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Es war am nächsten Vormittag gegen 10 Uhr. Die Familie Röbel war in der größten Besorgniß. Otto von Röbel war während der Nacht und auch am nächsten Morgen nicht zurückgekehrt.
Rudolph Meißner hatte sich am Abend vorher bald nach 11 Uhr in dem Hôtel eingefunden und unter Uebersendung seiner Karte Frau von Röbel um eine kurze Unterredung bitten lassen.
Im ersten Augenblick, da ihr Sohn und Tochter die Anwesenheit des früheren Freundes, den sie fast als einen ihrer eigenen Söhne zu betrachten gewohnt gewesen war, noch verschwiegen und sie ihn in der That unter der Menschenmasse des Circus nicht bemerkt hatte, war ihr bei der Trennung der beiden Liebenden der Besuch befremdend und peinlich. Die Nachricht von dem schrecklichen Ereigniß vor der Oper war aber bereits auch zu ihr gelangt, und die beiden Frauen hatten sich um so mehr geängstigt, als sie wußten, daß Otto die Oper hatte besuchen wollen; die Mutterangst führte sogleich die Edelfrau dem Informator entgegen, indem sie sich nur Zeit nahm, der Tochter die Karte zuzuwerfen.
Die Peinlichkeit der ersten Augenblicke des Wiedersehens wurde durch die Umstände gemildert.
»Um Gotteswillen – Rudolph – Herr Meißner, Sie hier? Um diese Stunde – das bedeutet ein Unglück! Otto – er war in der Oper! der schreckliche Mord ...«
Sie konnte nicht weiter, die Mutterangst versagte ihr die Sprache.
»Beruhigen Sie sich vor Allem gnädige Frau,« sagte der Bote, ihre Hand nehmend und sie zum Sopha geleitend, auf dem mit pochendem Herzen und fliegend wechselnder Farbe die Geliebte seiner Jugend mit der, so eben durch den Empfang des Billets ihrer größten Sorge um den Gatten entledigten und ihre sofortige Abreise eben verhandelnden Freundin saß. »Otto lebt und ist unverletzt, er selbst sendet mich mit dieser Botschaft zu Ihnen.«
»Aber warum kommt er nicht selbst, er kann sich doch denken, welche Angst uns verzehren muß!«
»Ein unangenehmer Zufall verhindert ihn daran. Es sind von dem übertriebenen Eifer der Polizei eine Menge Personen verhaftet worden, die zufällige Zeugen des traurigen Ereignisses gewesen sind; und durch irgend ein Mißverständniß befindet sich Herr von Röbel darunter!«
»Heiliger Gott!« rief die Mutter – »Sie verschweigen mir die Wahrheit, – Otto ist todt – ermordet, wie die Andern!«
»Auf meine Ehre! so wahr ich Sie, meine gütige Beschützerin und Jene dort« – er wandte zum ersten Mal das ernste trauernde Auge auf Rosamunde, – »nie aufgehört habe, in treuem Herzen zu verehren und zu lieben über Zeit und Raum, Otto ist unverletzt und es ist so wie ich Ihnen sage. Ich würde es nicht gewagt haben, Sie zu täuschen.«
Und dennoch täuschte er sie, oder er verschwieg wenigstens die drohende Gefahr des nächsten Morgens.
Auf seine ernste Versicherung beruhigte sich Frau von Röbel. Wenn auch die Verhaftung ein unangenehmer Vorfall war, so wußte sie doch, daß sie nur wenige Stunden dauern konnte und das Mißverständniß, das sie annahm, sich am andern Morgen lösen mußte. Ihre nächste Sorge war jetzt die Tochter und der Eindruck, den das unerwartete Wiedersehen des Geliebten, welchen die Strenge des Vaters von ihr getrennt hatte, auf diese machen mußte.
»Verzeihen Sie unserer Angst, Herr Meißner« sagte sie freundlich, »wenn bei diesem plötzlichen Wiederfinden nach so langer Zeit unsere ersten Gefühle dem Sohn und Bruder gehörten, und wir Sie nicht willkommen geheißen und das Interesse für Sie selbst gezeigt haben, das ein so alter Freund unserer Familie, dem wir selbst viel schulden – unsere Rettung damals in Frankfurt! – verdient. Reichen Sie Rosamunden Ihre Hand und begrüßen Sie das arme Kind als die Schwester Ihrer Jugend.«
Der Informator nahm die Hand der Geliebten und küßte sie schweigend. Der leise Druck, den er empfand, sagte ihm mehr als Worte es hätten thun können, daß die Gefühle ihres Herzens so unverändert geblieben waren, wie die seinen.
Die Frauen wollten nunmehr das Nähere wissen, sowohl über das blutige Ereigniß in der Straße Lepelletier, als über die Verhaftung des jungen Edelmanns. Meißner erzählte mit Vorsicht, aber die Fragen, die gethan wurden, seine eigenen Wahrnehmungen am Abend vorher, die Worte des verhaftenden Beamten und die ängstlichen Aeußerungen der jungen Frau führten ihn bald auf die richtige Spur, daß der Begleiter seines jungen Freundes am Abend vorher, wenn auch nicht in dem Mordanschlag verwickelt, so doch Theilnehmer an einer politischen Intrigue war und der Umgang mit diesem die Gelegenheit zur Verhaftung Otto's von Röbel gegeben hatte. Unter diesen Umständen hielt er es für das Beste, in dieser Beziehung die volle Wahrheit zu sagen.
Dies steigerte wieder die Besorgniß der Frauen und sie fühlten, daß sie am Besten thäten, dem so unerwartet gefundenen Freunde volles Vertrauen zu schenken. Frau von Röbel hatte zwar gewußt, daß der Kapitain der politischen Partei angehörte, welche der ihres Gatten und Sohnes gegenüberstand, aber sie bekümmerte sich absichtlich zu wenig um Politik, sah in dem Offizier nur den bewährten Freund ihres Sohnes und die beiden Freunde selbst hüteten sich zu sehr, in Gegenwart der Frauen politische Fragen zu verhandeln, – als daß sie von den wirklichen Zwecken des Aufenthaltes des Kapitains in Paris eine Ahnung gehabt hätte. Eben so wenig wußte die eigene Frau davon. Die Angst, die Verwirrung bei Allen war groß, als ihnen der Secretair der Fürstin in seiner ruhigen klaren Weise bewies, daß der Kapitain offenbar stark compromittirt sei, und wahrscheinlich bereits die Flucht ergriffen habe, jedenfalls das Beste für Alle.
Es wurde auf seinen Rath beschlossen, daß die junge Frau nicht mehr nach ihrer Wohnung zurückkehren, sondern aus dem Hôtel d'Orient sogleich am nächsten Morgen mit dem ersten Zug nach Straßburg abreisen sollte. Das Fräulein von Röbel konnte sie mit der nöthigen Wasche und Kleidern versehen, an Geld fehlte es ihr nicht, da der Kapitain, offenbar aus Vorsorge für einen solchen Fall, seine bedeutende Baarschaft in Banknoten, 30 000 Franken, bei der Edeldame niedergelegt hatte. Die Haft Otto's von Röbel konnte unter den obwaltenden Umständen von den Seinen fast für einen Glücksfall angesehen werden, da er dadurch verhindert wurde, sich mit der Sorge um den gefährdeten Freund zu compromittiren, die er gewiß in jeder Weise zu bethätigen für seine Pflicht gehalten haben würde.
Die Mittheilung, daß der Doktor Achmet, der Geleiter und Beschützer der Kunstreiterin, es übernommen hatte, ihrem Sohn zu folgen und für seine baldige Befreiung zu sorgen, beruhigte Frau von Röbel am meisten; denn der maurische Arzt hatte durch sein würdiges verständiges Wesen bei dem Besuch am Morgen sich ihr besonderes Vertrauen erworben. Die Edeldame erklärte, im Fall ihr Sohn nicht im Laufe des nächsten Vormittags in Freiheit gesetzt sei, sich an Graf Hatzfeldt, den Preußischen Gesandten wenden und seinen Schutz in Anspruch nehmen zu wollen.
Es war Mitternacht vorüber, als der Informator die Frauen verließ, denen er kurz die Verhältnisse seiner Stellung und die Persönlichkeiten, unter denen er lebte, geschildert hatte. Er trug einen tiefen Schmerz im ehrlichen Herzen mit sich hinweg. Das Wiedersehen des blassen leidenden Mädchens, dem seine erste und ganze Liebe gehört hatte und noch gehörte, das er unter dem Druck unglücklicher Verhältnisse, die er selbst nicht einmal abschütteln und verurtheilen konnte, in treuer Gegenliebe zu ihm dahin welken fand, hatte alle Wunden der Seele wieder aufgerissen. Er begann zu fühlen, wie wenig das trotzige Festhalten an jenen politischen Utopien der demokratischen Freiheit, das ihn hinausgetrieben aus dem Vaterhaus in die Welt, ihn entschädigen konnte für zerstörtes Lebensglück! Tief und innig fühlte er die Milde und Freundlichkeit, mit der die edle, stille nur ihrer Familie und dem engen Kreis ihrer Pflichten lebende Edelfrau ihm entgegen gekommen – er verglich unbewußt ihre mütterliche Sorge, ihr zartes Walten und klares Empfinden für Recht und Unrecht mit der innern Zerrissenheit, dem Unglück und dem ewigen Kampfe der weit höher begabten Dame, der er diente, – und er fühlte recht tief, wie groß der Unterschied war und auf wessen Seite sich die Wagschaale neigte. Und dieses Wohlwollen, diese alte Liebe und Treue, die er so oft schon und so schmerzlich hatte verletzen müssen, sollte er vielleicht in wenig Stunden bereits einer neuen harten Prüfung unterwerfen; – denn, wenn in dem bevorstehenden Duell den jungen Freund ein Unglück treffen sollte, würden ihm nicht Mutter und Schwester die Verheimlichung der Gefahr, die Unterstützung des Beginnens mit Recht zuschreiben?
Mit sich selbst uneins setzte er jetzt selbst seine Hoffnung für eine Verhinderung des Duells auf den Zwischenfall der Verhaftung und sann über ein Mittel, vielleicht für alle Theile eine Hilfe zu finden.
Als er das Hôtel der Fürstin erreichte, hatte er seinen Entschluß gefaßt.
Tunsa – oder Feodora, wie sie selbst jetzt nur genannt sein wollte – war aufgeblieben, ihn zu erwarten. Die Nachricht von den Schreckensscenen hatte sie in die wildeste Besorgniß um ihn versetzt, und als er jetzt kalt und frostig ihr diese Sorge kaum dankte und hastig nach seinem Zimmer ging, brach sie in leidenschaftliche Schmähungen aus, nannte ihn einen Undankbaren und geberdete sich wie ein verzogenes Kind, bis sie sich spät in Schlaf weinte.
Rudolph Meißner zog es vor, sich nicht erst niederzulegen, da er schon vor sieben Uhr im Hôtel der Rue Saint Georges sein mußte, um die kleine Kapitainsfrau zum Bahnhof zu geleiten. Er brachte die Stunden der Nacht damit zu, mehrere Briefe zu schreiben und zu adressiren.
Um 6 Uhr verließ er das Hôtel.– –
Rosamunde hatte mit dem Geliebten die Freundin zu dem unfernen Bahnhof begleitet, die gütige Mutter hatte es selbst so angeordnet. Die Abreise erfolgte ohne Hinderniß, aber schon wenige Stunden darauf eilte der Telegraph der ungefährlichen Reisenden voraus nach Straßburg und veranlaßte dort bei der Ankunft ihre Verhaftung. Die Zeitungen meldeten damals, daß eine Frau daselbst in Folge des Attentats von der Polizei festgenommen und im Besitz von 30 000 Franken gefunden worden sei. Wir können hier gleich hinzufügen, daß – da Kapitain Laforgne bereits über Besançon die schweizer Grenze glücklich erreicht hatte und der armen jungen Frau nichts weiter zur Last gelegt werden konnte, als daß sie die Gattin eines der revolutionairen Agenten war, – sie nach kurzer Haft entlassen wurde und mit dem Gatten in Bern zusammentraf.
Als das so lange getrennt gewesene Paar, Rudolph Meißner und Rosamunde von Röbel, allein in dem Wagen zu dem kleinen Hôtel zurückkehrte, fand anfangs keines von Beiden ein Wort, nur ihre Hände ruhten in einander.
Endlich ermannte sich der Informator. »Es ist wahrscheinlich das letzte Mal, Rosamunde, meine Geliebte – nach dem Wort Ihrer edlen Mutter, meine Schwester, – daß wir uns allein sprechen. Ich glaube, daß Ihrer Familie das Verweilen in Paris durch die Vorgänge verleidet sein wird und daß Sie bald nach unserer theuren Heimath zurückkehren werden. Unsere Wege begegnen sich vielleicht nie wieder im Leben; so lassen Sie uns denn, wenn Gott es will, scheiden für dieses mit der Gewißheit, daß unsere Herzen unverändert geblieben sind. Ich habe manchen Irrthum abgethan Rosamunde, manche bittere Lehre aus dem Leben erhalten, und wenn ich auch kein Abtrünniger von jenen Gefühlen und Träumen meiner Jugend sein kann, so habe ich doch begriffen, daß sie der Wirklichkeit gegenüber eben nur Träume sind, die uns als Ideal vorschweben dürfen, um geistig nach dieser Freiheit zu streben, während ihr Beiwerk so voll Blut und Schmutz ist, so voll Egoismus und Verbrechen, daß selbst das Princip davon beschmutzt wird!«
»Armer Freund!«
»Wenn jene Lehrer der Jugend – ich möchte lieber sagen, jene Verführer der Jugend wüßten, welches heillose Samenkorn sie mit Lehre und Beispiel oft in die empfänglichen Herzen werfen, indem sie mit den glänzenden Theorien und Idealen nicht auch zugleich die Schranken der bürgerlichen Gesellschaft, die Festhaltung des Geheiligten und Reellen lehren, und jene so für das wirkliche Leben tüchtig machen, statt sie Phantomen nachjagen zu lassen – sie würden behutsamer sein und nicht muthwillig die heiligen Bande sprengen helfen, die an Zucht und Ordnung, an Treue und Liebe fesseln sollen. Unsägliches Elend hat dieses Ueberstürzen der Freiheit gebracht, die allein die fortschreitende Zeit giebt, nicht der mißgeleitete Enthusiasmus eines Studenten, die Theorie des Katheders oder der Ehrgeiz des Deputirten! – Doch was langweile ich Sie mit all' den Klagen, die dem Munde nur überströmen, weil die Brust sie so lange verschließen mußte. Auch zwischen uns hat der politische Zwist seine Scheidewände gebaut – aber Sie wenigstens Rosamunde, dürfen nicht untergehen daran. Nehmen Sie das Wort zurück, das Sie mir verpfändeten, damals, als ich im Park Ihres Gutes Ihnen meine Liebe zu gestehen wagte, und wiederum an jenem blutigen Tage im Garten der Villa Bethmann zu Frankfurt, als ich die Freundeshand von mir stoßen mußte, die ihr Vater mir bot für den Abfall von meiner Ueberzeugung. Nehmen Sie es zurück, verschönern Sie die letzten Lebenstage Ihres würdigen Vaters durch den Gehorsam der einzigen Tochter und werden Sie eine liebende Gattin und die Mutter eines blühenden Geschlechts, das einen bessern Mann seinen Vater nennt, als den unglücklichen Freund Ihrer Jugend.«
»Niemals! niemals! Rudolph, ich bin eine gehorsame Tochter – ich habe Dir entsagt! Mehr verlangt selbst der starre Wille meines Vaters nicht, und Gott hat Mitleid mit einem gebrochenen Herzen. Hier«, sie legte die Hand auf die Brust, »ich fühle es tief, wird bald Alles ruhig und friedlich sein – nur in einer andern Weise!«
Ihr Haupt war an seine Brust gelehnt, seine Lippe trank den Duft ihres schönen blonden Haars.
»Rosamunde!«
»Meine Kraft ist zu Ende,« sagte sie leise schluchzend – »ich fühle es, daß es für mich nur ein Glück giebt: das Grab! dann Rudolph, bist Du frei, der kräftige starke Mann, nicht gebunden mehr durch Deine Liebe zu einem thörichten verkümmerten Mädchen, und kannst nach dem stolzesten Ziel streben und es erreichen. Nur Eines bitte ich Dich, halte mein Gedächtniß werth und bleibe der treue Freund des Bruders Derer, für die das Grab nur der Gränzstein des Lebens, aber nicht ihrer Liebe ist!«
»Unglückliche – Du weißt nicht, was Du sprichst. Nicht Du darfst das Opfer sein, – dies Recht ist mein und ich denke Dir meine Liebe in Deinem Bruder zu beweisen. – Treue denn Rosamunde, Treue uns Beiden bis über das Grab hinaus!«
Der Wagen hielt – er öffnete den Schlag und hob das bleiche Mädchen heraus, das über die thränenfeuchten Augen den Schleier herabgezogen hatte.
Oben in der Wohnung der Edelfrau hörte er, daß noch keine Nachricht von Otto eingegangen. Die besorgte Mutter bat ihn, nach der Polizei-Präfectur zu gehen und dort Nachfrage zu halten, denn Madame Maher, die Dame des Hauses war bereits gegen die Gewohnheit der Pariserinnen, die vor 11 Uhr selten sichtbar werden, herauf gekommen und hatte hundert Gerüchte erzählt, die aus dem Barbierladen geradeüber von der Entdeckung einer großen Verschwörung und der Verhaftung mehrer tausend Mörder und Attentäter herüber gekommen waren.
Der Informator versprach, was man von ihm verlangte, und so bald als möglich wieder zu kommen. Dann nahm er Abschied von den beiden Frauen und nur der eigenen Sorge der Mutter und dem aufgeregten Gefühl des Mädchens konnte es entgehen, daß dieser Abschied von seiner Seite ein bewegterer war, als die kurze Frist des Scheidens rechtfertigte.
Rudolph Meißner ging, als er das Hôtel d'Orient verlassen, nach dem Fiakrestand in der Rue de Provence und winkte dem nächsten Kutscher.
Er sah nach der Uhr – es war Acht.
»Rue St. Dominique,« befahl er – »Hôtel Massaignac!«
Unterwegs, bei Devisme, hielt er an und kaufte ein Paar einfache, aber gute Pistolen.– –
Es war 12 Uhr, die beiden Frauen hatten noch Nichts von dem Sohn und Bruder gehört; auch der Freund, auf dessen Nachricht sie mit Bestimmtheit gerechnet, war seltsamer Weise nicht wiedergekehrt.
Dagegen hatte ein anderes Ereigniß, eine andere Kunde ihre Besorgniß vermehrt. Doktor Achmet, der Begleiter der Kunstreiterin Rositta, war schon zwei Mal im Hôtel gewesen, in der größten Angst und Aufregung, um nachzufragen, ob sie Nichts von der Dame wüßten.
Die Kunstreiterin war seit dem Abend vorher spurlos verschwunden.
So sehr sie auch die näher liegende Besorgniß in Anspruch nahm, und so flüchtig ihre Bekanntschaft mit dem fremden Mädchen auch war, konnten sie doch dem Schmerz, der Angst des älteren Mannes ihre innige Theilnahme nicht versagen und diese mußte sich um so mehr steigern, als sie von ihm hörten, daß die seltsame spurlose Entfernung der Sennora in Zusammenhang mit der Verhaftung des jungen Edelmanns stand, daß durch sie wenigstens der Doktor veranlaßt worden war, seinen Schützling zu verlassen.
Es war ihm auf der Polizei-Präfectur trotz der dort wegen des Attentats und der Verfolgung der Mörder herrschenden Verwirrung gelungen, zu erfahren, daß Otto von Röbel auf speziellen Befehl des Polizei-Präfecten arretirt worden sei, sich aber in einem anständigen Haftlokal allein und mit allen Bedürfnissen versehen befinde, und daß seine Sache so rasch als möglich am andern Tage vorgenommen werden solle.
Als er zurückkehrte nach der Oper, war die Vorstellung eben beendet worden und das Haus geschlossen. In der Annahme, daß die Sennora allein oder von einem ihrer zahlreichen Verehrer begleitet, nach Hause gefahren sei, war er nach ihrer Wohnung geeilt – hatte sie jedoch dort nicht gefunden. Es war möglich, daß sie noch eine Fahrt durch die illuminirten Straßen gemacht hatte, und er wartete von Minute zu Minute auf ihre Rückkehr. Aber aus den Minuten wurden Stunden – das Mädchen kam nicht, und seine Angst wuchs. Mit dem ersten Tageslicht lief er von Ort zu Ort, um Nachricht über sie zu suchen – aber überall fand er taube Ohren; das Attentat, die bereits in der Nacht erfolgte Verhaftung der muthmaßlichen Mörder hatte alles Interesse in Anspruch genommen, – in der Oper waren die Logenschließer nicht so rasch aufzutreiben, um befragt werden zu können; – Monsieur Dejéan, zu dem er in seiner Angst eilte, um seine zahlreichen Verbindungen in Anspruch zu nehmen, gerieth über das Verschwinden in Extase und behauptete geradezu, seine Angst sei Komödie und die Kunstreiterin nach einem andern Engagement durchgegangen, und auf der Polizei-Präfectur hatte man in diesem Augenblick in der That Wichtigeres zu thun, als sich um die Abwesenheit einer Reiterin zu kümmern, die wer weiß wo in den Armen irgend eines Liebhabers die Nacht zugebracht und bis in den Tag hinein verlängert haben mochte!
Vergeblich waren seine Betheuerungen, daß dies bei dem Charakter der Sennora unmöglich sei. Das Beste, was ihm passirte, war ausgelacht zu werden, und ohne Resultat hatte er mehre Stunden mit Nachforschungen zugebracht.
Welche tausend Zufälle übrigens auch die Abwesenheit des Mädchens veranlaßt haben konnten, – er konnte im Innersten seines Herzens den Argwohn nicht los werden, daß andere persönliche und mächtige Feinde damit in Verbindung ständen.
Bei der zweiten Nachfrage hatte er sich von den Frauen die Adresse des Mannes erbeten, des Freundes Otto's, den er im Foyer der Oper bei der Sennora zurückgelassen, um sie nach ihrer Loge zu begleiten. Aber zufällig hatte Meißner nicht erwähnt, in welchem Hôtel die Fürstin wohnte, oder die Frauen hatten den gleichgültigen Umstand überhört und wußten nur, daß er zum Haushalt der Fürstin Trubetzkoi gehörte. Jetzt war der Doktor zu diesem selbst geeilt, um sein bekanntes Interesse für die Verschwundene in Anspruch zu nehmen und den Informator des jungen Erben des Fürsten zu ermitteln.
Es war zwölf Uhr – die Edelfrau hatte so eben ihre Toilette vollendet, um nach dem Hôtel der Preußischen Gesandtschaft in der Rue de Lille zu fahren und den Schutz des Grafen von Hatzfeldt für ihren Sohn in Anspruch zu nehmen, als ein verschlossener Wagen vor dem kleinen Hôtel der Rue St. Georges vorfuhr.
Ein Freudenruf Rosamundens, die zufällig am Fenster stand, führte die Mutter hastig dahin – aus dem Wagen, auf dessen Bock neben dem Kutscher ein Municipal-Gardist saß, waren zwei Herren gestiegen, Otto von Röbel und ein Beamter. Beide traten so eben in das Hotel.
Mutter und Schwester flogen dem Befreiten an der Thür entgegen und umarmten ihn zärtlich. Aber er erwiederte ihre Liebkosungen nur kurz – sein ganzes Wesen war finster und erregt. Er flüsterte bei der Umarmung der Schwester zu, ob François in Sicherheit? und als sie das, so weit sie wußte, bejaht und ihm mitgetheilt hatte, daß seine Gattin auf seinen Befehl bereits am Morgen nach Straßburg abgereist sei, schien ihm ein Stein vom Herzen und er wandte sich zu seinem Begleiter, der an der Thür des Zimmers stehen geblieben war.
»Sie sehen mein Herr« sagte er, »daß ich die Wahrheit gesagt, und hier nur zwei Frauen zu finden sind, meine Mutter und meine Schwester, die der Polizei Ihres Kaisers wohl keine Besorgnisse einflößen werden.«
»Wir wußten dies bereits, mein Herr« erwiderte der Beamte ruhig, »eben so, daß heute Morgen eine dritte Dame, wahrscheinlich die Frau oder Zuhälterin Ihres Freundes von hier abgereist ist.«
»Herr ...«
Die Edelfrau machte eine befehlende Geberde gegen ihren Sohn. »Mein Herr,« sagte sie mit der ganzen Würde einer Matrone, »ich bin die Gattin des ehemaligen Preußischen Majors von Röbel, eines treuen Dieners seines Königs und dies ist meine Tochter. Ich glaube, es wird nur dieser Bürgschaft bedürfen, um Sie zu überzeugen, daß wir nur mit der Gattin des Herrn Kapitain Laforgne verkehren konnten.«
Der Beamte verbeugte sich etwas beschämt: »Verzeihen Sie, gnädige Frau,« entschuldigte er – »Kapitain Laforgne ist als Mitglied einer Verbindung ermittelt worden, die beabsichtigt, die Regierung zu stürzen und den Kaiser zu ermorden. Wir haben Ursach, den Gliedern dieser Gesellschaft jede mögliche moralische Schlechtigkeit zuzutrauen, und eine Täuschung ist so leicht ...«
»Nicht in dieser Beziehung, mein Herr« sagte die Dame stolz. »Was die politischen Agitationen des Herrn Kapitain Laforgne betrifft, so stelle ich nicht in Abrede, daß uns bekannt war, daß er ein Freund und Anhänger des General Garibaldi ist, aber wir haben mit seiner politischen Meinung Nichts zu schaffen und stets in ihm nur den privaten Freund unserer Familie gesehen. Ich kenne den Herrn Kapitain als viel zu rechtschaffen und ehrenhaft, um glauben zu können, daß er an einem so schändlichen Verbrechen, wie die Ermordung so vieler Unschuldiger, sich betheiligt haben könnte!«
Der Beamte dachte einige Augenblicke nach. »Ich mag dies auch nicht behaupten, Madame« sagte er endlich. »Es scheint, daß der Mordanschlag unabhängig von einer beabsichtigten Schilderhebung der Rothen und der Orleanisten zur Ausführung gekommen ist. Die Sache der Justiz wird es sein, die Wahrheit zu ermitteln, die Polizei hat nur mit den naheliegenden Thatsachen zu thun, und in dieser Beziehung muß ich bedauern, streng meine Pflicht üben zu müssen.«
»Und worin besteht diese?«
»Sie werden selbst begreifen, Madame, daß Ihr Herr Sohn durch den vertrauten Umgang mit einem der Führer der beabsichtigten Emeute, um nur diese gelten zu lassen, in den Augen der Regierung stark compromittirt ist, um so mehr, als er sich hartnäckig geweigert hat, über die Person dieses Freundes gestern Abend bei seiner ersten Vernehmung die geringste Auskunft zu geben, und sich erst heute dazu herbeigelassen hat, als die Persönlichkeit bereits auf andere Weise festgestellt war. Unter diesen Umständen, gnädige Frau, werden Sie es selbst gerechtfertigt finden, wenn ich den Befehl habe, für Ihre sofortige Abreise zu sorgen und Sie bis an die Gränze zu begleiten.«
»Nimmermehr! Das ist eine unerhörte Tyrannei« brauste der junge Mann auf. »Ich werde Paris verlassen, aber erst, wenn ich hier notwendige Geschäfte in Ordnung gebracht habe!«
»Sie werden mich nicht zwingen, Herr von Reuble« sagte der Beamte kalt. »Zwangsmaßregeln in Anwendung zu bringen. Ich habe den strengen Befehl, und ich hoffe, Ihre Frau Mutter wird die unangenehme Nothwendigkeit einsehen.«
»Wir haben meines Wissens Nichts mehr in Paris zu thun« erwiederte Frau von Röbel kalt. »Wie lange gestattet die Regierung des Kaisers Louis Napoleon uns Zeit?«
»Der nächste Zug nach Brüssel oder Saarbrück geht um 1 Uhr 45 Minuten ab – Sie würden also noch fünf Viertelstunden für Ihr Gepäck haben. Madame haben vollkommen Freiheit, diese zu benutzen, wie Sie wollen – ich habe nur den Befehl, Ihren Herrn Sohn nicht zu verlassen.«
»Was meinen Sohn angeht, gilt auch seiner Mutter. Still Otto – im Namen Deines Vaters befehle ich es Dir. Mein Herr, wir werden in einer Stunde zu Ihren Diensten sein. Bitte die Wirthin, Rosamunde, uns eines der Mädchen zu senden, um uns beim Einpacken zu helfen und zugleich um unsere Rechnung.«
Das Benehmen der Dame war so ruhig, so kalt und würdevoll, daß der Beamte sich in einer peinlichen Lage fühlte. Nachdem die Edelfrau nochmals ihrem Sohne streng befohlen hatte, jeden Streit zu vermeiden und so rasch als möglich seine Sachen zu ordnen, entfernte sie sich in das Nebenzimmer, um den Koffer zu packen.
Der junge Mann ging finster in dem Zimmer auf und nieder, über einem Entschluß brütend. Endlich trat er zu dem Beamten.
»Mein Herr – waren Sie Soldat?«
»Ich diente unter Bugeaud in Afrika.« »Dann wissen Sie, was eine Ehrensache ist. Ich habe eine solche – durfte es aber in Gegenwart meiner Mutter nicht erwähnen. Geben Sie mir eine halbe Stunde Zeit, um wenigstens meinen Sekundanten aufzusuchen und durch ihn mich rechtfertigen und andere Arrangements treffen zu lassen; denn ich habe durch meine Haft das Rendezvous versäumen müssen. Ich wollte Sie auf der Fahrt hierher nicht darum bitten, weil wir nicht allein waren. Ich verpfände Ihnen mein Ehrenwort, daß ich vor der Abfahrt hier zurück sein werde.«
»Monsieur,« sagte der Beamte höflich – »es thut mir aufrichtig leid, daß ich Ihnen nicht gefällig darin sein kann. Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen zu sagen, daß ich Soldat gewesen, also gewohnt bin, den mir ertheilten Befehlen strenge Folge zu leisten. Ich habe die Ordre, Sie direkt nach Ihrem Hotel und von dort mit dem ersten Bahnzug nach der Gränze zu begleiten, ohne Ihnen einen Besuch oder die Absendung von Briefen zu gestatten: Im Uebrigen bin ich bereit, Ihnen gern zu dienen!«
»Also auch dies! – nicht einmal schriftlich soll ich einen Schimpf von meinem Namen abwenden dürfen!« knirschte der Preuße. »Gut denn mein Herr, die Post von Brüssel nach Paris wird mir hoffentlich 24 Stunden später Satisfaction verschaffen.«
Er sollte dessen nicht bedürfen.
Die Thür des Zimmers, in dem er sich mit dem Beamten befand, wurde hastig aufgerissen, der maurische Arzt, der Begleiter der Kunstreiterin, trat ein. Sein ganzes, sonst so ruhiges und ernstes Wesen war verändert, und hatte einer heftigen Aufregung Platz gemacht.
»Endlich!« rief er, die Hände des jungen Mannes fassend. »Gott sei Dank, daß Sie frei sind! Sie werden mir sie suchen helfen; denn ich weiß, Ihre Theilnahme ist aufrichtig und Sie haben ihr nicht das Leben gerettet, um sie jetzt in den Händen ihrer Feinde zu lassen, die ja auch die Ihren geworden sind. Helfen Sie – rathen Sie, was sollen wir thun?«
Der junge Edelmann sah ihn erschrocken an. »Um Himmelswillen, was ist geschehen – was meinen Sie?«
»Die Sorge um Sie, gestern bei Ihrer Verhaftung, war die Ursach! Jetzt da Sie frei sind, ist es an Ihnen!«
»Ich verstehe Sie noch immer nicht! Was soll ich helfen? Sehen Sie nicht, daß ich noch ein Gefangener bin?« »Wie – man hat Sie nicht entlassen?«
»Gewiß – aber nur um mich und die Meinen gleich Vagabonden über die Gränze Frankreichs zu transportiren!«
Der Doktor schlug die Hand vor die Stirn. »O das ist ein schreckliches Unheil – ich rechnete sicher auf Sie – dann ist sie verloren!«
»Verloren – wer?«
»Wer anders, als meine Tochter, mein Kind – die Sennora!«
»Rositta?«
Der Preuße stürzte auf ihn zu, bleich, mit drohendem Auge, und schüttelte wild seinen Arm.
»Reden Sie, was ist mit ihr geschehen?«
»Wie – hat Ihre Mutter Sie nicht unterrichtet?«
»Meine Mutter? ich habe noch nicht zehn Worte mit ihr gewechselt!' Um Himmelswillen, wo ist die Sennora?«
»Fort – seit gestern Abend spurlos verschwunden! Niemand weiß, wo sie geblieben, seit ich sie gestern Abend verlassen habe, um Ihnen nach dem Gefängniß zu folgen!«
Der junge Mann war bei der unerwarteten Nachricht zurückgewankt, als wäre er von einem heftigen Schlage getroffen. Seine Hand faßte unwillkürlich nach der Lehne des nächsten Stuhls, um sich darauf zu stützen.
»Fort? verschwunden? – wie wäre das möglich in einer Stadt wie Paris – unter tausend Augen!«
»Es sind gar viele Dinge möglich in Paris – das sehen Sie an sich selbst! Ihr unglücklicher Freund – den Sie uns gestern im Foyer vorstellten, war der Letzte, der sie gesehen. Er versprach, sie nach ihrer Loge zu bringen – aber er muß mehr wissen, wenn er nur erst sprechen könnte. Offenbar steht sein Duell im Zusammenhang mit Rositta's Verschwinden!«
»Sein Duell? Doktor, machen Sie mich nicht wahnsinnig? Rudolph hat sich duellirt? – Mit wem? wann?«
»Vor kaum zwei Stunden! Lord Heresford, der englische Sonderling, hat ihn selbst aus dem Boulogner Holz zurückgebracht!«
»Wie – Rudolph sollte sich mit dem Lord geschlagen haben? aber warum?«
»Par Dios! nicht mit dem Lord! wie ich im Vertrauen erfahren habe, mit dem Grafen Montijo!«.
»Höll' und Teufel – dann hat der Elende seine Stellvertretung angenommen. Rudolph hat sich für mich geschlagen – es war mein Duell! Wo ist er, ich muß ihn sprechen, um jeden Preis!«
Er stürzte nach der Thür, um das Zimmer zu verlassen. Der Polizeibeamte stellte sich ihm in den Weg.
»Nicht von der Stelle, Herr! Sie kennen meine Instruction!«
»Aber haben Sie denn nicht gehört? Sie ist fort – er hat sich für mich geschlagen! Ich muß ihn sprechen, um Auskunft zu erhalten ...«
Der Beamte blieb unbeweglich. »So leid es mir thut, mein Herr, in diesem Fall – es ist unmöglich! – Uebrigens, die Zeit verrinnt – ich muß Sie daran erinnern, sich fertig zu machen – in kaum einer Stunde geht der Zug ab und ich habe den strengen Befehl, nötigenfalls mit Gewalt zur Abreise zu zwingen.« Der junge Mann stand in der Mitte des Zimmers – sein Gesicht nahm eine eigentümliche Blässe an – sein sonst so ruhiges, klares Auge fing an, in einer ganz besonderen Weise zu funkeln.
Es begann offenbar jener Zustand von Zorn bei ihm einzutreten, der den kräftigen nordischen Naturen eigen ist, wenn sie allzusehr gereizt werden, und den man in früheren Zeiten mit dem Namen der »Berserkerwuth« bezeichnete.
Eine große That – oder ein großes Verbrechen ist gewöhnlich die Folge davon.
In diesem Augenblick trat die Edelfrau wieder in's Zimmer.
»Mein Gott, Otto – Du noch hier – hast Du Deine Sachen bereit? – Wie, auch Sie hier, mein Herr? Kommen Sie von Rudolph? Haben Sie Ihre Pflegetochter – haben Sie Sennora Rositta gefunden?«
Sie hatte die Aufregung Ihres Sohnes noch nicht bemerkt, da sie hinter ihm stand.
»»Nicht Sennora Rositta, Madame,« sagte der Arzt entschlossen, »sondern Carmen von Massaignac, die Tochter des verstorbenen Freundes Ihres Gemahls, des Obersten Fourichon von Massaignac, und die Schwester des Senateurs dieses Namens!«
»Carmen?« Ein Zittern durchlief, den Körper des Mannes; erst jetzt bemerkte die Mutter den Zustand ihres Sohns und eilte auf ihn zu. »Und Rudolph? – Aus dem Wege Herr, wenn nicht ein Unglück geschehen soll – ich muß Rudolph sprechen, er weiß von ihr!« Seine Augen blitzten so tödtlich, daß der Beamte unwillkürlich zurücktrat und nach dem Revolver in der Brusttasche des Rocks griff.
»Otto – mein Kind! um Gotteswillen, komm zu Dir! Rühren Sie ihn nicht an – er ist entsetzlich!«
Sie kannte diesen Zustand aus seiner Knabenzeit. Er wehrte sie mit einer langsamen und unwiderstehlichen Bewegung seines Armes zurück und schritt weiter.
Aber eine Hand legte sich auf die seine. »Es ist unnütz, Sie können ihn nicht sprechen« sagte der Arzt. »Dieselben Feinde, die meine Tochter gestohlen, haben auch ihn getroffen. Er ist in dem Duell für Sie durch die Brust geschossen und ohne Besinnung!«
Ein jäher Aufschrei – in der Thür des Nebenzimmers stand die Gestalt des bleichen Mädchens aus der Mark – ihre beiden Hände zuckten nach dem Herzen, dann fiel sie ohnmächtig zu Boden.
Es war am Abend desselben Tages.
In Folge der Ohnmacht des Fräulein von Röbel und aus die dringenden Vorstellungen der Mutter und des Arztes hatte es der Beamte auf sich genommen, die Abreise bis zum nächsten Zuge, der um 5 Uhr 10 Minuten von Paris nach Brüssel geht, zu verschieben, nachdem Otto von Röbel sein Ehrenwort gegeben, sein Zimmer bis dahin nicht zu verlassen.
Rosamunde war in Folge der angewandten Mittel bald wieder zu sich gekommen. Ihr Schmerz war still und in sich gekehrt – sie erklärte sich zur Abreise bereit und verlangte nur noch vorher Nachricht von dem Befinden des Geliebten.
Der Arzt, – trotz der eigenen Sorge, die ihn verzehrte, – hatte es übernommen, nochmals nach dem Hôtel der Fürstin Trubetzkoi zu gehen, wohin man den Kranken gebracht hatte. Er war in den wenigen Stunden ihrer Bekanntschaft der Freund der Familie, der Vertraute Aller geworden.
Die Nachricht, die er brachte, und mit der er nicht täuschen wollte, lautete wenig tröstlich. Die Fürstin hatte die ersten Aerzte von Paris berufen, und seine eigene Erfahrung in Schußwunden aus den Feldzügen in Algerien und der Krim zeigte ihm, daß ihr Ausspruch richtig war.
Die Kugel war unter der rechten Schulter durch in die Brust gegangen – die Wunde schien nicht unbedingt tödtlich, aber es war für die Erhaltung des Lebens in Folge der starken Blutung nur wenig Hoffnung, und jedenfalls die sorgsamste Pflege nothwendig.
Die Fürstin that Alles, was eine Freundin, was eine Mutter an dem Krankenlager ihres eigenen Kindes nur thun kann. Doktor Achmet versprach, den Kranken so oft zu besuchen, als es ihm nur die Nachforschungen nach Rositta, oder vielmehr Carmen, die er jetzt ganz rücksichtslos betreiben wollte, gestatten würden, und täglich nach Brüssel Nachricht zu geben, wo die Familie bis zur Entscheidung des Schicksals ihres unglücklichen Freundes bleiben wollte. Otto von Röbel hatte erklärt, unter keinen Umständen eher die Nähe der französischen Grenze verlassen zu wollen. Offenbar bannte ihn noch ein anderer Gedanke dahin.
Um 5 Uhr 19 Minuten war die Familie in Begleitung des Polizeibeamten, der sich mit aller Rücksicht, aber mit eben solchem festen Beharren auf der ihm ertheilten Ordre benahm, abgereist. Es war Otto von Röbel nicht gestattet worden, Briefe aus dem Hôtel abzusenden. –
Um 8 Uhr 20 Minuten war der Expreß-Train von Brüssel eingetroffen – die Züge kreuzen sich auf einer Zwischenstation von Douay.
Aber wir haben dem Leser noch Rechenschaft zu geben über einige Vorgänge des Morgens, ehe wir ihn am Abend an das Lager des Verwundeten führen. –
Wir haben den Informator auf dem Wege nach dem Hôtel des Marquis von Massaignac verlassen, wie er in dem Magazin eines Waffenhändlers des Boulevard des Italiens ein Paar Pistolen kaufte.
Rudolph Meißner hatte vollkommen seinen Entschluß gefaßt.
Er wußte aus der kurzen, flüchtigen Mittheilung seines Freundes am Abend vorher die Stunde und den allgemeinen Ort des Rendezvous und daß der Senateur der Sekundant des Gegners sein würde.
Wenn sich dieser also zu dem Rendezvous begeben wollte, obschon der Preuße am Abend vorher verhaftet worden war, so mußte er entweder den Marquis abholen, oder dieser ihn. Rudolph beschloß also, vor dem Hotel des Senateurs zu warten und ihm dann zu folgen. So mußte er den Ort der Zusammenkunft erreichen und konnte dort nach den Umständen handeln, das heißt, die Abwesenheit Otto's von Röbel rechtfertigen, oder seine Stelle einnehmen.
Er hatte oft gehört, daß selten ein Franzose sich weigern würde, einem anständigen Manne einen Ehrendienst zu leisten. Er beabsichtigte also, die erste geeignete Person, der er im Bois de Boulogne begegnen würde, zu seinem Zeugen zu machen.
In der Nähe des Hotels ließ er den Fiacre halten. Er hatte noch nicht zehn Minuten gewartet, als eine Chaise heranfuhr, und Graf Montijo aus dieser sprang und in das Hotel ging.
Bald darauf kam er in Begleitung des Marquis von Massaignac und zweier anderen Herrn zurück.
Einer derselben trug die Uniform der Garde, der andere Civil; dieser schien ein Arzt.
Die Vier nahmen in der Chaise Platz, und dieselbe rollte in der Richtung des Champs Elysées davon. Der Graf schien sehr aufgeräumt zu sein, er scherzte und lachte mit dem Offizier. Nicht so heiter gestimmt schien der Marquis.
Es war etwas später, als halb neun Uhr; die Chaisi der vornehmen Herren rollte rasch die Champs Elysées entlang um den arc d'étoile durch die Porte Maillot nach dem See, in dessen Nähe sich die, mit dem pomphaften Namen des Mont St. Bernard bezeichnete, Anhöhe befindet. Der Informator versprach dem Fiacrekutscher fünf Francs Trinkgeld, wenn er den Wagen stets im Auge halten würde. Die Coupé's der Regie haben eine vortreffliche Bespannung und der Fiacre erfüllte ohne Anstrengungen seinen Auftrag.
Die Equipage hielt an dem, in der Nähe befindlichen Kaffeehaus, die Herren stiegen aus.
Es waren nur wenige Gäste da – kaum sechs oder acht, die Meisten aus Auteuil und der Nachbarschaft. Nur ein Mann von Stande saß im Zimmer des Café und las eine englische Zeitung, während sein Reitknecht die Pferde in der Allee umherführte.
Die Ankommenden schienen ihn zu kennen, denn sie grüßten ihn höflich. Der Fremde dankte mit einem kurzen Kopfnicken und wendete sich dann wieder zu seiner Zeitung.
Der Graf hatte seine Uhr gezogen, er hielt sie seinen Begleitern hin. »Punkt neun Uhr. Noch, ist Niemand hier!«
»Pardious,« meinte ziemlich unwirsch der Marquis – »ich denke, es wird Wohl auch Niemand kommen. Sie wissen...«
»Das kümmert uns Nichts,« sagte der Graf finster. »Wir haben unsere Pflicht zu erfüllen und an Ort und Stelle zu sein, zur bestimmten Zeit. Erscheint dieser Herr Preuße nicht, so haben wir das unsere gethan und er mag den Flecken auf seiner Ehre wegwischen, so gut er kann. Ich denke, Sie stimmen mir bei, Herr Kapitain?«
Der Offizier, aus einer hohen adligen Familie und einer der Tonangeber der Modewelt von Paris, nickte ihm Beifall. »Gewiß, gewiß, lieber Graf, ich bin Autorität in Duellen und ich denke, mein Ausspruch ist entscheidend im Club. Wir werden hier eine Viertelstunde warten, und wenn Ihr kleiner Preuße bis dahin nicht erscheint, oder eine genügende Entschuldigung beibringt, ist er ein verlorner Mann für die anständige Gesellschaft. – Das Wetter ist schön – ich denke, wir nehmen ein Glas Absynth und promeniren auf und ab.«
Man war einverstanden – die Herren plauderten, als seien sie nicht hier, um selbst zur Zielscheibe einer Kugel zu dienen, von dem, Attentat des gestrigen Abends und den Entdeckungen, die während der Nacht die Polizei gemacht hatte.
Unterdeß war der Secretair der Fürstin Trubetzkoi gleichfalls herangetreten, aber unbeachtet geblieben von den Herren, da auch der Marquis sich wohl seines Gesichts nicht erinnerte.
Rudolph Meißner war einige Augenblicke in Verlegenheit, als sein Blick glücklicher Weise auf den Gast fiel, den die Gesellschaft bei ihrem Eintreten begrüßt hatte, und dessen Pferde vor dem Café auf und nieder geführt und eben von dem Offizier mit Kennermiene gemustert wurden.
Der Fremde kam ihm bekannt vor, er mußte ihn schon gesehen haben, – noch vor Kurzem. Einige Augenblicke Nachdenkens zeigten ihm, daß dies am gestrigen Abend geschehen. Es war der Herr, der sich in der Begleitung des Obersten Montboisier befunden hatte, als dieser sich bei der Verhaftung des jungen Preußen seiner annahm.
Der Secretair hatte nur den Namen Montboisier gehört, als dieser sich selbst nannte und kannte die andern Herren nicht aber das ehrenwerthe Benehmen des Kammerherrn bürgte ihm für seine Gesellschafter und er beschloß, bevor er sich an die Gesellschaft der Gegner wandte, sich womöglich dem Fremden einen Zeugen zu verschaffen.
Mit diesem Entschluß trat er an den Tisch.
»Mein Herr, darf ich Sie um einige Worte bitten?«
Der Fremde sah auf, schob das Lorgnon in das Auge und betrachtete ihn.
»Was wünschen Sie.«.
»Erlauben Sie mir zuerst, mich Ihnen vorzustellen. Ich bin ein Preuße, der Secretair der Fürstin Trubetzkoi, mein Name ist Rudolph Meißner.«
»Well! Well! was weiter?«
»Wie ich höre, sind Sie Engländer – das erleichtert mir meine Bitte. Ein Engländer wird dem Mitglied einer Nation, deren Kronprinz so eben die Prinzeß Royal von Großbritannien heirathet, gegen französische Perfidie gewiß Beistand leisten!«
Der Fremde betrachtete ihn jetzt aufmerksamer und legte das Zeitungsblatt weg. »Sie sehen nicht aus, wie ein Bettler, Sir. Sprechen Sie, womit kann ich Ihnen dienen?«
»Wenn die Frage nicht unbescheiden ist, befanden Sie sich gestern Abend nicht in der Gesellschaft des Herrn Grafen von Montboisier im Foyer der Oper bald nach dem Attentat?«
»Ja. Es wurde da ein junger Mann verhaftet, der mir am Abend vorher vorgestellt war.« »Desto besser. Herr von Röbel ist ein Jugendfreund vom mir, oder vielmehr, ich bin der Jugendfreund seiner älteren Brüder.«
»Goddam! ich erinnere mich, den einen hier in Paris im Dezember 1851 gekannt zu haben. Er hatte ein famoses Rencontre mit einem alten Todtengräber aus den Katakomben.«
»Ich weiß davon Nichts, weil ich seit längerer Zeit fern von der Familie gelebt und den jüngeren Sohn nur zufällig hier wieder getroffen habe. Aber ich bin hocherfreut, daß Sie sich für die Familie interessiren, welche die Achtung jedes Ehrenmannes im höchsten Grade verdient. Herr von Röbel, der gestern verhaftet wurde, hatte auf heute Morgen ein Duell angenommen. In dem Augenblick, als er mich gestern dem Secundanten seines Gegners, dem Marquis von Massaignac vorstellen wollte, wurde er verhaftet.«
»Dem Marquis von Massaignac? demselben, der sich erlaubt, dort eben meinen »Atlantic« so unverschämt zu betasten?«
»Demselben!«
»Goddam! und der Gegner?«
»Ein Graf Montijo!«
Der Engländer ließ ein Pfeifen durch die Zähne hören. »By Jove! die Sache wird interessant! Wissen Sie zufällig, was die Veranlassung des Duells war?«
»Herr von Röbel hat vorgestern Abend nach der Vorstellung im Circus den Grafen Montijo in den Elysäischen Feldern, als er mit ihm in Wortwechsel gerathen war, geohrfeigt. Er und ein Freund von ihm wurden schon damals von der Polizei verfolgt und ich und andere Personen hegen starken Verdacht, daß die gestrige Verhaftung mehr ein Akt persönlicher Rache als der Politik ist!«
Der Engländer rieb sich sichtlich vergnügt die Hände. »Very well! die Sache wird immer besser. Ich möchte darauf wetten, daß die hübsche Kunstreiterin dabei im Spiele ist, denn ich sah die Bosheit des spitzbübischen Spaniers, dessen Visage mir schon lange fatal ist, und die entschlossene That Ihres Freundes. Ich liebe die Jugend und den Muth. Aber sagen Sie mir jetzt – warum haben Sie sich an mich gewandt und wie kann ich Ihnen beistehen?«
»Sir, ich sehe, daß man offenbar die Ehre meines Freundes beflecken will. Diese Herren wissen, daß er verhaftet ist, sie sind trotzdem hier erschienen, offenbar, um sein Ausbleiben zu constatiren. Ich hatte keine Zeit, um mich heute Morgen an den Herrn Grafen von Montboisier zu wenden. Ich bin hierher gekommen, um gegen jede Folgerung aus dem Ausbleiben des Herrn von Röbel zu protestiren, oder besser und lieber noch, um seine Stelle zu vertreten.«
Der Engländer sah ihn scharf an.
»Das wollten Sie?«
»Gewiß! mit Freuden! ich hatte beschlossen, mich an den ersten Fremden zu wenden, der mir Vertrauen einflößte, um ihn zu bitten, mein Zeuge zu sein.«
»Und ich flößte Ihnen dies Zutrauen ein?« »Ja, mein Herr! und ich habe gesehen, es war kein Zufall, Gott hat meine Wahl gelenkt!«
Der Engländer nickte. »Sie haben vielleicht Recht. In einem bewegten Leben habe ich die Erkenntniß des Spruchs geschöpft: Es fällt kein Sperling vom Dach, ohne Seinen Willen. – Ich bin der Viscount von Heresford. Wollen Sie Ihre Angelegenheit meinen Händen überlassen? Sie sehen, diese Herren sind im Begriff, eben ihren Wagen wieder zu besteigen!«
»Wie Mylord, Sie sind der berühmte Lord Heresford?« »Berühmt, oder berüchtigt – das bleibt sich gleich! Wollen Sie Ihre Sache meinen Händen vertrauen?« »Mit Dank – mit tausend Freuden Mylord!« »Well! Ihr Freund, der junge Held aus dem Circus von vorgestern Abend soll deshalb nicht schlechter fahren. Kommen Sie jetzt und sagen Sie diesem Herrn Marquis aus Montevideo, was Sie ihm zu sagen haben!
Er erhob sich und ging mit dem Preußen auf die Gesellschaft zu, die eben wieder unter höhnischen Bemerkungen ihren Wagen besteigen wollte.
»Monsieur le Marquis de Massaignac!«
»Mylord – ich freue mich sehr, Sie begrüßen zu können. Was steht zu Ihren Diensten?«
»Sie sind jawohl der Sekundant des Herrn Grafen von Montijo?«
Der Marquis stutzte. Wie soll ich das verstehen, Mylord?« »Goddam – man sagt, daß ich ein verständliches Französisch rede! Also kurz heraus, ja ober nein?«
Der Marquis blickte zögernd auf seinen Begleiter. Als ihm der Kapitain zunickte, sagte er entschlossen: »Ja Mylord! indeß, wir haben bis jetzt vergeblich hier auf die Ankunft dieses Herrn aus Preußen gewartet, und sind eben im Begriff, nach Paris zurückzukehren.«
»Mit unser Aller Uebereinstimmung,« bemerkte der Kapitain.
»Ich habe mit Ihnen Nichts zu thun, Sir,« sagte der Lord trocken, »sondern mit diesem Herrn. Herr Marquis, Sie wissen wahrscheinlich eben so gut, wie Ihr Auftraggeber, daß Herr von Reuble verhindert ist, hier zu erscheinen.«
»Mylord, das geht uns Nichts an, er hätte dann eine Entschuldigung senden und sein Ausbleiben rechtfertigen müssen.«
»Well! Er hat noch Besseres gethan – er hat Ihnen hier einen Stellvertreter geschickt!«
»Wie, Mylord?«
»Ich habe das Vergnügen, Ihnen hier Herrn – zum Henker, wie heißen Sie doch?«
»Rudolph Meißner!«
»Also Herrn Meißner vorzustellen. Er ist ein Freund und Landsmann des Herrn von Reuble und hierher gekommen, um seine Stelle einzunehmen.«
Es zuckte, wie eine geheime Freude über das häßliche unangenehme Gesicht des Marquis.
»Ich weiß nicht – ob ich das annehmen darf. In solchen Fällen, Mylord, kann unmöglich eine Stellvertretung gelten und dieser Herr ist uns ganz unbekannt!«
»Ei zum Henker, Herr Senateur, machen Sie keine Umstände. Wenn es blos darauf ankommt, daß Sie eine bekannte Person haben wollen, an die Sie sich halten können, so bin ich jeden Augenblick bereit, selber den Herrn Vetter der Kaiserin Eugenie zu maulschelliren. Herr von Reuble ist gestern verhaftet worden – wir wollen vorläufig nicht untersuchen, auf wessen Veranlassung. Wer aber von den Klauen der Polizei des Herrn Pietri festgehalten wird, der kann offenbar nicht zu gleicher Zeit hier im Gehölz von Boulogne sein. By Jove! ich dächte, das wäre sonnenklar! Dieser Herr ist hier, um Ihnen dies mitzutheilen und seine Stellvertretung anzubieten. Ich habe mich ihm zum Sekundanten offerirt und ich denke, diese Bürgschaft wird allen Clubs von Paris genügen!«
»Gewiß, Mylord, gewiß!« beeilte sich der Marquis zu versichern. »Aber erlauben Sie mir, mit diesen Herren mich zu besprechen.«
»Ventre Dieu!« fiel der Kapitain ein, »was braucht es da großer Ueberlegung. Ich denke, wir sind nicht zum Spaß hierher gekommen. Die Entschuldigung des Herrn von Reuble ist vollkommen genügend, und wenn dieser Herr, unter der Bürgschaft eines so ausgezeichneten Edelmanns, wie Mylord, sich erbietet, an seiner Stelle ein Paar Kugeln zu wechseln, so wird der Graf von Montijo Nichts dawider haben.«
Der Spanier biß sich auf die Lippen. Indeß es fehlte ihm, wie wir bereits erwähnt haben, von Natur nicht an Muth und Entschlossenheit und er nickte seinem Sekundanten einfach zu, worauf er sich abwandte und die Allee entlang ging.
Der Marquis konnte den Ausdruck einer geheimen Freude nicht ganz unterdrücken. »Ich stehe Ihnen zu Diensten, Mylord« sagte er. »Wenn es Ihnen gefällig ist, treten wir zur Seite und besprechen die Vorbereitungen.«
Rudolph Meißner entfernte sich gleichfalls. Der Lord und der Senator besprachen sich einige Augenblicke und riefen dann den Kapitain hinzu. Nachdem die Präliminarien geordnet waren, kehrten die Sekundanten zu ihren Freunden zurück.
Der Spanier hörte finster und schweigend den Bericht seines Freundes. Ein spöttisches Lächeln flog über seine Züge, als dieser ihm sich darzuthun mühte, daß er nicht anders habe handeln können, als die Stellvertretung anzunehmen, da man sonst von der bekannten Excentricität des Lords alles Mögliche zu erwarten gehabt hätte.
Es war bestimmt worden, daß die Gegner auf fünfzehn Schritt von einander gestellt werden sollten, und jeder fünf Schritt avanciren und nach Belieben feuern könne. So hatte es der Viscount durchgesetzt.
Man ließ die beiden Wagen bis an den See fahren und dort bleiben, nachdem man den Kasten mit den Pistolen genommen. Dann schlug man den Weg nach dem Mare d'Auteuil ein, in dessen Nähe sich noch prächtige Baumgruppen befinden.
Die Jahreszeit und die frühe Stunde – die Pariser lieben nicht das zeitige Aufstehen, – ließen das Gehölz fast menschenleer und bald hatte man eine genügende Stelle gefunden.
Das Loos entschied für die Pistolen des Grafen.
Der Lord gab dem Deutschen die Waffe.
»Haben Sie für den Fall eines unglücklichen Ausgangs einen Auftrag?«
»Ich wohne im Hôtel du Louvre, Mylord; in meinem Zimmer wird man zwei Briefe finden, die Sie befördern wollen.«
»Well! Verlassen Sie sich darauf. Sind Sie ein guter Schütze?«
»Nein; ich bin etwas kurzsichtig.«
»Das ist schade. So bleibt Ihnen nur zu warten, bis er den ersten Schuß gethan hat, und dann bis an die Barriere zu treten. Heben Sie die Pistole von unten und feuern Sie, so wie Sie die Richtung haben. Wenn Sie ihn erschießen, ist Nichts daran gelegen. Ich schütze Sie. Nun leben Sie wohl!«
»Leben Sie wohl, Mylord und nehmen Sie meinen Dank!«
Der Viscount war zurückgetreten. Er hatte vielleicht fünfzig Duellen schon beigewohnt oder sie selbst ausgefochten, aber selten hatte er so viele Theilnahme gezeigt. Sein Auge verließ das Gesicht seines Mandanten keinen Moment.
»Er hat Muth und verdiente ein anderes Schicksal,« murmelte er. »Wäre Peard hier, so könnte er einen Mann sterben sehen!« Der Spanier – stand auf seinem Platz; als ihm der Marquis die Pistole reichte, hielt er ihn einen Augenblick zurück.
»Besten Dank, lieber Freund, für das Arrangement!« sagte er spöttisch. »Sie erinnern sich doch, daß unser Kaufvertrag heute Mittag in Gültigkeit tritt!«
»Ja wohl!« In den schweren Seufzer der Antwort mischte sich einige Hoffnung.
Der Graf sah ihn spöttisch an. »Machen Sie sich keine unnützen Illusionen, lieber Senateur,« sagte er. »Ich werde diesen Herrn dort erschießen, und im Fall mir etwa ein Unglück passiren sollte –«
»Nun?«
»Caramba – so sind die nöthigen Anordnungen getroffen, daß Sennora Rositta diesen Abend im Cirkus wieder kunstreiten kann!«
Er wandte sich ab, wahrend der Marquis, sehr blaß geworden, sich auf die Lippen biß und zurücktrat.
»Sind Sie bereit, meine Herren? fragte der Kapitain.
»Ja!«
»Dann steht es Ihnen frei, mit dem Wort Drei zu avanciren, jeder bis zu der Stelle, wo das Taschentuch liegt. Sie feuern nach Belieben. Eins!«
Der Vetter der Kaiserin hob das Pistol. »Zwei!«
Lord Heeresford hielt unverrückt seinen Schützling im Auge. Dieser war fest und ruhig, um seinen Mund zuckte ein schmerzlicher Zug. »Drei!«
Das Loosungswort war kaum gesprochen, als der Graf von Montijo von seinem Platz aus feuerte, ohne zu avanciren. Der Informator ließ die Pistole fallen, streckte die Hände in die Luft und fiel nach vorn über.
»Das war nicht viel besser als ein Mord!« sagte der Engländer laut, während er zu dem Erschossenen ging.
Der Arzt war bereits an seiner Seite und drehte den blutenden Körper um. Durch Rock und Gilet aus der rechten Seite strömte ein starker Blutstrom. Lord Heresford half dem Doktor die Kleider entfernen. Der Verwundete hielt die Augen geschlossen, zwischen dem Stöhnen des Schmerzes, das sich seinen Lippen entrang, flüsterte er einen Namen.
Dieser Name war: Rosamunde!
Der Arzt hatte die Kleider und das Hemde geöffnet und die Wunde untersucht. Er machte ein bedenkliches Gesicht.
»Wie steht es, Herr – sprechen Sie!«
»Der Schuß ist gefährlich. Es wird Alles darauf ankommen, ob die Lunge verletzt oder nur gestreift ist. Ich hoffe das Letztere. Der Herr muß aber sofort in die sorgsamste Pflege kommen und auch da kann ich nicht für sein Leben stehen.«
»Kann er den Transport nach seiner Wohnung vertragen?«
»Wo ist diese?«
»Im Hôtel du Louvre!«
»Wir müssen es auf alle Fälle versuchen. Ich werde das Möglichste thun, um eine Verblutung zu verhindern; mehr ist für den Augenblick die Wissenschaft außer Stande zu leisten. Aber wir dürfen ihn nicht im Wagen fortschaffen, sondern, müssen eine Krankenbahre haben. Es stehen immer dergleichen in den Bureaux der Mairien bereit. Das von Neuilly wird die nächste sein.«
»In fünf Minuten bin ich dort. Adieu bis dahin!«
Der Viscount nickte den Gegnern, die in einiger Entfernung zusammen standen, einen kalten Gruß, und ging hastig nach der großen Allee, wo sein Reitknecht mit den Pferden hielt.
Einige Augenblicke darauf jagte er nach Neuilly.
Der Marquis und der Garde-Offizier waren zu dem Verwundeten getreten.
»Können wir Ihnen irgend Beistand leisten, Doktor?«
»Nein. Die Natur allein muß hier das Beste thun. Schicken Sie mir meinen Mantel aus dem Wagen hierher. Es ist unnütz, daß Sie bleiben.«
»Das denke ich auch. So leben Sie denn wohl und lassen Sie mich heute Abend hören, wie es mit Ihrem Patienten geworden ist. Es war ein verteufelt guter Schuß!«
»Und ein sehr eiliger dazu!« sagte der Doktor, ohne weiter sich mit besonderen Abschiedskomplimenten aufzuhalten.
Die Drei entfernten sich. –
Eine halbe Stunde später passirte eine jener Hospitaltragen, in denen die Kranken nach den öffentlichen Anstalten der Barmherzigkeit gewöhnlich transportirt werden, die Porte Maillot und nahm ihren Weg durch die Elysäischen Felder nach der Rue Rivoli.
Dergleichen ist in Paris, wie in allen großen Städten zu gewöhnlich, um weiter Aufmerksamkeit zu erregen.
Neben dem Tragkorb ging der Arzt; der Lord war nach dem Hôtel voran geritten, um die Vorbereitungen zur Aufnahme des Kranken zu treffen und die Fürstin in Kenntniß von dem Vorgefallenen zu setzen.
Wir haben bereits berichtet, mit welcher Sorge die Fürstin die Nachricht erwidert hatte. Einer der berühmtesten Aerzte wurde sofort geholt, um dem Doktor, welcher dem Duell beigewohnt und sich des Verwundeten so freundlich angenommen hatte, beizustehen. –
Um 8 Uhr 20 Minuten war der Expreß-Train am Abend von Brüssel eingetroffen.
Es war 9 Uhr, als eine verschleierte Dame bei dem Portier des Hôtel du Louvre am Platz des Hôtel Royal sich nach der Wohnung des Secretairs der Fürstin Trubetzkoi erkundigte und als sie diese bezeichnet erhalten und zugleich erfahren hatte, daß er noch am Leben sei und die Aerzte sogar Aussicht auf seine Erhaltung gäben, stieg sie die Treppe empor nach der Wohnung der Fürstin.
Das Benehmen der verschleierten Fremden war ängstlich und befangen, ihre Aussprache verrieth offenbar die Ausländerin, so daß sich der Portier veranlaßt sah, ihr einen der Aufwärter nachzuschicken.
Ohne weiter zu fragen, hatte die Unbekannte den Korridor erreicht, in welchem, abgesondert von der vorderen Wohnung der Fürstin, die beiden Zimmer lagen, welche der Informator bewohnte.
Die Dame horchte an der Thür, über welcher sie die ihr genannte Nummer sah, dann öffnete sie leise.
Das Zimmer war leer, eine Ampel erhellte es. Die Thür des anstoßenden Zimmers war offen, ein leises schmerzliches Stöhnen drang manchmal von dort her.
Leicht wie ein Geist schlüpfte die Fremde über den Teppich.
In der Mitte des Zimmers blieb sie einen Augenblick stehen und preßte die Hände auf die Brust. Dann schlug sie den Schleier zurück – ein bleiches, von schönem blondem Haar umrahmtes Gesicht mit thränenfeuchten Augen wurde sichtbar; leise wie sie gekommen, schritt sie weiter und trat über die Schwelle des Schlafzimmers.
Man hatte das Bett des Kranken etwas von der Wand ab in die Mitte des Zimmers gerückt, weil die Aerzte diese Lage zu der am Mittag vorgenommenen Operation des Kugelausziehens nöthig gefunden. Es war eines der Gardinenbetten, wie sie im Süden und in Paris üblich sind. Die Gardinen waren an beiden Seiten aufgeschlagen, – aus einer Ecke des Zimmers leuchtete das gedämpfte Licht einer Lampe, – auf einem Tisch zu Häupten des Bettes standen Medizinflaschen und was sonst zum Bedarf und zur Pflege eines Kranken gehört.
Dieser selbst schien eben im Wundfieber zu liegen. Das Gesicht war von fliegender Hitze gefärbt, er warf sich unruhig hin und her und stöhnte dann tief auf, wenn durch die Bewegungen die Wunde ihn schmerzte. Die trockenen brennenden Lippen stammelten wiederholt verworrene Reden oder einzelne Worte.
Ehe die Fremde vielleicht selbst recht wußte, was sie that, kniete sie an der Seite des Bettes und hatte die eine Hand des Kranken gefaßt, die sie mit ihren Thränen benetzte.
»Rosamunde! Rosamunde!« fieberte mit geschlossenen Augen der Kranke. »Mein Blut – wie damals! die Mörder sind hinter ihm – gerettet!«
»Hier, Rudolph hier – ich bin bei Dir und weiche nicht von Dir im Leben oder Tode!«
Sie hatte die Worte nur leise gesprochen, fast geflüstert, aber der Kranke schien sie doch gehört und verstanden zu haben, denn er wurde plötzlich ruhig.
Aber auf der andern Seite des Bettes erhob sich eine Gestalt, ein funkelndes Auge in dunklem Gesicht schien Flammen zu sprühen, als es sich auf die Fremde wandte.
»Was ist das? was wollen Sie hier? Entfernen Sie sich, er gehört mir allein wenigstens im Tode!«
Der Kranke selbst überhob die Fremde der Antwort. Er schlug die Augen auf, sie suchten einen Moment umher und blieben dann an dem Gesicht der blonden Dame hängen.
Das Licht des Erkennens zuckte über sein Gesicht.
»Rosamunde – Du hier?«
»Rudolph – theurer Freund! es ist Rosamunde, Deine Schwester, die zu Dir kommt, Deine Wunde zu pflegen, mit der Du ihr den Bruder gerettet hast!« »Rosamunde?« sagte gellend eine andere Stimme, – »also Du bist es, die ihn kalt macht wie das Eis seines Nordens gegen Alles, was ihn liebt! Dein Namen ist es, den seine Lippen sprachen, während der blasse Tod auf ihnen saß! Fluch Dir, der Fremden! was willst Du hier, die nie um ihn gefragt und gesorgt? Eher mög' er sterben, als daß er Dir gehört!«
»Feodora!«
»Ich heiße nicht Feodora – ich bin Tunsa, die Zigeunerin, in der das heiße Blut ihrer Väter wallt!« schrie leidenschaftlich das Mädchen. »Was kümmert es mich, ob alle Welt weiß, daß ich Dich liebe! Als sie Dich sterbend hierher brachten und Dein Blut in dunklem Strom aus der Wunde quoll, daß die weisen Aerzte und Doktoren, die Narren, sich nicht zu helfen wußten, da war ich es, die mit der geheimen Kunst meiner Großmutter Mumeliswa, die ich einst mit Füßen stieß, damals in der Csárda vor Enyád dies Blut stillte. Mir dankst Du Dein Leben, und wenn ich auch nur die Hündin bin, die zu Deinen Füßen kriecht, um einen Blick aus Deinen kalten Augen bettelnd – so sollst Du doch auch keiner Anderen gehören, und lieber will ich das Blut, das der Zauber des armen Zigeunerkindes Dir erhielt, zurücknehmen, als daß es ihr fließen soll!«
Und mit wilder Bewegung warf sie sich auf den Verwundeten und faßte nach dem Verband auf seiner Brust, um ihn in eifersüchtiger Wuth abzureißen.
Der Kranke machte keine Bewegung, sie zu hindern, aber eine andere Hand faßte die ihre.
Es war die der Jungfrau. »Sie lieben ihn?«
Die Zigeunerin schaute sie wild an. »Was wissen Sie, was Liebe ist? Ich trotze Dir, obschon sein Mund Deinen verhaßten Namen selbst im Todeshauch nannte! Ja, ich liebe ihn, wie die Hündin ihren Herrn, wie der Pelikan, der seinen Jungen die Brust öffnet, auf den Schilf-Inseln der Theiß!«
»Und Sie haben ihm das Leben gerettet?«
Tunsa hob grollend den Blick zu ihr empor. »Was kümmert es Sie, wie es geschah? Die Aeltermutter unseres verachteten Stammes lehrte die Mädchenbrut das Geheimniß des Blutbesprechens. Konnte es die tausend Quellen zurückhalten, aus denen das Lebensblut des Vaters floß, dort auf den Steinen von Enyád? – Möge er eben so sterben, ehe er Dir gehört!«
Und abermals faßte sie wild nach dem Verband.
»Halten Sie ein,« sagte das deutsche Mädchen sanft – »ich entsage ihm!«
Die Zigeunerin starrte sie an.
»Ebbadta! Du willst ihm entsagen?«
»Mit Freuden, wenn Sie dafür sein Leben retten und erhalten wollen! – Lassen Sie mir nur Eines – lassen Sie mir gleiches Recht zu seiner Pflege, denn ich habe ihn geliebt seit meiner Kindheit!«
Ein Kampf schien in der Seele der wilden Tochter der Pußtà mit den noch immer ungezähmten Leidenschaften vorzugehen; ihre kleine schmächtige Gestalt wand sich wie in glühenden Schmerzen unter diesen Eindrücken, ihr rundes, schwarzes Auge brannte zornig und voll Haß auf dem deutschen Mädchen und kehrte sich dann wie zitternd auf den Kranken, der sie unter der magischen Fessel seines ruhigen ernsten Blicks wie gebannt hielt.
Es war vergeblich, gegen diese Macht zu kämpfen, die seit Jahren den schlimmen Geist in ihr gefesselt hielt. Ein lautes krampfhaftes Schluchzen machte sich Luft aus ihrer glühenden Brust, und an das Bett eilend warf sie sich nieder vor der Jungfrau und preßte unter heißen Thränen ihr Kleid an die Lippen.
»Vergieb der wilden Tunsa, Herrin,« schluchzte sie – »Du bist besser als ich, die ihn in blinder Wuth vernichten wollte! Was bin ich? ein zertretener Wurm, das verlorene Kind eines verachteten Volks – verloren und verdorben seit meiner Jugend, ein Spiel der Launen des Gebieters, ein nichtswürdiges unglückliches Geschöpf, wie der Wolf an der Kette gehalten wird, daß er nicht über seine Herren herfallen und sie zerfleischen kann. Du aber siehst aus wie die Reine, Heilige, wie die Madonna selbst, von der die Leute erzählen und wie die Bilder sie malen! O vergieb mir, Heilige und bitte für mich bei ihm, daß er mich nicht von sich stößt mit Verachtung, wie seit Jahren, und daß Tunsa wie ein Hund zu den Füßen seines Bettes wachen darf über ihn!«
Und krampfhaft schluchzend verbarg das Zigeunermädchen ihr Gesicht in den Falten des Kleides.
»Feodora!« sagte eine ernste mahnende Stimme.
Rosamunde wandte sich um, mit sanfter Hand sich von der Schluchzenden befreiend.
Es war die Fürstin, die in der Thür des Nebenzimmers stand, neben ihr ein Mann. Die Diener hatten ihr gemeldet, daß eine fremde Frau in das Zimmer des Kranken gegangen war. Sie befand sich gerade in einer kurzen Berathung mit Doktor Achmet, der gekommen war, noch am Abend trotz der eigenen Sorgen nach dem Zustand des Verwundeten zu sehen.
»Fräulein von Reuble – wie, Sie hier? Ist Ihre Familie denn nicht abgereist? ich hörte es doch im Hôtel!«
Das Fräulein, denn in der That war es Rosamunde von Röbel, die am Krankenbett des Geliebten stand, ging hastig und etwas verwirrt und verlegen auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
»Gott sei Dank, daß ich Sie sehe!« – sagte sie. »Ja, meine Familie muß bereits in Brüssel sein und wird große Unruhe um mich haben. Aber ich konnte nicht anders – es war eine heilige Pflicht, die ich zu erfüllen hatte, und ich folgte der Stimme meines Herzens, die wahrer und treuer spricht, als alle Schicklichkeitsgebote der Menschen. Gott und meine Mutter werden mir verzeihen, daß ich den Freund meiner Jugend, der für meinen Bruder sein Leben geben wollte, nicht verlassen konnte. Ich habe in Douay mich heimlich aus dem Coupé entfernt und die Kreuzung der Züge zur Rückkehr benutzt.«
»Aber Ihre Mutter, Ihr Bruder werden in der größten Sorge um Sie sein!«
»Ein Zettel, auf den ich flüchtig einige Worte mit Bleistift schrieb, und den ich mit einem Goldstück einem der Conducteure des Zuges für sie gab, wird sie einstweilen beruhigen. Morgen schreibe ich. An Sie richte ich die Bitte, mir hier die Erlaubniß zu verschaffen, ihn pflegen zu dürfen, bis Gott entschieden hat!«
Die Fürstin war auch hinzugetreten. »Sein Sie mir willkommen, Fräulein,« sagte sie – »die Freunde des Herrn Meißner, dem ich gar Vieles verdanke, sind auch die meinen und keiner ist an diesem Bett zu viel. Auch Du nicht Feodora – ich habe Alles gehört und freue mich, daß der bessere Theil in Dir gesiegt hat!«
Sie hatte der Deutschen und dem Zigeunermädchen jedem eine Hand geboten und beide drückte sie an ihre Lippen.
»Jetzt aber, Doktor, lassen Sie uns vor Allem nach unserm lieben Kranken sehen, den ich nur einige Augenblicke verlassen hatte, Fräulein, um mit diesem würdigen Mann zu sprechen. Ich fürchte, die Aufregung könnte in seinem Zustand ihm sehr geschadet haben!«
Der Arzt stand bereits an dem Bett und hatte den Finger am Puls des Kranken.
»Gott sei Dank – das Fieber ist geschwunden, die Krisis ist überstanden – ich glaube, jetzt können wir seine Rettung verbürgen.«
Die drei Frauen sanken auf ihre Knie.