, wie sie aussah.

Als sie nämlich mit einander auf dem Sofa beisammen saßen, begann Montal:

»Mein Kind, – die Stunde der Trennung ist nicht mehr fern, wir werden bis zu meiner Abreise wenig Gelegenheit mehr haben, allein zu sein, – so laß mich denn dir jetzt eine Mitteilung machen, welche deine, oder richtiger, unser aller Zukunft betrifft. Als das Weib eines Seemanns weißt du ja recht wohl, welchen Gefahren mein Beruf ausgesetzt ist; meine Reise wird sich diesmal länger ausdehnen, als gewöhnlich, und –«

Ein Tränenstrom aus den Augen seiner Gattin machte seiner Auseinandersetzung ein jähes Ende. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und rief schluchzend:

»Henri, ich bitte, ich flehe dich an, – rede in diesem Augenblick nicht von der Zukunft, laß mich die kurze, glückliche Gegenwart voll und ganz genießen! Sind es doch nur wenige Stunden, welche ich dich für lange Zeit vielleicht noch bei mir haben werde. – Weshalb trübe Gedanken haben!? Es ist nicht die erste Reise, welche du unternimmst, und Gott hat dich stets gesund und wohlbehalten in meine Arme zurückgeführt. Er wird auch diesmal meine innigen Gebete für dein Wohlergehen und deine Sicherheit erhören. Ich aber will, wie immer bisher, eine treue Pflegerin unserer lieben Kinder und Hüterin unserer Güter sein. Genügt dir das nicht? Raube uns die kostbare Zeit nicht mit Erörterungen über die Zukunft! Die Gegenwart mit dir ist so glücklich, und ohne dich – ohne dich kann ich mir überhaupt keine Zukunft denken!«

Was konnte der liebende Gatte gegenüber dem erneuten Ausbruche des Tränenstromes tun? Konnte er es jetzt noch wagen, mit der in zärtlicher Umarmung ihn umschlungen haltenden Frau von der Bestellung eines Notars und der Übergabe der Verwaltung in andere Hände zu sprechen? Unmöglich. Er gab es für diesen Abend vollständig auf und beschloß, am kommenden Morgen, wo er hoffen konnte, seine Gattin in gefaßterer Gemütsstimmung zu finden, seine Handlungsweise zur Sprache zu bringen.

Hätte er doch diesen verhängnisvollen Entschluß niemals gefaßt, – wie anders hätte sich die »Zukunft«, für die er so ängstlich zu sorgen bemüht war, für ihn und für die Seinigen gestaltet!

Der Morgen kam und mit ihm – der unvermeidliche Pater Benedictus. Letzterer erklärte sein frühes Erscheinen – die Familie hatte sich soeben erst an den Frühstückstisch gesetzt – dadurch, daß es ihn gedrängt habe, den teuren Freund vor der Trennung noch eine Weile zu sehen und seine Gesellschaft zu genießen.

»Im übrigen,« setzte er mit bewegtem Tone hinzu, »habe ich es auch für meine Pflicht gehalten, in der Nähe zu sein, um Ihrer armen Gattin soviel Trost, als in meinen schwachen Kräften steht, spenden zu können, wenn etwa der erste Schmerz sie zu sehr überwältigen sollte. Ich fürchte, mein teurer Freund,« setzte er kopfschüttelnd hinzu, »die Gesundheit des lieben Wesens ist eine so zarte, daß wir in jeder Beziehung bei der Trennung mit der größten Schonung verfahren müssen, wenn anders wir sehr nachteilige Folgen vermeiden wollen.«

Diese Bemerkung war, wie man sehen wird, eine Art von Einleitung zu dem, was kommen sollte.

Die Dame des Hauses wurde in irgendeiner hauswirtschaftlichen Angelegenheit abgerufen, und ihre kurze Abwesenheit benutzte der Priester, um dem Kapitän eine »wohlgemeinte« Warnung zukommen zu lassen. Anknüpfend an seine Bemerkung über den mangelhaften Gesundheitszustand der Frau Montal, riet der Pater dem Kapitän, die Nachricht von der Bestellung eines Notars seiner Gattin erst später, und zwar durch ihn, den Pater, beibringen zu lassen. Für heute würde diese Nachricht ihren Kummer allzusehr vermehren und sie über die Maßen ängstigen.

»Die Frauen,« schloß er, »sehen bei solchen Vorsichtsmaßregeln alles viel zu schwarz, weil sie bloß ihrem Gefühle nach urteilen und für die Erfordernisse des praktischen Lebens mehr oder minder blind sind. Ihrer Gattin, mein lieber Freund, würde diese Maßregel genau so erscheinen, als wollten Sie Ihr Testament machen, und Sie wissen recht wohl, daß eine liebende Frau nur zu sehr geneigt ist, in der Aufsetzung des letzten Willens ihres Gatten, statt einen Akt pflichtschuldiger Vorsicht und Fürsorge, die Ahnung des nahe bevorstehenden Todes zu sehen.«

Kapitän Montal war viel zu sehr für seinen priesterlichen Berater eingenommen und hielt, wie wir wissen, viel zu große Stücke auf dessen Urteil, als daß er nicht der Ansicht des Priesters hätte beitreten sollen.

Er machte sich klar, daß Pater Benedictus in der Tat recht habe, ihm einen schonenderen Weg für diese Mitteilung an seine Gattin zu empfehlen, und beschloß daher, dieselbe für jetzt völlig zu unterlassen. Er fühlte sich sogar beruhigter, als er je zuvor gewesen, denn dieses Mal war für jeden Fall alles aufs beste geordnet, und hörte seine Gattin später in ruhigeren Augenblicken von dieser seiner Vorsorge, so konnte sie darin nichts anderes als einen neuen Beweis seiner Liebe finden; denn sein Freund, daran sei wohl kein Zweifel möglich, werde ihr die ganze Sache gewiß so vorstellen, daß sie sich nicht verletzt fühlen könne und nicht verletzt fühlen würde. Klug, wie sie sei, werde sie sich alsdann den Notar vorstellen lassen, um ihn kennen zu lernen und ihn öfters in ihrem Hause zu sehen, ihn beobachten und überwachen zu können, obschon derselbe ohnedies der ehrenhafteste Charakter sei, den man finden könne.

Dies war das Räsonnement Montals, dem sein Entschluß, den Rat des Priesters zu befolgen, übrigens um so weniger schwer fiel, als ihm damit gewissermaßen ein Stein vom Herzen fiel. Er hatte sich, nach den Vorgängen des verflossenen Abends, im Innersten seiner Seele fast gefürchtet vor dem Moment, wo er seine Frau über den Schritt, den er getan, aufklären sollte.

Und so kam denn der Augenblick des ergreifenden Abschiedes heran, ein Augenblick – so schwer, so bitter wie wenige zuvor im Schoße dieser glücklichen Familie. Es war, als könnte der Kapitän sich von den Seinen nicht losreißen, und als er die schmerzgebrochene Gestalt seiner Gattin ohnmächtig zu Boden fallen sah, da ergriff es ihn mit unsagbarer Angst, da fühlte er ein wildes, ahnungsvolles Weh im Herzen, das er noch niemals zuvor, so oft er sich auch unter ganz ähnlichen Umständen von seiner Familie verabschiedet hatte, empfunden.

Und dieses Schreckensgespenst einer bösen Ahnung, diese unerklärliche nagende Unruhe verfolgte Montal selbst bis auf sein Schiff, so daß es ihm fast unmöglich war, mit klarem, besonnenem Geist all die vor der Abfahrt nötigen Anordnungen zu leiten. Als alles bereit war, um in See zu stechen, formte sich dieses unerklärliche Bangen in ihm zu einem Entschluß.

Er eröffnete seinem ersten Offizier, daß er im Drange der Geschäfte die Erledigung einer wichtigen Angelegenheit im letzten Augenblicke vergessen habe, und befahl daher, die Abreise noch auf mehrere Stunden aufzuschieben. Er selbst ließ darauf ein Boot klar machen und sich in demselben wieder ans Land setzen. Kaum hatte er den Boden von Boulogne betreten, als er auch schleunigst nach der Wohnung des Notars eilte, fest entschlossen, sämtliche dem Letzteren erteilte Vollmachten sich wieder zurückgeben zu lassen.

An der Tür des Hauses, in welchem der Notar wohnte, angelangt, trat ihm der Portier entgegen. Hastig fragte er:

»Ist Monsieur N. zu Hause?«

»Monsieur N.?« lautete die im Tone des Erstaunens gegebene Antwort. »Ist Ihnen denn nicht bekannt, daß der Herr Notar seit gestern nachmittag verreist ist?«

»Verreist?« rief Montal, indem das aus Angst und Mißtrauen gemischte Gefühl in ihm immer stärker ward. »Ich habe kein Wort davon gehört. Wann gedenkt er zurückzukehren?«

Der Portier zuckte mit den Achseln.

»Tut mir leid, Monsieur, Ihnen darüber keine Auskunft geben zu können,« sagte er höflich. »Ich weiß nur so viel, daß mindestens acht Tage bis zu seiner Rückkehr vergehen wenden. Indessen, wenn Monsieur le Capitaine sehr dringende Geschäfte mit dem Herrn Notar haben, so wird Seine Hochwürden, der Pater Benedictus, der die Stellvertretung übernommen hat –«

Der Portier konnte seine Rede nicht beenden, denn in diesem Augenblicke kam »der Wolf in der Fabel« selbst, mit ausgestreckten Händen und offenbar aufs höchste überrascht, die Treppe herunter.

»Täuschen mich meine Augen?« rief er. »Sind Sie es wirklich, mein teurer Montal, oder ist es Ihr den Fluten des Meeres entstiegener Geist? Was in aller Welt ist vorgefallen, das Sie veranlaßt hat, so rasch zurückzukommen? Doch seien Sie tausendmal willkommen!«

Einen Augenblick war der Kapitän angesichts dieses herzlichen Empfanges und des völlig harmlosen Benehmens des Priesters in Verlegenheit. Seine Handlungsweise erschien ihm momentan in einem fast kindischem Lichte. Doch bald ermannte er sich und teilte dem Pater den Grund seiner Rückkehr mit, indem er ihm zugleich vertrauensvoll die ihm unerklärliche Verfassung seines Gemütes schilderte.

Der Priester lachte bei dieser Mitteilung hell auf und sagte, seinem Freunde vertraulich auf die Achsel klopfend:

»Es bleibt doch ewig wahr, daß ihr Seeleute zum Aberglauben geneigt seid, wie kaum ein anderer Stand der Welt. Es ist offenbar, daß der Abschied von den Ihrigen Sie dermaßen ergriffen, daß Ihr Gemütszustand augenblicklich darunter gelitten hat und Sie veranlaßt, alles schwarz zu sehen. Wie konnten Sie nur einen Augenblick ernstlich Mißtrauen in einen Mann setzen, dessen rechtschaffener Charakter allgemein bekannt ist, und der allenthalben die größte Achtung genießt. Es geht tatsächlich soweit, daß unser Freund, der Notar, von vielen seiner weitherzigeren Kollegen geradezu gehaßt wird, weil er durch seine außerordentliche Gewissenhaftigkeit ihnen schon oft bei Abschluß ›fetter‹ Geschäfte einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.«

Der Kapitän blickte kurze Zeit nachdenklich vor sich nieder, dann sagte er:

»Sie haben recht, Hochwürden. Mein Schritt war übereilt und mein Mißtrauen war unbegründet, allein. Sie kennen meine Frau – und wenn ich an die Worte denke, welche sie gestern abend mit mir gesprochen hat, so –«

»Sagen Sie kein Wort weiter, lieber, teurer Freund!« unterbrach ihn der Jesuit in seiner herzlichen, gewinnenden Weise. »Ich bin zu sehr gewohnt, in Ihrer Seele zu lesen, als daß es mir gegenüber besonderer Erklärungen bedürfte. Ich begreife Ihre Handlungsweise und ich ehre Ihre Motive. Glauben Sie mir, Montal, daß nichts mir schmerzlicher ist, als der Umstand, daß ich nicht die Schlüssel zu dem Geheimfache habe, in welchem mein Freund Ihre Vollmachten aufbewahrt hat, sonst würde ich keinen Augenblick zögern, Ihnen dieselben wieder einzuhändigen. Der Notar könnte ja trotzdem Ihrer Gattin nach Kräften beistehen und würde das auch gern tun, wenn ich ihm von ihrer Angst erzählen und ihm dabei erklären würde, daß es nicht die Furcht des Mißtrauens, sondern nur die Folge einer großen Nervenaufregung gewesen sei, die der Abschied von Ihrer Familie in Ihnen hervorgerufen habe.«

Was frommt's, das Gespräch zwischen dem Priester und – seinem Opfer weiter auszuspinnen, wie es an jenem verhängnisvollen Tage stattfand!? – Der Kapitän ließ sich beruhigen. Das teilweise Eingehen des Priesters auf seine Ideen, die anscheinende Bereitwilligkeit, seinen veränderten Wünschen entsprechend zu handeln, hatten soweit überzeugende Kraft für Montal, daß er den Pater Benedictus schließlich dringend bat, weder seiner Gattin noch dem Notar gegenüber ein Wort von seiner Rückkehr und den Bedenken, welche er ausgesprochen, zu erwähnen.

So schieden denn die treuen »Freunde«.

In größter Eile begab sich der Kapitän an Bord seines Schiffes zurück, beruhigt zwar und von seinem Mißtrauen völlig geheilt – aber nicht frohen und leichten Herzens. Das bleiche Gespenst unbestimmter Ahnungen wollte ihn nicht verlassen. Seine Brust vermochte nicht freudig zu schlagen, wie sonst, als der frische Seewind in die Segel einsetzte, und es war ihm, als brächte ihm das kräftige Äolskind nur melancholische Abschiedsgrüße von der Stätte des süßen Heimats- und Familienglückes, eines Glückes, das mit dem ferner und ferner zurückweichenden Küstenstriche ihm entschwand – für immer!

Und – wunderbar – dasselbe Phantom der Schwermut, welches das Haupt des wackeren Seemanns umschwebte, flog hinüber in das traute Heim, das er soeben verlassen. Nie zuvor hatte die Entfernung des geliebten Gatten und Vaters in der schönen Villa am Meeresstrand eine so schwer empfundene Öde zurückgelassen. Eine trübe, düstere Ahnung ging an jenem Tage durch die Räume, Mutter und Kinder saßen tränenlos, in dumpfem Schmerze beisammen, und selbst die Dienerschaft, welche dem milden und wohlwollenden Herrn aufrichtig zugetan war, schlich so betrübt im Hause einher, als habe man an diesem Morgen eine Leiche hinausgetragen. Auf den Gemütern aller lag das unerklärliche, unbestimmte Gefühl, als ständen sie am Vorabend namenlosen Unglücks.

Die wackere Frau des Hauses war die Erste, welche sich einigermaßen ermannte und die Kinder sowie die Dienerschaft zu trösten versuchte, so schwer ihr selbst auch diese Aufgabe fiel. Ein Gedanke hielt sie dabei aufrecht und tröstete sie bis zu einem gewissen Grade in ihrem Leid: Pater Benedictus, der treue Freund und Berater des Hauses, hatte versprochen, täglich zu kommen. Mit ihm, der dem Herzen ihres geliebten Gatten so nahe stand, der noch zuletzt ihm die Hand zum Abschied gedrückt, konnte sie ja von dem Teuren immer und immer wieder sprechen, von seinem so überaus liebenswürdigen, ja nicht selten heiteren Wesen erhoffte sie für sich und die Ihren am schnellsten Ablenkung von all den schwermütigen Gedanken und Vorstellungen.

Allein ihre Hoffnung nach dieser Seite hin schien sich nicht zu erfüllen. Große Unruhe bemächtigte sich der einsamen Frau, als drei, vier Tage vergingen, ohne daß der Pater Benedictus sich blicken ließ – entgegen seinem ausdrücklichen Versprechen, bald sich einzufinden, um der trauernden Familie zu erzählen, wie die Einschiffung vor sich gegangen, und zugleich die letzten Grüße des scheidenden teuren Gatten und Vaters zu überbringen.

Und es reihte sich ein Tag an den andern; mehr denn eine Woche war seit der Abreise des Kapitäns verstrichen und noch hatte der priesterliche Hausfreund sich nicht blicken lassen. Die anfängliche Besorgnis machte schließlich der Überzeugung Platz, daß Pater Benedictus verreist sei, und Frau Montal gab sich mit diesem Gedanken zufrieden, hoffend, über kurz oder lang mündliche, oder doch wenigstens schriftliche Antwort von dem treuen Freunde zu erhalten.

Die Erfordernisse des alltäglichen Lebens begannen inzwischen wieder allmählich in ihre Rechte einzutreten. Frau Montal schickte sich an, die Leitung der großen Besitzung energisch in die Hand zu nehmen, und so kam sie denn eines Tages auf den Gedanken, durch den Gutsverwalter alle unbezahlten Jahresrechnungen einfordern zu lassen. Ihr Wunsch ging dahin, ihr Gatte möge, wenn er zurückkäme, in den ersten Tagen nichts zu tun haben, als nur den Seinen zu leben und ihnen von seinen Reisen zu erzählen.

Nachdem sie alle eingelaufenen Forderungen beglichen hatte, war ihre Kasse beträchtlich geleert. Sie gab daher ihrem Gutsverwalter den Auftrag, von den Gutserträgen wieder einen Teil auf den Markt zu bringen, damit wieder Geld hereinkäme.

»Mein Mann,« setzte sie lächelnd hinzu, »soll, wenn er heimkehrt, mein Administrationstalent diesmal mehr bewundern, denn je zuvor.«

An dem Nachmittag desselben Tages, an welchem sie diesen Auftrag erteilt, ließ sich zu ihrer großen, aber freudigen Überraschung Pater Benedictus bei ihr melden. Freilich fiel ihr hierbei gleich ein Umstand in fast peinlicher Weise auf. Der Priester hatte in seiner Eigenschaft als vertrautester Freund der Familie bisher sich niemals in formeller Weise anmelden lassen, Tür und Tor standen ihm allezeit offen. Unter den gegenwärtigen Umständen mußte diese kalte Formalität auf sie einen doppelt befremdlichen Eindruck machen. Und ihr Befremden stieg, ja die ungewisse Angst ergriff aufs neue ihr Herz, als der Geistliche eintrat.

Keine Spur von der alten, gewinnenden Herzlichkeit war zu erblicken. Ein tiefer, fast finsterer Ernst lagerte auf seinen Zügen, und mit gemessener Höflichkeit, mit einer an ihm nie gesehenen Zurückhaltung, begrüßte er Frau Montal. So deutlich sprach aus seinem Gesicht die Tatsache, daß er irgend etwas auf dem Herzen hatte, was seine sonstige Ungezwungenheit in Fesseln schlug, daß die unglückliche Frau kaum fähig war, seine Begrüßung zu erwidern. Die plötzlich wieder aufsteigende Angst ihres Herzens lähmte ihr fast die Zunge.

»Mein Gott, Pater Benedictus!« vermochte sie endlich hervorzubringen. »Was ist geschehen? Woher diese Veränderung? In dieser Weise und mit einer solchen Miene habe ich Sie noch niemals in dieses Haus eintreten sehen. Hat Sie oder hat uns irgendein Unfall getroffen, der Sie so verändert hat? Steht Ihr langes Fortbleiben damit in Verbindung? Ich bitte Sie, setzen Sie sich – und sprechen Sie!«

Der Priester hatte, ohne eine Miene seines ernsten Gesichtes zu verändern, Platz genommen. Seine Augen suchten den Boden, und er schien mit sich zu Rate zu gehen, wie er am besten sich dessen entledigen könne, was er auf dem Herzen hatte. Dies Zögern verursachte der unglücklichen Frau, deren unbestimmte Angst immer festere Gestalt anzunehmen begann, unsägliche Qualen. Doch sie starrte, unfähig, ein Wort zu sprechen, unverwandt auf den Priester, als sehe sie in ihm eine unheilvolle Kunde verkörpert vor sich, ohne fähig zu sein, das Unglück in seiner ganzen Gesamtheit zu erfassen und zu begreifen.

»Die Aufgabe des Priesters ist oft eine schwere und bittere, Madame,« begann Pater Benedictus endlich. »Man erwartet Worte des Trostes von ihm auch dann, wenn sein eigenes Herz unter dem schrecklichen Eindrucke eines Unglückes tief, tief daniedergebeugt ist. Es ist in solchen Fällen schwer, glauben Sie mir das, Madame, sehr schwer, solche Worte zu finden und ein ungezwungenes Wesen zur Schau zu tragen.«

»Großer Gott – sei mir gnädig!«

Das war alles, was die unglückliche Frau zu stammeln vermochte, während sie mit den vor Erregung zitternden Händen ihr erbleichendes Gesicht bedeckte.

»Und doch,« fuhr der Priester nach einer erneuten Pause fort, »die Pflicht ist eine eisenharte Herrin. Sie zwingt mich, das zu sagen, was ich gern andern überlassen hätte, Ihnen mitzuteilen. Richten Sie Ihre Gedanken auf Gott, den Halt der Schwachen und den Tröster der Bedrückten, und Sie werden es gefaßter ertragen können, wenn ich Ihnen sage, daß ich der Überbringer zweier Unglücksbotschaften bin!«

»O – haben Sie Erbarmen,« stöhnte die Bedauernswerte. »Quälen Sie mich nicht mit Einleitungen! Sprechen Sie, sprechen Sie! Lieber das Schlimmste, als diese Martern der Ungewißheit!«

»Nun, so hören Sie denn,« sagte der Priester tief aufatmend, »daß das Schiff Ihres Gatten samt Mannschaft und Ladung zugrunde gegangen ist!«

Kein Wort kam von den Lippen der Frau Montal, keine Träne floß aus ihren Augen. Nach wie vor saß sie, das Gesicht mit den Händen bedeckend, aufrecht in ihrem Stuhle, nur ein leichtes Zusammenzucken, wie unter dem Eindrucke eines heftigen, schmerzhaften Faustschlages, verriet, daß sie die Worte des Priesters gehört, daß ihr Geist den furchtbaren Inhalt derselben erfaßt hatte.

»Ein Unglück,« fuhr der Priester in seiner monotonen Weise fort, »zieht nur zu oft ein anderes nach sich. So ist es leider auch in diesem Falle gewesen, Madame. Ja, ich darf sagen, es ist eine Kette voll Unglücksfällen, die ich vor Ihren Augen zu enthüllen die schmerzliche Pflicht habe. Wollen Sie mich weiter anhören, fühlen Sie sich stark genug, oder –«

»Sprechen Sie, sprechen Sie,« unterbrach ihn die Unglückliche in dumpfem Tone, der mehr wie ein Stöhnen klang.

»Es dürfte Ihnen bekannt sein, verehrte Frau Montal,« fuhr Pater Benedictus fort, »daß Ihr Gatte, mein lieber Freund, zur Verwaltung seines Vermögens während seiner Abwesenheit, einen Notar bestellt hat.«

Zum erstenmal entfernte die Gattin des Kapitäns die Hände von ihrem Gesicht und sandte dem Priester, der beharrlich den Fußboden anstarrte, einen Blick des Erstaunens zu. Doch gleich darauf senkte sie den Kopf nieder und drückte mit den Händen die Schläfen zusammen, als wolle sie mit Gewalt ihre sich verwirrenden Gedanken zusammen halten.

»Es war ein vorsorglicher Gedanke Ihres Gatten,« nahm der Priester nach einer kurzen Pause den Faden seiner Erzählung wieder auf, »der ihn zu diesem Schritte veranlaßte. Er wollte es verhindern, daß Sie irgendwelchen Unannehmlichkeiten ausgesetzt würden, für den Fall, daß seine – Gläubiger vor seiner Rückkehr mit ihren Forderungen hervortreten sollten. Kaum war nun die Tatsache von dem Untergange des Schiffes mitsamt der kostbaren Ladung bekannt geworden, als alles auf den Notar einstürmte und er sich gezwungen sah, die gesamte Habe Ihres Gemahls, gemäß der ihm gegebenen Instruktionen und auf Grund der in seinen Händen befindlichen unbeschränkten Vollmachten, den Gläubigern zu überlassen. In Wahrheit: die Schuld, welche durch die so wertvolle Befrachtung des Schiffes entstanden ist, übersteigt bei weitem den Betrag Ihres Vermögens.«

Der Priester hielt einen Augenblick inne, als sei er durch seine Rede, oder vielmehr deren Inhalt, erschöpft und angegriffen, und richtete dabei, tief aufseufzend, einen forschenden Blick auf die noch immer in starrer Unbeweglichkeit dasitzende Frau Montal. Er schien irgendeine Antwort, irgendeine Äußerung aus dem Munde der völlig gebrochenen Frau zu erwarten.

Als diese ausblieb, hob er nach einem kurzen Räuspern wieder an:

»Sie können sich vorstellen, welche Fatalitäten, welche kaum zu ertragenden Szenen in diesem Hause dieses Ereignis in seinem Gefolge haben wird. Da Sie es nun doch über kurz oder lang werden verlassen müssen, so kann ich, als treuer Hausfreund, um Sie vor noch größerem Schmerze zu bewahren, Ihnen keinen besseren Rat geben, als daß Sie so schnell wie möglich, spätestens morgen früh, mit Ihren Kindern Boulogne sur Mer verlassen und sich eine andere Heimat suchen. Am ratsamsten würde es mir erscheinen, wenn Sie sich nach Paris begeben.«

Hier schien der Priester mit seinen Auseinandersetzungen am Ende zu sein, wenigstens schwieg er still und blickte mit demselben forschenden Ausdrucke, wie vorher, auf die niedergebeugte Gestalt der ihres Gatten beraubten Frau. Aber diese fand keine Worte, um ihrem Schmerze Ausdruck zu geben, und so herrschte eine unheimliche, tödliche Stille in dem Zimmer, das noch vor wenigen Wochen Zeuge eines süßen, friedlichen Familienglückes gewesen war.

Es dauerte eine geraume Zeit, ehe Frau Montal sich aus ihrer Betäubung aufraffen konnte. Doch als sie ihr Haupt erhob und ihre Augen zum erstenmal, seit Pater Benedictus zu sprechen begonnen, voll auf den Priester richtete, senkten sich die Blicke desselben wieder zu Boden vor der Majestät des tiefsten, wildesten – darum tränenlosen Schmerzes, der aus diesen Augen sprach.

»Pater Benedictus,« sagte Frau Montal mit tonloser Stimme, »über alledem, was Sie mir soeben mitgeteilt haben, ruht ein geheimnisvoller Schleier, den ich nicht zu durchdringen vermag. Mehr als ein Punkt erscheint mir völlig rätselhaft. Vor allen Dingen ist es mir wohlbekannt, daß Henri keine nennenswerten Schulden hatte. Das wenige, was bei der großen Ausdehnung seiner Geschäfte unbezahlt geblieben war und noch geraume Zeit hätte unbezahlt bleiben können, ohne uns im geringsten zu gefährden, habe ich erst vor einigen Tagen berichtigt. Er besaß außer seinen Gütern ein bedeutendes Barvermögen, aus welchem er die Ladung des Schiffes mit Leichtigkeit hätte beschaffen können. Sollte er also wirklich diesesmal eine besondere Spekulation vorgehabt haben – und ich glaube dies nicht, da mein Gatte vor mir auch aus seinen Geschäften kein Geheimnis machte – so konnte er dazu sich die Mittel aus dem jederzeit flüssigen Vermögen beschaffen. Sie sprachen ferner von einem Notar. So oft mein Gatte verreist war, hat er stets mir allein die Verwaltung der Güter überlassen, und er hat auch diesmal nicht ein einziges Wort fallen lassen, was irgendwie zu dem, was Sie mir eröffnet haben, Bezug gehabt hätte. Sollte endlich« – und bei diesen Worten nahm die Stimme der Frau Montal einen fast harten, drohenden Ton an, als ob die ihr innewohnende Energie momentan den Sieg über den gewaltigen Schmerz erfochten habe – »sollte endlich Henri wirklich ohne mein Vorwissen einen Notar bestellt haben, so muß dieser jedenfalls eine Vollmacht aufzuweisen haben. Es war seine erste und heiligste Pflicht, sich mir, der nächsten Angehörigen und Erbin seines Auftraggebers, vorzustellen, mir das Dokument zu zeigen, auf Grund dessen er berechtigt sein soll, über unsere Habe zu bestimmen, und dazu zu beweisen, daß die Gläubiger das Recht haben, über unser Eigentum zu verfügen. – Nein, Pater Benedictus, so kann ich und werde ich Boulogne nicht verlassen. Ich bin Mutter – und ich habe die heilige Pflicht, meinen Kindern ihr Erbe zu erhalten!«

Frau Montal hatte sich bei diesen Worten erhoben, doch als sie zum Schlusse kam, als sie ihrer armen, verlassenen Kinder gedachte, über deren ahnungslosen Häuptern sich die ersten dunkeln Schatten des Lebens zu finstern Wetterwolken zusammenzuballen drohten, da brach ihre künstlich zusammengenommene Kraft, und auf ihren Sitz niedersinkend, weinte sie die ersten erleichternden Tränen des Schmerzes.

Pater Benedictus wartete ruhig, bis sich dieser erste Ansturm der schmerzlichen Gefühle einigermaßen gelegt hatte, dann sagte er, während Frau Montal, den Kopf auf einen neben ihrem Sessel stehenden Tisch gestützt, hilflos und ratlos vor sich hinstarrte:

»Ich bedauere sehr, sehr lebhaft, Madame, daß Ihr Gatte Sie so sehr über den Stand seines Vermögens im Dunkeln gelassen. Dieser anscheinende Mangel an Vertrauen läßt sich nur durch eine in diesem Punkte falsche und übertriebene Rücksicht auf Ihr leicht erregbares Gemüt und Ihre zarte Gesundheit erklären. Wäre er offener gegen Sie gewesen, so hätte es Ihnen nicht unbekannt bleiben können, daß er schon seit längerer Zeit sich in Spekulationen eingelassen hat, welche eine nach der andern einen unglücklichen Ausgang genommen haben. Alle Warnungen seiner Freunde waren leider ohne Erfolg, wie das leider nicht selten der Fall ist, bei den sonst lenkbarsten Personen, wenn die fieberhafte Sucht zum Glücksspiel an der Börse einmal ihre zauberhafte Macht über sie gewonnen hat. So kam es denn auch leider, daß Kapitän Montal die Mittel zu der letzten, kostspieligen Befrachtung seines Schiffes nur dadurch erlangen konnte, daß er seinen Gläubigern für den Fall, daß ihm ein Unglück zustoßen sollte, alle seine Habe als Eigentum verschrieb.«

»Unmöglich – unmöglich!« stöhnte Frau Montal. »So konnte Henri nicht handeln, – das grenzt an Wahnsinn!«

Der Priester erwiderte achselzuckend:

»Und doch, Madame – so gern ich auch zugebe, daß dieser Schritt nahezu unerklärlich bei einem sonst so bedachten und klardenkenden Mann aussieht – die Sache verhält sich genau so, wie ich Ihnen dieselbe dargestellt. Die Folgen unglücklicher Spekulation haben schon manchen klaren Sinn verwirrt. Aus Hoffnungen und Möglichkeiten werden für solche Leute Gewißheiten, und diese Reise sollte, nach den Berechnungen Ihres Gatten, ebensoviel einbringen, daß er seine Verhältnisse wieder ordnen könnte. Es ist die alte Geschichte von der letzten Karte, auf welche die Spieler ihr Glück zu setzen geneigt sind.«

»Aber, allmächtiger Gott,« unterbrach ihn Frau Montal mit dem Ausdrucke der Verzweiflung, »ein so liebender, treuer, sorgsamer Gatte und Vater, wie mein Henri war, konnte doch unmöglich mit einem Schlage die ganze Existenz der Seinen aufs Spiel setzen. Ich war nicht reich, als er mich heiratete, indessen ein kleines Vermögen –«

»Madame,« fiel ihr der Priester ins Wort, »auf diesen Punkt wollte ich soeben zu sprechen kommen. Sie haben vollständig recht mit Ihrer Bemerkung, betreffs der Vorsorglichkeit des Kapitäns für das Wohl der Seinen. Indessen – ich erwähnte schon, wie schwer die Hand Gottes auf diesem Unglückshause zu ruhen scheint, wie ein Glied dieser Kette von Jammer sich an das andere fügt. In der Tat hat Ihr Gemahl für den Fall, daß ihm ein Unglück zustoßen oder seine geschäftlichen Pläne sonst irgendwie fehlschlagen sollten, eine Summe baren Geldes bei dem Notar hinterlegt, um Sie und die Kinder immerhin sicher zu stellen. Der Notar nun, ein Mann von der sensibelsten Ehrenhaftigkeit, war, nachdem er den Gläubigern jene Dokumente, die Ihre Habe den Händen dieser Leute völlig überlieferten, eingehändigt hatte, von dem über Sie und die Ihren hereingebrochenen Jammer so tief ergriffen, daß er sich entschloß, noch einen Versuch zu machen, mit einem Schlage Ihnen Ihr verlorenes Eigentum zu retten. Mit der erwähnten Summe versuchte er, in Ihrem Interesse, sein Glück an der Börse. Doch das Unglück wollte, daß auch dieser letzte Versuch fehlschlug. Er verlor alles, und als er sah, daß er sich, in guter Absicht zwar, einer Überschreitung seiner Befugnisse schuldig gemacht, Sie aber dabei noch tiefer ins Unglück gestürzt hatte, – ergriff ihn eine tiefe Melancholie. In einem Anfalle dieser Stimmung – erhängte er sich.«

Wiederum hielt Pater Benedictus ein, als sei er selbst von dem niederschmetternden Eindrucke seiner Erzählung ergriffen. Frau Montal schien mit stumpfer Gleichgültigkeit alle diese Mitteilungen des Geistlichen entgegen zu nehmen. Alle andern schmerzlichen Eindrücke gingen in dem einen furchtbaren Bewußtsein auf – daß sie den treuesten und liebevollsten Gatten für immer verloren hatte. Und so war sie denn kaum fähig, das daran sich knüpfende Unheil in seiner ganzen Größe erfassen zu können.

»Sie sehen also, verehrte Frau Montal,« fuhr der Priester fort, »daß auch von jener Seite keine Rettung mehr für Sie zu erwarten ist. Es bleibt Ihnen in der Tat kein anderer Ausweg mehr, als daß Sie dem Rate Ihres besten und treuesten Freundes folgen, der heute noch alles anstrengen will, um Ihnen Reisegeld zu verschaffen, damit Sie nach Paris kommen können. Glauben Sie mir, daß ich alles Mögliche getan habe und noch tun werde, um Ihnen Ihre furchtbare Lage einigermaßen zu erleichtern. Sie werden in Paris an der Douane de la Ville eine Adresse erhalten, die Ihnen angeben wird, wo Sie für den Anfang in Paris ein Unterkommen finden können. Da mich der Jammer hier zu sehr angreift und es mir tatsächlich nicht möglich ist, dieses Haus des Unglücks noch fernerhin zu betreten, so bitte ich Sie, mich morgen früh um 9 Uhr mit Ihren zwei kleineren Kindern an der Barrière erwarten zu wollen.«

»Mit meinen zwei kleineren Kindern?« fragte die unglückliche Mutter erstaunt. »Wie soll ich das verstehen?«

Der Priester schien die Augen der Dame vermeiden zu wollen. Er blickte anscheinend nachdenklich zu Boden. »Es ist doch klar,« sagte er darauf, »daß Sie unter den obwaltenden Umständen unmöglich die Mittel finden können, die Erziehung der vier größeren Kinder in standesgemäßer Weise fortzusetzen. Es muß Ihnen zweifellos als eine Erleichterung, als ein Glück erscheinen, wenn ich Ihnen sage, daß das Pensionat unseres Ordens sich bereit erklärt hat, auf mein Ersuchen, die Erziehung derselben zu vollenden.«

»Wenn dies alles sich bestätigt,« sagte Frau Montal im tiefsten Schmerze und mit dem Ausdrucke einer gewissen Resignation, »so bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig, als mit meinen Kindern diese Stätte, wo ich so viele Jahre die schönsten Freuden eines glücklichen Familienlebens genoß, und wo ich auch in den Armen meines treuen Gatten zu sterben gedachte, zu verlassen. Doch eines erkläre ich Ihnen mit Bestimmtheit, Pater Benedictus« – und aufs neue flackerte in diesem gebrochenen Frauenherzen die Flamme der Energie auf und gab sich in dem Tone ihrer Stimme zu erkennen – »meine Kinder, alle, ohne Ausnahme, bleiben bei mir! Gott wird mich die Kraft und die Mittel finden lassen, sie würdig des Andenkens ihres Vaters zu erziehen. Hätte ich nicht erst gestern alle Jahresrechnungen meines Mannes abgeschlossen und bezahlt, so hätte ich selbst noch ausreichende Mittel für die Reise und den Anfang meines neuen, einsamen Lebens. Indessen, – unter den obwaltenden Umständen sehe ich mich freilich gezwungen, von Ihrem Anerbieten, bezüglich des Geldpunktes, Gebrauch zu machen. Doch nie und nimmer nehme ich das Geld als ein Almosen, sondern nur als Darlehen. Sobald ich in Paris angelangt bin, werde ich ohne Verzug Schritte tun, um die Regierung zu veranlassen, sofort Nachforschungen über das Schicksal des Schiffes anzustellen. Wenn es, wie Sie erzählt haben, mit allem, was an Bord war, zugrunde gegangen ist, so muß das doch allgemein bekannt geworden sein!«

Ein aufmerksamer Beobachter hätte bei diesen Worten der Frau Montal ein ärgerliches Aufleuchten in den Augen des Jesuiten bemerkt. Auch aus seiner Stimme sprach eine gewisse Gereiztheit, als er sagte:

»Sie sprechen so, als setzten Sie Mißtrauen in das, was ich Ihnen mitgeteilt habe. Das ›wenn‹ müssen wir leider dieser vollendeten Tatsache gegenüber vollständig aus dem Spiele lassen.«

Frau Montal blickte einen Augenblick unschlüssig zu Boden. Sie schien in der Tat in ihrem Herzen einen Kampf zu bestehen zwischen dem festen Glauben an die wahre und aufrichtige Freundschaft dieses Mannes zu ihrem Gatten und zu ihr selbst einerseits, und einem unerklärlichen Mißtrauen, das angesichts dieser so unklaren und völlig unerwarteten Ereignisse in ihr aufzusteigen begann, andererseits. Eine direkte Antwort auf die Bemerkung des Priesters vermeidend, sagte sie:

»Es waren ja außer den Schiffsoffizieren und der Mannschaft auch einige Passagiere an Bord, wie mir mein Gatte mitgeteilt hat, über welche doch offenbar Erkundigungen eingezogen worden sein müssen. Lassen Sie mir einen Schimmer von Hoffnung, Pater Benedictus! So lange ich nicht von der Regierung eine amtliche Bestätigung erhalten habe, will ich noch nicht alles verloren geben.«

Der Priester antwortete nur mit einem leichten Achselzucken.

»Und nun,« fuhr Frau Montal, sich erhebend, fort, »lassen Sie uns diese schmerzliche Unterredung beenden. Ich fühle, daß meine Kräfte nahezu erschöpft sind. Erwarten Sie mich morgen früh an der Barrière. Jetzt aber bitte ich Sie, mich zu verlassen. Ich muß noch suchen, mir die nötige Fassung zu erringen, um auch die Dienerschaft von diesem entsetzlichen Ereignisse in Kenntnis zu setzen und sie zu verabschieden.«

»Madame,« sagte der Priester nach kurzem Räuspern, »ich habe, wie Sie sehen, durchgängig mit der größten Umsicht und Schonung in Ihrem Interesse gehandelt, und so glaubte ich denn, auch dieser Mühe Sie überheben zu müssen, wie auch nicht minder des Schmerzes, von Ihren älteren Söhnen Abschied nehmen zu müssen. – Während ich hier Ihnen die traurige Sachlage auseinandersetzte, hat einer meiner Freunde die Gefälligkeit gehabt, Ihre Dienerschaft zu verabschieden und alsdann Ihre Söhne nach dem Orte ihrer Bestimmung zu begleiten. Es war für alle Teile das beste und –«

Weiter konnte der Priester in seiner Auseinandersetzung nicht kommen. Dieser letzte Schlag, das niederschmetternde Bewußtsein, zu all dem andern Elend noch der Kinder beraubt worden zu sein, ohne jede Andeutung, ohne vorhergegangene Bitte um Einwilligung, brach den letzten Rest der mühsam zusammengerafften Kraft und – lautlos sank die Arme zu Boden.

Als sie aus der schweren Ohnmacht erwachte, fand sie sich noch in demselben Zimmer, in welchem sie diese verhängnisvolle Unterredung gehabt, doch der Raum hatte ein völlig verändertes Aussehen. Tische und Stühle waren beiseite gerückt und in der Mitte des Zimmers sah sie gepackte Koffer und Kisten. Neben ihr standen in Reisekleidern, bitterlich weinend und über alle diese unerklärlichen Vorgänge aufs heftigste erschreckt, die jüngeren Kinder.

Es dauerte noch eine geraume Weile, ehe die unglückliche Frau sich über die vorausgegangenen Ereignisse vollständig klar war und das Entsetzliche ihrer Lage in seinem ganzen Umfange erfassen konnte. Dann erhob sie sich, umfaßte die ihr gebliebenen Kinder, sank schluchzend auf die Knie und sandte ein inbrünstiges Gebet zum Himmel um Trost, Kraft und Hilfe in dieser kummervollen Lage. Wunderbar gestärkt erhob sie sich wieder, erfaßte die Hände der beiden Kinder und sagte zu ihnen:

»Kommt, Kinder, und laßt uns noch einmal in des Vaters Studierstube gehen, um Abschied zu nehmen von dem Raume, in dem er so oft geweilt. Dann wollen wir in Gottes Namen in die Ferne ziehen!«

Armes Weib! Was lag ihr an dem Verluste der irdischen Habe? Ihre Gedanken weilten unablässig bei dem verlorenen Gatten und den ihr rücksichtslos geraubten Kindern. Gern hätte sie alle anderen Verluste verschmerzt, wären nur noch alle ihre Lieben um sie gewesen.

Eine bittere Enttäuschung stand ihr noch im letzten Augenblicke des Scheidens von der Heimat bevor. Als sie, mit den Kindern an der Hand, das Studierzimmer des Gatten betrat, fand sie zu ihrem Schrecken bereits fremde Leute dort, welche darin schalteten und walteten, als sei das ganze Haus längst ihr Eigentum gewesen. Sie wich tränenden Auges von der Schwelle zurück. Fremde Augen sollten nicht Zeugen ihres bitteren Schmerzes sein. Fort, – fort aus dem Hause des Unglücks, der Wiege ihres einstigen Glückes! Fort, mit einem Zentnergewicht von Kummer auf dem Herzen! Fort, mit tausend bangen Fragen, halb zweifelnden, halb hoffenden: was war aus ihrem Gatten geworden? Sprach der Jesuit die Wahrheit und lag der Teuere auf dem Grunde des Meeres, oder war es ein hinterlistiges Komplott, oder eine Täuschung, und blieb ihr ein freundlicher Hoffnungsschimmer auf ein Wiedersehen auf Erden?

Der erste Akt der Tragödie ist zu Ende und der Vorhang rollt wieder empor – für den zweiten.

Die unglückliche Frau stand an der Pforte des Jesuitenpensionates, wohin man, wie Pater Benedictus ihr mitgeteilt, ihre älteren Söhne gebracht hatte. Keine Macht der Erde, kein noch so eigenmächtiger, herrischer Eingriff von der Hand ränkevoller Pfaffen, sollte sie von den Kindern, dem lieben Angedenken des Verlorenen, trennen. Darum war der Weg zum Pensionat der erste gewesen, und mit dem unwandelbaren Entschlusse, nun ihre Mutterrechte auf ihre vier Söhne energisch geltend zu machen, zog sie die Glocke an der Pforte.

Als der Pförtner erschien, erklärte ihm Frau Montal, daß sie den Superieur sogleich sprechen müsse. Ihr Wunsch wurde auch ohne Zögern erfüllt, und der Leiter der Pension, ein älterer, ehrwürdig aussehender Mann, empfing die Dame mit jener Liebenswürdigkeit und jenem feinen Takte, der eine hervorragende Eigenschaft der Mitglieder des Jesuitenordens bildet und nicht wenig zu dem Einflusse beigetragen hat, den dieselben sich allenthalben zu erringen verstanden haben.

Die unglückliche Mutter trug in kurzen Worten dem aufmerksamen und mit allen Zeichen der Teilnahme zuhörenden Geistlichen ihr Anliegen vor und schloß mit den im Tone höchster Erregung gesprochenen Worten:

»Geben Sie mir meine Kinder wieder, Hochwürden! Rufen Sie mir dieselben sofort zur Stelle und lassen Sie die verwaisten Knaben wenigstens das schwere Schicksal ihrer unglücklichen Mutter teilen!«

Der Priester hatte ein sehr ernstes Gesicht zu der Darstellung der Frau Montal gemacht und schüttelte den Kopf bei dem emphatischen Schlußsatze derselben.

»Wunderbar,« sagte er, »wunderbar! Diese Angelegenheit enthält mehr Rätsel, als ich zu lösen vermag. Sind Sie auch sicher, meine Tochter, daß sich alles genau so verhält, wie Sie mir erzählt haben?«

Er sah bei diesen Worten der Dame ins Gesicht, als wolle er sich vergewissern, ob er es mit einer geistig gesunden Person oder einer in der Fieberhitze oder dem Irrsinn Sprechenden zu tun habe.

Ein herzzerbrechendes Schluchzen auf Seiten der gequälten Frau war die Antwort auf seine Frage.

»Beim barmherzigen Gott,« stöhnte sie mühsam hervor, »spannen Sie mich nicht auf die Folter! Hier sehen Sie diesen Knaben und dieses Mädchen,« fügte sie, die beiden Kinder fester an sich drückend, hinzu. »Sie sind die mir übriggebliebenen, stummen Zeugen für die Wahrheit dessen, was ich gesagt. O, bringen Sie mir meine vier Söhne herbei, ich beschwöre Sie!«

Mitleidig schüttelte der greise Priester das Haupt. Er schien sich auf etwas besinnen zu wollen. Darauf sagte er, die Hand der Dame ergreifend:

»Ich bedauere Sie aufs herzlichste, Madame. Entweder ruht die Hand des unerforschlichen Gottes unsagbar und ungewöhnlich schwer auf Ihnen – oder Sie sind das Opfer einer mir völlig unerklärlichen, grausamen Mystifikation geworden. Ich erkläre Ihnen hiermit feierlich, auf meinen heiligen Eid als Diener des Herrn, daß in mein Haus seit mehr als drei Wochen keine neuen Zöglinge aufgenommen worden sind. Doch soeben fuhr mir es durch den Kopf, daß ich zufällig gehört habe, ein Pater, der gestern von hier abgereist sei, habe vier Knaben mit nach Marseille genommen, um sich daselbst mit ihnen einzuschiffen. Wohin, das ist mir leider nicht bekannt geworden. Ich habe natürlich nicht gefragt, da ich dieser an sich vollständig unauffälligen Tatsache keinerlei Wichtigkeit beilegte. Seien Sie versichert, daß das alles ist, was ich Ihnen in dieser Angelegenheit sagen kann, und ob diese vier Knaben mit Ihren Söhnen identisch sind, ist ja auch noch eine Frage, die man nicht so ohne weiteres bejahen kann.«

Einige Momente saß Frau Montal sprachlos da, unfähig, die ganze Wahrheit dessen, was sie soeben gehört, zu begreifen. Dieser erneute Schlag, welcher sie auch der letzten Hoffnung, wenigstens ihre sämtlichen Kinder um sich vereinigen zu können, beraubte, war wohl geeignet, sie momentan förmlich zu betäuben. Schritt um Schritt, ein Unglück folgte dem andern, – genau so, wie der priesterliche »Hausfreund« es vorhergesagt!

Dann erhob sie sich rasch und rief:

»Nun denn, Gottes Wille geschehe! Doch ich gebe den Kampf nicht auf. Und sollte ich bis an das Ende der Welt gehen, – ich werde meine Kinder zu finden wissen!«

Ehe noch der Superieur des Pensionats die Hand erheben konnte, um das übliche Zeichen des Segens über ihrem Haupte zu machen, hatte Frau Montal ihre beiden Kinder erfaßt und war festen Schrittes zur Türe hinausgegangen.

In ihrem Antlitze prägte sich jetzt an Stelle der Verzweiflung der Ausdruck finsterer Entschlossenheit aus, und das Feuer, das aus ihren Augen leuchtete, schien sagen zu wollen, daß sie bereit sei zu unermüdlichem Kampfe, um ihr Heiligstes, ihr Teuerstes zurückzuerobern und zu verteidigen.

Es war spät, als sie an der Barrière anlangte, und doch war der ihr von Pater Benedictus zugesagte Wagen noch nicht da. Als derselbe endlich mitsamt dem in dem Unglückshause zurückgelassenen Gepäck ankam, bemerkte sie sofort, daß in dem Wagen, statt des Pater Benedictus, ein ihr völlig fremder Mann, dessen Äußeres übrigens nichts Geistliches hatte, saß. Sie war kaum verwundert darüber, zweifelte sie doch fast nicht mehr daran, daß sie das Verschwinden ihrer Söhne einem Gewaltstreich des Priesters zu verdanken hatte, wenn sie auch das ganze Gewebe von Schlechtigkeit, in welches sie gefallen war, noch keineswegs völlig durchschaute. Es war ihr begreiflich, daß der Priester, der jedenfalls das Resultat ihres Besuches in dem Jesuitenpensionat recht wohl kannte, um alle Erklärungen zu vermeiden, sich von ihr fern hielt. Sie beschloß jedoch vorläufig, scheinbar auf alle Intentionen des Pater Benedictus einzugehen, um alsdann bei den für die Klärung der Verhältnisse nötigen Schritten, die sie sich vorgenommen, um so freiere Hand zu haben.

Der Fremde begrüßte sie kalt, aber mit großer Höflichkeit, und übergab ihr, mit den Grüßen und aufrichtigen Segenswünschen des Pater Benedictus, eine Brieftasche mit Reisegeld, in dem Betrage von 500 Franks. Wortlos, ohne Dank und ohne Gruß nahm Frau Montal das Geld entgegen. Die Worte des Fremden, mit denen er sie daran erinnerte, daß sie an der Douane in Paris weitere Weisungen bezüglich ihres ersten Unterkommens erhalten werde, unterbrach sie mit einem kurzen:

»Ich weiß schon, Monsieur. Ich danke Ihnen, ich weiß schon!«

Alsbald saß sie mit ihren Kindern im Wagen, und auf einen Wink von ihrer Hand rollte derselbe davon – sie einer ungewissen, schmerzensvollen und kampfreichen Zukunft entgegenführend.

Der gewaltige Schmerz brach aufs neue hervor, als sie die Türme des Seine-Babels erblickte. In Gemeinschaft mit ihrem Gatten hatte sie häufig denselben Weg zurückgelegt, und jeder Stein in der französischen Metropole war für sie ein Mahner an glückselige Tage, an heitere glanzvolle Stunden aus jenen Zeiten, da Liebe und Reichtum sich vereinten, um ihr Leben zu verschönen.

Doch die Ankunft an der Douane rüttelte sie auf aus den wachen Träumen der Erinnerung, und die Stimme des Douaniers, der sie anwies, ihre Koffer für die vorschriftsmäßige Untersuchung zu öffnen, rief sie in die reale Welt und zu dem vollen Bewußtsein ihrer furchtbaren Lage zurück.

Sie blickte sich, nachdem sie mit den Kindern ausgestiegen war, aufmerksam um und sah alsbald einen Mann auf sich zukommen, der sie forschend betrachtet hatte.

»Habe ich die Ehre, Frau Montal zu sprechen?« fragte er, höflich den Hut lüftend.

»Das ist mein Name,« erwiderte sie. »Sind Sie derjenige, der mir eine gewisse Weisung seitens des Pater Benedictus zu geben hat?«

»Der bin ich, Madame,« entgegnete der Fremde. »Meine Instruktion ist sehr einfach. Ich habe Ihnen nur diesen Brief zu geben. Auf demselben werden Sie eine Adresse angegeben finden. Ich bitte Sie, sobald die amtliche Inspektion Ihres Gepäckes vollendet ist, Ihren Kutscher dorthin dirigieren zu wollen. An dem bezeichneten Orte werden Sie jemand zu Ihrem Empfange bereit finden.«

Ein halb bitteres, halb schmerzliches Lächeln zuckte um den Mund der Dame.

»Ich habe in der Tat für alle diese Aufmerksamkeiten dankbar zu sein,« sagte sie, »wenngleich die Art und Weise meiner Beförderung sehr an den Transport einer Ware mit begleitendem Frachtbriefe erinnert. Darf ich Sie wenigstens fragen, was für eine Art von Unterkommen und bei welchen Leuten ich zu erwarten habe?«

»Sie müssen mich entschuldigen, Madame,« entgegnete achselzuckend der Fremde. »Ich bin nichts wie ein niederes Werkzeug, und führe, ohne zu fragen und ohne irgendwelche Betrachtungen darüber anzustellen, die Aufträge aus, welche mir gegeben werden. Wollen Sie sich ruhig nach dem auf diesem Briefe bezeichneten Orte begeben, und Sie werden vielleicht alles erfahren, was Sie zu erfahren wünschen. Jedenfalls mehr, als ich Ihnen mitzuteilen fähig bin.«

»Wie, wenn ich nun aber den Brief öffnete und mich selbst überzeugte?«

»Madame,« lautete die in ruhigem, gleichgültigem Tone gegebene Antwort, »ich habe keine Ahnung davon, in welchen Beziehungen Sie zu meinen Auftraggebern stehen. Doch, nehme ich meine eigene Kombinationsgabe zu Hilfe, so sollte ich meinen, daß Sie die betreffenden Personen genugsam kennen, um selbst beurteilen zu können, wie unnütz und fruchtlos es wäre, diesen Brief zu öffnen. Sie können sich doch wohl denken, daß die Schrift, welche Sie in demselben finden würden, für Sie, wie für mich, so klar wie – ägyptische Hieroglyphen sein würde.«

Frau Montal sah recht wohl, daß sie von dieser Seite nichts erwarten konnte, was dazu beigetragen hätte, das mysteriöse Dunkel der Sache aufzuklären, und so schied sie denn nach einem kurzen Gruße, um sich mit ihren Kindern nach der nächsten, auf ihrer – Marschroute angegebenen Station zu verfügen.

Der Wagen hielt nach einer ziemlich langen Fahrt vor einem in einer der entlegensten Vorstädte von Paris befindlichen Häuschen. Es war inzwischen Abend geworden und Frau Montal bemerkte, als sie ausstieg und ihre Blicke aufmerksam über das kleine, einstöckige Gebäude hinschweifen ließ, daß ein Fenster desselben erleuchtet war. Das Licht verschwand jedoch plötzlich, während der Kutscher damit beschäftigt war, die Koffer von dem Wagen auf den Boden zu setzen; gleich darauf öffnete sich die Eingangstür und ein Mann mit schneeweißem Haar, eine Laterne in der Hand tragend, trat den Ankömmlingen entgegen.

»Ich sehe, daß ich hier am rechten Orte bin,« sagte Frau Montal, indem sie dem alten Manne das ihr an der Douane eingehändigte Schreiben überreichte. »Sie haben mich, wie es scheint, erwartet, und hier ist meine Legitimation.«

»Seien Sie mir willkommen, Madame,« sagte der Alte, indem er den Brief entgegen nahm. »Ich bin allerdings über Ihre Ankunft instruiert und hoffe, daß Sie alles in Ihrer neuen Heimat so weit wohnlich finden werden, als dies irgend möglich zu machen war. Seid gegrüßt, meine Kinderchen,« setzte er hinzu, die beiden Kleinen bei den Händen fassend, »und kommt furchtlos hinein. Ihr werdet euch bald heimisch fühlen.«

Es lag eine ungeschminkte Herzlichkeit in dem Wesen des Alten, welche einen ungemein wohltuenden Eindruck auf das bekümmerte Herz der armen Frau machte. Zum ersten Male seit den furchtbaren Eröffnungen des Pater Benedictus griff ein beruhigendes Gefühl in ihrer Seele Platz, ein Schimmer von Hoffnung, daß sie doch vielleicht noch nicht von aller Welt verlassen sei, daß es noch Herzen geben könne, die ihr sympathisch entgegenschlügen.

Die Koffer wurden in das Haus geschafft, der Kutscher mit seinem Wagen entlassen, und Frau Montal hatte Muße, sich in ihrem neuen Heim umzusehen.

Freilich, – Vergleiche durfte sie nicht anstellen. Solche waren wohlgeeignet, ihren Augen aufs neue Schmerzenstränen zu entlocken. Und doch fehlte der Einrichtung des Hauses bei aller Schlichtheit nicht ein Grad von Komfort. Die Möbel schienen zwar alt und viel gebraucht zu sein, die wenigen Stuben waren niedrig und der kleine Garten, den sie, aus einem der Hinterfenster blickend, entdeckte, steckte in seiner fast baumlosen Schlichtheit gar gewaltig gegen die Pracht des Parkes, bei der Villa in Boulogne sur Mer ab, doch machte alles einen saubern und netten Eindruck, und hätte nicht das drückende Gefühl, von undurchdringlichen Geheimnissen umgeben zu sein, und die Erinnerung an die verschwundenen Lieben zentnerschwer auf ihrer Seele gelastet, man hätte den Seufzer, mit dem sich Frau Montal auf dem Sofa neben dem alten Herrn niederließ, für einen Seufzer der Erleichterung halten können.

Der letztere blickte mit unverkennbarer Teilnahme auf die neben ihm sitzende Dame und sagte dann:

»Vor allen Dingen, Frau Montal, erlauben Sie mir, Sie zu versichern, daß Sie sich augenblicklich in guten Händen befinden und für Ihre persönliche Sicherheit nicht das Geringste zu befürchten haben. Ich kenne Ihre Geschichte ganz genau und sollte mich auf Grund dieser Kenntnis nicht wundern, wenn Sie mißtrauisch geworden wären und irgendwelche Hinterhalte fürchteten, wo solche nicht vorhanden sind.«

»Sie kennen meine Geschichte?« rief Frau Montal, in lebhafter Erregung beide Hände des alten Mannes erfassend. »Ich habe sofort, als ich Sie sah, in Ihrem Gesicht gelesen, daß in Ihrem Herzen Mitleid und Menschlichkeit wohnt. Oh, so sagen Sie mir, was aus meinem Manne, aus meinen Söhnen geworden ist! Geben Sie mir irgendeine Aufklärung, irgendeinen Fingerzeig, nach dem ich mich richten kann, damit ich alle nur irgend möglichen Schritte tun kann, um wenigstens meine Kinder wieder zu erlangen! Gott wird Sie tausendfach segnen, wenn Sie das Flehen einer unglücklichen, gramgebeugten Mutter erhören!«

Der alte Mann schüttelte traurig mit dem Kopfe.

»Gemach, Madame, gemach!« sagte er, und ein tiefer Ernst machte dem gewinnenden Lächeln auf seinen Zügen Platz. »Es gibt Umstände im Leben, wo auch der beste Wille durch Rücksichten gefesselt ist, die man nicht so ohne weiteres außer acht lassen kann. Es sind oft unzerreißbare Ketten. Haben Sie zunächst eine gute Meinung von mir, wie Sie soeben sagten, – nun wohl, so werden Sie der Versicherung, die ich Ihnen soeben bezüglich Ihrer Sicherheit gegeben, Glauben schenken. Das muß aber auch genug sein. Einen weiteren Trost kann ich Ihnen, darf ich Ihnen nicht geben. Glauben Sie mir auf mein Wort, Madame, daß, wollte ich Ihnen, vorausgesetzt, daß ich das überhaupt könnte, auch nur ein Wort mehr in dieser ganzen traurigen Angelegenheit sagen, ich nicht nur mich selbst im höchsten Grade gefährden, sondern auch Ihnen den allerschlechtesten Dienst erweisen würde!«

»Aber, mein Gott,« rief Frau Montal, »was soll denn aus mir und meinen Kindern werden? Ich stehe doch unter dem Schutze der Gesetze, und man kann doch unmöglich glauben, daß man sich jede Gewalttätigkeit mir gegenüber ungestraft erlauben darf! Wer kann, wer darf mir etwas anhaben, wenn ich den Schutz der Gesetze anrufe gegen die unrechtmäßige Entfernung meiner Söhne, wenn ich alle Hebel in Bewegung setze, um festzustellen, ob mein unglücklicher Gatte wirklich das Opfer seines Berufes geworden ist, oder ob nicht doch noch ein Schimmer von Hoffnung vorhanden ist, daß er in meine Arme zurückkehrt?!«

Der alte Mann schüttelte leicht mit dem Kopfe.

»Ich begreife Ihre Erregung vollkommen, Madame,« sagte er, »und dennoch ist es so, wie ich Ihnen soeben erklärt. Meine Zunge ist gebunden.«

»Sie kennen den Pater Benedictus von Boulogne sur Mer?« fragte Frau Montal.

»Ich kenne ihn,« erwiderte der Alte etwas zögernd.

»Nun denn, so bitte ich Sie, mir zu sagen, was Sie von ihm halten.«

Der Alte sah die Dame mit einem sonderbaren Gesichtsausdrucke an. Es sah fast aus, als berühre ihn die Frage etwas komisch.

»Ich muß Ihnen gestehen, Madame Montal,« sagte er nach einer kurzen Pause, »daß ich kaum weiß, wie ich diese Frage verstehen und noch weniger, wie ich dieselbe beantworten soll. Der Pater Benedictus ist ein frommer Priester unserer heiligen Kirche und ein Mitglied des mächtigen Ordens, der im Schatten der alleinseligmachenden Kirche steht.«

»Oh, ich verstehe, ich verstehe,« entgegnete Frau Montal mit Bitterkeit. »Diese Geheimtuerei, dieses rasche, mir alle Sinne verwirrende Handeln, diese Zurückhaltung, das Ausweichen auf allen Seiten – alles das wäre nicht notwendig, wenn nicht eine Spitzbüberei hinter der ganzen Sache steckte. Ich habe das in mir so gewaltig aufsteigende Mißtrauen nach Kräften zurückzudrängen gesucht, ich habe zuzeiten wirklich an eine schwere Prüfung Gottes geglaubt, und den Himmel um Geduld und Demut angefleht, – aber je mehr ich zu sehen und zu hören bekomme, um so klarer wird es mir, daß nicht die Hand Gottes, sondern die Hand verbrecherischer, ränkesüchtiger, habgieriger Menschen mein Glück vernichtet hat. Wer der Leiter dieses nichtswürdigen Komplottes ist – ich weiß es nicht, wenn ich's auch ahne. Aber, wer es auch sein möge, er fürchte die Tatkraft eines tiefgekränkten Weibes, einer bis ins tiefinnerste Herz getroffenen Mutter! Ich schwöre es bei den Häuptern der mir gebliebenen Lieblinge, daß ich keinen, auch den schwersten und gefährlichsten Schritt unversucht lassen werde, um dieses schändliche Gewebe von Lug und Trug zu entwirren und die Täter der wohlverdienten Strafe zu überantworten – und sollten sich unter denselben die höchsten Würdenträger der Kirche befinden!«

Frau Montal hatte sich bei diesen Worten erhoben und blickte mit flammenden Augen auf den alten Mann, der ihr Gesicht, während sie gesprochen, nur mit einem flüchtigen Blicke gestreift hatte, und jetzt nachdenklich zu Boden sah. Stimme, Haltung und Gesichtsausdruck der aufs höchste erregten Frau wiesen unzweideutig darauf hin, daß sie in der Tat die Absicht hatte, ihren Schwur zu halten, und – daß diese Absicht durch die aufs neue in ihr entflammte Energie nicht wenig unterstützt ward. Auffällig war es, daß dieser Eindruck auf den alten Herrn verloren zu gehen schien. Statt der Miene der Bestürzung, des Schuldbewußtseins, gegenüber diesem heftigen Ausfalle der zum rücksichtslosesten Kampfe für ihr Recht bereiten Frau, erschien auf seinen Zügen ein leises Lächeln der Befriedigung. Er sah aus, als könne er ein Gefühl der Freude über die Energie und den Kampfesmut der Frau nicht unterdrücken.

Sein Gesicht nahm jedoch rasch wieder den Ausdruck freundlichen Ernstes an, während er sagte:

»Mißverstehen Sie mich nicht, Madame. Es wäre töricht, von Ihnen verlangen zu wollen, daß Sie sich stillschweigend in das fügen, was Sie für ein Ihnen angetanes Unrecht halten zu müssen glauben. Ich glaube, daß selbst diejenigen, gegen welche Sie zu handeln gedenken, solche Erwartungen gar nicht hegen. Scheinen den betreffenden Personen die Schritte, welche Sie zu tun beabsichtigten, vielleicht zu gefährlich, – nun, so ist das immerhin noch eine andere Sache. Was ich anraten wollte – und zwar, glauben Sie mir das, so unwahrscheinlich es Ihnen auch klingen mag: aus wärmstem Interesse für Sie – das war nur Vorsicht und wieder Vorsicht. Sie haben, wie es mir scheint, und wenn Ihre Ansichten richtig sind,« setzte er vorsichtig hinzu, »mit Feinden ungewöhnlicher Art zu kämpfen, und kommen daher mit den gewöhnlichen Waffen nicht durch. – Vielleicht werden Sie mich noch besser verstehen, als dies augenblicklich der Fall zu sein scheint.«

Der alte Herr verstand es vortrefflich, nach diesen Worten die Konversation auf ein anderes Gebiet zu lenken und nebenbei Frau Montal einigermaßen zu beruhigen. Er übergab ihr die Schlüssel des Hauses, zeigte ihr die freilich nicht zahlreichen Räumlichkeiten und suchte ihr die verschiedenen Vorzüge der Wohnung, die Ruhe der Nachbarschaft und die Schönheit der Umgebung, so angepaßt für ein kummervolles Gemüt, ins beste Licht zu setzen.

Es gelang ihm auch, dank seinem so überaus gewinnenden und wohlwollenden Wesen, Frau Montal so zu beruhigen, daß sie beim Abschied ihm fast dankbar die Hand drückte und ihn mit Tränen im Auge bat, sie recht häufig in ihrer Einsamkeit aufzusuchen.

»Ich verspreche Ihnen auch,« setzte sie mit schmerzlichem Lächeln hinzu, »daß ich Sie nicht mehr um Aufklärungen quälen, sondern in meiner Angelegenheit ganz selbständig handeln werde.«

»Ich muß Ihnen erklären, Madame,« sagte nach einer kurzen Pause des Nachdenkens der alte Mann, »daß meine Aufgabe damit zu Ende ist, daß ich Ihnen dieses Unterkommen bis auf weiteres überwiesen habe. Es ist besser für Sie, wenn ich vorläufig mich hier weiter nicht sehen lasse. Glauben Sie mir, daß ich hierzu meine Gründe habe. Eine Dienerin werde ich Ihnen morgen hierher schicken. Ich bemerke ausdrücklich, daß diese weder mich näher kennt, noch irgendwie sonst über diese ganze Angelegenheit instruiert ist. Fragen würden also auf dieser Seite nichts nützen, doch können Sie der Frau in allen Stücken unbedingt vertrauen. Und nun – leben Sie wohl, und Gott behüte Sie und Ihre Kinder. Fassen Sie Mut, und geben Sie in keinem Punkte die Hoffnung auf.«

Er hatte sich bei diesen Worten der Tür genähert und drückte nochmals Frau Montal, welche resigniert schwieg, warm die Hand. Schon hatte er den Türgriff in der Hand und schickte sich an, das Haus zu verlassen, als er nochmals umkehrte und Frau Montal einen Schritt näher trat. Er beugte sein Haupt nahe an das Ohr der Dame und flüsterte:

»Noch einmal: seien Sie vorsichtig und trauen Sie niemand. Einen Wink will ich Ihnen geben: Sollte eine Stunde kommen, wo diejenigen Sie verlassen, welche Sie hier unterbringen ließen, so wenden Sie sich getrost an den Orden von St. Croix. Das Ordenshaus ist ganz in Ihrer Nähe. Vergessen Sie nicht: die Brüder von St. Croix! – Leben Sie wohl!«

Ehe Frau Montal nur ein Wort erwidern, oder eine Frage an den Alten richten konnte, war er verschwunden, und sie war wieder um ein neues, für sie undurchdringliches Geheimnis reicher.

Als sie noch spät, während die Kinder in süßem Vergessen all der traurigen Ereignisse schlummerten, betend, weinend und grübelnd, unfähig zu schlafen, auf dem Sofa saß, auf dem sie die Unterredung mit dem alten Herrn gehabt, – da preßte sie die Hände gegen die fieberheißen Schläfen und fragte sich immer und immer wieder, ob sie wache oder träume. War nicht doch vielleicht das geheimnisvolle Dunkel, mit dem sie sich umgeben fühlte, nichts wie ein schwerer, wüster Traum, der sie eine Zeitlang umfangen hielt und aus dem sie alsbald erwachen würde, um sich wieder in der alten Umgebung und unter dem Sonnenglanze des alten Glückes zu finden!? – – Vergebliches Hoffen!

Nachdem einige Tage verflossen und die ersten betäubenden Eindrücke der verhängnisvollen Ereignisse, soweit dies möglich, verwischt waren, ging Frau Montal ernstlich daran, die nötigen Schritte zur Aufklärung der Angelegenheit zu tun. Es begann für die unglückliche Frau eine Reihe von bitteren Enttäuschungen, von fruchtlosen, abspannenden Bemühungen, die sie alle ihrem Ziele um keinen Schritt näher führen sollten.

Man muß einen Begriff von dem Einflusse, von den vielfach verzweigten Verbindungen der römischen und französischen Camarilla haben, um verstehen zu können, wie das, was wir dem Leser im Folgenden nur kurz erzählen wollen, überhaupt möglich war. Es sei an dieser Stelle nochmals darauf aufmerksam gemacht, namentlich für diejenigen Leser, welche den erzählten Ereignissen mit skeptischen Kopfschütteln gefolgt sind, daß die Quintessenz unserer Mitteilung nicht eine Ausgeburt der Phantasie des Verfassers ist, sondern – leider – auf Tatsachen beruht, die s. Z. in Paris sowohl, wie in Rom, in den weitesten Kreisen das höchste Aufsehen erregt haben. Der Verfasser hat nur in bezug auf die Namen und ganz nebensächliche Umstände von der licentia poëtica Gebrauch gemacht. Das beklagenswerte Schicksal der Frau Montal ist von einer deutschen Dame, welche s. Z. eine überaus wichtige Rolle, als Trägerin geheimer Missionen zwischen Napoleon III. und Pius IX., führte (Frau von R… r), in ihren Memoiren ausführlich erwähnt worden, und dieser verdanken wir die wesentlichsten Mitteilungen. D. V.

Der erste Weg, den Frau Montal in Paris unternahm, führte sie in das Ministerium des Äußeren, indem sie dort in erster Linie hoffte, näheres über den angeblichen Schiffbruch erfahren zu können, dem ihr Mann zum Opfer gefallen sein sollte. Ihre Hoffnung war eine vergebliche. Man wußte nichts, – man sprach Zweifel und Befürchtungen aus, daß sie auf irgendeine Weise getäuscht worden sei, und wies sie schließlich an das Kriegsministerium, – in Angelegenheit ihrer Söhne an das Kultusministerium.

Für die bedauernswerte Frau waren diese ausgesprochenen Befürchtungen Lichtstrahlen der Hoffnung. Vielleicht war ihr geliebter Mann doch noch am Leben! – Mit weit besserem Mute begab sie sich daher nach dem Kriegsministerium. Dort wurde ihr die ausdrückliche Erklärung, daß der Regierung von einem Schiffbruche durchaus nichts bekannt sei. Freilich ward hieran sofort die wenig tröstliche Bemerkung geknüpft, daß bei derartigen Unglücksfällen auf der See die Schiffe oft an ferne Eilande geschleudert würden, und man oft erst nach Jahren Nachricht von der Katastrophe erhalte. Ein weiser Rat wurde ihr wenigstens hier zuteil, der wohl geeignet war, der armen Frau einen Seufzer über ihre hilflose Lage zu entlocken: Man riet ihr, in überseeischen Journalen Anzeigen, mit möglichst genauer Beschreibung des Schiffes und sonstigen, ihr bekannten Details, zu erlassen.

Um nichts weiser, um nichts getrösteter begab sie sich nach dem Ministerium des Kultus, um dort die Anzeige von dem Raube ihrer Kinder zu machen und die Regierung aufzufordern: sie solle das Jesuitenpensionat in Boulogne sur Mer auffordern, einzugestehen, wohin ihre vier Söhne gebracht worden seien. Bedauerndes und zweifelndes Achselzucken ward ihr zur Antwort. Was später von vielen Seiten öffentlich und ungeschminkt geschah, daß man nämlich ihr trauriges Schicksal für das Truggebilde eines irren Geistes ansah, schien damals schon in den Antworten, die sie erhielt, angedeutet zu liegen. Die Regierung, hieß es, sei zu irgendwelchen Zwangsmitteln gegen das Pensionat in Boulogne sur Mer dann erst berechtigt, wenn sie als Mutter nähere Anhaltspunkte zu geben vermöchte; sie solle darum zunächst genau nachforschen und konstatieren, von wem ihre Söhne dem Pensionat übergeben worden seien und unter welchem Rechtstitel das geschehen sei. Betreffs jenes Paters, der sich, nach den Angaben des Superior, mit vier Knaben in Marseille eingeschifft habe, sei es fraglich, ob derselbe nicht vielleicht vom Auslande her käme und durch Frankreich bloß durchgereist sei. Ja endlich wurde ihr sogar ziemlich unumwunden erklärt, daß es ja durchaus nicht unmöglich sei, daß ihr Gatte selbst vor seiner Abreise, mit welcher ja noch andere, etwas mysteriöse Vorgänge in Verbindung ständen, irgendeine diesbezügliche Bestimmung betreffs der Knaben getroffen habe.

Frau Montal besaß Welterfahrung genug, um einsehen zu können, daß diese Bescheide nichts mehr und nichts weniger waren, als höfliche Abweisungen, – Ausflüchte, um sich ihrer auf möglichst feine Weise zu entledigen. Das ward dadurch besonders klar, daß sich keine einzige Regierungsbehörde bereit finden ließ, direkt bei dem Pater Benedictus, der doch, da von ihm die ersten und einzigen Mitteilungen ausgegangen waren, offenbar am besten instruiert sein mußte, Recherchen anzustellen.

Als sie selbst unter der Hand in Boulogne sur Mer Erkundigungen über das Treiben und den Verbleib ihres priesterlichen Hausfreundes anstellen ließ, erfuhr sie, – daß derselbe die Stadt verlassen habe und niemand wisse, wo er sich gegenwärtig aufhielte. Für Frau Montal kam diese Nachricht kaum überraschend, konnte sie doch keinen Augenblick mehr daran zweifeln, daß jener Mönch der Urheber und Leiter des ganzen furchtbaren Komplottes war, und nun seine Schlauheit durch einen schleunigen und gutmaskierten Rückzug gekrönt hatte.

Man hätte glauben sollen, daß diese beständigen Enttäuschungen und die damit verbundenen Aufregungen die Kräfte der Ärmsten vollständig aufgerieben hätten. In der Tat war sie nur noch ein Schatten von der schönen, stolzen und glücklichen Frau, welche, geliebt und bewundert von allen, in der Villa zu Boulogne sur Mer, an der Seite des geliebten Gatten, den glänzendsten Zirkeln der Gesellschaft vorgestanden. Ganz besonders zehrte ein Angstgefühl an ihr – für die beiden ihr übrig gebliebenen Kinder. Sie konnte sich der Befürchtung nicht entschlagen, daß man auch diese ihr zu rauben versuchen werde, und so trennte sie sich von den Kleinen weder Tag noch Nacht. Auf allen ihren Gängen mußten die beiden Kinder sie begleiten, und oft kamen alle drei todmüde abends nach Hause, so daß selbst der Schlaf sie nicht erquicken konnte, und sie am andern Morgen, noch immer matt und erschöpft, ihre so wenig erfolgreiche Wanderung aufs neue antraten.

Doch die Hoffnung ist ein mächtiger Hebel, der das scheinbar Unmögliche möglich zu machen fähig ist. Die Hoffnung hielt Frau Montal aufrecht und spornte sie an in ihren Bemühungen, zum Ziele zu gelangen; trotz der sich auf ihrem Weg häufenden Schwierigkeiten, immer wieder aufs neue zu beginnen. Sie faßte, als alles fehlschlagen zu wollen schien, endlich den kühnen Entschluß, sich direkt an den Kaiser zu wenden.

Törichte Hoffnung – die auf vollkommener Unkenntnis der Verhältnisse in Paris beruhte. Der Weg zur höchsten Instanz ist allenthalben eine steile Leiter mit morschen Sprossen, von denen mehr, wie eine, unter den Füßen des Emporklimmenden zusammenbricht.

Als sich Frau Montal dem Grand-Chambellan Seiner Kaiserlichen Majestät vorstellte, um demselben ihre Unglücksgeschichte zu erzählen und ihn um seine Vermittelung zur Erlangung einer Audienz bei Napoleon zu bitten, ward sie zwar von dem Herzog von Bassano mit großer Herablassung, ja liebenswürdiger Galanterie empfangen – mais, voilà tout! Das Resultat war leider gleich Null. Der Herzog erklärte ihr »zu seinem großen Bedauern« ganz unumwunden, daß der Kaiser in solchen Fällen rein privater Natur unmöglich Audienz erteilen könne. Es würde das zu solchen Konsequenzen führen, daß Seine Majestät schließlich nicht mehr Herr seiner Zeit sein würde, wollte er einmal von diesem Prinzip abweichen. Doch schließlich setzte Frau Montal wenigstens so viel durch, daß der Herzog ihr eine schriftliche Empfehlung an den Kabinettssekretär des Kaisers, Mocquard, einhändigte. Dem solle sie die ganze Angelegenheit mitteilen und ihn dann bitten, er möge dem Kaiser darüber Vortrag halten. Es sei dies der einzige Weg, auf dem vielleicht noch irgend etwas zu erreichen sei.

Was blieb Frau Montal anderes übrig, als die ihr dargebotene Gelegenheit, von Pontius mit einem Empfehlungsbriefe zu Pilatus zu gehen, mit Dank anzunehmen? Ihr Empfang bei Mr. Mocquard war ein ganz ähnlicher, wie bei dem Herzog: Große Höflichkeit, wärmste Teilnahme, freundliche Worte und – Vertröstungen. Der Kabinettssekretär erbat sich ihre Adresse, versprach ihr, sein Möglichstes in der Sache tun zu wollen, und bat sie, ruhig abzuwarten, bis sie von ihm Antwort erhalten werde.

Damit hatten denn auch vor der Hand die Bemühungen der unermüdlichen Frau ein Ende erreicht. Sie konnte nunmehr in der Tat nichts anderes tun, als ruhig die Erfolge ihres zuletzt unternommenen Schrittes abzuwarten.

In banger Ungeduld sah sie Tag für Tag dahinschwinden, ohne daß sie irgendeine auf ihre Angelegenheit bezügliche Mitteilung erhalten hätte. Von dem alten Manne, der ihr an dem Abend ihrer Ankunft so freundlich entgegen gekommen war und ihr jenen mysteriösen Rat, sich an die Brüder von St. Croix zu wenden, gegeben hatte, hatte sie seitdem nichts gesehen. Ein ihr völlig fremdes Individuum hatte ihr eines Tages eine nicht gerade bedeutende Summe Geldes mit dem Bemerken überbracht, daß sie die gleiche Summe in regelmäßigen Zwischenräumen erhalten werde, – vorausgesetzt, daß sie sich, wie es einer Christin und getreuen Tochter der Kirche gebühre, geduldig und ruhig in die unabwendbaren Schickungen Gottes füge. Irgendwelche weitere Auskunft hatte ihr der Fremde nicht gegeben, und hatte sich, sie unter dem Eindrucke erneuter Qualen der Ungewißheit und des Zweifels zurücklassend, eiligst entfernt.

So führte sie denn ein einsames und völlig abgeschlossenes Leben, bald hoffend, bald verzweifelnd, zunächst nur darauf bedacht, die ihr gebliebenen zwei Kinder gegen jede Unbill zu schützen.

Da erhielt sie eines Tages, zu ihrer freudigen Überraschung, aus der kaiserlichen Kabinettskanzlei ein großes Schreiben. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, als sie die Siegel löste, kaum vermochte sie sich genügend zu ermannen, um den Inhalt des Schreibens zu lesen. Indessen – eine neue Enttäuschung war es nur, was ihr bevorstand. Eine Anweisung auf Tausend Franks fiel ihr in die Hand, und der Inhalt des begleitenden Schreibens besagte lediglich, daß sich Se. M. der Kaiser in Gnaden bewogen gefühlt habe, Madame Montal die genannte Summe zur Unterstützung in ihrer bedrängten Lage zu bewilligen. Kein Wort über angestellte Recherchen, keine Silbe einer Antwort auf die brennende Frage, welche ihr ganzes Herz erfüllte: Wo ist mein Gatte? Wo sind meine Kinder?! Keine Zeile der Verheißung, daß die Regierung den Tätern nachspüren werde.

Schluchzend sank Frau Montal in einen Stuhl. Es war ihr, als sei nun ihr letzter Hoffnungsanker verloren. Was sollte sie, was konnte sie jetzt noch tun?!

Am nächsten Tage richtete sie noch eine schriftliche Eingabe an die Kabinettskanzlei des Kaisers, worin sie, mit ihrem Danke für die ihr gewordene pekuniäre Unterstützung, die Bitte verband, die Regierung möge doch aufs neue sämtliche Behörden auffordern, ernstlich in der Sache vorzugehen, und vor allen Dingen es versuchen, den Aufenthalt des Pater Benedictus zu ermitteln, um diesen zur Rechenschaft zu ziehen.

Ganz ohne Erfolg blieb dies insofern nicht, als Napoleon III. in der Tat sich für den Fall interessiert haben soll. Er gab, wie sich später mit Gewißheit herausstellte, seinem Kabinettssekretär Mocquard den Befehl, sich genau über die Angelegenheit unter der Hand zu informieren. Doch diese Nachforschungen verliefen im Sande, teils wohl, weil es an der nötigen Energie hinter denselben fehlte, teils auch, weil die Haupttriebfeder in dem ganzen schwarzen Komplott, der Pater Benedictus von Boulogne sur Mer, in der Tat spurlos verschwunden war, und sich nirgends ein fester Anhalt für die Nachforschungen bot.

In höheren Gesellschaftskreisen war damals die Angelegenheit, als sie zuerst aufs Tapet kam, sehr viel besprochen worden. Jetzt, als die Sache anfing, in höchst prosaischer Weise sich in Dunst und Nebel aufzulösen, fingen die Träger der chronique scandaleuse von Paris an, das Interesse daran zu verlieren, und der unbarmherzige Gerichtshof der »Gesellschaft« erklärte alsbald die ganze Affäre als eine Art Roman, als ein wildes Hirngespinst, dem jede reale Basis mangele.

Auch diejenigen, welche an der Wahrheit der Darstellung, wie sie Frau Montal gegeben hatte, glaubten, kümmerten sich nicht weiter um die Sache. Sie wußten wohl, wie degeneriert und verwahrlost ein Teil des Klerus war, sagten sich aber auch zugleich ganz richtig, daß der bessere Teil desselben seinen eminenten Einfluß, seine weitreichende Macht in Anwendung bringen werde, um die Schandtaten seiner unwürdigen Mitglieder, wenngleich er sie nicht billigte, für alle Ewigkeit zu vertuschen.

Und Frau Montal?

Ihr Elend war im Wachsen begriffen und drohte, sie völlig zu vernichten. Ihre Mittel waren nahezu erschöpft und – die bisher regelmäßig gezahlten Unterstützungen, deren Ursprung sie, wohl mit Recht, auf ihren ersten »Wohltäter«, den Pater Benedictus, zurückführte, blieben unerwarteter Weise aus.

Ein Brief, der eines Morgens eintraf, klärte sie über diesen Umstand mit nur zu großer Deutlichkeit auf. Es wurde ihr von dem anonymen Schreiber unumwunden erklärt, daß sie fortan nicht einen Sous mehr erhalten werde, weil sie die Bedingung, unter welcher ihr die Unterstützung gewährt worden sei, in flagrantester Weise verletzt habe. Statt sich in Geduld zu fassen, statt ruhig ihr Geschick zu ertragen, habe sie ihre Wohltäter bei den Regierungsbehörden bloßzustellen und zu verleumden gesucht. Sie habe sich somit die Folgen ihrer Unvorsichtigkeit selbst zuzuschreiben, und müsse nun sehen, wie sie weiterhin mit ihren Kindern auskommen könne.

Die Unglückliche war kaum noch fähig, Schmerz und Kummer in intensiver Weise zu fühlen. Ein Grad von Apathie hatte sich ihrer Seele bemächtigt, welcher sie dazu brachte, oft stundenlang auf einem Flecke zu sitzen und mit gleichgültigem, geistesabwesendem Ausdrucke ins Leere zu starren, bis vielleicht das Weinen ihrer über den Anblick der Mutter erschrockenen Kinder sie wieder in die Gegenwart zurückrief.

So warf sie denn auch jetzt den empfangenen Brief mit einem kurzen Seufzer achtlos von sich, und begann zu berechnen, wie sie wohl mit dem, was sie noch besaß, auskommen könne. Sie wollte immer noch das Spiel nicht ganz verloren geben, und beschloß daher, ihre Schmuck- und Wertsachen, sowie die entbehrlichsten Kleidungsstücke zu veräußern, um aus dem Erlöse sich eine Summe zum Lebensunterhalt zurückzulegen, den Rest aber dazu zu benutzen, um einen zuverlässigen Agenten sich zu bestellen, der an ihrer Stelle alle weiteren Recherchen leitete.

Sie nahm ihre Zuflucht zu einem Inserat, in welchem sie bekannt machte, daß sie bereit sei, eine beträchtliche Summe Geldes demjenigen zu opfern, der sich anheischig machen wollte, all seine Zeit und Mühe ihrer Angelegenheit zu widmen. Ein verhängnisvoller Schritt, der nach zwei Seiten hin üble Folgen für die unglückliche Frau haben sollte.

Es meldete sich in der Tat jemand, der es übernehmen wollte, als Anwalt der Frau Montal zu fungieren, – wiederum ein Priester, und er verlangte natürlich Geld und wieder Geld. Der Abbé P… von St. Madeleine hatte die rührende Bescheidenheit, zu erklären, daß er gegen »Deponierung« der kleinen Summe von 3000 Franks das Mögliche und Unmögliche fertig bringen werde, um Frau Montal zu ihrem Rechte und zu ihren verlorenen Lieben zu verhelfen.

Was sollte die arme Frau beginnen? Die Hoffnung auf die Wiedervereinigung mit ihrem Gatten und ihren Kindern schwebte ihr wie eine neckische Fata Morgana beständig vor, bald näher und faßbarer, bald ferner und verworrener – und von einem nochmaligen energischen Versuch versprach sie sich alles.

So ging sie denn auf die Bedingungen des Priesters ein und legte, obwohl nach Veräußerung ihrer entbehrlichsten Besitztümer, jene 3000 Franks, die ihr einziger und letzter Notpfennig waren, vertrauensvoll in die Hände des Abbé. Um aber das Maß der Unvorsichtigkeit voll zu machen, tat sie dies, ohne sich auch nur eine Zeile der Bescheinigung von dem geistlichen Herrn geben zu lassen.

Natürlich zog dieser schmunzelnd das Geld ein und versprach, seine Auftraggeberin beständig und regelmäßig über die Fortschritte seiner angestrengten Tätigkeit unterrichtet zu halten. Worin diese »angestrengte Tätigkeit« eigentlich bestand, das sollte ewig ein Rätsel bleiben, es müßte denn darunter die Anstrengung des Magens zu verstehen sein, welcher sich der behäbige, geistliche Bonvivant, mit Hilfe der 3000 Franks der Frau Montal, unterzog.

Abbé P… war übrigens ganz ausnehmend eifrig in der ersten Zeit. Scheinbar wenigstens! Alle Zeit, die ihm sein Seelenhirtentum, als zweiter Curé in St. Madeleine, übrig ließ, verwandte er mit ergreifender Selbstlosigkeit und Nächstenliebe im Interesse der Frau Montal, und es verging kein Tag, an welchem er nicht bei der hoffenden und harrenden Dame erschien, um ihr Bericht über seine großartigen Erfolge abzustatten.

Selbstverständlich lauteten diese Berichte außerordentlich günstig, wie das, angesichts des eminenten Eifers, den Abbé P… entwickelte, gar nicht anders zu erwarten war. Das Herz der Frau Montal ward nicht wenig durch die Mitteilungen erleichtert, welche der Abbé ihr machte. Hatte derselbe doch tatsächlich alle Tage eine neue Kunde für sie, die nach seiner Versicherung mit Bestimmtheit endlich auf die rechte Fährte führen mußte.

Ob nun aber die Detektivtätigkeit des ehrenwerten Abbé nach und nach in dem Maße verwickelt wurde, daß sie ihn vollständig absorbierte, oder ob er, nahe am Ziel, beschlossen hatte, das Glücksgefühl nicht mehr tropfenweise dem Herzen der Dame zu applizieren, sondern in Gestalt eines ganzen Sturzbades glückverheißender Nachrichten, – er verschwand auf einige Zeit von der Bildfläche, nachdem seine trostvollen Besuche immer größere Lücken zu zeigen begonnen hatten. Es waren Wochen, ja Monate verstrichen, ohne daß der Abbé irgendein greifbares Resultat hätte aufweisen können. Dies hatte selbstverständlich schon genügt, Frau Montal ängstlich und niedergeschlagen zu machen. Freilich hatte es die pfäffische Beredsamkeit trefflich verstanden, alle ernstlichen Besorgnisse der Ärmsten wieder auszureden, – als nun aber auch dieser Quell der Beruhigung zu versiegen begann, als die Besuche des Abbé immer spärlicher und seltener wurden, da fing die Verzweiflung wieder im Herzen der unglückseligen Frau an Platz zu greifen.

Wir müssen hier, betreffs der pekuniären Abmachung zwischen Frau Montal und dem Priester, nachholen, daß der Abbé, getreu seiner heuchlerisch-philanthropischen Rolle, das Geld von Frau Montal nur als eine Art Depositum angenommen hatte. Er hatte damals hoch und teuer versichert, daß er nicht die geringste Bezahlung für einen so selbstverständlichen Akt christlicher Nächstenliebe verlangen könne und wolle. Die 3000 Franks sollten nur bei ihm deponiert werden für den Fall, daß eine plötzliche Reise in der Angelegenheit sich notwendig mache, ein Fall, der außerordentlich leicht eintreten könne. Seine eigenen bescheidenen Mittel könnten natürlich für eine solche Eventualität unmöglich ausreichen, und so sei denn das Depositum einer für ihn stets verfügbaren Geldsumme eine Notwendigkeit. Wir haben gesehen, daß Frau Montal dieser »Notwendigkeit« ihre Augen nicht verschloß.

Nun aber trat die bittere Not grausam und unverhüllt an sie heran. Die Unterstützungen von anonymer Hand hatten, wie wir gesehen haben, aufgehört. Der Abbé ließ sich nicht mehr sehen, und das Gebäude der Hoffnung kam immer mehr und mehr ins Wanken. Der letzte Notpfennig befand sich in den Händen des priesterlichen Agenten. Schmucksachen, Kleidungsstücke, alles nur irgend Entbehrliche war nach und nach den Weg gewandert, den unerbittliche Mahner, wie Hunger und Kälte, in solchen Fällen weisen. Das Herz der armen Mutter krampfte sich schier zusammen beim Anblicke der Entbehrungen, unter welchen die armen, luxusgewöhnten Kleinen zu dulden hatten, und ihr eigener Kummer, ihre eigene persönliche Not verschwand vor ihren Augen, wenn sie die bleichen Gesichter, die hohlen Wangen, die trüben, tränenvollen Blicke der beiden Kinder betrachtete.

So gelangte sie denn zu dem Entschlusse, den eingeschlagenen Weg bis auf weiteres wenigstens aufzugeben, und sich von dem Abbé die bei ihm deponierten 3000 Francs zurückerstatten zu lassen. Ohne Verzug führte sie auch ihren Beschluß aus und begab sich zu dem Abbé nach St. Madeleine. Derselbe ließ sie alsbald vor, empfing sie höflich, aber doch mit einer gewissen Zurückhaltung.

Ohne von derselben Notiz zu nehmen, trug Frau Montal ihm ihr Anliegen vor. Sie bat ihn, wenn er irgend könne und wolle, seine Nachforschungen in ihrer Angelegenheit fortzusetzen. Sie werde sicherlich nicht ermangeln, in späteren, besseren Tagen, ihm ausreichende Beweise ihrer herzlichen Dankbarkeit zu geben. Jetzt aber sei ihre und ihrer armen Kinder Not so hoch gestiegen, daß gar kein anderer Ausweg bleibe, als ihn, den Abbé P…, um Rückerstattung des bei ihm deponierten Geldes zu bitten. Ihre und ihrer Kleinen Existenz hinge davon ab.

Wer beschreibt das Erstaunen und den Schrecken der armen Frau, als der Abbé mit allen Zeichen der Entrüstung, über die Andeutungen der Frau Montal, ihr rund heraus erklärte, daß er gar nicht verstünde, was sie eigentlich rede und was sie von ihm wolle.

Sie versuchte es trotzdem, ihre Bitte zu wiederholen. Da verwandelte sich das Befremden des Geistlichen in sehr offenbaren Ingrimm. Er faßte Frau Montal in etwas unsanfter Weise beim Arm und rief zornig:

»Madame, – hören Sie auf, mich noch länger mit Ihren wahnwitzigen Reden zu langweilen! Ich habe mich gern und mit dem größtmöglichsten Eifer Ihrer Sache angenommen, und nun wollen Sie mich in dieser Weise lohnen?«

»Aber, Abbé,« wandte Frau Montal im Tone der Verzweiflung ein, »ich bitte Sie, ich beschwöre Sie bei der Barmherzigkeit Gottes! Erinnern Sie sich doch des Tages und der Stunde, wo wir unsere Abmachung getroffen. Sie erklärten, daß dreitausend Franks –«

»Nun ist's aber wirklich mit meiner Geduld zu Ende!« rief der Abbé in heller Wut. »Ich fange tatsächlich an zu glauben, daß die ganze Sache, die Sie mir erzählt und für welche ich mich verwendet, zum größten Teile ein wohlerfundenes Märchen oder das Hirngespinst einer kranken Phantasie ist, ebenso haltlos, ebenso unsinnig, wie diese Behauptung, daß Sie mir ohne Gegenbescheinigung eine Summe von 3000 Franks für nichts und wieder nichts gegeben haben wollen. Wäre wohl irgendein im Besitze seiner gesunden Sinne befindlicher Mensch fähig, zu glauben, daß eine Frau, die durch die angebliche Unvorsichtigkeit ihres Mannes um Hab und Gut gekommen ist, die sich überall als Opfer zu großer Vertrauensseligkeit ausgibt, so töricht, so wahnsinnig sein würde, und sei es ihrem eigenen Bruder, nach den Erfahrungen, die sie gemacht haben will, eine so namhafte Summe ohne Empfangsbescheinigung einzuhändigen!? Haben Sie vielleicht eine solche Quittung von meiner Hand, Madame? Wenn dies der Fall, dann erkläre ich dieselbe für gefälscht! Hören Sie? Gefälscht! Glauben Sie vielleicht, ich hätte das Geld, ohne Bescheinigung darüber auszustellen, von Ihnen angenommen? Der geringste Grad von Vorsicht, auf meiner Seite, hätte mich daran verhindern müssen. Achten Sie wohl darauf, Madame, daß ich ausdrücklich erkläre, von Ihnen niemals auch nur einen einzigen Sous erhalten zu haben! Sprechen Sie kein Wort weiter darüber, – sonst suche ich mich durch einen Sergeant de la Ville von Ihnen zu befreien. Gehen Sie, Madame, gehen Sie! Ich habe aufrichtiges Mitleid mit Ihnen gehabt, – doch dasselbe muß diesem bitteren Undanke gegenüber schwinden. Selbst die höchste Not vermag eine solche Handlungsweise nicht zu entschuldigen. Gott möge Ihnen vergeben, Frau Montal. – – Gehen Sie, meine Zeit ist kostbar!«

Mit diesen Worten öffnete der Abbé mit allen Zeichen des Zornes und der Ungeduld der aufs tiefste erschütterten Frau die Türe seines Kabinetts. Was blieb ihr, diesem schneidigen Sophismus gegenüber, dem selbst die erdrückende und überzeugende Wucht ihres Elends nicht gewachsen war, übrig, als dem sehr unzweideutigen Winke des Geistlichen zu folgen, und – sprachlos, tränenlos, völlig gebrochenen Mutes auf die Straße hinaus zu wanken?!

»Betrogen – aufs neue betrogen! Überall Täuschung, überall Verrat, Herzlosigkeit, Falschheit!« so tönte es in ihr und versetzte sie in einen Grad von Verzweiflung, der hingereicht hätte, sie sofort von St. Madaleine aus direkt in die Fluten der Seine zu treiben. Nur ein Gedanke hielt sie noch zurück: die Kinder! Und doch – welches Schicksal stand diesen bevor? Beraubt ihres Vaters, ihrer Geschwister, ihres Erbteils, hilflos angewiesen auf die immer mehr und mehr versiegenden Kräfte der Mutter, welche selbst kaum noch fähig war, den Hungertod von der Schwelle ihres elenden Heims fernzuhalten, – was waren ihre Aussichten? War es nicht besser, daß auch sie frühzeitig aus dem Leben schieden, ehe sie das ganze bittere Elend desselben über sich ergehen lassen mußten? Ja – das war der Ausweg. Alle drei – alle drei zusammen! Nicht getrennt sollten sie von dem Leben Abschied nehmen, das ihnen doch nichts als weiteres Leid, weitere Enttäuschungen zu bieten bestimmt war. Selbst den Tod zu suchen, die armen Kleinen aber hilflos dem Mitleid der Menschen preiszugeben, wäre doppelt grausam, doppelt rücksichtslos gewesen, nach den bitteren, entmutigenden Erfahrungen, die sie betreffs des Wertes und der Verläßlichkeit ihrer lieben Nebenmenschen gemacht. Doch sie mit sich fortzunehmen in jene unbekannten Fernen, wo ewiger Friede und ewige Gerechtigkeit herrschte, wo ihnen vielleicht das Wiedersehen mit dem Vater und Gatten winkte, das war Barmherzigkeit, das war – Pflicht bei der verzweifelten Lage der Sache, die soweit gediehen war, daß die Unglückliche nicht wußte, woher sie am nächsten Tage das Brot für sich und die Kinder nehmen sollte.

Diese entsetzlichen Gedanken durchzuckten blitzartig rasch den fieberheißen Kopf der unglücklichen Mutter, während sie durch die laternenerhellten Straßen, nicht achtend der sie umflutenden Menschenmenge, und ohne die bald erstaunten, bald mitleidigen Blicke der Passanten, welche ihr folgten, gewahr zu werden, ihrer Behausung zueilte. Der Entschluß, den diese furchtbaren Augenblicke im Hause des Geistlichen in ihrem Herzen geboren, nahm immer festere Gestalt an und verlieh ihr eine finstere, wilde Entschlossenheit, welche momentan selbst das Schmerzgefühl über ihr trauriges Schicksal verstummen machte, und sie zu immer rascherem Laufe anspornte.

Es war schon einmal während der letzten Wochen des Jammers die Versuchung an sie herangetreten, ihrem elenden Leben ein Ende zu machen; damals hatte der Entschluß, sich der Hilfe eines Dritten zur Erreichung ihres Zieles zu bedienen, sie noch zu rechter Zeit von der unseligen Tat zurückgehalten, zu deren Ausführung sie sich bereits mit einem sicher wirkenden Mittel versehen hatte. Nun war auch diese Hoffnung zerschellt und – das kostbare Arkanum, das ihr Friede und ihren Kindern Erlösung bringen mußte, – es sollte diesmal seine heilende Kraft bewähren!

Die armen Kleinen empfingen die atemlose, von der Schnelligkeit des Laufes und der Erregung erhitzte Mutter mit der gewohnten Freude und Zärtlichkeit. Aber der jugendliche, ungestüme Frohsinn war aus den Mienen und Bewegungen dieser zwei kleinen, verkümmerten Wesen unter dem Drucke der materiellen Not, körperlicher und geistiger Entbehrungen längst erstickt. Es lag etwas Müdes, etwas für Kinder seltsam Apathisches in der gewohnten Frage, die sie fast mechanisch an die Mutter richteten:

»Hast du etwas vom lieben Papa und unsern Brüdern gehört, Mama?«

Diese Frage erschütterte das Herz der armen Mutter aufs mächtigste. Tränen standen in ihren Augen, als sie die Kleinen liebend an sich schmiegte und mit halberstickter Stimme, bestrebt ihre furchtbare Erregung zu verbergen, antwortete:

»Beruhigt euch, Kinder – Gott wird uns bald den Papa und die Brüder wieder zuführen. Schneller, als ihr vielleicht denkt!«

Welch furchtbarer Doppelsinn lag in diesen Worten! – – – Und fester, immer fester wurzelte der gefaßte Entschluß in ihr. Zunächst rief sie die Dienerin zu sich, welche ihr seit jenem Tage, da der alte, unbekannte Mann sie ihr gesandt hatte, unablässig treu geblieben war, und eröffnete ihr, daß sie gesonnen sei, in einigen Tagen, vielleicht schon am nächsten Tage, Paris zu verlassen, um nach Boulogne sur Mer zurückzukehren. Es bedürfte dazu noch einiger rascher Vorbereitungen, bei welchen sie ihre Hilfe in Anspruch nehmen müßte. So müsse sie noch heute abend einen Brief an den Abbé P… bringen, in welchem einige Instruktionen enthalten seien.

Es dürfte dem Leser klar sein, daß dies nur ein Vorwand war, um die Dienerin für die Zeit, während welcher sie ihre grausige Tat auszuführen gedachte, auf unauffällige Weise aus dem Hause zu bringen.

Kaum hatte sie jedoch das Wort Brief ausgesprochen, als die Alte, sich plötzlich besinnend, ausrief:

» Oh mon Dieu, Madame, – da fällt mir ein, daß während Ihrer Abwesenheit dieses Schreiben hier von einem unbekannten Manne für Sie abgegeben worden ist!«

Mit diesen Worten überreichte sie der erstaunten Frau Montal einen kleinen Brief.

Zitternd vor Erregung öffnete sie denselben. War es ein neuer, völlig vernichtender Schlag? War es ein Lichtblick der Rettung im letzten Moment?

Der Inhalt lautete einfach folgendermaßen:

»Madame!

Es ist uns aus wohlverbürgter Quelle zu Ohren gekommen, daß Sie, allen Warnungen zum Trotz, und ungeachtet der schweren, über Sie verhängten Maßregel – Entziehung der Ihnen zugesagten Unterstützung, – fortgefahren haben, auf alle mögliche Weise Ihre früheren Freunde und Beschützer zu verleumden. Sie müssen selbst wohl recht gut wissen, daß Ihre gesamten Angaben teils auf absichtliche Unwahrheiten, teils auf eine Art Monomanie, einer einseitigen Verdunkelung des Geistes, welche Sie ergriffen hat, beruhen. Wahnsinnige Menschen sind aber für die menschliche Gesellschaft gefährlich, und deshalb sperrt man dieselben in Irrenhäuser!

Hüten Sie sich, Frau Montal! Wenn Sie sich nicht Mühe geben, diesen Ihnen innewohnenden Irrsinn zu bekämpfen, und aufhören, in der bewußten Angelegenheit allerlei, verschiedene Diener der heiligen Kirche kompromittierende, abenteuerliche Behauptungen und Erzählungen in die Welt zu schicken, so werden wir noch weiter gehen, als wir schon gegangen sind. Unsere Macht ist Ihnen bekannt, und wir werden von derselben umfassenden Gebrauch machen, wenn Sie es darauf ankommen lassen, indem wir dafür sorgen, daß Sie dort untergebracht werden, wohin Sie gehören: in der wohlverwahrten Zelle eines Irrenhauses, hinter dessen festen Mauern Ihre wahnsinnigen Klagen und Beschuldigungen ungehört verhallen werden.

Ihre einstigen Freunde.«

Mit einem lauten Auflachen, das unheimlich genug in diesem bisher nur Tränen und Seufzern geweihten Raume klang, zerknitterte Frau Montal den Brief und warf ihn zu Boden.

»Ins Irrenhaus!« murmelte sie leise, mit höhnisch verzogenem Munde, momentan vergessend, daß die Augen ihrer Dienerin halb erstaunt, halb mitleidig auf ihr ruhten. »Ins Irrenhaus wollen sie mich bringen! Nun denn, bei Gott, ich werde ihnen zuvorkommen und mich an ein Gericht wenden, das meine Rechte wahren wird, und wenn alle irdischen Gerichte mich verlassen!«

Sie hielt, durch ein verlegenes Räuspern ihrer Dienerin darauf aufmerksam gemacht, daß sie nicht allein war, inne, und fuhr sich, wie aus einem Traume erwachend, mit der Hand über die Stirne.

»Ich danke dir, Annette,« sagte sie dann, »es ist mir lieb, daß du den Brief mir noch rechtzeitig gegeben hast. Nun reiche mir rasch Papier, Tinte und Feder her. So, – ich schreibe nur wenige Zeilen, die du nach St. Madeleine tragen sollst. Doch – beeile dich nicht zu sehr. Abbé P… kommt erst in einiger Zeit nach Hause, wie mir bekannt ist, und es liegt mir daran, daß du ihm den Brief persönlich abgibst.«

Rasch warf sie einige Zeilen aufs Papier, während die Dienerin sie mit besorgtem und forschendem Gesichtsausdrucke betrachtete.

Sie schrieb auf das an den Abbé P… adressierte Blatt nur folgende kurze Worte:

»Gott wird diejenigen verurteilen, welche es wagen, sich über das irdische Gesetz zu stellen. An Gott wende ich mich, und von ihm erwarte ich Gerechtigkeit. Ehe der Morgen graut, werde ich mit meinen Kindern vor seinem Richterstuhle als Klägerin stehen. Möge die Kirche wenigstens für unser ehrliches Begräbnis sorgen!

Lucie Montal.«

Die ihrem Naturell ursprünglich eigene Energie schien angesichts des verzweifelten, aber endgültigen Entschlusses, den sie gefaßt, ihr wieder zurückgekehrt zu sein. Ihr Gesicht zuckte nicht, ihre Hand zitterte nicht, als sie das Siegel auf den Brief drückte und denselben Annette, unter Wiederholung der schon erteilten Weisung, übergab.

Die Dienerin schien einen Moment unschlüssig zu sein, als sie den Brief an sich nahm. Sie wog denselben nachdenklich in der Hand, als wolle sie nach seiner Schwere die Wichtigkeit des Inhaltes beurteilen. Es schien, als habe sie irgendeine Äußerung, einen Einwand oder eine Vorstellung auf den Lippen, – doch nach einem Moment sichtlichen Zögerns schien sie einen raschen Entschluß zu fassen. Sie warf noch einen Blick auf ihre Gebieterin, als versuche sie, deren Gedanken zu lesen, dann sagte sie: »Ich werde Ihren Auftrag unverzüglich besorgen, Madame,« und verließ eiligen Schrittes das Zimmer.

Frau Montal war allein mit ihren Kindern. Einige Augenblicke noch saß sie, den Kopf in die Hand gestützt, da und blickte mit starren, tränenlosen Augen nachdenklich auf die Kinder, welche sich, leise flüsternd vor den Kamin gekauert hatten und von Zeit zu Zeit schüchtern nach der Mutter blickten, deren seltsames Wesen ihnen eine unerklärliche Furcht einzuflößen schien.

Endlich erhob sich Frau Montal mit einem schweren Seufzer und trat auf die Kleinen zu. Sie stürzte vor ihnen auf die Kniee, umarmte und küßte sie abwechselnd und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, in welches die armen Kinder einstimmten, ohne zu wissen, was ihnen eigentlich geschah. So hielten sich die drei eine geraume Weile umschlungen. Draußen heulte der Sturm und trieb die Schneewolken in wildem Wirbel vor sich her, – doch die unglückliche Mutter ward dessen in ihrer eigenen Erregung nicht gewahr. Der Sturm der Gefühle in ihrem eigenen Herzen übertobte den Lärm der elementaren Gewalten, welche draußen, gleich wilden Mahnern an die Macht des göttlichen Schöpfers, ihr Spiel trieben. Es war ein schwerer Kampf, den die Frau in dieser furchtbaren Stunde kämpfte, ein Kampf zwischen dem liebenden, zärtlichen Mutterherzen, welches vor dem Gedanken jedes den Kindern zugefügten Leides zitterte, und der mahnenden Stimme, welche ihr zurief: »Laß die armen, hilflosen Wesen nicht zurück in einer Welt des Elends, der Falschheit, des Betruges!«

»Euer Abendbrot, Kinder – fast hätte ich es vergessen!« rief sie endlich mit gepreßter, unnatürlich hastiger Stimme, sich gewaltsam aufraffend.

Festen Schrittes ging sie in die Küche, wo auf dem Herde ein munteres Feuer prasselte. Nur eine Kanne Milch das einzige, was sie sich und den Kindern für diesen Abend bieten konnte, stand auf dem Feuer.

Ihre Hand zitterte nicht, als sie drei Tassen aus der Kanne füllte. Sie zitterte nicht, als sie hastigen Schrittes in ihr Schlafzimmer eilte und einem Schranke ein kleines Fläschchen entnahm, von dessen Inhalt sie wenige Tropfen in jede der drei Tassen träufelte. Der Kampf war entschieden – das Schicksal dieser Opfer pfäffischer Habgier und Ränkesucht war besiegelt.

Die Augen der beiden ahnungslosen, kleinen Wesen richteten sich freudig und verlangend der Mutter entgegen. Die Wärme in dem Zimmer war wahrscheinlich nicht zu groß, und die heiße Milch, so frugal dieses Abendbrot auch den einst an Leckerbissen gewöhnten Kindern erscheinen mußte, kam ihnen in diesem Augenblicke so willkommen, wie die feinste Speise in den längstvergangenen Tagen des Glückes.

Unglückselige Mutter – senken sich deine Blicke nicht vor dem matten Sonnenscheine der Zufriedenheit, der aus den abgehärmten Gesichtern deiner Kinder dir entgegenstrahlt? Fällt dir der Gifttrank nicht aus der zitternden Hand, bei dem Anblicke dieser harmlosen Wesen, die Labung und Erwärmung aus deiner Hand erwarten, und denen du statt dessen – den Tod gibst?!

Frau Montal setzte die Tassen auf den Tisch und sagte mit anscheinend ruhiger Stimme, aus welcher die furchtbare Erregung ihres Innern kaum zu erkennen war:

»Nun, Kinder, laßt uns beten, daß Gott unser schlichtes Mahl segnen möge!«

Es war eine unheimliche, seltsame Szene. Ein Gebet um Gnade und Vergebung für die Tat der Verzweiflung auf seiten der Mutter, ein leises, mechanisches Stammeln der üblichen Formel auf seiten der Kinder, deren Augen mehr Verlangen nach dem Abendtrunk, als Andacht im Gebet verrieten.

Und eben dieser Abendtrunk sollte ihnen den Tod bringen in seiner furchtbarsten Gestalt!

War es der immer volleren Atem gewinnende Sturm, der in diesem Augenblicke an dem Fenster rüttelte? Ein Klingen erscholl von der Scheibe, als habe der Wind eine volle Ladung Schnee gegen dieselbe geschleudert. War es eine Antwort auf das Gebet der Mutter, eine Mahnung vom Himmel?

»Barmherziger Gott, vergib mir,« stöhnte Frau Montal. »Ich kann nicht anders. Die Menschen haben uns verlassen, nur bei dir finden wir Trost und Ruhe. Küßt mich, meine Kinder, o küßt mich! Laßt uns zu unserm Vater gehen!«

Hätte Frau Montal in diesem Moment den Blick gewandt, sie würde, dicht an die Fensterscheibe gedrückt, von welcher soeben das seltsame Geräusch erklungen war, ein bleiches, menschliches Gesicht gesehen haben, das mit weitgeöffneten Augen unverwandt in den Raum hineinstarrte.

Die Kinder verloren unter dem ihnen völlig unverständlichen Wesen der Mutter vollständig die Fassung. Sie brachen in ein herzzerreißendes Schluchzen aus und umklammerten ängstlich den Hals der Mutter.

Ein plötzliches, lautes Klopfen an der Tür veränderte mit einemmal die Szene. Frau Montal war aufgefahren. Der Schreck lähmte ihr für einen Augenblick die Sinne. Es war eine unnatürliche, an Wahnsinn grenzende Erregung, zu welcher sie sich durch ihre verzweifelte Lage hatte treiben lassen. Das plötzliche Klopfen rief sie mit einem Schlage in die Wirklichkeit zurück, und sie erbebte unter dem Tone, wie eine Mörderin erzittern würde unter den Trittlauten der nahenden Häscher.

Kaum vermochte sie, nachdem der erste Eindruck des Schreckens sich verloren, zu stammeln: »Wer ist da?« Ihre Blicke schweiften dabei mit dem Ausdrucke ängstlichen Schuldbewußtseins nach dem Tische, auf welchem die Tassen mit dem verhängnisvollen Tranke standen.

»Öffnen Sie rasch, öffnen Sie, Madame Montal!« tönte es von einer männlichen Stimme. »Schnell, ehe es zu spät ist! Es ist ein Freund!«

Ein Freund?! Seltsames, ungewohntes Wort, das an das Ohr der unglücklichen Frau schlug, fast wie eine höhnende Stimme aus einer längstversunkenen, für sie nie erreichbaren Traumwelt. Und doch – sollte Gottes Hand noch im letzten, entscheidenden Augenblicke sie zurückreißen von dem Abgrunde des Verbrechens, zu dem die Menschen sie getrieben?!

Wankenden Schrittes ging sie zu der Tür.

Eine hohe, in einen Pelz gehüllte Gestalt trat ein. Es war ein ältlicher Mann, der sich in sichtlicher Erregung, rasch atmend, wie unter den Folgen eines schnellen Laufes, forschend in der Stube umsah, und dann seine Blicke mit dem Ausdrucke tiefen Mitleides auf den Zügen der ihn mit starrem Erstaunen anblickenden Frau ruhen ließ.

»Entfernen Sie die Kinder, Madame!« sagte er endlich. Der Ton, mit welchem er diese Worte sprach, klang befehlend und energisch, doch keineswegs hart. Frau Montal stand vollständig unter dem Banne des Schreckens und der namenlosen Erregung, in welche die Vorbereitungen zu ihrem furchtbaren Plane sie versetzt. Sie gehorchte mechanisch. Ein ihr selbst unerklärliches Gefühl verbot ihr jede Frage, jeden Einwand. Sie beugte sich zu den Kleinen nieder, flüsterte ihnen beruhigende Worte zu und führte sie aus dem Zimmer.

In wenigen Augenblicken kehrte sie zurück. Mit wortlosem Erstaunen sah sie, wie der späte Gast vor dem Kamin damit beschäftigt war, den Inhalt der drei Tassen in die noch glimmenden Holzkohlen des Kamins zu schütten.

Mit einem leichten Schauder, doch unfähig, ein Wort zu sprechen, sank sie in einen Stuhl und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Gott sei Dank, daß ich noch zu rechter Zeit komme!« sagte der Fremde, der inzwischen einen Stuhl dicht vor Frau Montal gerückt und auf demselben Platz genommen hatte. »Sie haben Ihre Rettung dem Scharfsinn Ihrer Dienerin zu verdanken. Ihr Brief an den Abbé P… ist nicht an seine Adresse gelangt. Gott hat Sie gnädig vor einer furchtbaren Tat bewahrt.«

»Wer sind Sie?« stöhnte Frau Montal, ohne ihre Stellung zu verändern.

»Ich habe keinen Grund, Sie mit neuen Geheimnissen abzuspeisen, unglückliche Frau. Meine Name ist Latour, und ich bin der Ökonom des Ordenshauses der Brüder von St. Croix, kenne Ihre Verhältnisse genau, und bin von meinen Vorgesetzten, welche Sie, seit Sie in die Hände von gewissenlosen Jesuiten gefallen sind, keinen Augenblick aus den Augen gelassen haben, beauftragt, jeden nur irgend möglichen Schritt zu Ihrer Rettung zu tun. Der alte Herr, der Sie an dem Abend, wo Sie zum ersten Male dieses Haus betraten, hier empfing, ist ein geheimes Mitglied unseres Ordens, der mit allen Mitteln gegen die überhandnehmende Macht der Jesuiten ankämpft. Mit seiner Hilfe und mit Hilfe der von ihm bestellten Dienerin ist es uns gelungen, in den Hauptzügen wenigstens den traurigen Gang Ihrer Schicksale in den letzten Monaten verfolgen zu können. Auch Ihre traurige Erfahrung mit dem Abbé P… ist uns nicht ganz unbekannt geblieben. Was wir nicht bestimmt wissen, haben wir aus verschiedenen Umständen, die ich Ihnen hier nicht näher zu erklären brauche, erraten und kombinieren können, und – ich will nicht leugnen, daß ich eine Katastrophe der Art, wie Sie sie herbeizuführen im Sinne hatten, fast voraussah. Der rechtzeitige Wink seitens Ihrer von uns wohlinstruierten Dienerin, traf mich nicht unvorbereitet, und machte es mir möglich, ehe es zu spät war, hier einzutreffen, um Sie vor einem grauenvollen Akte der Verzweiflung zurückzuhalten. Ich bemitleide Sie aufs tiefste, Madame Montal, und ich danke Gott, daß er mich zum Werkzeuge der Rettung für Sie und Ihre unschuldigen Kinder macht!«

»Ist denn wirklich noch Rettung möglich für uns?« rief Frau Montal schluchzend. »Aller Mittel, aller Freunde beraubt, – was kann ich tun?«

»Hoffen, Madame Montal!« lautete die in freundlich ermutigendem Tone gegebene Erwiderung. »Hoffen und vertrauen, daß es noch Menschen gibt, welche nicht mit den Verbrechern, die Ihnen alle Güter des Lebens geraubt haben, im Bunde stehen. Können Sie und wollen Sie mir vertrauen?«

Mit diesen Worten ergriff Latour die Hand der weinenden Frau und hielt sie einen Augenblick in der seinigen.

Frau Montal blickte mit den von Tränen getrübten Augen auf den Tröster, und schien aus seinem Gesicht wirklich Mut und Hoffnung für sich zu schöpfen.

»Ich will Ihnen glauben,« sagte sie mit leiser Stimme. »Es ist doch möglich, daß Gott Sie mir zur Rettung gesandt hat. – – O, meine armen, unglücklichen Kinder!« fügte sie schaudernd hinzu, während ihr Blick auf die leeren Tassen fiel, die Latour wieder auf den Tisch zurückgestellt hatte, nachdem er sie ihres Inhaltes beraubt.

Nach weiteren Erklärungen und Auseinandersetzungen auf beiden Seiten, nach erneuten Worten des Trostes und der Ermutigung von seiten Latours, und nachdem Frau Montal ihm nochmals in Kürze einen Überblick über ihr trauriges Schicksal seit dem Verschwinden ihres Gatten gegeben, hatte sich die unglückliche Frau sichtlich beruhigt. Ihre Tränen waren versiegt, der nahezu erloschene Hoffnungsfunke in ihrem Herzen schien wieder zu heller Flamme angefacht zu sein, und sie war fähig, den Vorschlägen, welche Herr Latour ihr im Auftrage seiner Vorgesetzten zu machen hatte, aufmerksam und in ruhigerer Gemütsstimmung zu lauschen.

Der Ökonom, welcher ein ebenso vertrauenerweckendes, insinuierendes Wesen, wie eine überzeugende Beredsamkeit besaß, erklärte Frau Montal ohne Umschweife, daß der Orden von St. Croix bereit sei, sie vollständig in seinen Schutz zu nehmen und ihr die Mittel zu einer standesgemäßen Existenz und Erziehung ihrer Kinder zu verschaffen. Doch solle sie dieses Anerbieten nicht wie ein Almosen betrachten. Man erwarte im Gegenteil von ihr Gegenleistungen, welche für sie keineswegs mit Schwierigkeiten verknüpft sein, für die Brüder von St. Croix aber unter Umständen von außerordentlicher Wichtigkeit sein würden. Er setzte ihr auseinander, wie verderblich der Orden der Jesuiten, mit seinen wesentlich materiellen Zwecken und seiner Rücksichtslosigkeit in der Wahl der Mittel zur Erreichung dieser Zwecke, für die Kirche und das Papsttum sei, welch letzteres er nur so lange unterstütze, als es seinen, des Ordens Zwecken willfährig sei, und wie daher alle Agitationen des Ordens von St. Croix sich gegen die Gesellschaft Jesu richteten. Es sei nun zu diesem Behufe von außerordentlicher Wichtigkeit, in Rom eine weibliche Agentin zu besitzen, die sowohl vermöge ihrer Stellung, ohne Aufsehen zu machen, sich Boden verschaffen, als auch unter günstigem Vorwande mit dem Papst Verkehr pflegen könne, ohne das Mißtrauen der römischen Camarilla zu erregen. Sie habe ja, so setzte er ihr in plausibler Weise auseinander, einen besseren Vorwand, bei dem Papste vertrauliche Audienz zu erlangen, als irgendeine andere Frau der Welt, indem sie den Schutz und die Unterstützung Seiner Heiligkeit in ihrer bedauerlichen Angelegenheit anrufen könne. Es hieße das gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Auch würde sie noch die eine Aufgabe haben, eine Vermittlerin der Nachrichten zu sein, welche die dem Orden von St. Croix freundlich gesinnten Legitimisten in Rom hierher zu senden hätten. Auf dem einfachen und natürlichen Wege sei dies schwer zu erzielen, da die Brüder des Ordens von St. Croix hier von der bonapartistischen Geheimpolizei auf Schritt und Tritt bewacht würden.

»Glauben Sie mir, meine verehrte Dame,« schloß Herr Latour seine Auseinandersetzungen, »es ist eine heilige und der Kirche im wahren Sinne des Wortes, d. h. der heiligen katholischen Religion wohlgefällige Mission, welche Sie übernehmen würden. Wir werden Sie genau instruieren über alles, was Sie zu sagen und zu handeln haben werden. Bedenken Sie, ehe Sie die Aufgabe von sich weisen, daß der Segen des Herrn auf Ihnen ruhen wird, wenn Sie dazu beitragen, Sr. Heiligkeit die Augen zu öffnen über seine jesuitische Umgebung, und somit die Kirche vor einem Schisma behüten helfen, zu welchem die augenblicklichen Verhältnisse in Rom notwendigerweise über kurz oder lang führen müssen. Es ist eine heilige Mission, über deren Tragweite und über deren Umfang Sie, wenn Sie überhaupt auf die Sache eingehen wollen, noch in ausführlichster Weise aufgeklärt werden sollen.«

Der Leser stelle sich den erregten Seelenzustand der Frau vor, die soeben durch ein glückliches Eingreifen des Geschickes von einem Doppelmorde und Selbstmorde zurückgehalten worden war. Er stelle sich vor, in welcher Verfassung das Gemüt der Kapitänsfrau nach den bittern, niederschmetternden Erfahrungen sein mußte. Sie glich einer Ertrinkenden, die sich an den sprichwörtlichen Strohhalm klammert. In der Tat sollte man annehmen, daß nach den Vorgängen der letzten Monate diese »rettende Hand«, die abermals von klerikaler Seite ihr geboten wurde, Frau Montal kaum haltbarer und zuverlässiger erscheinen konnte, als eine Schilfbinse, die der Zufall dem mit den Wellen Ringenden in die Hand schmiegt. Doch – sie griff danach, – sie haschte danach mit der fieberhaften Hast der Verzweiflung. Ja, sie empfand in der Tat eine Art Begeisterung, indem sie freudig in die dargebotene Hand einschlug. Die Beredsamkeit Latours hatte es trefflich verstanden, vor ihrem erregten Geiste die ihr übertragene Aufgabe wirklich in dem Lichte einer göttlichen Mission erscheinen zu lassen, in deren Erfüllung sie nicht nur Seelenfrieden, sondern auch eine Versöhnung der feindlichen Schicksalsmächte zu finden hoffte.

Daß auf seiten der Auftraggeber Latours das agens movens für diese Teilnahme in erster Linie Haß gegen die Jesuiten und der Wunsch, die günstige Gelegenheit rasch beim Schopfe zu fassen, war, – das konnte man ihm schließlich nicht zum Vorwurfe machen. In diesem Punkte konnte man füglich von den Brüdern des heiligen Kreuzes nicht viel mehr Selbstlosigkeit erwarten, als von den Jüngern des heiligen Ignatius.

Kurz und gut – Frau Montal und Latour schieden in Freundschaft und Einigkeit, und der nächste Tag war dazu bestimmt, die neugewonnene Agentin in direkte Unterhandlungen mit dem Superieur des Ordens zu bringen und sie in die verschiedenen Details ihrer Mission einzuweihen. Eine Summe von achthundert Franks ließ Latour sogleich in den Händen der Dame zurück. Tränen des Schmerzes, der Scham, Tränen der Dankbarkeit, Erleichterung und Hoffnung aus den Augen der unglücklichen Mutter netzten in jener Nacht die Gesichter der sanft schlummernden Kinder, deren Träume sie wohl nicht lehrten, welch furchtbarer Gefahr sie entgangen waren.

Wer weiß, welches die Gefühle der Ärmsten gewesen wären, was sie getan hätte, statt weinend und betend an dem Bette der Kleinen die Nacht zu verbringen, hätte es in ihrer Macht gelegen, den Schleier der Zukunft nur um ein Weniges zu lüften! – – – –

Um die verabredete Stunde erschien am andern Tage Mr. Latour, um seine Schutzbefohlene zu dem Superieur abzuholen. Welch erschütternder Anblick sollte ihm werden. In derselben Stube, in welcher am Abend zuvor die soeben beschriebene tragische Szene sich abgespielt, saß Frau Montal in einem Sessel. Zu ihren Füßen knieten weinend und jammernd die beiden Kinder, während die Dienerin Annette, welche noch am vergangenen Abend, gleich nach der Entfernung Latours, sich wieder bei ihrer Herrin eingefunden hatte, händeringend zur Seite stand, und mit ratlosen Blicken bald die Gruppe, bald den eintretenden Laienbruder betrachtete.

»Was um alles in der Welt geht hier vor?« rief der letztere, erstaunt und erschrocken von einem zum andern blickend.

Annette deutete wortlos auf die Gestalt der im Sessel Sitzenden.

»Madame Montal,« fragte Latour, näher tretend und die Hand zur Begrüßung ausstreckend, »sind Sie bereit, in der bewußten Angelegenheit mit mir zu gehen? Mein Gott, – was fehlt Ihnen? Sind Sie krank?«

Er war wohl berechtigt, diese Frage hinzuzufügen. Frau Montal saß in ihrem Sessel, wie eine Marmorstatue. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen starrten mit melancholisch-ernstem Ausdrucke ins Leere, schweiften teilnahmslos über die vor ihr knienden, weinenden Kinder hinweg und blieben nur einen Moment mit dem gleichen Ausdrucke auf dem Gesichte Latours haften. Kein Wort, keine Klage kam über ihre Lippen, die Augen blieben tränenlos, und nur von Zeit zu Zeit schloß sie dieselben auf Momente, während sie den Kopf wie erschöpft in den Sessel zurücklehnte.

»So ist's seit heute morgen fortgegangen!« rief Annette weinend, indem sie auf die Unglückliche wies. »Ich weiß mir keinen Rat. Barmherziger Gott, die armen, armen Kinder!«

Latour war im ersten Augenblick nicht minder verzweifelt und ratlos, wie die Alte. Er erkannte sofort, daß endlich die Reaktion eingetreten war. Das unsägliche Leid, das Schlag auf Schlag auf dieses arme Mutterherz eingestürmt war, hatte plötzlich zu einer geistigen, vielleicht auch körperlichen Lähmung geführt, die wohl schon lange wie ein Damoklesschwert über dem Haupte der Unglücklichen geschwebt hatte, und durch die furchtbare seelische Erregung des gestrigen Abends zum endlichen Ausbruch gekommen war.

Als sich Latour endlich von seinem Schrecken erholt und eingesehen hatte, daß hier seine und der Dienerin Hilfe in keiner Weise von Nutzen sein könne, sandte er die letztere eilig nach einem Arzte, mit der ausdrücklichen Weisung, womöglich den Nächstwohnenden zu zitieren, damit so wenig wie möglich Zeit verloren werde.

Annette kehrte alsbald mit einem Arzte zurück. Dem Leser ist die hohe, schlanke Männergestalt, mit dem Vollbarte und den ernst, aber vertrauenerweckend blickenden Augen, nicht unbekannt. Es war Doktor Malder, den wir zuletzt in dem Netze der Kreuzspinne von der Jesusgasse in Rom gefunden haben.

Ein sonderlicher – aber wahrlich verhängnisvoller Zufall war es, welcher gerade diesen Mann, der später eine so hervorragende Rolle in dieser Angelegenheit zu spielen haben sollte, dessen Schicksal, wie wir im Verlaufe der Erzählung sehen sollen, durch den sonderbaren Gang der Umstände eng mit den Schicksalen der Frau Montal verknüpft zu werden bestimmt war, berufen hatte, der Leidenden ärztliche Hilfe zu leisten.

Das scharfe Auge des erfahrenen Arztes erkannte sehr schnell, daß nur in seelischen Leiden die Ursachen zu diesem plötzlichen Zusammenbruche aller geistigen und körperlichen Elastizität zu suchen seien, und er erklärte, nachdem er die ersten und dringendsten Anordnungen zur Erleichterung der Kranken getroffen und in eigener Person deren Ausführung geleitet hatte, dem Laienbruder, daß für ihn, den behandelnden Arzt, die genaue Kenntnis der Vorgänge, welche dieses konstitutionell offenbar kräftige Nervensystem so plötzlich zerrüttet hätten, vollständig unerläßlich sei.

Latour hatte füglich keinen Grund, den Geheimnisvollen zu spielen, und so zögerte er denn nicht, dem Arzte die erschütternden Schicksalsschläge und verruchten Spitzbübereien, denen Frau Montal zum Opfer gefallen war, gewissenhaft aufzuzählen. Seine Rolle in der Angelegenheit, insbesondere die Unterhandlungen zwischen ihm und Frau Montal, welche sie an dem Vorabend dieses Tages gepflogen, verschwieg er, und erzählte nur, wie er zufällig das entsetzliche Vorhaben der Unglücklichen entdeckt und dessen Ausführung rechtzeitig verhindert habe.

Der Leser, welcher aus den Andeutungen, die Doktor Malder dem Pater Mariano gegenüber gemacht, mit den die Kirche und speziell die Jesuiten betreffenden Erfahrungen des Arztes bekannt ist, und sich des glühenden Hasses erinnert, welchen dieser gegen die Männer in Kutte und Skapula hegte, wird begreifen können, mit welch gespanntem Interesse und zugleich mit welch glühender Entrüstung Doktor Malder den unerhörten und in vielen Punkten rätselhaften Eröffnungen Latours folgte.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß in der Brust dieses durchaus edlen, jede Heimtücke und Falschheit aus tiefinnerster Seele verabscheuenden Mannes damals schon der Entschluß zu reifen begann, mit der Macht aller Mittel, die ihm zu Gebote standen, das Interesse der unglücklichen, betrogenen und verlassenen Frau zu verfechten. Daß er später diesen Entschluß wirklich ausführte, davon haben wir bereits ausreichende Andeutungen erhalten; wie verhängnisvoll dasselbe aber für ihn selbst noch weiterhin werden sollte, – das wird die Folge lehren.

Es bleibt bezüglich der Lebensschicksale der Kapitänsfrau, in jener Periode, nur noch weniges zu sagen übrig.

Der unablässigen Sorgfalt des Arztes, der aufopfernden Pflege Annettes und – indirekt – der pekuniären Unterstützung seitens der wohlwollenden Brüder von St. Croix gelang es, Frau Montal – freilich erst nach monatelanger Krankheit – wieder soweit herzustellen, daß sie den völlig ungehinderten Gebrauch ihrer Glieder wieder gewann, und auch nach und nach die erschreckende Apathie und Teilnahmlosigkeit, die so plötzlich über sie hereingebrochen war, verlor. Doch dieselbe Frau, die sie gewesen, war sie nicht mehr. Aus der energischen Weltdame war eine religiöse Schwärmerin geworden, welche glaubte, von der Gottheit zu einer erhabenen Mission auserlesen zu sein, vor deren Antritt sie erst eine läuternde, wenn auch bittere Schule der Prüfung durchzumachen hatte. Dem Arzte schenkte Frau Montal das wärmste Vertrauen und die innigste Dankbarkeit. Nur über den Inhalt ihrer häufigen Konferenzen mit Latour und dem Superieur der Brüder von St. Croix klärte sie ihn niemals auf, so oft und so eingehend sie auch mit ihm über ihre Schicksale sprach, und so lebhafte Freude sie über seinen Entschluß, seinen Einfluß in Rom, wohin er zu gehen beabsichtigte, in ihrem Interesse zu verwenden, zeigte. Freilich glitt oft bei diesbezüglichen Andeutungen Malders ein eigentümliches Lächeln über ihre Züge, als wollte sie sagen: »wenn du wüßtest! – – –«, doch Doktor Malder beachtete dies nicht weiter und fuhr fort, seiner Patientin die rührendste Sorgfalt und ein wahrhaft brüderliches Interesse zu zeigen. Zum erstenmale seit langer Zeit weinte Frau Montal Tränen, als Doktor Malder ihr eines Tages, vor seiner Abreise nach Rom, zum Abschiede die Hand reichte. Sie hatte, den edlen, uneigennützigen Mann, den warmen, treuen Freund in ihm erkannt, und auf das Herz dieser verratenen, verstoßenen und getäuschten Frau wirkte dieses Bewußtsein wie der wärmende und belebende Sonnenstrahl auf eine dem Welken nahe Blume.

Malder ging nach Rom. Er wollte seinen Aufenthalt daselbst ernstlich dazu benutzen, eine Lanze für seine Schutzbefohlene einzulegen und nicht zu rasten, bis er Licht in dieses dunkle Gewebe von Lug und Trug gebracht.

War es ein Don Quijotekampf, zu dem er sich rüstete?

 

Schluß des dritten Bandes.

* * *

Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg.

 


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